Hilde Zaloscer Die Bedeutung der bildenden Kunst im OEuvre von Thomas Mann „Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" (J. W. Goethe, Faust lll5. Akt) ln ihren Memoiren schreibt Katia Mann wie bei- läufig, daß Thomas Manns Liebe und Interesse vor allem der Musik gegolten hat: „Zur Malerei hatte er kein sehr lebhaftes Verhältnis, und an zweiter Stelle kam die Skulptur" Gewiß, die Musik spielt im Cfuvre des Dichters eine aus- nehmend große Rolle, doch es ist lange über- sehen worden, welch wichtigen, ja entscheiden- den Beitrag zur Genese seines Werkes auch die bildende Kunst geliefert hat. Natürlich ha- ben beide Kunstgattungen, die Musik und die bildende Kunst, sich in verschiedener Art aus- gewirkt, das ist bei ihrer Wesensverschiedenheit [a auch nicht anders zu erwarten. Die tiefe, bis an die empfindlichsten Nerven- enden rührende Delektation, die dem Dichter die Musik gab, vermittelte die bildende Kunst sicher nicht. Der Fragwürdigkeit dieser Delek- tatian war sich schon Hanno Buddenbrook - wie Thomas Mann selbst - bewußt. Adrian Leverkühn sollte ihr Opfer werden. Als tragender Gefühlshintergrund ist daher die Musik in zahlreichen Werken gegenwärtig, und schon in Jugendwerken verwendet der Dichter die Musik als auslösenden Faktor einer tragi- schen Situation. Es sei an „Der kleine Herr Friedemann", an „Tristan", an „Wälsungenblut" erinnert. Im Spötwerk „Doktor Faustus" wird die Musik zum tragenden Pfeiler der Thematik, eben- so wie der Komposition. Denn Thomas Mann verwendet Formprinzipien der Musik für den Aufbau seines epischen Werks. Nicht nur über- nimmt er das Prinzip des „Leitmotivs" von Wag- ner, das wäre wenig. Aber die „Buddenbrooks" z. B. sind als dreistimmige Fuge angelegt, ein Kompasitionsprinzip, das im „Doktor Faustus" wiederaufgenommen wird. Hier wird das Ord- nungsprinzip, das der Fuge innewohnt, auch in langen theoretischen Traktaten aufgezeigt. Sie ist das geeignetste Mittel, um den Gefahren des lrrationalismus und der Anarchie, dem Grund- thema des Werkes, entgegenzuwirken, sie zu entschärfen. Gewiß, in dieser Vielfalt ist die bil- dende Kunst im äuvre von Thomas Mann nicht integriert. Sie existiert auf einer anderen, in- tellektuelleren und bewußteren Ebene, was ie- dach weder ihre Bedeutung noch ihre Notwen- digkeit für Thomas Manns Werk schmälert. Vorerst sei folgende prinzipielle Feststellung ge- macht: Einer der entscheidendsten Umbrüche in der Geschichte der bildenden Kunst: das Auf- kommen des Expressionismus und in seiner Folge der abstrakten Kunst mit ihren bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten, wie etwa Klee und Pi- cassa, hat Thomas Mann miterlebt, er muß sie gekannt haben, doch sie werden mit keinem Wort erwähnt. Von der Annahme, daß dies Zu- fall sei, wird man wohl absehen müssen. Dieses Schweigen ist ein Totschweigen. Der Grund die- ser Ablehnung aber wäre auf ieden Fall eine Untersuchung wert, und der Vergleich mit Goethe und seiner Haltung zu einer Kunstströmung, die während seiner Zeit aufkam, der Romantik, drängt sich auf, ia, es liegt nahe, daß Goethes leidenschaftliche Ablehnung der Romantik und Thomas Manns Totschweigen des Expressionis- mus auf einen ähnlichen gemeinsamen Grund zurückgehen. Das ist um so wahrscheinlicher, 24 als die Romantik und der Expressionismus ihrer- seits aus ähnlichen Quellen strömen. K. Momm- seni hat beweisen können, wie sehr Goethes Abneigung gegen Kleist und die Richtung, die er repräsentierte, vor allem in der Ahnung von der persönlichen Gefährdung, die in dieser Strömung lag, in der Angst vor dem Einbruch des irrationalen begründet war. In einem Brief an Schiller heißt es auch wörtlich: „lch kenne mich zwar nicht selbst genug, ob ich eine wahre Tra- gödie schreiben könnte, ich erschrecke aber bloß vordem Unternehmen und bin beinahe überzeugt, daß ich mich durch den bloßen Versuch zerstö- ren (sic, d. A.) könntea." Diesen ahnungsvallen l Albrecht Dürer, Michel Walgemut. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Anmerkungen 1-6 'Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren, hrsg. von E. Plesen u. M. Mann, Fischer T974, S. Z K. Mommsen, Kleists Kampf mit Goethe, Heidelberg 1974. 7 Zitiert nach K. Mommsen, a. a. 0., S. 204. 'Ob Thomas Mann in seiner Erzählung „Beim Propheten" und in der Figur Daniel zur Höhe außer der zwielichtem- den Ersdreinung L. Derlath Allgerneineres, Zeitgeschicht- lidtes im sinne rinne, ist schwer zu entsdieiden, darne ledüth in Betradnt gezogen werden. 'Jose Ortegu y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, Berlin (n. 1.), s. 121 er. "H. Zaloscer, Die Anthithetik im Werke Thomas Manns, Bull. de la Faculte des Lettres, Universite d'Alexandrie, Tame Xlll, T959. Worten ließen sich zahlreiche, ihrem V nach gleiche Äußerungen Thomas Mann: genüberstellen'. Im „Doctor Faustus" exe fiziert der menschliche und künstlerische sammenbruch Leverkühns, wohin der Um mit dem irrationalen und damit verbunden Enthemmung führen muß. Man könnte sog der Problematik des „Doktor Faustus" Prozeß, dessen Angeklagter der Expressian ist, sehen. Werke aus der Geisteshaltung Klassik, die Thomas Mann in sein Werk nimmt, bestätigen diese Annahme. Und könnte den Humanismus, der den entsche den Schwerpunkt in Thomas Manns Werk E deutlicher zum Ausdruck bringen als die Vt die er herangezogen hat. Nur iener Kuns ren Mittelpunkt der Mensch, in seiner g und physisch unzerstörten und unzerstörl Totalität, ist, gilt die Liebe und das lnteress Dichters, nie aber einer Kunst, die Orte Gasset eine „enthumanisierte" genannt hat Um auf die Frage, warum Thomas Mani Werke der antropomorphen und hoch m schen Kunst in sein Werk aufnahm, Werki nicht nur die allgemeine Konzeption des W färbte, sondern auch den Stil entscheiden formt hat, antworten zu können, müsse! etwas ausholen. Der Grund lag im natur schen Ausdruckswillen der Kunst des f( gläubigen 19. Jahrhunderts, in seinem Nati mus, Resultat des wissenschaftlichen Positiv der bürgerlichen Ära, als dessen Erben UIN bildlichen Vertreter Thomas Mann sich immi trachtet hat. Er blieb daher der überlie naturalistischen Romanform und zwei ihre sentlichen farmbildenden Strukturelementer Es ist dies die Gestaltung der Zeit und di Raums. Der Zeitablauf ist ein linearer um spricht dem Ablauf des Romangescheheni Raum, auf den Standort des Erzählers bez entspricht einem auf den Gesetzen der L perspektive konstruierten Raum. Diesen Kc tionen ist Mann treu geblieben. Soweit die positionsform. Wie steht es mit der Ther Nun, diese ist, wie schon erkanntt, von s ersten bis zu seinem letzten Werk unveri die gleiche; die Erkenntnis von der trag Dichotomie des Daseins, Folge einer lDIFK Wertsetzung in der Welt. So sind denn die Hauptfiguren der Romane, Selbstproi nen des Dichters, immer wieder in diesen flikt, auf welcher Daseinsebene immer e abspielt, eingespannt. Das Gesamtoeuvre mas Manns,sa weitverzweigt es in Zeit und ist, besteht im Grunde nur aus Variatione ses Grundthemas. Was nun den eigentlichen Ramanstoff an die Fabel, so weist das Werk des Dichter Besonderheit auf: So vielfältig die Milieu die Zeiten sind, in denen die Handlung so ist sie fast nie vom Dichter frei erfi meist handelt es sich um Neugestaltung: reits existierender Werke. im Gegensatz zu Balzac, Dostojewski oder Dickens, ui einige bedeutende Romanciers zu nenne Mann seinen Stoff nie aus eigener Pha geschöpft, ebenso wie auch seine Rornanf ihr Sein nicht dem Schöpferwillen des D