Döncs Radocsay ILLUMINIERTE ABLASS- BRIEFE AUS AVIGNON IN WIEN Die Avignoner päpstlichen Ablaßbriefe in ihrer erfaßbaren Gesamtheit erweckten zuallererst das Interesse der Historiker und Archivare. J. B. Nordhoffs Mitteilung aus dem Jahre 1889 ist die erste Veröffentlichung, welche aus- schließlich diese Diplome selbständig behan- delt. Erst ein halbes Jahrhundert später folgen dieser 7 nach den zwanziger Jahren - weitere Arbeiten. Die umfassenden Sammelarbeiten, die Studie und der Katalog von W. Erben und H. Delehaye schaHen jedoch die Basis für alle nunmehrigen Untersuchungen. Durch die Beschreibung weiterer Urkunden erweitern B. F. Fournier und L. Santifaller den Kreis der früheren Kenntnisse. Schließlich übernimmt O. Hamburger 1957 als erster die Aufgabe, die verzierten illuminierten Diplome auch in den Interessenkreis der Kunstgeschichte einzube- ziehenl, ihm folgend publiziert K. Holter vor- erst die Ablaßbriefe von Wels, später die von Oberösterreich 1. Trotz des erst spät wachgewordenen kunst- historischen Interesses besteht jedoch kein Zweifel darüber, daß unsere Avignoncr Ablaß- briefe mehr Aufmerksamkeit verdienen, als ihnen bis heute zuteil wurde. Diesen Kultur- dokumenten sollte schon ihres eigenwilligen gestalterischen Reichtums wegen mehr Beach- tung geschenkt werden, ebenso im Hinblick darauf, daß durch diese Diplome das Gesamt- bild der internationalen Kunst des päpstlichen Hofes zu Avignon sich vollständiger und farbi- ger darbietet. Ein weiterer Grund ist der eigen- artige Stil der Illumination und der oftmals zur Volkskunst tendierende Charakter, welcher den Ausdruck der Vielschichtigkeit der Ebenen des künstlerischen Schaffens darstellt. Dem heutigen Stand der Untersuchungen zufolge erwähnten die Urkundenpublika- tionen des vergangenen Jahrhunderts und die neueren Studien bisher 115 illuminierte Avignoner Ablaßbriefe mit Figuralverzierung. (Hierbei werden die früheren, nur durch kalligraphische Initialen verzierten Diplome und jene, bei denen das Feld des Initials leer ist, da die Bemalung aus nicht bekanntem Grunde unterblieb, nicht in Betracht gezogen.) Von diesen 115 Diplomen wurden bisher nur 45 veröffentlicht und weitete 70 warten auf ihre Publikation. Homburger erwähnt in seiner grundlegenden Arbeit etwas mehr als 50 illuminierte Ablaßbriefe. Er gruppiert die Diplome auf Grund ihrer Charakteristika und zieht aus seinen Stilbeobachtungen Schlüsse über die Diplommalwerkstätte in Avignon. Das ungleiche Verhältnis von bereits publi- zierten zu den noch nicht publizierten Ablaß- briefen an sich deutet bereits auf die künftigen Aufgaben in dieser Richtung hin. Zur bes- seren Gesamtorientierung wird es nötig sein, letztere sobald wie möglich in den Kreis der kunsthistorischen Untersuchungen miteinzu- beziehen3 und gleichzeitig auch in den Archi- ven und unter den alten Schriften der Kirchen weitere Forschungen durchzuführen. Wie die nun im folgenden beschriebenen, bisher unbe- kannten Wiener Ablaßbriefe beweisen, können in kleineren und größeren Sammlungen noch manche bisher unbekannte illuminierte Di- plome gefunden werden. In dem zusammenfassenden Werk über die Geschichte der französischen Malerei sowie in der Geschichte der französischen Miniaturen von Porcher4 werden unsere illuminierten Ablaßbriefe nicht erwähnt, auch nicht in dem kleineren Band Laclottes über die Malerei von Avignon und der Provence aus dem 14. und 15. Jahrhundert5. Mit diesem sicher bewußten Verschweigen lassen die Monographien er- kennen, daß unsere Urkunden 7 zwar auf französischem Boden entstanden - sich nicht in den Ablauf der französischen Kunstge- schichte eingliedern lassen, was beweist, daß sie ihrer geringeren künstlerischen Qualitäten sowie ihres selbständigen Charakters wegen nicht neben die bedeutendsten Werke der französischen Malerei gestellt werden kön- nen. Die Wiener Ablaßbriefe aus Avignon sind zwar von der Geschichte der mittelalterlichen französischen Malerei unabhängig, fügen sich aber doch dem inhomogenen Bild der inter- nationalen Kunst Avignons im 14. Jahrhundert gerade wegen ihres eigenartigen Stils ein. Am päpstlichen Hof sind neben den französi- schen Künstlern auch solche aus Siena, vom Rhein, wciters Flarnen, Spanier, Katalanen und Engländer tätig. Die Miniatoren der Ablaß- briefe erweitern den Kreis dieser internatio- nalen Künstlcrgemeinschaft. Homburger stellt fest, daß einer der führenden Meister der Werkstatt (zwischen 1328 bis 1337), aus dem Oberelsaß, Südbaden oder aus der Nord- schweiz stammte. Der Stil unserer Ablaßbriefe ist weder mit jenem der Tafelmalereien noch mit dem der durch sorgfältige Feinheit ausgezeichneten französischen Miniaturen und auch nicht mit den chronologisch auf diese folgenden übrigen illuminierten französischen Diplomen ver- wandt 6. Diese Urkunden sind vielmehr eigen- ständige Produkte des päpstlichen „scripto- riums". Im Laufe einer Entwicklung über vier Jahr- zehnte erfahren sie weder dem Stil noch dem Typ nach größere Veränderungen. Ist die eine Gruppe der Miniaturen durch primitive Zeichnung, betonte Konturlinien, geschlos- scne Formen charakterisiert, so ist es eine andere Gruppe durch fleckenartige Malweise und frcskcnartige Großzügigkeit. Diese Ab- laßbriefe wurden jeweils mit wenig Farben gemalt, und eines ihrer stärksten Charakteristika ist, daß die Körpetfarben größtenteils als unbemalte Pcrgamentoberflächen erscheinen. Es hat ganz den Anschein, als sei dieser lokale Stil ohne weitere Verbreitung und Fortsetzung geblieben, nur an die Ablaßbriefe aus Avignon gebunden, und seine Entwicklung hätte in den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts ein Ende gefunden. Der älteste der in Wien aufbewahrten Ablaß- briefe aus Avignon ist vom 30. September 1327 datiert und erteilt für den Jodok-Altar in der Marienkapelle im Hause Ottos und Haimos in Wien den Ablaß7. Er repräsentiert im Ensemble der illuminierten Avignoner Di- plomc die einfachste Ausführung. Homburger hat diesen Typ beschrieben, sein Bild reprodu- ziert, und seinen Feststellungen sind keine weiteren Bemerkungen hinzuzufügen.