„Dialogo sopra i due massimi sistemi de mondo" (1632) erkennt und statuiert er, daß die gleichen Gesetze, denen die Welt des Menschen untersteht, auch die Himmels- körper regieren. Damit fällt endgültig die Vorstellung eines vom göttlichen Willen regierten Kosmos, der nunmehr mathe- matisch errechenbaren Gesetzen untersteht, während die ideale Kugelgestalt des Universums durch die Entdeckung ellip- tischer Bahnen stark erschüttert war. Auf einem ähnlichen Weg entwickelt sich die Mathematik, wo nunmehr, in einer fast ununterbrochenen Kette von Einzelunter- suchungen, die Inßnitesimalmathematik be- gründet wurde. Wohl hatten schon die Griechen die Existenz eines Unendlichen erkannt, so wie sie auch die irrationalen Größen kannten, aber die diesbezüglichen Untersuchungenß blieben individuelle Lei- stungen genialer Vorläufer und wurden nie zu einem System erhoben. Nun aber beginnt die Entwicklungsgeschichte des Inßnitesimalkalküls. An der Spitze stehen Fermat und Descartes, die ungefähr gleich- zeitig,zwischen 1630 und 1640, das unendlich Große und das unendlich Kleine als mathematische Werte einsetzen7. Descartes erkennt die Identität von Algebra und Geometrie, die algebraische Form ist dem- nach sowohl Zahl als auch räumliche Form und verbindet so zwei getrennte Sphären: die des reinen Denkens und die der An- schauung. Pascal erweitert die Methode des Iniinitesimalkalküls durch die Wahr- scheinlichkeitsberechnung. (Nachdem be- reits 1619 Napier eine Vorläuferin unserer trigonometrisch-logarithmischen Tafeln her- ausgebracht hatte.) lm Jahre 1655 führte Wallis das Symbol für „Unendlich" ein, in der Form, wie es heute noch besteht. Mit den Untersuchungen von Leibnizä wird dieser Begriff weiter ausgedehnt und gleichsam popularisiert (eine der „unend- liehen" Reihen trägt heute noch seinen Namen: die Leibnizreihe). Dies sind einige der wichtigsten Etappen auf dem Weg der Erforschung des Unendlichkeitsbegriffes, dessen Eroberung simultan von der Mathe- matik und der Astronomie her erfolgte. Es kann kaum bezweifelt werden, daß diese Entdeckungen, die zu neuen Denk- formen, zu neuen Denkinstrumenten, zu einem neuen Denksystem und schließlich zur Entdeckung neuer Zeit- und Raum- dimension geführt haben, die allgemeine Bewußtseinslage bestimmen mußten. Jede geistige Schöpfung untersteht den Denk- voraussetzungen ihrer Zeit, oder wie Gombrich es formuliert: „The style of a given period depends on its terms cf referenceml. Auch von seiten der Lin- guistik kommt eine ähnliche Bestätigung: „N0 individual is free to describe nature with absolute impartiality but is constrained to certain modes of interpretation even while he thinks himself most free" 10. Lukacs erkennt diese einheitliche Struktur des Geistes, die auch das formende Prinzip der Kunst wird: „We comptehend art as a peculiar manifestation of the reilection of reality, a manifestation Which itself is but one among vatious forms of the universal relationship of man to reality, of man's refiection of reality. Aesthetic reHection . . . sets out from the world of man and is directed towards it, . . . every typical form of relatedness to human life is included in it, so that its appearance corresponds to the particular stage of man's interior and exterior development. This means that every aesthetic formation includes - and takes its place - in the hic et nunc of its genesis" 11. S0 ist es nur selbstverständlich, daß die Darstellung des Raumes in der bildenden Kunst wie auch seine dichterische Be- schreibung in Werken der Literaturll, so- wohl die des konkreten Raumes, d. h. des künstlerisch gestalteten Freiraumes in der Architektur, als auch die seiner Transposi- tion in die zweidimensionale Bildebene, von den wissenschaftlich begründeten oder auch nur herrschenden Raumvorstellungen der Zeit ausgeht, mit anderen Worten, daß die astronomische Weltraumvorstellung mit der jeweiligen gestalteten Raumform iden- tisch ist. Panofskyll hat dieses Prinzip für das Architektursystem der Hochgotik erkannt: „Und wiederum ist die perspektivische Errungenschaft nichts anderes als ein konkreter Ausdruck dessen, was gleich- zeitig von erkenntnistheoretischer Seite her geleistet war." Der Gelehrte Endet die gleiche Beziehung in der Renaissance, in der es sich gleichfalls darum handelt, „den Bildraum grundsätzlich aus den Elementen und nach dem Schema des empirischen Sehraumes auszubauen" 14. Ftancastel, zum Teil in direktem Anschluß an Panofsky, erkennt ebenfalls, daß ein gleiches Formprinzip das Denken und die Vorstellungswelt einer gegebenen Epoche beherrscht, erweitert es aber, indem er den sozialen Voraussetzungen eine entschei- dende Rolle zuschreibt: „Le mode de Eguration plastique de la Renaissance est parfaitement adapte a un certain e'tat du progres seientiFique et social de l'hu- manite"l5. Und im selben Sinne noch einmal: „l'espace de la Renaissance . . . est un systeme parfaitcment adapte ä une certaine somme de connaissances. On ne peut le compendre qu'en fonction des habitudes sociales, economiques, scienti- fiques, politiques, en fonction des mreurs du temps" 16. Vielleicht ließe sich darauf erwidern, daß Francastel zu dogmatisch ist, daß es sich nicht unbedingt um eine so direkte Kausalität zwischen den künst- lerischen Formen und den Infrastrukturen handelt, daß jene nicht „en fonction" dieser sind, sondern daß vielmehr gleiche Konzepte, gleiche Denkvoraussetzungen bei der Genese der verschiedenen Kultur- sphären mitwirken. Malraux drückt sich im gleichen Sinne, wenn auch vorsichtiger, aus und meint, es handle sich darum „de mettre en rapport les lois, le systeme cosmique avec les lois esthetiques". S0 steht dieses Prinzip von der Einheit der Grundvorstellung einer Zeit, dieses „hic et nunc", am Anfang jeder künst- lerischen Gestaltung sowohl der inneren Ordnung ihrer konstitutiven Mittel als auch dieser Mittel selbst: „Never yet has a significant work of art taken shape without creatively bringing to life the respective historical hic et nunc at the portrayed moment . . . and . . . even in the discovery of truth in mathematical or pure natural science the pnint in time is never accidental" 17. Und so ist in letzter Instanz die Geschichte der Kunst und die Geschichte ihrer Stile die Geschichte der Ideen dieser Zeitß. Nicht weniger aber als für das späte Mittel- alter oder für die Renaissance mußten die ANMERKUNGEN 6-18 ß SDWOhl das s. POSIHIIK (oder je narh Lesart das n. Axiom) Euklids spricht von dei Unendlichkeit. Ebclm) konnu: du BcgriB" einein Genie wie Ärlthimtdti nieiii Cnläthen, CbCnSO Apollonius bei der Knnslrukliun von l- schnitten, von Hypcrbdn ndei Parabeln. die 0 ene Kurvm sind. sich dniiei irgendwo ins Grenzenlose ver- liercn: so iniißie niieii diiieb di: KOnstruklion von Aiyinpinien ein btunruhigcndn ceriiiii einee-eeen. Aber wie bei {nationalen Zahlen lag ihre Erkenntnis außerhalb jeder Wahmchmungßgfrnzc und wurde daher niChl nir- gcnommcn. So wie die Null" konnte vom griechischen Geist lllCh das „Nieiin- niebi vrfalßl werden; die EH!- dcckung der Niin blieb innen vorenthalten und wnnie von den Indem geiiiaelii. v nie diesbezüglichen Aibeiien beider ceierinen cyschirnvn m: gleichzeitig, Beweis, wie sehr die Probleme reif eworden Waren: Fsrmals „Mzthodus de Maximis u inimis" im 1mm was, Dcscarrcf Jläomclric" und seine „Rcgulac 2d dircclionnn in ' m1. Vor allem durch seine 1684 crsc lcncnc Axbcit: Nova mClhodlls pro maximis er minimls. E. H. Gomblirh, Art llld Illusion, London. Benj. Lec-Whorf. Collecrcd Papers on Mclalinguistic. G.Lukäcs, lnuoduction (o a monogrzph on aeslhcucs, in: "n: new Hungarian Qdmmy". Nr.14v VoLV (wo das (Ente Knpiul d" ungarisch erschicncnm Arbeit in einer englischen Übrrselzung vorliegt. Es isz Zll wün- srhzn, dm diese wichtige Arbeit bald in :incr dculschen Übersetzung zugänglich wird), 5.6517. I1 Willy Syphcr. Four slqgcs of Rcnaisancc Slylc, New Yotk 1956. hat dizsc Übereinstimmungen bcsondcls in u u 15 m n u der Literatur weitgehend unzenuchx. Erwin PmofSKy. Perspektive 215 symbolische Form (Vor- träge der Bibuduiek Wzrburg. 1924125). Panofsky. 1. c.. und: "nie Codex Huygend Ind Leonardo da Vincis an rnenry (Piexponl Morgan Library Codex. M. A. 1139) Francastel, l. c" S. 46. Francastcl, l. S. 47. Lukäß, 1. 6., s. es. Rudolf Willkower. Architccturzl yrinciplcs in thc lgt of Hurnanism, London 1962. s.11 m. hat auf die enge Beziehung zwischen der Architektur des cinqneeenrn und der Struktur der zeitgenössischen Musik hingewiesen und wie sehx beide von der Vorstellung eines harmoni- scheu, von mathcmitisrhtn Gcsctu-n regienen Kosmos bedingt sind. 29