Kurt Lüthi KIRCHENBAU ALS BEKENNTNIS ZUR RATIONALITAT Eine theologische Interpretation zur Seel- sorgeanlage Baumgarten, Wien. von Archi- tekt Johann Georg Gsteu. Es mag angesichts der ökumenischen Situation im modernen Kirchenbau wenig auffallen, daß ein evangelischer Theologe aufgefordert wird, einen katholischen Kirchenbau zu kommentieren. Und doch ist es sinnvoll, darüber zuerst ein grundsätzliches Wort zu sagen. Wenn es wahr ist, daß der für Gestaltung Verantwortliche, also der Künstler, der Architekt usw. in seinem Werk Zukünftigem Raum in der Gegenwart verschafft, dann bedeutet Ökumene im Bereich des Kirchen- baues Symptom einer andrängenden, noch aus- stehenden, aber unmittelbar bevorstehenden Wirklichkeit. Der Kirchenbau überspringt iene Grenzen zwischen den Konfessionen, die wir in der Lehre und in den dogmatischen Aspekten der Konfessionen, noch nicht überspringen können. Nimmt aber der Kirchenbau damit nicht schon eine zukünftige Gemeinschaft vor- weg? Es werden immer mehr Kirchen gebaut, in denen wir uns (mit geringen Veränderungen, die eine auf Mobilität ausgerichtete Ausstattung schon hergibt) sowohl den katholischen wie den evangelischen Gottesdienst vorstellen kön- nen. Damit stellen kühne Gestaltungen konfes- sionell-dogmatische Gegensätze schon in Frage. Die Hartnäckigkeit dogmatischer Debatten wird von Gestaltungen her relativiert. Aus diesem Grunde ist der Versuch, ein Werk des katho- lischen Kirchenbaues von evangelischer Seite her zu interpretieren, sinnvoll! Und wenn gar ein Bauwerk entsteht, das sich - wie die Seel- sorgeanlage Baumgarten, die der Wiener Archi- tekt Johann G. Gsteu geschaffen hat - auch rational so bedeutsam ausweist, das sich dem Denken und Nachdenken bewußt stellt, so fühlt sich der Protestant erst recht angesprochen. Daß dieser Versuch von einem Architekten unternommen wurde, der sich bekenntnismäßig zum Katholizismus stellt, macht Ökumene im Kirchenbau zur herausfordernden Wirklichkeit. Beschreibung Wer die Seelsorgeanlage Baumgarten aufsucht. beachtet zuerst die sinnvolle städtebauliche Einordnung und Lösung. Die Gestaltung selber führt aus der Bewegtheit der Verkehrszone heraus, wobei in diesem Übergang die Verbun- denheit von „Kirche" und ,.Welt" gewahrt wird. Vor uns stehen auf quadratischen Grundrissen aufgebaute, durch und durch klare Baukörper in einer überzeugenden Zuordnung des Haupt- 1 Johann Georg Gsteu, Seelsorgeanlage Baumgarten, Wien 14, Aufrlß 2 Johann Georg Gsteu, Seelsorgeanlage Baumgarten Wien 14, Grundriß mit Schema: 1 Altar 8 Glockenträger 2 Wortverkündigung 9 Bastei 3 Session 10 Pfarrhof 4 Sakramenlstele 11 Sakristei, Kapläne 5 Taufbecken 12 Pfarrsaal 6 Beichte 13 Freialtar 7 Umgang 14 Parkfläche (ein Ge- schoß höherliegend) 3 Johann Georg Gsteu, Saalsorgeanlage Baumgarten, Wien 14. Gesamtanlage in der Draufsicht Richtung Stadtzenrrum (Planung Johann Georg Gsteu - Wett- bewerb 1960 - Baubeginn 1963 - Kirchweiha 1965) 4 Johann Georg Gsteu, Seelsorgeanlage Baumgarten, Wien 14, Blick von der Hütteldorler Straße-Karl Toldt- 99 5 Johann Georg Gsteu, Seelsorgeanlage Baumgarten. Wien 14, Umgang mit Bastei und Gluckenträger 42 11.] baues zu den Nebenbauten. Diese Zuordnung schafft eine mehr öffentliche und eine mehr geborgene Zone. Damit sind Gottesdienste im Freien und Umgänge möglich, aber beispiels- weise auch mehr weltliche Theaterspiele. Die gleichsam sprechende Gestaltung regt so- fort die Phantasie an, die Mehrzweckmöglich- keiten auszunutzen. Der zentrale Kirchenbau selber besteht aus vier Raumteilen, geschaffen durch eine eindrucksvolle Kragkonstruktion. Formal grundlegend ist immer das Quadrat und dessen Abwandlungen. Die vier Hauptteile be- rühren sich nicht und damit entsteht an Wand und Decke die charakteristische Lichtzone. das Lichtkreuz; die Enden der Lichtbänder sind zugleich die Eingänge, womit das manchmal so zufällige Einfügen der Türen überfl sig wird. Das beherrschende Lichtkreuz ist zunächst, das muß betont werden, in keiner Weise symbolisch gemeint, sondern ergibt sich zwingend aus der Konstruktion. Die Spannung aber zwischen den strengen Raumteilen und ihren Abwandlungen und der Lichtzone macht nun doch die unver- wechselbare Faszination gerade dieses Kirchen- raumes aus. Weiter ist sofort klar zu beobachten und sauber nachzukontrollieren, daß die tra- gende Sichtbetonkonstruktion hinübergeführt wird zum Holz, aus dem Boden, Sitze und alle Geräte und Gegenstände gemacht sind; auch hier herrscht das quadratisch Strenge vor, wobei wieder das Quadrat in Varianten abgewandelt ist. Nicht aus Holz sind einzig Altar, Taufbecken, Tabernakel. Hier fällt einem die Verwendung des Kunststoffes Folyester auf. Dieser wirkt einerseits festlich-herausgehoben, aber er bleibt anderseits dem Grundprinzip treu: er hat etwas Technisches, das sich der Nachkontrolle nicht entzieht. V Das visuelle Erlebnis des ganzen Kirchenraumes besteht in derSpannung zwischen den Grautönen des Betons, den Lichttönen und der ruhig-natürlichen Farbigkeit des Holzes; die Nebenräume nehmen diese Spannung in genauer Entsprechung auf, wobei gleichsam eine Abwandlung vorn Festlichen ins Werk- tägliche erfolgt. Die Strenge der Konstruktion beherrscht aber überall das Ganze und das Detail (etwa die Bestuhlung). Es ist klar, daß dieses Werk ein kühnes Ex- periment bedeutet, das auch Rückfragen heraus- fordert (vgl. dazu z. B. Friedrich Achleitner: „Bis zur Grenze modularer Ordnung - Neues Bauen kritisch betrachtet", Presse, 5.16. Februar 1966). Deutung Die Kommentierung wird sachgemäß mit der auffallendsten Tendenz des Werkes einsetzen: