Die Wirkung dieses Gedenkens auf den Beschauer ist dabei in besonderer Weise erreicht. Bei ihrer Erklärung muß aber die Behauptung über Berninis Kunst zurück- gewiesen werden, sie sei in irgendeinem Betracht illusionistisch, sofern das heißen soll, sie erwecke den Anschein von realen Ereignissen, ohne daß zugleich jeder auch nur geduldete Versuch freundlicher Täu- schung ausgeschlossen ist; oder insofern es heißen soll, der Betrachter hätte in irgend- einer Weise an den dargestellten Gescheh- nissen zu partizipieren, sei es auch nur in freundlich nahcgelegtcr Träumerei. Was mit Illusionismus gemeint scheint, bedarf einer sorgfältigeren Bestimmung. Im Jüngsten Gericht Michelangelos ist uns eine Vnr-rlellung gegeben; und um, die wir in der Sixtinischen Kapelle iind, ist zugleich klargemacht, daß der Inlmll dieser Vor- stellung uns an Größe gewaltig übersteigt. In der Decke der gleichen Kapelle ist uns in den Propheten und Sibyllen und den um sie herum zu treiTenden sonstigen Vor- stellungsinhalten wieder eine Vorstellung, deren Inhalt uns an Größe gewaltig über- steigt, gegeben und darüber hinaus noch klargemacht, daß er in der Höhe, über uns erhaben, seinen Ort hat. (Wie die einzelnen Inhalte w Historien, Propheten usw. - sich im Einzelnen wieder zueinander ver- halten mögen, ist dafür, daß es sich um Vorstellungen handelt, gleichgültig.) Im Prinzip ist auch das Gaukelspiel der Per- siflage in Galleria Farnese der Inhalt einer Vorstellung, die für erhaben und groß ausgegeben wird. Aber auch bei Bernini haben wir solche Vorstellungen vor uns. Neu ist nur, und das ist das Wesentliche, daß z. B. der Priester die Handlung {winken der Unio mystica und der Auferstehung der Toten, zwischen den vorgestellten Exempla, vollzieht; ja, mehr noch, daß er, wenn er zu Boden schaut, die Toten sich freuen sieht, für die der Himmel, den er nur sieht, wenn er sich nach oben wendet, oiien ist; das heißt, daß die Vorstellungsinhalte, genauer: die Teile eines einzigen Vorstellungsinhaltes so auf- einander verwiesen sind, daß er, vom einen zum anderen, nur über sich (sich drehend und wendend) kommen kann. Die Rich- tungen, die reinen Richtungen der unab- dingbaren Verweisungen (nicht aber deren Inhalte) sind mit den reinen Richtungen der dem Priester mölglirben Bewegungen (nicht aber deren Zielen) identisch. Dadurch haben diese Inhalte, über die von Michelangelo vorgestellten hinaus, eine Wirklichkeit; eine Wirklichkeit, die aber in keinem Illusionis- mus besteht; vielleicht, daß unter dem Eindruck der herrschenden Lehre, leichter auf einem anderen Gebiet ein Vergleich zu finden wäre: im Preußen des 19. Jahr- hunderts möchte so durchaus ein Mann denkbar sein, der in keiner Situation von seinem Pflichtbewußtsein, das er an Fried- rich II. geschult habe, loskomme; er lebe in fortwährendem tätigen Gedächtnis des großen Königs: so wird er vielleicht wirk- lich nichts tun, auf das das Gedächtnis dieses 8 Königs nicht von bestimmendster Wirkung wäre; wohin er sich wendet, er wird seiner denken; was ihm begegnet, wird ihn an ihn erinnern: gleichwohl bleibt er, nicht Don Quijote, fern davon, den König für etwas Lebendes zu nehmen. In der Cornaro- kapelle haben die Vorstellungsinhalte in gleicher Weise Wirklichkeit und Macht; doch ohne jeden Illusionismus, sowohl ohne die Illusion, daß die Inhalte möglicher- weise real wären, wo sie nur Vorstellungen sind; wie auch ohne, daß die Vorstellungen Illusionen wären, denn sie sind wirklich und voll Macht. Und diese Wirklichkeit führt entsprechend dazu, daß der Priester, der, um die Vorstellung in ihren Teilen anzusehen, immer über sich selbst geht und sie so erfahren kann, zugleich, wie und wohin immer er sich bewegt, solange er nicht die Augen schließt und zu leben aufhört, auf Teile dieses einen Vorstellungs- inhaltes stößt und in deren unabdingbaren Verweisungen die Wirklichkeit dieser Vor- stellung als Macht erfahren rlmß. Michelangelos Gestalten in der Sixtina waren bloße Vorstellungen; in ihnen waren Maße aufgestellt, die Michelangelo wesent- lich schienen und an denen der Betrachtet zwar nichts mehr ändern konnte; aber er konnte sich von Michelangelos Werken als bloßen Vorstellungen, wozu sie ihn souve- rän genug ließen, abwenden. Von Berninis Gestalten in der Cornarokapelle, die in ihren eigenen Relationen in alle nur denkbar- möglichen Richtungen der Menschen ver- wiesen sind, kann man sich nicht abwenden; man kann sich nur gegen sie wehren A wobei Jacob Burckhardt, als lehrreiches Beispiel, diesen Unterschied beider durch- litten hat. i Für uns hier gelte, daß der Priester, wohin immer er schreite, sich neige und die Arme erhebe, fortwährend, unablcnkbar, ja immer hingelcnkt in diesem dreifach entfalteten und im Gedenken zusammengenommenen Gedächtnis der Heilswirkung Gottes lebt. Wodurch hier ein Ort geschaffen ist, der nach Raum und Zeit entfaltet, vollständig ist, irreal und wunderbar. Ein Ort, den Bernini auf dieser Stufe seiner Entwicklung, nur vom Priester, nicht von den Gläubigen, die außerhalb der Chorschranken bleiben müssen, nicht auch, nicht einmal in der Vor- stellung, von den dargestellten Mitgliedern der Stifterfamilie Cornaro betreten wissen wollte, die von Logen aus in „ewiger Anbetung" der Feier der Messe an dem Altar, dessen Altarbild die Unio mystica der Therese zeigt, in der Kapelle, wo zu- gleich der Auferstehung der Toten gedacht ist, beiwohnen. Sie tun dies als Vorbilder für die Andächtigen, lesend, betend, schau- end, diskutierend: frei weilend, wie Bernini es in Raffaels Disputa, die für die räumliche und Sinnordnung in manchem ein Vorbild war, sehen gelernt hatte. Außer Bernini aber, so ist zu schließen, ist kein Künstler zu Finden, der, wie er, hier, in S. Andrea al Quirinale, und im heiligen Bezirk von St. Peter, das Wesen der römischen Kirche anschaulich und wirklich gemacht hätte.