ltpirbnnlßlh 9909011115940 ÖSTERREICHISCHES MUSEUM FÜR ANGEWANDTE KUNST experimentelle photographie AUSSTELLUNGSHALLE, NEUES HAUS, 12. AUGUST bis 19. SEPTEMBER 197i In Entsprechung zur allgemeinen Entwicklung im Zeitalter des industriellen Fortschrittes in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Photogra- phie vor allem als eine Errungenschaft der Technik angesehen worden. Dennoch fand das seit Anbe- ginn geführte Wechselgespräch zwischen Malerei und Photographie, zwischen Maler und Photograph seine Fortsetzung. Die Kunst war gezwungen, die Photographie ernst zu nehmen, denn die Vervoll- kommnung des optisch-mechanischen Weges der Photographie erbrachte Bilder, deren „ObiektivitäW alle anderen malerischen und graphischen Verfah- ren übertraf. Die Malerei versuchte daher neue Sehweisen zu finden, die keine Ähnlichkeit mehr mit dem wissenschaftlichen Dokumentationscharakter der photographischen Bilder hatten. Auf der Suche, das zu finden, was der Malerei eigentlich zukam, was ihr Wesen ausmachte, was sie vom rein optisch- rnechanischen Abbilden unterscheidet, war sie ge- zwungen, die bisher als gültig interpretierten tradi- tionellen Grenzen einer sich im Abbildhatten er- schöpfenden imitatio naturoe zu überschreiten. Der Impressionismus, der Expressionismus und schließ- lich die Abstraktion faßten die Bildwerdung als eine vom optisch-mechanischen Weg der Photographie völlig differenten schöpferischen Prozeß auf. Die Vertreter dieser Sehweisen waren der Überzeugung, auf diese Weise einen entscheidenden Beitrag zum Selbstverständnis der modernen Malerei geleistet und die Streitfrage, ob Photographie Kunst oder Nichtkunst sei, im Sinne der letzteren entschieden zu haben. Mit der zunehmenden Emanzipation der Photogra- phie von der Technik, d. h. mit der völligen Be- herrschung aller optisch-mechanisch-chemischen Vor- gänge, erfolgte iedoch auch gleichzeitig die Emanzi- pation der Photographie von der Natur, von der wissenschaftlichen und Liebhoberphotographie. Diese Situation erhielt durch die Möglichkeit, auch die Farbe mit einzubeziehen, eine neue Dimension. Wenn Photographieren mehr sein sollte, als die Realität abzubilden, als „abiektive" Gebundenheit an den Gegenstand, dann war ietzt der Zeitpunkt gekommen, wo auch der Photograph in das Ge- biet des bildenden und formenden Schaffens vor- stoßen konnte. Jetzt gab es kein Hindernis mehr für den Photographen, Selbständiges zu schaffen und eine autonome Photographie anzustreben, de- ren Bilder das Ergebnis eines schöpferischen Pro- zesses darstellen. Von den Photographen, die in der gegenwärtigen Ausstellung gezeigt werden, haben sich alle vier diesem Weg einer „künstlerischen", d. h. experi- mentellen oder autonomen Photographie gewidmet. Sie betreiben ihre Experimente nicht nur in schwarz- weiß, sondern vor allem mit Einbezug der farbigen Gestaltung. Durch die Verwendung des Polarisa- tionsfilters scheint es hiefür keine Grenzen mehr zu geben. Diese vier Meisterphotographen, Hans Mayr und Wladimir Narbutt-Lieven aus Österreich, Hans-Joa- chim Toige aus Deutschland und Bronislaw Roga- linski aus Polen, gleichen daher Malern und Gra- phikern unter ganz bestimmten Bedingungen. Nicht der Pinsel und die Farben oder der Zeichenstift, die Nadel, die Kupferplatte oder der Stein sind die Gerätschaften, um ihre Bildvorstellungen zu verwirklichen, sondern ein genial konstruierter phy- sikalischer Apparat und chemotechnische Produkte, die es erlauben, in einem komplizierten, aber doch vom Photographen gesteuerten Prazeß das „Licht der Welt" zu farbigen Bildkompositionen zu ge- stalten und zu verwandeln. Befreit von allen zweckgebundenen Aufgaben, er- reichen die Arbeiten dieser vier Meisterphotogra- phen einen Status, der sie als autonome Schöpfun- gen erscheinen läßt. Dieses Gestalten ist im Sinne des barocken Theoretikers Athanasius Kirchner ÖSTERREICHISCHES MUSEUM FÜR ANGEWANDTE KUNST