Richard Rubinig Wilhelm Thöny oder die Geschichte einer posthumen Faszination Der Maler Wilhelm Thöny (1888-1949) ist im kulturellen Bewußtsein seiner Vaterstadt Graz seit Jahren ein fester Begriff. Er gilt in seiner Heimat als der wichtigste Wegbereiter der jun- gen Kiunst noch dem Ende des ersten Weltkriegs, also in einer Zeit, die durch den Tod Gustav Klimts, Egon Schieles und Otto Wagners und durch die Abwanderung Oskar Kokoschkas die wesentlichen Anreger und Vorbilder verloren hatte. Thönys vielseitige künstlerisdwe Begabung, die auch mit sichtlichem Erfolg zur Musik rund zum Theater tendierte, entfaltete sich nach den Münchner Erfahrungen in der Steiermark, einer österreichischen Provinz, die seit dem neunzehn- ten Jahrhundert in der bildenden Kunst zurück- geblieben war und mit deutlichem Abstand hin- ter der alten Residenz an der Donau und hinter den regeren Zentren in Salzburg, Kärnten und Tirol nur einen bescheidenen Platz in Anspruch nehmen durfte. Erst Thöny und einige Mitstrebende seiner Gene- ration brachten hier einen Umschwung. Diese be- sondere Situation in der steirischen Kunst mag wohl die Ursache gewesen sein, daß die Künstler dieses Landes sich weder nach den Wiener Secessianisten und Hagenbündlern noch nach dem Salzburg Anton Faistauers oder nach der Nötscher Schule Anton Kaligs in Kärnten orien- tierten. Die Grazer gingen zur Ausbildung nach München und Paris und bildeten damit eine kuriose Enklave im Bereich der österreichischen Kunst der zwanziger und dreißiger Jahre. Hier wies zweifellos Wilhelm Thöny die Richtung, der schon im Jahre 1908 bei Gabriel Hockl und Angelo Jank in München sein Studium begonnen und 1913 als eines der ersten Mitglieder der Münchner Neuen Sezession eine rege Tätigkeit, vor allem auch als Illustrator im Auftrag des Georg-Müller-Verlags, ausgeübt hatte. Thöny war ein Maler, der fast ausschließlich graphisch dachte und konzipierte. Das wird in den Bildern ider Münchner Zeit und auch in ienen der Grazer Periode zwischen 1923 und 1931 nicht so augenscheinlich wie in den reifen Jahren des Pariser Aufenthaltes zwischen 1931 und 1938. In seinem gesamten Guvre erweist er sich iedoch als Phänomen der Originalität. Er verwirrt die Stilkritiker, denn er erinnert an nidits. Man hat sich bei allerlei komparativen Bemühungen an ein paar thematische Äußerlichkeiten gehalten und beispielsweise Edvard Munch an den Haaren herbeigezogen, weil manche frühe Bilder Thönys die düstere und melancholische Stimmung nord- ländischer Künstler zu atmen schienen, mögli- cherweise auch, weil Thöny seine Sympathie für den großen Norweger oft zum Ausdruck brachte. Doch fehlt allen Werken der zwanziger Jahre, darunter auch dem berühmten „Schulhaf", der für diese Schaffenszeit charakteristisch ist, iede stilistische Bindung an Munch. Bei Thöny wird die Bi-nnenzeichnung von der Farbe zugedeckt rund die lineare Bedeutung der Umrisse durch block- haft gesetzte Farbflöchen vermindert. Erst später wieder werden Punkt und Linie als reine und artikulierende Elemente hervorgehoben. Das Schwermiitige in den frühen Werken Thönys, das immer noch aiuf den deutschen Expressionismus hinweist, steht Dostojewski näher als Munch und hat damit literarische Wurzeln. Thönys Malerei ist zu dieser Zeit eine Kunst des sozialen Gewis- sens, sie nimmt Anteil an Armut und Elend der menschlichen Kreatur, sie erweckt Mitleid. Das alles ist weit entfernt von Munchs transzendie- rendem Eros und seiner todbereiten Liebe in den Mittsommernächten. Thöny war kein Gespensterseher wie sein Freund Alfred Kubin, auch wenn die Lebewesen in sei- nen Bildern oft vor gespenstischen Hintergrün- den agieren. Mit Kubin verbindet ihn auch die Eigenständigkeit und Unvergleichbarkeit, der zeichnerische Antrieb, der immer mehr den Strich als bildgestaltendes Prinzip akzentuiert. Doch ist die Ausstrahlung beider Künstlersehrverschieden. Auf eine etwas kühne Kurzformel gebracht: Kubin ist gotischer, Thöny mehr naturalistisch, das Wort im Sinne von „Nähe zur Natur" gebraucht. Das zeigt auch der bekannte Beethoven-Zyklus Thönys, eine Folge subtiler Bleistiftzeichnungen, die eine äußerst merkwürdige und bis ins Soma- tische und Gestische reichende Selbstidentifizie- rung des Malers mit dem Gegenstand seiner Be- wunderung enthüllen. Nie gab es bis dahin in der bildenden Kunst einen wirklicheren und na- türlicheren Beethoven, fernab aller pathetischen Verklärung, die sich so oft im megalomanen Enthusiasmus unkritischer Köpfe erschöpft. 22