14 Das Gefühl, daß er nur noch für sich selber male, wächst stärker, je weiter er sich von seiner Umwelt entfernt zu haben vermeint. All dies resultiert zunächst in einer gewissen Stille und lnnigkeit und zugleich in dem Willen, sich alles Sichtbare untertan zu machen. Die „plein dir"- Malerei nimmt nun einen wichtigen Platz in sei- nem Schaffen ein. Ein Raum ist englischen Motiven, die zwischen 1805 und 1815 entstanden sind, gewidmet (vgl. Abb.11). Der Einfluß der „plein air"-Malerei und der Tatsache, daß Turner zur Zeit das stil- lere Landleben dem rastlosen London vorzieht, macht sich bemerkbar. Oft verbringt er halbe Tage im Boot auf der Themse, wobei er die Angel auswirft als Vorwand, um ungestört das Wasser und das sich darin spiegelnde Licht beobachten zu können. Ein weiterer Raum trägt die Überschrift „Syn- thesis 1814-1819", eine Synthese zwischen Eng- land und ltalien, zwischen der „Englischen Schu- le" und Claude. Der „Untergang Karthagos" (Abb. 17) befindet sich hier: ein letztes Aufleuch- ten der paradiesischen Stadt. Auch dieses Bild ist von einem Zitat aus „Fallacies of Hape" begleitet, das mit den Warten beginnt; „At Hope's delusive smile...", und beim trügeri- schen Lächeln der Hoffnung geht die Sonne über Karthago unter. An der Oberfläche scheint Turner zu allegorisieren, aber in Wirklichkeit verbindet er Symbol und Realität zu einem unzertrennlichen Ganzen. Diese Jahre sehen auch die ersten sogenannten „Calour-Beginnings" (Farbanfänge), die fortan eine zweite Ebene in Turners Schaffen bilden. Es sind dies die vielen Aquarelle und Studien, die nicht unter dem Druck der Öffentlichkeit und der künstlerischen Konventionen entstanden sind. Sie bilden den Bereich in Turners Arbeit, der dem Experimen- tieren und dem Artikulieren vorbehalten ist. Oft Jahre, bevor bestimmte ldeen und Konzepte in die Ölbilder Eingang finden, sind sie bereits in den „Colour-Beginnings" ausgesprochen. Land- schaften werden bereits als reine Farbstruktu- ren aufgefaßt. Die Einheit von Licht, Farbe und Form wird hier erschlossen. Kräftige Primärfarben werden zum Teil sogar deckend verwendet. Jede Spur von „chiaroscuro", der dunklen Tonigkeit des Vordergrundes, ist verschwunden. Das Pa- pier wird als Papier benützt, dessen Oberflä- chenstruktur Teil des Bildes wird (vgl. Abb. 14). Nicht nur sind diese Aquarelle die Grundlage für die späten Werke, sie sind Werke für sich. Für mich gehören die schönsten Bilder Turners zu diesen „Colour-Beginnings" und Aquarell- studien aus der Zeit, die zwischen dem Sturm und Drang des Jungen und dem Zorn des Alten liegt. 10 14 J. M. W. Turner, Paestum im Gewitter, ca. 1825. Aquarell, 21,3 x 30,5 cm 15 J. M. W. Turner, Petwarth: ein Maler bei der Arbeit in einem Raum mit großem Fenster, ca. 1878. Guache auf blauem Papier, 14 x 18,9 cm 16 J. M. W. Turner, Jessica, 1830. Öl auf Leinwand, 122 x 92 cm 17 J. M. W. Turner, Der Untergang Karthagos, 1817. Öl auf Leinwand, 170 x 239 cm 16 Bis hin in die späten dreißiger Jahre OlSt beitet Turner auf zwei Ebenen, einer pe lichen (Aquarelle, Skizzen) und einer öl lichen (Ulbilder). ln dieser Zeit unternimr eine Anzahl von Reisen sowohl in Englani auch auf dem Kontinent. Bemerkenswert ist erste Italienreise von 1819, von der er 1500 Skizzen und Aquarelle zurückbringt. l diese Quantität bezeugt die ungeheure VVll keit, die Turner dieser Reise beimißt. Rom seine Kunstwerke, die Architektur, die klass Landschaft sind alles Einflüsse von imm Bedeutung auf die damalige Malerei, uni mit eigenen Augen zu sehen, ist für Turner, sen Errungenschaften so eng mit einem sp nen Reagieren auf die Wirklichkeit verbu sind, ein Imperativ. Es liegt fast eine ge lranie in der Tatsache, daß aus dem Reii des in ltalien gesammelten Materials in folgenden Jahren bis zu seiner zweiten llt reise (1828) nur drei ausgeführte Olbilde italienischen Motiven entstehen. Es mag daß der gewaltige Eindruck ihn inhibiert i1( mag aber auch sein, daß die Begegnung m Wirklichkeit die von anderen Malern wie Cl übernommenen Konzepte gründlich ersch hat. „Rom vom Vatican aus gesehen. Rafael bt tet von La Fornarina bei der Vorbereitung ner Bilder für die Ausschmückung der Lo4 (Abb. 13) ist der wartreiche Titel des 18K standenen Ulbildes. Ganz abgesehen von „Breitwandeffekt", der seine Wirkung auf zeitgenössischen Betrachter nicht verfehlte, die turneresken Züge der im Vordergrund gebauten Werke Raffaels bemerkenswert sie eine Identifizierung Turners mit dem Ul sellen Künstler der Renaissance andeuten. Auf der gleichen Reise macht Turner au Venedig halt, einer Stadt, deren Einzigort Turner von nun an bis an sein Ende besc gen wird. Turner, dessen Ziel es ist, die I von Licht und Farbe in all ihrer Komplexhi ergründen, findet in dieser zwischen Wasse Luft gelegenen Stadt ein ideales Studienc (vgl. Abb. 12). Darüber hinaus aber wird ' dig für ihn in gewisser Weise zu einem I Karthago: die blühende Stadt, der überl nehmende Merkantilismus und schließlicl Versinken in politische, geistige und künstle Belanglosigkeit. Die Vision (Karthago) wi einer Vision der Realität (Venedig). ln diesen zwei Jahrzehnten vor dem h Sturm verbringt Turner auch viel Zeit m beit für Verleger. Eine Anzahl von Vignett Gedichten von Byran, Campbell, Scott un deren ist zu sehen. Aus seinem Reichtu Skizzenmaterial schöpfend, arbeitet Turner