I Aktuelles Ku nstgeschehen, Wien Museum des 20. Jahrhunderts Revalutionsarchitektur Gemini G.E.L. - Graphik und Objekte Ergänzt durch Beispiele der Architektur des Dritten Reiches (vor allem von Albert Speer), übernahm das Wiener Museum die zuerst für die Kunsthalle in Baden-Baden zusammengestellte Ausstellung „Revolutionsarchitektur". Unter diesem Terminus versteht man - nach der begrifflichen Bestimmung der zwanziger Jahre - eine wesentliche Tendenz der französischen Architektur gegen Ende des 1B. Jahr- hunderts. Die Hauptvertreter der Revolutians- orchitektur waren Etienne-Louis Boulee (1728-1799), Jean-Jacques Lequeu, Claude-Nicolas Ledaux (1736-1806) und Jean-Jacques Tordieu. Aus den Beständen der französischen Nationalbibliothek zeigte Wien annähernd 150 Handzeichnungen, Entwürfe und Proiekte dieser gleichermaßen kühn wie progressiv denkenden Architekten. Ihre Utopien waren einfach zu gewaltig, um finanziell bedeckt beziehungsweise - was ebenfalls wiederholt vor- kom - technisch ausgeführt zu werden. Sieht man von einzelnen Einflüssen auf Baukünstler des 19. Jahrhunderts ab, so wurde die Revolutians- architektur erst 1930 wissenschaftlich entdeckt und ausgewertet. Der Wiener Emil Kaufmann hatte dabei mit seinem wichtigen Buch „Von Ledoux bis Le Corbusier" wesentlichen Anteil. Er spricht in seiner Begriffscharakteristik u. a. vom „Verzicht auf Dekor, dem unverhiillten Bekenntnis zu den einfachsten stereometrischen Gebilden, ihrer Strenge, dem Streben nach schroffer Monumentalität und ihren symbolischen Absichten, fußend auf dem rationalistischen und demokratischen Geist der Aufklärung, in entscheidender Abkehr von den Vorstellungen des Barocks." Keine spektakuläre, doch eine spezifisch unterrichtende Schau. Dem Heute gewidmet war die nachfolgende Ausstellung von Graphiken und Obiekten (Multiples) der bekannten Gemini-Druckwerkstätten, Los Angeles. Das 1965 gegründete Studio kannte sich durch seine hervorragende Qualität und kluge Beschränkung auf die ausschließliche Herstellung von Originalgraphik und Multiples internationales Renommee sichern. Wenn die Ausstellung auch künstlerisch möglicherweise zu hochgesteckte Erwartungen etwas dämpfte, so bot sie dennoch aufschlußreiche Informationen, konfrontierte sie doch mit „kleineren" Werken iener großen Namen, die den Ruhm der USA als Kunstnation in jüngster Zeit wesentlich mitbegriindeten. Von Josef Albers über Sam Francis, Jasper Johns, Elsworth Kelly, Roy Lichtenstein, Claes Oldenburg und Ken Price bis hin zu Robert Rauschenberg und Franz Stella reichte die Skala prominenter Namen (August bis September 1972) - (Abb. 1-3). Secession - Engagierte Kunst 1. Graphikbiennale Wien 1972 Eine verdienstvolle, in Zusammenarbeit mit dem Europahaus Wien, der Secession und der Albertina zustande gekommene Ausstellung, für die Mario Decleva organisatorisch verantwortlich war. Qualitativ bot die Schau durchweg erste bis mittlere Qualität. Die Jury, die die drei Hauptpreise, dotiert mit ie 15.000 S, an Dennis M. Rowan (USA), Julian Santamoria (Spanien) und Klaus Moritz (BRD) vergab, konnte aus einem Kontingent von etwa 1200 graphischen Blättern wählen, die von über 400 Künstlern aus 42 Ländern eingesandt worden waren. Erfreulich vielseitig: die künstlerische Interpretation und Umsetzung des gestellten Themas, das dem gesellschaftspolitischen und sozialen Engagement galt und den Pluralismus heutiger gegenstandsbezogener Stilrichtungen und Tendenzen zumeist signifikant spiegelte. Weitere Preise gingen an Carlos lrizarry, Tetsuo Araki (Japan), den Dänen Janus Poul lpsen, Rudolf Schönwald, P. Grünwald (Großbritannien) und den Wiener Helmut Krumpel. Eine für Österreichs Kunstleben und Image im Ausland bedeutende und daher voll unter- stützenswerte Initiative, deren Fortsetzung geplant ist. Ergänzend zur Ausstellung fand Anfang Oktober ein international besetztes Symposion statt, 62 das der gleichen Thematik galt (9. 9.-8. 10. 1972) - (Abb. 4-6). Stadtpark Obiekte - Subjekte - Umweltgestaltung Die von Hermann Painitz im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Wien erstellte Sommerschau fungierte als prinzipiell geglückter Ausbruch aus iener Praxis der „Grünen Galerie", die zuletzt kaum mehr als ein zufälliges Nebeneinander mehr oder minder geglückter Plastiken bot. Da Painitz vorwiegend iüngere, progressive Künstler einlud, konfrontierte die Schau ausreichend mit Experimenten und Prablematischem. Die qualitätvollste Plastik - eine elegant geformte, Strenge mit harmonischer Grazie und Kraft verbindende Arbeit aus nichtrostendem Stahl - stammte von Erwin Reiter. Ihr benachbart, war ein aus parallelen Röhren zusammengesetztes Polyesterobiekt von Nyrom (Maria Neureiter). Helga Phillip dekorierte die Wasseroberfläche des Wienflusses mii Ringen in zwei Farben; - ein schwimmendes Environment, vergleichbar den halb- kugelförmigen Elementen, die Hermann Painitz zur optischen Demonstration der Ergebnisse der Nationalratswohl 1971 verwendete. Die an die „fliegenden Menschen" des Polen Broniotowski auf der Biennale in Venedig erinnernden Auslagen- puppen von Peter Perz wurden in Baumkronen lose gruppiert, um solcherart den Ausbruch aus der uniformen Gesellschaft zu symbolisieren. Während Roland Goeschl unter Verwendung seiner bekannten Farbkuben eine „Mauer gegen die Umwelt- verschmutzung" herstellte, versuchte Ingeborg Pluhar mittels einer überdimensionierten, verrammelten Brille den dialektischen Durchblick in eine bessere Zukunft. Weiters mit von der Partie waren: Werner Würtinger, Gero Schwonberg, Frantisek Lesäk, Robert Lettner, Hermann Klinger und Adam Jankowski, von dessen Friedhofskreuzen zweifellos die stärkste Provokation ausging (5. 7.-31. B. 1972) - (Abb. 7-9). Galerie nächst St. Stephan Mario Terzic Bei der Realismus-Ausstellung der Galerie Schotten- ring spannten sich seine Ikarusflügel als Symbol für Freiheit und unerfüllbare Sehnsucht quer durch den Raum. Eine Iebensgraße Nachbildung seiner selbst mit ianusartigem Doppelkopf stand im Zentrum einer Personale von Mario Terzic in der Galerie nächst St. Stephan. Terzic entpuppte sich in ihr als gleichermaßen geistvoller wie konsequenter Obiektehersteller und Fotoaktionist. (ln letzterer Eigenschaft wird ihm von Peter Strobl assistiert.) Er konfrontiert in seinen Arbeiten mit verschiedenen Bewußtseinsebenen, mii dem unerwarteten Nebeneinander und der Gleichzeitigkeit von Erkenntnis- bzw. Erinnerungsfragmenten, die in dem vom Künstler geschaffenen Assoziationsraum bei jedem von uns akut werden können. „Besuch der Renaissance" heißt die von Strobl fotografierte Serie, die Terzic im selbstgefertigten Gewand aus reiner weißer Seide in den toskanischen Gärten, unwirklich zwischen Bäumen schreitend, festhält. Die Spannweite, die der 1945 Geborene auf den gefährdeten Pfaden zwischen Realem und lrrealem beschreitet, ist im Sinne gezielter Denkanstöße überraschend groß. Dennoch - und das ist bestimmt ein Zeichen für Qualität - sind seine Arbeiten von merkbarer Klarheit, von einer seltenen Prägnanz des Ausdrucks. Das mit Federn überklebte Modell eines Düseniögers symbolisiert so - um ein Beispiel konkret herauszuheben - neben dem Prinzip des Fliegens auch das der Aggression, neben dem Technischen das Organische und Tierische. Eine diskutierenswerte Ausstellung (7.-30. 9. 1972) - (Ab- bildung 10). Galerie Würthle - Josef Engelhart Eine Ausstellung, die - gezeigt in zwei aufeinander- folgenden Teilen - die gerade für Wien künstlerisch ergiebige Zeit um 1900 facettenreich herauf- beschwärte. Trotz der gezeigten Breite blieb es allerdings schwierig, Engelhart (1864-1941) zusammenfassend zu beurteilen, unterlag doch sein Werk - abgesehen von qualitativen Schwankunger - auch nach Stil und Tendenz stärkerem Wechsel und zeitbedingten Moden. Engelhart war Porträtist und Landschafter. Er zeichnete Veduten, malte typische Szenen aus dem lokalen Wiener Milieu, karikierte und skizzierte vergleichsweise spontan weibliche Akte. Er übernahm repräsentative, dem Ornament in typischer Weise huldigende Auftragsarbeiten, deren wichtigste Merkmale dem Sezessionismus und dem Jugendstil zuzuordnen sind Engelhart blieb aber auch wiederholt einem stereotypen Akademismus ohne sonderlichen kunsthistorischen Stellenwert verhaftet (September 1972). Galerie Basilisk - Obiekte und Graphiken österreichischer Künstler Eine dem Experiment, den Versuchen meist iüngerer österreichischer Künstler, gewidmete Schau, die als 100. Ausstellung der van Klaus Lingens geleiteten Galerie in der Schönlaterngasse viel Interesse fand. Lingens vereinte in ihr Graphiken, Bilder und Objekte von Peter Gröschl, Meina Schellander, Helmut Schober, Georg Chaimawicz, Hubert Pfaffenbichler, Kurt Talos und Zbynek Sekal. Viele der Genannten wurden von Lingens in den Jahren vorher einzeln präsentiert und für Wien entdeckt. Dies gilt z. B. für Talos, dessen „drei Bildtafeln für einen politischen Altar' im Zentrum der Exposition standen, trifft aber auch auf den in Italien lebenden Schober und den iungen Niederösterreicher Gräschl zu, der in seinen Obiekten merkbare Fortschritte verrät. Die in sie gesetzten Erwartungen erfüllte auch Meina Schellander. Sie legt in ihren zeitkritischen und teilweise skurrilen Obiekten ein Bekenntnis ab, da: keinerlei Konzessionen an Gängiges verrät. Beachtenswert auch ihre Zeichnungen und farbiger Skizzen. Der von der Galerie in Abständen unter- nommene Versuch, neben Bewährtem und gut- gehenden Namen auch eine Lanze für das zu brechen, was noch in Fluß ist, verdient Anerkennung (Juni-September 1972) - (Abb. 11). Galerie in der Passage Cornelius Kolig Peter Weihs C. Kolig, vor allem bekannt als Obiektdesigner und Plastiker, beschäftigte sich neuerdings mit Siebdrucken. Dabei interessieren ihn weniger rein reproduktive Vorgänge, als vielmehr solche schöpferisch-kombinatorischer Art: die Möglichkeiter der Zerlegung und des Neuaufbaues eines Motivs, seine Verfremdung und die Verwendung verschieder großer Rasterpunkte. Experimente dieser Art lagen auch seinen Alpenlandschaften zugrunde, die Kolig vorwiegend in Zustonds- und Probedrucken nun erstmals in Wien vorstellle. Koligs romantischer, ironischer, der Pop-art legitim zuzuordnender Realismus besitzt in dem ihm eigenen Verfremdungs und Abstraktiansgrad seinen besonderen Reiz (14. 7.-10. 9. 1972). Dem 1940 geborenen Mödlinger Plastiker und Keramiker Peter Weihs galt die nachfolgende Schau in der von der Ersten österreichischen Spar- Casse gesponserten Passantengalerie. Weihs zeigte farbige Bildobiekte und Palyesterplastiken geometrisch-abstrakter Grundhaltung. Ein Vergleich mit den USA läßt an Tendenzen des Hard Edge und der Neuen Abstraktion denken. Das Charakteristische an den Bildabiekten von Weihs ist das Verlassen rein flächiger Überlegungen zugunsten einer fallweise auch über die ursprüngliche Bildbegrenzung hinausgehenden Dreidimensionalität. Dabei bedient sich der Künstler im allgemeinen weicher, abgerundeter Formen, die zum Begreifen im faktischen Sinne auffordern. Er kombiniert die Elemente in kurvigen Parallelen, mit Bedacht auf starke Farb- kontraste, gelegentliche Positiv-Negativ-Effekte und die in der modernen Plastik bereits fest verankerte Gleichberechtigung von Form und Farbe Weihs trat vor kurzem eine Lehrstelle an der Kunstakademie in Kinshosa, Zaire, an (15. 9.45. 10 1972) - (Abb. 12). Peter Baum