ALOIS KIESLINGER Die älteste Steinätgzzng Eine seltene und verhältnismäßig spät, soweit wir bisher wußten, erst im 16. Jahrhundert auftretendel) Art der Steinbearbeitung ist die Ätzung. im Gegensatz zu der Skulptierung und Gravierung arbeitet sie auf chemischem Wlege Schriften, Ornamente und ganze Bilder aus Steinplatten heraus. Die bevorzugten Gegenstände waren reich gegliederte Tischplatten, als Wandschmuck dienende Zierplatten, Kalender, Grabschriften und später auch Zifferblätter für Sonnen- uhren, die in keinem Barockgarten fehlen durften. Die Künstler dieser eigenartigen Technik waren lange Zeit hindurch Schreib- und Rechen- meister, also Kalligraphen, die meistens graphische Vorlagen, Ornament- stiche u. dgl. in die Steintechnik übersetzten. ln Österreich konnten bisher rund 130 derartige Arbeiten aufgefunden und beschrieben werden. Die Kleine. Die Ätzung erfolgte ausschließlich auf den von Säuren leicht angreifbaren Karbonatgesteinen. Die bisher bekannten, vor- wiegend in bayrischen und österreichischen Sammlungen erhaltenen Stücke sind ausschließlich aus dem überaus feinkörnigen, praktisch kernlosen Kalkstein von Solnhofen in Bayern gearbeitet; sowohl die Spaltbarkeit in dünne Platten als auch die Feinkörnigkeit machten ihn wie kaum einen anderen Stein für die Ätztechnik geeignet. Bei den seit Jahren verfolgten Studien über Steinätzungen in Öster- reich sind mir nun wiederholt Arbeiten aus anderen Kalksteinen untergekommen, nämlich aus dem weißgelben Untersberger, dem roten Adneter Marmor und auch noch aus körnigem weißem Marmor (dem die wissenschaftliche Gesteinskunde allein den Namen Marmor oder kristalliner Marmor zubilligt, während sie die anderen polierbaren Kalksteine nur als „dichte Kalksteine" gelten läßt; in Wirklichkeit bestehen diese ebenfalls aus Körnern von Kalkspatkristallen, deren Griäße freilich unter der Grenze der Sichtbarkeit für das freie Auge liegt). Von den nicht seltenen Ätzungen aus anderen als aus Soln- hofener Kalksteinen habe ich bisher erst eine Arbeit, ein schönes Marmorportal von 1571 im Niederösterreichischen Landhaus zu Wien, aus rotem Adncter Marmor, veröffentlicht. Es ist ein merkwürdiger Zufall, daß nun das hier als nunmehr älteste erhaltene Steinätzung vorgestellte Stück auch nicht aus Solnhtafener Kalkstein, sondern aus einem feinkörnigen kristallinen Marmor gearbeitet ist. Die Technik der Xleiniilgurlxg besteht im wesentlichen darin, daß jene Teile der OberHäche, die erhaben stehenbleiben sollen (daher „lloch- ätzung"), also die Zeichnung, durch eine mehr oder minder fette wasserabweisende Farbe bemalt werden. Durch Behandlung mit Säure (meist nahm man verdünnte Salpetersäure) werden die ungeschützten Teile der Steinplatte bis zu einer gewissen Tiefe, meist wenig über einen Millimeter, abgetragen, so daß eben die geschützten Teile um den gleichen Betrag hoch herausstehen. Vielfach wurden die durch die Ätzung etwas ausgefransten Linien mit einem Grabstichel noch etwas nachgebessert. Die Zeichnung wurde durch Bemalung oder Vergoldung gehöht, manchmal auch der Grund schwarz ausgemalt. Es sind einige alte Anleitungen und Rezeptbücher für Steinätzung erhalten, die ihrerseits auf ältere Angaben, z. B. eines Steinätzers Andreas Gundelfrnger aus dem 16. Jahrhundert, zurückgehen (aus- führlich bei Wallner, 125.). Da: neu gefundene Xtiiek. Das hier zu behandelnde Stück befindet sich in der Sammlung eines XX'iener Kunstfreundes. Auf den ersten Blick als typische Steinätzung zu erkennen, war es vor allem durch sein sehr altertümliches Aussehen auffallend, offenkundig älter als jede bisher bekannte Steinätzung. 36 Es handelt sich um einen Anhänger aus feinkörnigem weißem Marmor, der gerade in einer Faust Platz hat. Er hat die Gestalt eines auf den beiden Seiten ungleich stark gewölbten Ellipsoides von 61 mm Höhe und 44 mm Breite. Bei einer Gesamtdicke von 26 mm ist die eine Fläche (die die Schrift trägt) bis zu 15 mm, die andere (mit dem Marien- bilde) bis zu 11 mm von der Mittelebene vorgewölbt. Den größten Umfang entlang verläuft eine Nut, die einen 1,2 mm dicken gekerbten Silberdraht enthält; am Ende ist er zu einer Aufhangeöse gebogen. Das ganze Stück wiegt 105,64 g. Durch das offenbar sehr lange Tragen ist der Anhänger auf beiden Seiten an den am meisten gewölbten Bereichen sehr stark abgewetzt, stellenweise bis zum vertieften Grunde der Ätzung; dadurch wurde die Lesung der Schrift sehr erschwert und die vollkommene Deutung des Bildes unmöglich gemacht. Der Stein ist ein vollkommen uncharakteristischer weißer Marmor, der, von einzelnen feinsten kaum offenen Sprüngen („Stichen") aus- gehend,eine zarte gelbliche Verfärbung aufweist. Seine Beschaffenheit gestattet auch nicht einmal annähernd irgendeinen Hinweis auf seine Herkunft, weil es derartige Marmore in den meisten Ländern Europas gibt. Die Qualität der Ätzung macht infolge der starken Abwetzung einen sehr viel schlechteren Eindruck, als ihn das Stück in neuem Zustand erweckt haben muß. Alles in allem aber ist sie - gemessen an den vielen Beispielen des 16. Jahrhunderts - doch als ziemlich primitiv zu bezeichnen. Die Begrenzung der einzelnen Formen besteht aus aneinandergereihten Ätzgrübchen. Irgendeine mechanische Nach- arbeitung hat nicht stattgefunden. Die stärker gewölbte Seite trägt neben dem Marienbilde ein sogenanntes Tatzenkreuz, das gleiche findet sich auch im obersten Teil des Schriftfeldes. Diese lange Zeit übliche und weitverbreitete Kreuzform läßt sich weder zu einer Zeit- bcstimmung verwenden noch auf einen bestimmten geistlichen Orden zurückführen wie etwa das Malteserkreuz. Der Texl. Die Lesung des Textes war sehr schwierig, da ja der Großteil der Schrift weitgehend bis vollkommen abgewetzt ist. Die einiger- maßen noch erhaltenen Anfangswerte am linken Anfange der Zeilen führten aber doch rasch zur Identifizierung mit einem bekannten liturgi- schen Text durch Se. H. Herrn P. Coelestin Raps OSB, den Archivar des Wiener Schottenstiftes. Demnach handelt es sich um ein noch im heutigen Brevier enthaltenes Responsorium nach der 3. Lektion der 1. Nocturn im Commune festorum B. M. Virginis, das heute auch als Offertorium an den beiden Marienfesten vom 2. Juli und 8. Septem- ber erscheint. Der Text unseres Steines lautet also (nach Auflösung der Abkürzun- gen): BIEATA ES Virgo maria quae dontinum portasti creatorem rnundi genuisti qui te fecit et in eternum permanes virgo