ableiten, etwa im Sinne der Abfolge von Früh- und Hochrenaissance. Ebensowenig wie die Hochrenaissance ein „ausgereiftes" Quattrocentro ist, vollendet der strenge Historismus die Intentionen des roman- tischen Historismus. Vielmehr bekunden beide eine grundsätzlich andersartige Hal- tung, die sich etwa in der verschiedenen Verwendung der historischen Stile aus- drückt. Der romantische Historismus wollte aus den Stilen der Vergangenheit eine neue Einheit schaffen. Der strenge Historismus dagegen glaubte, mit den unverfälscht übernommenen Elementen vergangener Stile, die er wie Vokabeln in einem Satz verwenden zu können meinte, jede be- liebige Aufgabe zu bewältigen, auch die der Vergangenheit unbekannten Bautypen, wie sie das 19. Jahrhundert zu lösen hatte. Be- herrscht von der Idee der Stilreinheit, die zum Leitmotiv der Restaurierungen wurde, suchte man jene Epochen aus, in denen sich der jeweilige Stil scheinbar in seiner idealen Reinheit darbot. Hochgotik und Hoch- renaissance vor allem mußten Anregungen borgen, während die Spätzeiten der Stile gern als Verwilderung und Verfall ver- urteilt wurden. Man suchte offensichtlich nach objektiver Richtigkeit, die man durch die Anwendung erprobter Formeln zu erreichen glaubte; von den Experimenten eines subjektiven Künstlertums hingegen erwartete man irrationale Auswüchse, die als ein Einbruch in das auf dem Gedanken der Sicherheit aufgebaute Weltbild er- scheinen mochten. Diese Theorie, als deren Sprecher besonders Rudolf Ritter von Eitelberger hervortrat, der Schöpfer des Wiener Kunstgewerbemuseums und erste Kunsthistoriker auf dem Wiener Lehrstuhl, predigte den Blick auf das Detail, ebenso wie die stilkritische Methode Morelliss damals im Vergleich der Einzelheiten, der Handschrift des Künstlers, die Mittel zur Erfassung der Künstlerpersönlichkeit sah. Der Unterschied zwischen den beiden Phasen des Historismus kann nicht tief- greifender gedacht werden. Er wirkte sich auch in der künstlerischen Erscheinung aus. Wird beim romantischen Historismus - überspitzt ausgedrückt - eine scheinbar amorphe Baumasse an ihrer Oberfläche in zunehmendem Maße dekoriert und aufge- schichtet, so scheint im strengen Historis- mus im gesamten Baukörper das Prinzip der Orthogonalität zu walten und sich an der Oberfläche abzuzeichnen. Rationalität und klare Durchschaubarkeit der Anlage sind oberstes Prinzip. Über einem recht- winkeligen, rasterartig gezogenen Straßen- system erheben sich die Baublöcke, so als ob sie aus einer Gruppierung würfel- förmiger Einheiten zustande gekommen wären. Eine Art gebundenes System ordnet das Verhältnis der Einzelteile zum Ganzen; nicht umsonst hat diese Epoche das basilikale Aufrißsystem _ also einen überhöhten, belichteten Mitteltaum, flankiert von nied- rigen Anräumen - bei Museen, Konzert- häusern u. a. bevorzugt. Beim Wohnhausbau setzt sich der „Blockbau" durch, bei dem die zu einem Häuserblock zusammenge- 8 faßten Einzelhäuser Hof und Vestibül gemeinsam haben und nach außen hin wie ein einheitlich gegliederte: Vierkantcr wir- ken. Das schon gesprengte Hofsystem (Arsenal) dominiert neuerlich. Im Grundriß durchzieht ein wohl ausgebildetes, recht- winkelig gezogenes Gangsystem den Bau wie ein Skelett. Der hypertroph ent- wickelten Kommunikation fallt auch die Repräsentation zu, die oft auf Kosten der Nutzbarkeit übersteigen wird - was schon bei barocken Schlössern, etwa den Treppen- häusern, der Fall war; im 19._]ahrhundert wird dieses Prinzip, welches der Überhö- hung einer bestimmten Herrscherperson oder eines zentralen Gedankens diente (Schloß, Kloster) auf Bauten übertragen, in denen sich in einer Vielzahl stets wech- selnder Personen eine abstrakte Idee mani- festiert (Parlament, Universität). Am Außen- bau dominiert die starke Horizontal- gliederung, betont von Fenster- und Dach- gesimsen. Ganze Straßenzüge werden so oft zu einer optischen Einheit verbunden. Die durchweg stockwerkweise Gliederung nimmt gegenüber der vorangegangenen Epoche an Plastizität zu. Malerische Schat- tenwirkungen kommen zustande, und im gleichen Maße, wie diese steigen, wird die Farbigkeit des romantischen Historismus im strengen Historismus durch die Tonig- keit verdrängt. An Stelle des Rohziegel- baues wird Haustein bevorzugt, für den man besonders in der Sakralarchitektur (Ferstels Votivkirche)9 die alte Hütten- technik neu belebt. Die Eisenkonstruktion hingegen wird in Wien von der Neugotik abgelehnt, obwohl sie bei den technischen Bauten des romantischen Historismus (etwa Dianabad) gerne verwendet worden war. Der reine Glas-Eisen-Bau beschränkt sich irn strengen Historismus auf Nutzbauten, denen man keinerlei architektonische Be- deutung zumaß, während man sich bei Waren- und Wohnhäusern, aber auch bei Ausstellungsbauten (Rotunde der Welt- ausstellung 1873) der, auch durch Gesetzes- bestimmungen verlangten Verkleidung des Skelettbaues mit historischen Stilformen befleißigte. Bei den „Monumentalbauten" hat man diese Trennung von Struktur und Form möglichst zu umgehen getrachtet. Hält man all diese Momente gegeneinander, so ergibt sich eine eigentümliche Ausein- andersetzung der „fortschrittlichen" Elc- mente mit retrospektiven, zwischen denen ein Ausgleich gesucht wird. Diese Tendenz gibt dem strengen Historismus den Cha- rakter der Ausgewogenheit, die mit der Übernahme von Vorbildern aus „klassi- schen" Phasen historischer Stile in Einklang steht. Auch innerhalb des strengen Historismus kann eine Art „Entwicklung", ein Form- wandel, aufgezeigt werden. Die Frühsrufe ist in Farbigkeit und Formenrepertoire noch gelegentlich vom romantischen Historismus berührt und wird zum guten Teil auch von Architekten getragen, die aus dieser Kunst herauswachsen; Ferstels Bau des Kunst- gewerbemuseums oder Hansens Palais Erz- herzog Wilhelm zeigen schon die „kristal- I2 gozgried Semper, Kaiserforum, Enmurf1869 (KHM II - ) ANMERKUNGEN H - 11 5 Julius von Schlosser. Die Wiener Schule der Kunstgr- schichte. Wien m4 (Ergänzungsband zu den Miueilunpn des Immun für öszcrrcichisch: Gcschichufomhung). " Noxbcn Wibinl. Heinrich von Fcrstcl und du Historismus in der Baukunst des 19. jahrhundens. Ungcdrucktc Dissertation. Wien 1953. I" Alphons Lhorsky, Festschrift des Kunsthistorischen Museum: in Wien 1891-1941, 3 Bände 1941-1945, bes. Band l. Der Bau der Musten. 1' Erwin Ncumann. Friedrich Schmidt. Ein Beitrag zu seiner Monographic und zur Kunstgcschicht: des 19. 12h:- hundcrts. Ungedruckte Dbscrtation, Wien 1952.