im rechten Buchstabenschaft ein kniender
Mönch, auf dessen Textband sein Gebet
„exaudi me clamantem ad te" zu lesen ist.
Den Hintergrund der Darstellungen bildet ein
quadratisch gegliedertes Feld. Die große
mittlere Darstellung ist mit gutem Raumgefühl
komponiert, die Figuren sind schlank, ihre
Köpfe verhältnismäßig klein, ihre Körper von
mit breiten Pinselstrichen geformten, weich-
gefalteten Umhängen bedeckt. Die Urkunde
ist kaum ein Jahr vor dem Schreiben der
St. Florianer Konventkirche vom 31. ()ktober
134015 entstanden, an welches der Wiener
Ablaßbrief sowohl durch die Proportionen
seiner Figuren wie auch die Malweise der
Drapierung, ja sogar durch die Buchstaben-
typen des Textes anknüpft.
Einen weiteren in der Albertina aufbewahrten
Ablaßbrief von Pusarnitz vom 12. April 1342
(Abb. 2)16 schreibt Holter dem Meister der
Urkunde von St. Florian zu. Neben ihren
zweifellos sichtbaren Ähnlichkeiten sind aber
doch auch die formalen Unterschiede zu be-
achten: Die Falten auf dem St. Florianer
Dokument sind derber, die Figuren auf der
Arbeit von Pusarnitz schlanker und fein-
gliedriger, ihre Bewegungen gezierter. Ange-
sichts dieser etwas abweichenden Züge scheint
es fraglich, ob diese beiden Urkunden der
Hand des gleichen Miniators zugeschrieben
werden können. Die Stilmerkmale des Diploms
aus der Albertina zeigen außerdem noch in
eine andere Richtung. Die längliche Form des
in die Wölbung des Buchstabens N eingeschlos-
senen Christushauptes kann der Art nach mit
dem Christusbild der Urkunde von Säckingen
vom 30. September 1335, sein dünnerer Bart
mit jenem vom Ablaßbrief aus Purgstall vom
28. März 1331 verglichen werden17.
Für die Illuminierung der Pusarnitzcr Urkunde
ist trotz der erwähnten Stilverwandtschaften
doch nicht ein unmittelbares Anknüpfen an
die vorhergehenden Urkunden, sondern eher
eine Befreiung von diesen, eine neuartige
künstlerische Anschauungswcise bezeichnend.
Ihr Meister ist begabter als die Miniaturen der
früheren Ablaßbriefe; er prägt innerhalb der
Avignoner Werkstatt einen völlig neuartigen
Stil, und gegenüber den etwas derben Figura-
tionen der früheren Urkunden sind seine
Figuren schlanker, von noblerer Art, zierlicher
und gleichzeitig manieristischer. Mit dem
Pusarnitzer Dokument am stärksten verwandt
ist der Ablaßbrief von Pergkirchen in Ober-
österreich vom 27. März 1342 (Abb. 6)13,
zwischen Fertigstellung dieses und des ersteren
liegen nur zwei Wochen.
Den reitenden hl. Martin im Initial charakte-
risiert dieselbe verspielte Leichtigkeit und
manieristische Geziertheit wie die Figuren der
Urkunde in der Albertina. Auf beiden Doku-
menten finden wir die Gestalt der hl. Katha-
rina: auf dem Pergkirchener im rechten Schaft
des U-Initials und am rechten Rand auf dem
Pusarnitzer Diplom. Haltung, Proportionen,
Drapierung der Falten sowie die Bewegung
beider Figuren sind einander äußerst ähnlich,
sie halten ihre Säbel und Räder in der gleichen
Art. Erwähnt soll noch werden, daß die drei
kleineren Miniaturen der Anfangszeilen des
Ablaßbriefes aus Oberösterreich ebenfalls un-
bedeutender sind, wie auch das Christushaupt
12
im N-Buchstaben der Albertina-Urkunde kon-
servativercn Stils ist. Im Hinblick auf derartige
stilistische und formelle Übereinstimmungen
kann es auch hier kaum einen Zweifel geben,
daß die beiden Diplome die Pinselschrift des
gleichen Meisters tragen. (Holter schreibt dem
Miniator des Ablaßbriefes aus Pergkirchen
auch das Bild auf der Urkunde der Kapelle im
Marienfriedhof der Stadt Linz 7 11. Januar
1344 - zu 19; obgleich letztgenannte Miniatur
von geringerem künstlerischem Wert ist als die
aus Pusarnitz und Pergkirchen.)
Das letzte und vielleicht schönste Stück in der
Reihe unserer hier beschriebenen Wiener
Urkunden (Abb. 7), der Ablaßbrief vom
22. Januar 1343 20 für die Magdalenenkapelle
in Wien - diese stand neben der SL-Stephans-
Kirche und wurde im Jahre 1796 abgetragen -
ist von demselben flüssigen französisierenden
neuen Stil charakterisiert wie die zwei vorhin
genannten Werke des Meisters der Urkunde
von Pergkirchen. Im Innenfeld des U-Initials
steht vor einem hellen Lilahintergrund in
kleinquadratisch gegliedertem Feld der Er-
löser in rotem Gewand und rosafarbenem
Mantel auf einem gelben Berggipfel, über ihm
schweben Wolken; im rechten Schaft des
zicgelroten Buchstabens kniet das hellbraun
gekleidete Donatorpaar. Am linken Buch-
stabenrand, außerhalb, stehen die zwölf
Apostel. Die Miniatur zeigt „Christi Himmel-
fahrt" und verweist darauf, daß die den Ablaß
erhaltende Kapelle das Carnarium des St.-
Stephan-Friedhofes war. Das Textband in der
linken Hand Christi gemahnt an den Gedanken-
kreis des irdischen Todes: „pater si iieri
potest transeat a me calix iste".
Im Vergleiche mit unseren vorerwähnten
Miniaturen bezeugt die „Christi Himmel-
fahrt" dieser Urkunde die ausgezeichnete
Bewältigung der Komposition, die Gruppe
der zwölf Apostel bestätigt durchaus das
sehr entwickelte Raum- und Proportionsgefühl
des Malers. Auch hier sind die Figuren schlank,
ähnlich denen auf der Urkunde der Albertina;
die Drapierung der Kleidung ist durch groß-
zügigere und flachere Faltenbildung gekenn-
zeichnet. Für ihre Wiedergabe sind die ge-
lockten HaarHechten, niedrigeren Gesichts-
partien und höheren Stirnen ebenso typisch
wie für die Physiognomie der Figuren obiger
zweier Urkunden. Der einzige Unterschied
besteht darin, daß auf den Gesichtern der
Figuren der Magdalenenkapelle beidseitig je
ein winziger roter Punkt die Röte und Plastik
des Antlitzes markiert. Im Hinblick auf die
charakteristischen Züge, die hervorragende
Qualität dieser Miniatur sieht man sich ver-
anlaßt, das letztbeschriebene edle Dokument
des in Wien aufbewahrten Ensembles der
Ablaßbriefe aus Avignon den Werken des
Meisters des Ablaßbriefes von Pergkirchen als
drittes zuzuschreiben.
ANMERKUNGEN 157 20
15 K. Halter. Verziert: Ablaßbriefe des 14. Jhs. . . . S. 174-175.
178-179. Abb. 4.
15 H. Tictzc 7 E. Ticrze-Conrat i O. Benesch - K. Garzarolli-
Thurnlukh. Die Zeichnungen der deutschen Schulen bis zum
Beginn des Klamizismus. Wien 1933, S. 4, Nr. 4. Taf. Z.
I7 O. Hamburger i Ch. von Steiger. op. cir. S. 148. Abb. 12. 14.
1' Für das Foto der Urkunde danke ich Herrn K. Hoher.
W K. Halter. op. cir. S. 179.
10 Wien, Diözcsanarcbiv. 56,6X5B,3 cm.