Denkmalpflege ist keine Selbstverständlichkeit, sawenig wie Historismus. Über die Motive von beiden gibt die Wissenschaft bedauerlich wenig Auskunft. Sie befaßt sich - ist einmal ein Phäno- men wie Historismus vorhanden - mit der Frage, warum die einen „Gotiker" und die an- deren „Klassiker" werden. Aber ehe man ein Motiv hat, gotische oder klassische Stilformen aufzugreifen, muß man eines haben, sich in kei- 1a nern eigenen Stil auszudrücken. Diese grund- sätzliche Frage, warum es überhaupt zu Histo- rismus kommt - sozusagen als eine generelle Möglichkeit der Existenz von Kunst -, wird selbst in prinzipiellen Erörterungen der Thematik höch- stens vereinzelt gestreift, so von H. G. Evers in der Historismusdiskussion mit Nikolaus Pevsner, Ludwig Grote u. a. in München und auf Schloß Anifl963'. Analog iegen die Dinge in der Denkmalpflege. Was die Wissenschaft nicht beantwortet, beant- wortet um so bereitwilliger das Schlagwort, und ihm zufolge liegt allem Bewahren alter Archi- tektur Sentimentalität oder Dekadenz oder bei- des als Motiv zugrunde. War Karl der Große dekadent, als er in seine Bauschöpfungen antike Bauteile verpflanzte und auf diese Weise Re- likte alter Baukunst bewahrte? Als ein paar Jahrhunderte später sein Namensvetter Karl lV. in Böhmen zurückgriff auf ihn und seine eige- nen politischen Konzeptionen symbolisierte und sichtbar machte in reliquienhaft auf Karl den Großen zurückverweisende Kunstschöpfungen, war er da sentimental? Steht nicht umgekehrt als Motiv hinter solchen Erscheinungen an Stelle von Müdigkeit angespannteste politische Ener- gie, die nur für ihr Programm noch nicht hin- reichend genug eigene Artikulationsfähigkeit er- warben hat und sich daher alter Vokabeln für 36 neue Begriffe bedient? Hier zumindest müßte man hinter dem Bewahren alter Bausubstanz nicht das Absterben einer alten, sondern das Durchsetzen einer iungen Kultur diagnostizieren. Was also grundsätzlich hinter einem Phänomen wie Denkmalpflege steht, soll varsichtigerweise offenbleiben. Vorderhand ist die Wissenschaft bloß in der Lage, wenigstens einigermaßen den einen oder anderen Fall des Auftritts von Kon- servierung historischer Architektur zu erklären. Ob sich dann in der Vielzahl tatsächlich aufge- tretener Motivationen eine generelle Vorausset- zung wird finden lassen, das zu beantworten steht vorläufig noch aus. Vorerst muß es genü- gen, für die europäische Entwicklung einige kon- krete Beispiele der Motivierung von Denkmal- pflege aufzuspüren. Motivation Hinter der europäischen Denkmalpflege schei- nen seit dem 19. Jahrhundert drei Beweggründe zu stehen: ln der ersten Hälfte des "I9. Jahr- hunderts dominiert gemäß der geschichtlichen Situation, in der bürgerlich-fortschrittliches Be- mühen gegenüber restaurativen Ordnungsver- suchen alter gesellschaftlicher Mächte steht, das Bestreben, für die ie eigene politische Zielset- zung Denkmäler gleichsam als programmatische Embleme einzusetzen. Hier wird - etwa in den Kämpfen der schon zitierten „Gotiker" und „Klas- siker" - Stil gegen Stil ausgespielt, sozusagen eine „Kriegspropaganda" gegen die andere ge- mäß den Zielsetzungen der ieweiligen Parteiun- gen. Hier ist ein Stil „besser" denn der andere, was man praktiziert, ist der später so berüchtigte „Stildogmatismus". Wenn Viollet Le Duc die Gotik verteidigt und ihre Denkmäler restauriert, ist das nicht nur ästhetisches Faible, sondern po- litisches Programm. Wie im Mittelalter das auf- brechende Stadtbürgertum in seinen weiträumi- gen Handelsunternehmungen daranging, die Enge feudalwirtschaftlicher Eigenbedarfsdeckung zu überwinden, und damit überhaupt erst Geld für Großbauten, wie die städtischen Kathedra- len, aber auch fortschrittlicher Geist da war, konstruktive Neuerungen zu wagen, so scheint Viollet Le Duc auch zu seiner Zeit die Gotik noch immer technisch und ästhetisch das fort- schrittlichste Mittel, dem neuerlichen bürgerlichen Durchbruch, wie er sich seit der Französischen Revolution vollzieht, adäquaten baulichen Aus- drudc zu verleihen z. Sehr konsequent restauriert er daher in der Denkmalpflege nicht nur var- handene Gotik, sondern rekonstruiert abhan- den gekommene und scheidet stilistische Zutaten späterer Zeitalter aus. Dieses purifizierte Straf- gericht ist unter dem Namen der „stilistischen Restaurierung" bekannt und berüchtigt gewor- den? Berüchtigt, weil das nachfolgende halbe Jahr- hundert aus einer völlig veränderten gesellschaft- lichen Situation heraus dachte: Bürgertum, das war [etzt nicht mehr eine kämpfende, aufstei- gende Schicht, sandern eine bewahrende, eine, die durch die folgenden Revolutionen nach der großen Französischen - 1830, 1848 vor allem - ihr Ziel erreicht und sich sogar mit den alten Mächten arrangiert hatte. Wo es keinen Krieg mehr gab, gab es keine Kriegsziele mehr, auch keine Kriegspropagando, die diese Ziele pro- klamiert hötte, auch künstlerisch nicht: Stile wur- den ietzt nicht mehr gegeneinander ausgespielt, sondern sie wurden nunmehr plötzlich „gleich- wertig", alle nur spezielle, bloß historische Aus- prägungen eines an sich Ästhetischen, relativ, ohne überzeitliche Gültigkeit. Der Historismus