Für den Kunstsammler
Franz Wagner
Zu neuen Forschungen über die
gotische Plastik in Tirol
Theodor Müller, Honorarprofessor der Münchner
Universität und bis 1968 Generaldirektor des
Bayerischen Nationolmuseums, ist von allem An-
fang seiner wissenschaftlichen Arbeit an der
kunstgeschichtlichen Forschung in Tirol verbunden.
Seine grundlegende Monographie von 1935 „Mit-
talalterliche Plastik Tirols, Von der Frühzeit bis
zur Zeit Michael Pachers" wurde zu einem nun
seit mehr als drei Jahrzehnten vergriffenen und
gesuchten Standardwerk. Hatte dieses Buch zeitlich
nur bis in das Dezennium vor den Frühwerken
Pachers gereicht, hat dann Müller den weiteren
Weg unter anderem 1948 in einem umfangreichen
Aufsatz „Zur Erforschung der spötgotischen Plastik
Tirols" (erschienen in den „Veröffentlichungen des
Museums Ferdinandeum in Innsbruck") aufgezeigt.
Für die weitere Arbeit wurden dann die Ergebnisse
von drei Ausstellungen, welche konfrontierende
Untersuchungen ermöglichten, bedeutsam: „Mittel-
alterliche Kunst Südtirols" (Bozen 1949, Katalogtext
von Niccalo Rosmol, „Gotik in Tirol" [Innsbruck
1950, Vinzenz Oberhammer) und „Spötgotik in
Tirol" (Wien 1973, Erich Egg und Gert Ammann).
Zu einzelnen Meistern erschienen wichtige Mono-
graphien, etwa; Niccolo Rasmo, Der Multscher-
Altar in Sterzing, Bozen 1963; Gisela Scheffler,
Hans Klocker, Innsbruck 1967; Manfred Tripps, Hans
Multscher, Weißenhorn 1969; Niccolo Rasmo,
Michael Pacher, München 1969; Vinzenz Ober-
hammer, Das Goldene Dachl zu Innsbruck, Innsbruck
1970; Oswald Kafler und Kosmos Ziegler, Der
Schnatterpeck-Altar zu Lana, lnnsbruck 1970; Eva
Kreuzer-Eccel, Hans von Judenburg und die Plastik
des weichen Stils in Südtirol, Calliano, o. J.
Nun hat Theodor Müller im Athesia-Verlag Bozen
eine umfassende Publikation' über die organischen
Zusammenhänge der plastischen „Produktion" in
Tirol von der frühen Gotik bis zum Ausklang dieser
Kunst in maximilianischer Zeit vorgelegt. Müller
ist es dabei in meisterhafter Diktion überzeugend
gelungen, „an maßgeblichen Werken das Besondere
der Leistungen der Bildhauer und Bildschnitzer der
Gotik in Tirol aufzuzeigen" wie auf die Ver-
flochtenheit mit den gleichzeitigen bildnerischen
Kräften in Süddeutschland, in den Ostalpen und
in Oberitalien hinzuweisen. „Bei allen Aussagen
können wir nicht eindringlich genug betonen, wie
sehr unsere Kenntnisse und Überlegungen durch
die Zufölligkeit der Erhaltung der Obiekte und
der Quellen bedingt sind. Wir können also nur
ein Wahrscheinlichkeitsbild entwerfen."
Wie faszinierend solch ein „Wahrscheinlichkeits-
bild" sein kann, zeigt der großartige Kruzifixus
des Benediktinerstiftes Gries bei Bozen - ein
„signifikantes Beispiel der überregionalen Aus-
breitung des frühen ,gotischen' Stiles zu Beginn
des 13. Jahrhunderts" -, der sich radikal unter-
scheidet von der schweren Wucht der in Tirol so
eigentümlich geprägten spätromanischen Holz-
skulpturen. Im Zuge der zum Meditativen neigen-
den religiösen Verinnerlichung wurden damals
die herkömmlichen Bildinhalte in einer neuen
veristischen Eindringlichkeit anschaulich gemacht.
Demgegenüber stehen Werke der Steinmetzkunst
aus den Bauhütten, wie der prachtvolle „hl. Niko-
laus" neben dem Südportol der Pfarrkirche in
Meran.
Als Hinweis für das schwer zu entflechtende Pro-
blem der Unterscheidung von lmpartwerken und
Leistungen örtlicher Werkstätten, wie als Beispiel
für das neue Phänomen iener isolierten Bildwerke
der „Schönen Madonnen" und der „Vesperbilder",
diene die anstelle des ursprünglichen Tymponons
in das romanische Portal der Marienberger Stifts-
kirche eingefügte Skulptur einer thronenden
Muttergottes, wie die Krumauer Madonna wohl „in
der gleichen in Südböhmen oder in Wien zu
lokalisierenden Werkstatt entstanden".
Die eiiieea" che Kunstwissenschaft hat eiis dei „Dialekt-
fOrSChUrl H großen Nllfleft gezogen und sich ein reines
oigdn ür die Unterscheidung etwa rheinischen, fränkischen,
schwäbischen oder bayerischen Wesens gesehenen. Elfte
„sfdmmeskurlde" dei spätmittelalterlichen Plastik in den
Alpenländern begegnet ungleich schwierigeren VGTDUS-
Setzungen. uenn das tägliche Leben und künstlerische
Schaffen in ieriem schmalen RUUITI an dei Grenle ZU
unendlich scheinender Weite wdi voll von Spannungen;
Härte, Verschlossenheit und Schwerblütigkeit können
gleichzeitig neben Milde und Sinnesfreude stehen - in
den deutschsprachigen Talschaften nicht dndeis die in den
rütaramanischen und italienischen.
und dann - was ist eigentlich diese Kunstlandschaft
„riiewr aein aidren Meinhard ll. VOVI oeis (1258-1295,
zugleich Herzog von Kärnten) wdi es gelungen, des Etsch-,
Eisack- iind lnntal in einer Hand siisdinineniiiidssen und
damit ein eiiind ndiaiiiehei iind historischer veidiis-
Setzungen das „Land im Gebirge" zu schaffen-i Kaisi
xbii IV. belehnte dann 1364 Herzog Rudolf von osie
mit dei Grafschaft Tirol. Aber das Pustertal gehorte
1500 lUf Grafsdtüff GÖIZ, die Bezirke xiirsiein, Kitzl:
und Rattenberg bis in die gleiche Zeit zu Oberbayer
Das Bistum Brixen war Bestandteil des Metropolitam
bandes Salzburg, der Vinschgau war in kirchlicher
Beziehung dein ßisiiiii. chii, siiiiidgen des Eiibisiiii
Mainz, einverleibt. Nimmt man dazu, daß das Bistur
Trient, zum Heiligen Romischen Reich ueiiisihei Nah
gehörend, bis ZUm nie des sdbenei beiges reichte U
zum Metropalitanverbond von Äqulleid zahlte, dann
abgesehen nach vom ständigen Hin und nei an den
Paßstraßen - die Vielschichti keit dei Kräfte und rd.
diieh und V01 allem im Bereic dei Künste, vollends
deiiiiieh.
1 Thronende Schöne Madonna, um 1400. Mar
Vinschgclu, Stift ' (he
2 Zw Heilige Könige und ein Diener aus einer Ai
T olisch, um 1490. Lindenholz vollrund geaibeite
Höhe des stehenden Königs 46 cm. lnnsbruck,
museum Ferdinandeum