nur den Lippen des geschlossenen Mundes
vorbehalten.
Wie alle Bildnisse Cranachs aus den
zwanziger und dreißiger Jahren, ist auch
dieses Gemälde von einer Porträtauffassung
charakterisiert, die sich hart an der Grenze
des Individuellen und Allgemeinen, des
Einmaligen und Typischen, des Persön-
lichen und Unpersönlichen, der Stilisierung
und Natürlichkeit bewegt. Der Maler
konzentriert sich hier auf die Grundzüge,
die allerdings ebenso einzigartig wie für
die Zeit typisch sind. Das Individuum wird
in dieser Auffassung zugleich zum Träger
der Eigenschaften seiner ganzen Gesell-
schaftsklasse, zum Repräsentanten seiner
Zeit und Generation. Dazu kommt noch
der Umstand, daß es sich bei diesem
Porträt wahrscheinlich um eine Werkstatt-
arbeit nach einer Studie des Meisters
handelt5 und auch dieser Vorgang in
nicht geringem Maße zum Verwischen der
ursprünglichen physischen Erscheinung des
Porträtierten beitrug, die durch weitere
Abstraktion zweifellos viel von der ur-
sprünglichen sinnlichen Lebensnähe der
vorauszusetzenden Skizze verlor. Vom
Charakter einer Werkstattarbeit zeugt auch
die verhältnismäßig flüchtige Ausführung,
die besonders in der Mantelpartie auf-
fällt.
Dieser Neigung zur Typisierung des Por-
träts entspricht auch die konsequente
Überführung des Volumens in die Fläche,
was nicht einmal die Diagonale verhindern
kann, die beide Schultern der Figur ver-
bindet und diese aus der Vertikalachse und
der BildHäche herausdreht. Die Hächige
Auffassung wird noch unterstrichen durch
die verstärkte Rolle, die der stilisierenden
Linie, besonders der Umrißlinie, auf Kosten
der dreidimensionalen Modellierung der
Form zufällt, durch die Beschränkung der
Binnenzeichnung auf ein Mindestmaß sowie
durch die gleichmäßige, volle Beleuchtung
des Kopfes, der sich von der dunklen
Folie des neutralen Hintergrundes kontrast-
reich abhebt. Das Bild gibt nur die Haupt-
ziige der Physiognomie, des Kustüms und
des Beiwerks wieder, und der Maler ver-
weilt auch hier nicht einmal bei den
Einzelheiten.
Die genaue Datierung des Gemäldes er-
leichtert seine Eingliederung in die Reihe
von Cranachs Bildnissen aus den zwanziger
Jahren. Gerade aus dem Jahre 1526, das
für das PorträtschaHen Cranachs außer-
ordentlich fruchtbar war, blieben mehrere
signierte und mit dieser Jahreszahl be-
zeichnete Gemälde erhalten, mit denen
unser Bild auch die gleiche Entwicklungs-
stufe der Porträtauffassung, das Verhältnis
zwischen Figur und Fläche, die Art ihrer
Einfügung in den Rahmen und natürlich
auch das Kostüm teiltö. Es hat mit ihnen
die Dreiviertelwendung nach links
gemeinsam (die auch sonst bei Cranach
absolut überwiegt), die Darstellung als
Halbligur und die Haltung der Hände, die
jedoch bei der Mehrzahl von Cranachs
Bildnissen stärker beschäftigt sind. Auch
das Verhältnis zwischen dem beleuchteten
Antlitz und dem dunklen Hintergrund
wiederholt sich auf einer Reihe der ange-
führten Beispiele. Der Pelzkragen des
Mantels, die Kette und das Halsband mit
den aufgefadelten Ringen sowie die Perlen-
stickerei kommen in vielen weiteren Ge-
genstücken von Cranach aus dieser Zeit
vor. Unser Bild unterscheidet sich von
ihnen nur durch sein kleines Format, das
mit Rücksicht auf das Modell wahrschein-
lich absichtlich gewählt wurde7, und natür-
lich auch durch geringere Qualität.
Der Platz unseres Bildes in der Gruppe
von Cranachs Porträts aus dem Jahre 1526
ist also festgelegt. Seine Bedeutung liegt
jedoch vor allem darin, daß es sich um
ein Kinderbildnis handelt, das, wie be-
kannt, in Cranachs Schaffen nur selten, ja
ausnahmsweise vorkommtß. Außer dem
bekannten Mädchenbild im Louvre, das
gleichfalls aus den zwanziger Jahren stammt,
und den zwei Bildnissen der sächsischen
Prinzen Moritz und Severin (Darmstadt,
Großherzogliche Sammlung)9 sowie dem
weniger bekannten, signierten und 1529
datierten Porträt eines unbekannten Prinzen
(aber nicht sächsischer Herkunft) in Köln
(Wallraf-Richartz-Museum)10 ist, soweit wir
wissen, auf dem Gebiet des Staffeleibildes
kein weiteres Beispiel für ein Interesse
Cranachs am Kinderbildnis erhalten ge-
blieben. Der Grund dafür ist nicht ganz
klar. Vielleicht lag es am Mangel an Ge-
legenheiten, also an Bestellungen, vielleicht
auch am Umstand, daß die Kinderl-igur
diesem Maler etwas fremd war. Es ist
kein bloßer Zufall, daß das Interesse für
die Lebenstreue in weit größerem Maße
in den Männerbildnissen Cranachs als z. B.
in seinen Frauenporträts zur Geltung
kommt.
Die beiden Darmstädter signierten Kinder-
bilder entstanden im gleichen Jahre wie
die Bildnisse der sächsischen Kurfürsten
Johann des Großmütigen und Johann des
Beständigen (Weimar, Schloßmuseum und
Dresden, Galerie)1l. Obwohl wir den
Knaben auf unserem Bild vorläufig nicht
identißzieren können - zum Unterschied
von den beiden sächsischen Prinzen linder
sich seine Darstellung nicht unter den
deutschen Renaissancemedaillen -, darf
man doch auf Grund der Entstehungszeit
und der reichen Ausstattung annehmen,
daß auch er ein Angehöriger des sächsischen
Hauses war. Schließlich ist die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, daß das Porträt mit
jenen der sächsischen Herzöge und Prinzen
im Zusammenhang steht und im gleichen
Jahre geschaffen wurde.
ANMERKUN GEN 1 - l 1
1 Der Katalog der Galerie im ursprünglichen Zustand
erschien im Jahre 1737 in Brux im Druck.
1 Als Cranachs Arbeit wird (s im Verzeichnis der Gemälde
ungefähr aus der Mim: des 19. Jahehnnderrs angeführt
(J. v. Simak, Verzeichnis der Gelnalde der ehemaligen
Duxer Galerie, Cawpis spoleenosri prarel sraroiitnosti
Ccskych. XXVllljl922, S. 43). Zusammen mit ihm wird
auch das Bild Adam und Eva und das Porträt eines Mannes
in schwarzem Gewand als Arbeit dieses Malers erwilult.
Das erste Bild bßflhdßl sich htutt als Arbeit aus Cranachs
Werkstatt in der Nationalgalerie in Prag. das zweite
läß! sich nicht idcntirizitren. Unser Bild ist dagegen
im alten Katalog aus dem 18. Jahrhundert nicht angeführt.
cs scheint also, daß es erst später in die Sammlung auf-
genommen worden ist. Dagegen werden andere Arbeiten
Cranachs genannt, die unter dem vcrstümmelten Namen
Lucas Kreyner (sic!) erwähnt sind, u. zw.: unter Nr. 171
ein Madonncnbild, unter Nr. 211 ein Bild der hl. Schulastika,
unter Nr. 219 das Bild des Absch eds Christi von Maria.
unter Nr. 220 eine Madnnna mit dem Kind und unter
Nr. 229 das Bildnis der Gemahlin des Malers. Von diesen
kann man heute mit Sicherheit nur das Bild Nr. 219
identißzieren, das zusammen mit einer Reihe weiterer
hervorragender Werke in der zweiten Hälfte des 18. jahr-
hunderß in die Gemäldegalerie in Dresden kam. Es
man: sich um eine gut: Werkstattkopie des Gemäldes
aus dem Kunsrhistorischen Museum in Wicn aus der
Zeir um 1520 (M. Friedlanderl]. lkosenberg, Die Gemälde
von Lucas Cranach. Berlin 1932, Nr. 113). Die Zuschrei-
bungen des alten Inventars können freilich nur mit Vor-
behalt gelten; das triiTl auch auf eine Reihe anderer
Bilder zu, die als Werke Durers und Holbeins bezeichnet
werden. Für die wertvollen Hinweise, die sich auf die
Sammlung in Dux beziehen. danke ich den Mitarbeitern
der Nadonalglcrie in Prag. Dr. 1. Preiss und Dr. J. Safarik.
die den Katalog der vorbereiteten neuen Aufstellung im
Schluss: Dux bearbeiten.
3 Die Signatur und jahrszahl wurde nach dem Abnehmen
der Fimisschicht und Retuschen auf dem linken Rand
des Bildes über der rechten Schulter des Knaben entdeckt.
Das Bild ist auf 5 mm starkem Fichtenholz gemalt. Die
Grundierung unter der ganzen Malerei ist weiß ohne
lmprimitur. Sie isr nicht geschliffen, so daß der Pinsel-
strichstruktural auf der sonsr glatten MllfifiChC zur Geltung
kommt. Unter dem lnkarnat sehe t die hlaue Grund-
zeichnung durch. Die Fleisch artien sind in den Lokal-
farbcn angelegt. der plasrisc e Eindruck wird durch
Aufhellen und wärmere {Ole Töne erzielt. Datum und
Signatur sind mit gclbweißer Farbe gezeichnet und mir
der übrigen Malerei homogen. Die Maloherßiche zeigte
eine Menge kleiner Beschädigungen: die bei der Restaun
rierung des Bildes durch Retuschen beseitigt oder ver-
kitret wurden.
' B stammte aus dem ehemaligen Waldsleirfschen Schlcß
in Hirschberg, wohin Spile! ein Teil der Sammlung aus
Dux übertragen wurde. Ein weiterer Teil kam ins Schlcß
in Münchengritz.
5 Von der Ar! der im Aller und Typus ihnlicheren Zeich-
nung eines unbekannten sächsischen Prinzen. die sich im
Museum in Reims beßnder. - Ich danke hier herzlich
Dr. Chrisrian Allgraf Salm in München. daß er mich
auf diese Zeichnung sowie auch auf das weitere Bildnis
(s. Anm. 10) aufmerksam gemacht hat.
5 F: handelt sich vor allem um die Arbeiten. die Fried-
länderlllosenbetg, l. c.. unter folgenden Karalognummern
und Abb. anführen: 238, 243, 244. 245. 246, 247 und 250.
7 Ein ähnliches Formal hat auch das Midchenponräz im
Louvre (Fricdlinderlllosenberg. 1. c., Kam-Nr. und
Abb.130).
5 H. Lilienfein. Lucas Cranaeh und seine Zeir. Bielefeld!
Leipzig 1942, s. w.
9 Fricdlinderlllosexiberg. l.c KaL-Nr. und Abb. 245146.
m Auch diese! Bild steht dem unseren in mancher Hinsieht
nahe, weicht jedoch von ihm in der Zeichnung des Mundes
sowie auch in der Frisur und der Farbe der Haare ah.
11 Friedlanderlkoaenberg, l. 6.. Kam-Nr. 243 und 250.
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