Fähigkeit zu kritischer Unterscheidung, heran- dröuen sieht, fürchtet er, „daß durch eine wahl- lose Erweiterung des Schauongebots im End- effekt nicht Aufklärung stattfindet, sondern le- diglich eine Ablösung, ein Austausch von Fiktio- nen: die spät gekürte Avantgarde wird ent- thront, der ,verkannte' Salon etabliert". Der Streit ist typisch, charakterisiert das Hin und Her der Geschmacksurteile, die die Geschichte der Kunst bestimmen, seit sie im 18. Jahrhundert ihre Gesellschaftsbezogenheit und gesellschaft- liche Relevanz verloren hat. Und er negiert die schlichte Tatsache, daß man eben kennen muß, was man werten will. Die dogmatische Position der Kunstrichter, die die Kunst in diesem Jahr- hundert stets in immer neue Avantgardestellun- gen hineinmanövriert haben, hat aber ganzen Generationen von Kunstinteressierten durch die generelle Verdummung der Kunst des 19. Jahr- hunderts und der damit Hand in Hand gehenden Verbannung in die Depots diese Möglichkeit zu Vergleich, zu Auseinandersetzung und Wertung genommen. Während sich die Kunsthistoriker und Kritiker streiten, flüchtet freilich das Publikum - Nostal- gie, Weltflucht, „ganz genau lüßt sich das alles nicht erklären" (Mrazek) - nur zu gern und ohne iegliche kritische Hemmungen aus einer entzau- berten, künstlerisch kargen, an Phantasie offen- sichtlich verarmten und von Technik und Krisen aller Art bedrohten Welt in die Welt des schönen Scheins, der pompösen Drapierung und der Illusionen. Exemplarisch läßt sich dies an Hand zweier Bil- der demonstrieren, die im selben Jahr (1863) ent- standen: Alexandre Cabanels „Die Geburt der Venus" und Edouard Manets „Olympia". Caba- nel; einst gefeierter Großmeister der Salons, heute verdammt, vergessen. Manet: einst ver- dammt, heute gefeiert. Beide Bilder sind, legt man es auf eine Befragung der Zeit an, auf- schlußreich. Als Zeugnisse der Epoche, auf den lnformationswert über das zweite Kaiserreich re- duziert, kann man die beiden Gemälde gemein- sam, einander dialektisch ergänzend, vorfüh- ren. Cabanels pervertierte, zur Zeit in keiner anderen Beziehung als der des Dekorums ste- hende Mythologie gegen die gezielte Entmytha- logisierung Manets, der seiner „Olympia" er- kennbar Züge einer zeitgenössischen Mötresse verlieh und wegen solcher Wahrhaftigkeit künst- lerischer Aussage zum Skandalon wurde, obwohl der malerische Stil an sich keineswegs so be- fremdend gewesen wäre. Spiegel der Zeit sind freilich beide Gemälde. Cabanels Bild in seiner - um es in heutiger Soziologendiktion zu sagen - systemkonformen Gestaltung. Manet als Opposition zu einer Ge- sellschaft, die Kunst vor allem in maskierender Funktion sehen wollte. Ob dies in einer alle historischen Stile plündernden Architektur ge- schah oder in der Welt des schönen Scheins der Gemälde und Skulpturen. Diese schicksalhafte Dialektik kennzeichnet Kunst, seit sich Künstler aus gesellschaftlichen Banden zu lösen begannen, seit aber auch das Bedürfnis Jener Illusionen, die schon der Schweizer Salon- maler Gleyre in seinem vielgepriesenen Bild „Der Abend oder Die verlorenen Illusionen" - aus- gestellt auf dem Pariser Salon von 1843 und, in vielen Reproduktionen verbreitet, einer der größ- ten Bilderfolge seiner Zeit - zu entschwinden glaubte. Die Barke, die Gleyre, mit allen guten Musen und Genien der Jugend und der schönen Künste be- laden, ins Ungewisse abstoßen sah, betrauert von einem antiken Sänger vor goldenem Abend- himmel, ist wieder gelandet. Und allerorten be- jauchzt das Publikum die wiedergefundenen lllu- sianen, die - wie einst in ihrer Entstehungszeit - die Aufgabe haben, die Realität einer unwirt- lichen Umwelt vergessen zu machen. An dieser Funktion und an der grundsätzlich beiahenden Position des breiten Publikums hiezu - sei es des großbürgerlichen Publikums von einst, sei es des heutigen, das sich äußerlich antibürgerlich gebärden mag, in seinen Neigun- gen und Lebensformen aber durchaus bürger- liche Verhaltensmuster erkennen läßt - hat sich kaum etwas geändert. Nur an der Position der Kritiker, die einst den Salon priesen und heute all das beiubeln und tiefsinnig analysieren, was sie im 19. Jahrhundert als Alternative zur offi- ziellen Salonkunst allenfalls im Untergrund ein verlacht-verdammtes Untergrunddasein tristen ließen. 32 der Gesellschaft (zumindest der sie formenden Klassen und Stände) nach Kunst sich zu verflüch- tigen anfing. Kurz: seit der Aufklärung in deren rationales Denken sich so etwas lrreales wie Kunst nur schlecht einfügen konnte. Die Folgen sind heute spürbarer denn ie; die Verarmung an Phantasie, die sich im Großen, an der Gestalt der Städte und der vom Menschen geformten Welt, ebenso manifestiert wie im Kleinen, im unmittelbaren Lebensreich des Men- schen. Das Verdikt des Ornarnents durch Adolf Loos und die von der Bauhauszeit inaugurierte Architektur der kargen Formen könnte die Ge- schichte allenfalls als Reinigungsprozeß hono- rieren. Die städtebaulichen Wüsten aus Beton von heute nicht mehr. Das teils bewußte, teils unbewußte Streben nach verschänernder, deko- rierender Gestaltung des Lebens - in wie kurio- ser Form dies auch geschehen mag, war es doch immerhin Gestaltung - ist mit dem 19. Jahrhun- dert dahingegangen. Was das 20. dafür erzeugt hat, wissen wir ietzt: das Auto, die „verkehrsgerechten" Städte, die Zerstörung des Lebensraums, aber auch die - nicht zuletzt von politischen wie wirtschaftli- chen ldeologien diktierte - Einengung mensch- licher Phantasie auf utilitaristischen Materialis- mus. Doch das Auto erzeugt ebensowenig archi- tektonische ldeen wie der Materialismus künst- lerische. Das Auto aber, das schon ietzt die