Georg Rözsa DIE ALLEGORIE DER UNGARISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTENü JOHANN ENDER UND ISTVÄN SZECHENYI Die Gründung der Ungarischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1825 war nicht einem großzügigen Herrscherentschluß, sondern den Schenkungen der fortschritt- lichen Magnaten-Teilnehrner des Preß- burger Landtages zu danken. Aus der relativ großen finanziellen Selbständig- keit folgten freiere Organisationsmöglich- keiten, deren Ergebnisse sich nicht nur in der Entfaltung der Wissenschaften im engeren Sinne, sondern auch in der Ent- wicklung der ungarischen Sprache und Literatur zeigten. Der Anreger des großen patriotischen Eifers, Graf Istvän Szechenyi (1791-1860), eine führende Persönlichkeit des ungarischen Vormärz, des sogenannten Reformzeitalters, bot 60 O90 Gulden für die Zwecke einer „ungarischen wissenschaft- lichen Gesellschaft" an und hatte damit den ersten Schritt auf seiner öffentlichen, poli- tischen Laufbahn getan. Eine vielseitige Bildung und reiche, auf langen Reisen gewonnene persönliche Erfahrung rich- teten sein Augenmerk auf die Rückständig- keit seines Vaterlandes und veranlaßten ihn, die Vorbereitungen für eine grundlegende Umgestaltung durch Wirtschaftliche Re- formen zu beschleunigen. Auch sein grund- sätzlicher politischer Gegner, der spätere Führer der Revolution von 1848, Lajos Kossuth, nannte ihn am Anfang der vierziger Jahre den „größten Ungarn". Als einer ihrer Begründer nahm Szechenyi regen Anteil an der Ausbildung der neuen wissenschaftlichen Institution. Neben der Mitarbeit an den Statuten proponierte er die Devise „Borura derü" (Auf Regen folgt Sonnenschein) und das Konzept einer die Aufgaben der Akademie spiegelnden Allegorie. Diese wurde von Künstlern, die Szechenyi auswählte, für verschiedene Zwecke in verschiedenen Formen ausge- führt. Im jahre 1832 waren das Siegel und eine Stahlstichvignette fertig, die für das Titelblatt der jahrbücher und für die Mitgliedschaftsbriefe der Akademie ver- wendet wurde. Im ]ahre1834 schenkte er der neuen Institution ein großes Ölgemälde gleichen Themas, das noch heute in dem von August Stüler (IBOOAISGS) entwor- fenen und im Jahre 1865 eröffneten Ge- bäude der Akademie hängtl. Alle drei Varianten der Allegorie - das Siegel, die Vignette und das Ölgemälde 7 drücken durch die Gestalt einer jungen Frau, die sich auf einen Schild stützt und einen in der Luft schwebenden Adler tränkt, denselben Inhalt aus. Die Stellung und die Gewandung der Frauenl-igur sowie die Einzelheiten des Hintergrundes weichen jedoch auf den drei Varianten voneinander ab. Das fein gearbeitete, stark antikisierende Siegel ist das Werk des Wiener Graveur- Professors Luigi Pichler (1773-1854) 2. Diese Variante differiert - teils wegen der technischen Voraussetzungen - am meisten von den zwei anderen. Das Standmoment ist wegen des Überkreuzens der Beine und der Biegung des Oberkörpers nach rechts ziemlich unsicher. Ihren Kopf schmückt eine Krone, über ihrem Hemd trägt sie einen Brustharnisch, das über ihre linke Schulter geworfene Tuch flattert im Winde. In ihrer linken Hand hält sie einen Schild mit dem ungarischen Wappen und der Königskrone. Sie tränkt aus einem in ihrer rechten Hand gehaltenen Becher einen Adler, der im leeren Hintergrund über ihr schwebt. 28 Der Stahlstich stammt von dem viel be- schäftigten Stecher Franz Xaver Stöber (1795-1858) nach einer Zeichnung von Johann Ender (1793-1854), dem geschätz- ten Meister des Wiener BiedermeierJ. Hier kommt die Frontalität der Frauen- gestalt stärker zum Ausdruck. Das Körper- gewicht lastet auf dem rechten Bein, der Blick richtet sich auf den trinkenden Adler. Das ungarische Wappen steht ohne Krone auf dem Schilde. Rechts schlängelt sich ein Fluß durch ein gebirgiges Tal, links 7 zur Vervollständigung der roman- tischen Wirkung - dräut ein Gewitter und schlägt eben ein Blitz ein. Die dritte und spätere Variante 4, das große Ölgemälde Enders, ist mit dem Stahlstich verwandt, ihre Komposition ist aber weiter entwickelt. Der Kopf der Frauengestalt ist mit Lorbeer bekränzt, der Brustharnisch fehlt. In der Mitte des Schildes, der die meisten Veränderungen zeigt, enthüllt Pallas Athene den Kopf einer sitzenden Hungaria- Figur. Unten ist die Devise mit der jahres- zahl 1831 zu lesen, das Jahr, in dem die Akademie wirklich zu funktionieren begann. Am Rande des Schildes ist die Begegnung Leos l. mit Attila in reliefartiger, mono- chromer Bearbeitung nach der Vorlage des vatikanischen Freskos Raffaels darge- stellt. Durch die Weglassung der über- irdischen Teilnehmer der Szene verlieren aber die hinaufweisenden Gebärden ihren Sinn. Verschwunden sind die strengen Züge der Frauengestalt sowie das roman- tische Blitzmotiv; hinter dem großen Adler aber erscheint ein zweiter, kleinerer. Die junge Frau mit dem Adler stellt zweifels- ohne Hebe dar, obwohl diese Tatsache interessanterweise weder von Szechenyi, der die Allegorie konzipierte, noch von den späteren Kommentatoren bisher aus- gesprochen wurde. Nur der an Stelle des Kruges angebrachte Schild paßt nicht für die Göttin der Jugend. Er ist aber das geeignetste Mittel, um die nationale Zuge- hörigkeit der symbolisierten Institution zu kennzeichnen. Hebe war ein sehr beliebtes Thema der Malerei und Skulptur im 18. und 19. Jahrhundert. Es eignete sich vor- züglich für Porträts in mythologischem Kostüm, denn eine solche Wiedergabe bedeutete weder für den Maler noch für das Modell eine mühevolle Aufgabe. Es erfreute sich vor allem in England großer Volkstümlichkeiti Aus der Übersicht der Hebe-Darstellung ergibt sich, daß die nächsten Parallelen zu der Komposition der Allegorie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in einem Porträt der Lady Stafford, geb. Frances Henrietta Jerningham von John Hoppner (1758 bis 1810), zu nnden sind. Das Bild war im Jahre 1805 in der Royal Academy ausge- stellt und wurde 1809 durch Henry Meyer ("f 1847) in Punktiermanier reproduziertö. Die enge Verwandtschaft der ungarischen Allegorie mit dem englischen Bildnis kann nicht zufällig sein. Szechenyi, der mehrere Male England besuchte, mußte entweder Hoppners Gemälde gesehen oder seine Reproduktion erworben haben. Die Allegorie hat aber in den zeitgenössi- schen und späteren Kommentaren nicht nur diese mythologische BedeutungV. Nach einigen Beschreibungen bezieht sie sich auch auf die „Zivilisation Ungarns", auf die Hebung der kulturellen Zustände des Lan- des, die mit der Aufgabe einer wissenschaft- lichen Institution gut im Einklang stehtK. Für eine weitere Interpretationsmöglichkeit enthalten die Aufzeichnungen Szechenyis AnhaItspunkteQ. Darnach versinnbildlicht der Adler Szechenyi selbst, die Frauen- gestalt aber seine spätere Gattin, Gräfin Crescence Seilern, die in der Zeit der Ent- stehung der Allegorie noch die Frau des Grafen Karoly Zichy gewesen ist. S0 schreibt Szechenyi am 30. Januar 1826 in seinem Tagebuche: „Sie (Crescence) wird bestimmen, ob ich fortdienen, ob ich quittieren werde. (Er war nämlich in dieser Zeit I-Iusarenhauptmann.) Die Amphitrite (I), die einem (!) Adler zu trinken gibt." Und am 15. April 1830 schreibt er an Crescence: „Ich dachte an Sie als mir die Idee des Gemäldes kam. Vous devez faire sortir le vieux Scythe, que l'aigle represente, de Tenebres." Die Meinung, daß die Allegorie als Porträt von Crescence ange- sehen werden müsse, ist jedoch abzu- lehnen 10. Im Jahre 1846, nach dem Tode ihres ersten Gatten, wurde sie die Frau des Akademiebegründers, doch es ist un- wahrscheinlich, daß dieser die Personen