Alfred Stange VIER SÜDFLANDRISCHE MARIENTAFELN w EIN BEITRAG ZUR GENESE DER NIEDER- LÄNDISCHEN MALEREI Es ist bedauert worden, daß Erwin Panofsky in seinem fundamentalen Werk „Early Netherlandish Painting"l allein Schöpfung und Entwicklung der Patres ausführlich gewürdigt hat, die Nachfolge bis hin zu Quentin Massys aber nur in einem Epilog am Leser vorüberziehen läßt. In lder Tat, es wäre ein unvorstellbar kostbares Ge- schenk geworden. Aber eine Geschichte der niederländischen Malerei zu schreiben, war keineswegs Panofskys Absicht. Mit diesem Wunsch darf man das Buch nicht zur Hand nehmen; man würde es miß- verstehen. Vielmehr war es sein Ziel, die säkularen Voraussetzungen und Anfänge der niederländischen Malerei aufzuzeigen und zugleich die Symbolik der mittelalter- lichen Kunst zumeist weit ausholend am Beispiel niederländischer Malwerke darzu- legen und damit deren Charakter zu be- leuchten. Beides ist ihm, das Material bis in den letzten Winkel beherrschend, in einem wahrhaft bewundernswerten Umfang gelungen. Vielleicht wird Panofsky nicht allen Werken gerecht, und gewiß ist er in seinen Umgruppierungen mitunter kühn Z, es sind letztlich Kleinigkeiten, die Panof- skys Konzeption in keiner Weise berühren. Sein Buch ist und bleibt cin grandioser, allenthalben zukunftsweisender Wurf, der die stagnierende Erforschung der altnie- derländischen Malerei in einer höchst geistreichen und glücklichen Weise re- volutioniert, indem er tiefer schürfend und weiter ausgreifend ihre wahren Wurzeln aufzeigt, indem er Form und Inhalt in eins neu erschaut und auf methodisch bisher unbegangenen Wegen ihr gerecht wird. Die niederländische Malerei - nicht nur die ihrer Gründer - steht insgesamt seitdem mit einem neuen Gesicht vor uns. Panofsky beginnt seine Darstellung nicht mit den van Eyck, wie es seit den Historio- graphen der Renaissance üblich geworden ist, sondern mit Robert Campin, dem Meister von Flemalle, den er 7 wie zuvor schon Tolnayi - als den einen Begründer der niederländischen Malerei erweist. Jan van Eyck begegnet in der Ölberg-Miniatur des Turiner Stundenbuch-Tcils zuerst um 1415-1417, und Hubert scheint, wenn seine Kunst auch altertümlicher ist, kaum viel älter gewesen zu sein. Robert Campin aber ist bereits 1406 oder 1407 Meister geworden, und seine Frühwerke sind dem Trecento noch sehr wesentlich verpflichtet. Die späten Werke seiner Hand lassen freilich Anregungen von seiten Jan van Eycks erkennen, und ganz wesentlich ist Roger van der Weyden von dessen Genie beeinliußt gewesen. Umgekehrt setzt die Verkündigung des Genter Retabels zwei- fellos Campins Merode-Altar voraus. Cam- pin mag etwa zehn, vielleicht auch fünf- zehn Jahre älter als Jan van Eyck gewesen sein. Und weiterhin zeigt Panofsky, daß Robert Campins Form zum Teil wenigstens aus wesentlich anderen Voraussetzungen gekommen ist, daB Rogers Schaffen, so sehr es von Jan van Eyck angeregt war, ursprünglich in einer anderen Tradition gewurzelt hat und diese andere Tradition eben in der Kunst von Robert Campin crfaßt werden kann, womit als Schluß unumgänglich gilt, daß die niederländische Malerei nicht nur aus einer, daß sie viel- mehr aus zwei Wurzeln erwachsen ist. Brügge war nicht ihr einziger Ursprungs- ort, Tournai War ein anderer und nicht weniger wichtiger. Gewiß haben den einen oder anderen Forscher ähnliche Überlegungen schon länger beunruhigt, Erwin Panofsky hat sie als Tatsachen gleich wie in Marmor ge- hämmert erwiesen. Uns muß im Hinblick auf einige Marientafeln, von denen in der Folge dieser Panofskys Ausführungen nach- spürenden Betrachtungen zu sprechen ist, das Problem Robert Campin gegenüber Jan van Eyck beschäftigen. 1. Wie in den folgenden Jahrhunderten sind die Niederlande auch in den Jahrzehnten vor Robert Campin und Jan van Eyck schon reich an künstlerischen Talenten gewesen. Es waren offensichtlich so viele, daß die Städte nicht für alle Arbeit und Brot bieten konnten; bessere Entfaltungs- möglichkeiten boten schon die benach- barten deutschen Landschaften, mehr noch haben die französischen Höfe in Paris, Dijon, Bourges gelockt. Hier fanden die Besten Aufträge, die ihnen angemessen waren. Jean de Bando], der Zeichner der Apokalypse-Teppiche in Angers, stammte aus Brügge, Claus Sluter aus Haarlem, Melchior Broederlam aus Ypern, Jacques Coene wiederum aus Brügge, Andre Beau- neveu aus Valenciennes im Henncgau, Henri Bellechose aus Brabant, die Sippe der Malouel, die Brüder von Limburg, aus Geldern4, Jacquemart de Hesdin aus dem Artois. Allenthalben, in Gent, Brügge, Arras, Tournai, Lüttich, Maastricht und auch in Utrecht muß es Wenigstens seit dem 14. Jahrhundert Werkstätten gegeben haben, und zugleich erweist sich, daß es lokale oder doch landschaftliche Tradi- tionen gegeben hat, wenn auch oder weil Austausch und Verkehr stets lebhaft ge- wesen sind. Panofsky hat diese lokalen Werkstätten, Schulen und Traditionen aufgedeckt oder doch aufzudecken sich bemüht, denn viel- fach mußte es bei einem Versuch bleiben, da nur ein winziger Bruchteil des ehemals Geschaffenen und Vorhandenen auf uns gekommen ist. Aber es rnußte versucht werden, und es rnuß immer weiter gesucht werden, denn nur wenn wir diese nord- westeuropäischen Bestände des späteren 14. Jahrhunderts bis zum letzten Rest durchkämmen, ordnen, analysieren und hinsichtlich ihrer Bedeutung für zukünftige Entwicklungen im frankovlämischen Raum werten, ist zu hoffen, die Verschiedenheit der Kunst von Jan van Eyck - gebürtig aus Maastricht oder dem nördlich davon gelegenen Maaseyck 4 und der Kunst der von Tournai ausgegangenen Künstler, also Robert Campins und Rogers van der Weyden, zu erhellen. Diesem Bemühen bieten sich vornehmlich illuminierte Hand-