Angelo Lipinsky DAS SCHATZKAM M ERBILD IN DER WALLFAHRTS- KIRCHE ZU MARIAZELL Die weit über die Grenzen Österreichs hinaus berühmte Wallfahrtskirche zu Ma- riazell in der Steiermark birgt in einer be- sonderen Kapelle ein Gnadenbild eigener Art. Während im Mittelschiff der Maria- zeller Basilika eine bedeutende romanische Holzplastik seit Jahrhunderten unüberseh- bare Pilgerscharen vorüberziehen sieht, findet auch das in der „Schatzkapell" ge- hütete kleine Gemälde der Muttergottes mit dem Kinde - eben das sogenannte „Schatzkammerbild" 4 seine frommen Beter. Es ist eine der kostbarsten Gaben an die Wallfahrtskirche und von König Ludwig dem Großen von Ungarn ge- stiftet, als er die Kirche neu erbauen ließ. LITERATUR Hans Pelschnig, Die Wnllfahrlxleirrlle Mnrin-z-u in Steiermark, "Minhcilungcn der Kaiser]. Königl. Cenrral-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Bzudenkmalc" XIV. 1969, s. 61-91. im Gnadenhild, s. sv-ss, niir der rur die dzmalige Zeit entschuldbarrn engerneinen Zuschrcibung "Schule des Giono". ...l'n . . ., Über die nrrnriinelirne Bestimmung de: w. srrinre- Ienmnm-Munergnnesbildzs zu Maria-Zoll, „Mirlhrilungcn dcr K. K. Ccnlral-Ciwmmission usw." xiv. 11m9. s. LlV-LV. Beide ziximcn Arbeiten crwähncn an Türkcnschlachr an der Marirzn 136a. Zum Maler Andmz Vrmni aus sien e F. Mzson Pnkins. Andrea Vanni, "Thc Burlinglon Mapzine" v, 190151309425. Dcxsclbv. dassclbü. niuur-gnn d'une dcl Miuislcro di v. I." xv. 1904. s. 141. c. dc Nicola. Andrea Varmi. nThieme-Beckcr. Allgemeines Künstlcrlcxikxxn" I, 19111. 464. F. Masun Purkins, A rryplir n, Andrm vnnni, .,Arr in Amcrica" 1x. 1921.s.1a0-1as. n. van Made, An early rmd lalr umrk by Andrea Vanni, "An in Amcrica" 1x. 11222, s. 230 - 2:2. A.M. Ciaranfl. Amirm Vnnni, "Enciclopedia iniinnr-xxxiv, Rom: 19.17, s. 975 - 976 Zum (Jaldsrhmied Piano .11 nnne nur siennr lsppolito Machetti, ornß Serie . ..La Diana" IV, Sicna 1929, .26: „a Napoli Lando a1 Pi ro e Pietro di Simon: che poi si reco in Ungheria" ferner die Jahreszahl 1330, ahne Quene und Begründung anzugeben. E. Hrrrvurh. sienn e ii prirnn Rinnxcimento Ungherzxi. sirenu- Budagesz ms. srwniinr, daß Pietro di Some ällS Siena zwisc cn ms und 1m ein neues großes Königssicgcl in- rerrigre und dafür wiederum eine busondcrc Ehrung crfuhr, Angela Lipinsky, Die Gnldnhmiedekimxt du Mittelnllzr: im Kunigreirh Neu 1:1. 11 Zur Zeit der Anjuu. ynDÜS Mümtrr" xxx. Münchcn196 ,in Druck. Derselbe. (Jnntrihuri per la storia delVarre nmfu nex Regnv 11a Nuyznli e Sizüia (n), Prerixazioni u [rvupasita de! „Rzliquiaria degli Sxruzzi" in Same Slefalio n cnpn, n 79m di Pirtrn di Sivnunz du Siend, "Nipoli Nnblisiimu" vi, 19 u, in Druck. 2 Dieses Marienbild ist bisher, Wenigstens soweit bekannt, noch nicht in seiner ge- schichtlichen Bedeutung richtig gewertet worden. In der einschlägigen Literatur über den Maden-Wallfahrtsort Mariazell findet man fast nichts über das „Schatz- kammerbild". Man begnügte sich anschei- nend mit der königlichen Herkunft des Gemäldes, seiner kostbaren Ausstattung, stellte sich jedoch nicht die Frage nach seiner Herkunft und den Umständen, durch welche es in den Besitz des Ungarn- königs gekommen warl. Die Goldschmiedekunst des Mittelalters im ehemaligen Königreich Neapel und Sizilien, mit deren Geschichte ich mich jahrelang beschäftigte, hat in der Zeit der Aniou eine unerhörte Hochblüte gezeitigt, deren erhaltene Werke freilich mühsam zusam- mengesucht werden müssen, nachdem kein Kunstinventar, keine ausführlicheren loka- len Beschreibungen, nur gelegentliche Hin- weise und veraltete Lokalliteratur verfüg- bar sind. Aber die Suche nach diesen Denk- mälern und eine Erkundung der geschicht- lichen Zusammenhänge 7 auch außerhalb des Hoheitsgebietes der einstigen Mon- archie, die bis 1918 auszudauern vermochte 7 ließen unerwartete Wege finden, auf denen die mit Neapel zusammenhängenden Kunstwerke in die Ferne gewandert sind 1. Die aus den nachfolgenden historischen Darlegungen sich ergebenden Schlußfolge- rungen vorwegnehmend, sei gleich hier gesagt: Das Marienbild als solches ist ein Werk des Andrea Vanni da Siena: Der Belag des Bildes mit emaillierten silber- vergoldeten Platten sowie die kostbare Umrahmung mit den vielen heraldischen Zeichen muß als Werk des in Neapel täti- gen Goldschmiedes Pietro di Simone da Siena angesehen werden, der nach Ungarn ausgewandert war. Ludwig der Große ist anläßlich seiner beiden Strafexpeditionen gegen Neapel 1346 und 1352 - zur Rache und Sühne der Ermordung seines Bruders Andreas - in den Besitz des Gemäldes gelangt. Er ließ es kostbar verzieren, um es dann wohl 1370, bei Beginn des Neu- baues von Mariazell, hier niederzulegen. Es sollte dieses nicht das einzige italieni- sche Kunstwerk sein, das Ludwig der Große von Ungarn aus Neapel in die Fremde brachte. Der König unternahm auch eine Heiltumsfahrt nach Aachen, wo er 1374 am Münster die „Ungarische Ka- pelle" errichten ließ. Hier stiftete er drei kleine Gemälde, fast genauso dekoriert wie das hlariazeller „Schatzkammerbild", sowie viele Edelmetallarbeiten, von denen einige noch erhalten geblieben sind. Das ein- malige Leuchterpaar und die Reliquiarien gehören wiederum in die Werkstätte des Pietro di Simone da Siena und sind zu Unrecht völlig vergessen 3. Das Gemälde ist eine rechteckige Holz- tafel mit einem erhöhten Rand. Nach links gewendet hält die Gottesmutter das sie segnende Kind auf dem rechten Arm, bereit, es mit der linken Hand näher an sich zu drücken. Dabei blickt sie etwas schräg auf den Betrachter. Die Haltung der lin- ken Hand läßt noch eine andere, sinn- vollere Deutung zu: Zärtlich hat die Mutter das Kind an sich gehalten, aber die linke Hand zurückgezogen, als sie des nähertretenden Betcrs gewahr wurde. Sie ist bereit, den Blick auf die ganze Gestalt Christi: freizugeben. Während das Kind der Mutter offenbar den Segen zuflüstert - das mütterlich liebevolle Horchen auf die Stimme des Sohnes motiviert die Neigung des Haup- tes -, scheint sie bereit, das ihr Mitgeteilte weiterzugeben: die Gottesmutter wird so- mit die Mittlerin der Gnaden. -- Die überaus zarte Behandlung von Haupt und Händen der Mutter und des Kindes, aber auch eine unleugbare Manieriertheit in der Akzentuierung der strengen Stili- sierung weisen auf einen Meister der ab- klingenden Malerschule von Siena. Wenn auch nur noch wenige sichere Werke von ihm erhalten geblieben sind, so erscheint die Zuschreibung auch des Mariazeller „Schatzkammerbildcs" an Andrea Vanni ohne weiteres als annehmbar. Um so mehr, als dieser Künstler in seiner Heimat eine ganz bedeutende Rolle auch im politischen Leben seiner Zeit gespielt hat. Sind auch die Zusammenhänge der Bild- hauer- und Malerschulen von Siena mit Neapel längst geklärt und mehrfach dar- gestellt worden 4 jene der sienesischen Goldschmiede mit Neapel und später auch mit Ungarn, erhellen aus dem Vergleich mit Goldschnuedewerken, mehr aber noch mit den transluziden Emails sienesischer Meister und jener, die in Neapel und Sulmona arbeiteten. Was Andrea Vanni betrifft, so sollte dieser noch näher mit Neapel sich verbinden. Von seinem Leben weiß man nicht viel: sein Geburtsdatum ist unbekannt, wird aber in das dritte Jahrzehnt des XIV. Jahr- hunderts angesetzt. Er gehörte zur Ge- folgschaft der heiligen Katharina von Siena. Was ihn veranlaßt haben mag, sich in den Dienst seines Stadt-Staates zu stellen, weiß man nicht; jedenfalls muß er ein ungewöhnliches diplnmatisches Talent bewiesen haben, denn er wurde mit vielen Missionen betraut - was ihn natürlich in seiner künstlerischen Arbeit sehr behindert haben muß; es erklärt sich daraus, daß trotz seines verhältnismäßig langen Lebens nicht sehr viele Werke entstehen konnten.