Udo Kultermann Multiplizierte Originale für die Massen Aspekte einer industriellen K uns! „Whaf business hcve we with an et all unless we con shur it." Wi ium Morris Einleitung In der Debatte über zeitgenössische Kunst tritt ein lange unterbewertetes oder nicht offen disku- tiertes Phänomen neben die Disputation von Stil- fragen, Techniken, lnhalten, ein Phänomen, das mehr und mehr grundsätzlichen Charakter an- nimmt und über den Bereich der Kunst hinauswei- send gesellschaftliche Relevanzen hat, die Exi- stenz vom multiplizierbaren Kunstwerken. Die Frage ist insofern von besonderer Bedeutung, als sie den Realitätscharakter des Kunstwerks selbst verändert bzw. in einer neuen Erscheinungsweise konstituiert. Hatte sich der Künstler in der Ver- gangenheit und bis in die unmittelbare Gegen- wart hinein im wesentlichen darauf beschränkt, die Werkzeuge seines Tuns als Hilfsmittel einer wie auch immer gearteten manuellen Tätigkeitzu verstehen, als Hilfsmittel, die beliebig in den Prozeß der Produktion von Kunst eingeschaltet werden können, ohne ihn als primär manuellen Vorgang zu verändern, so hat die sich immer weiter ausbreitende Industrialisierung dazu ge- führt, daß auch der Künstler sich der neuen technischen Stoffe und der durch die Maschine ermöglichten Arbeitsbedingungen bedient. Vor einigen Jahrzehnten noch begrenzte Herbert Read die Frage „Can the Machine produce a work of Art?" generell auf die Produktion von Gebrauchsgütern'. Von der heutigen Sicht da- gegen kann ein Künstler von vollkommen ver- änderten Ebenen der Beurteilung ausgehen und feststellen: „Die Vorstellungen der industriellen Produktion unterschieden sich bis vor kurzem nicht van der neusteinzeitlichen des Gestaltens - die Differenzierungen waren weithin eine Ange- legenheit gesteigerter Effizienz. Die Grundbe- griffe sind Wiederholung und Arbeitsteilung: Standardisierung und Spezialisierung". Und er kann realistische Prognosen für die Entwicklung der kommenden Jahre formulieren; „Vermutlich werden die Verhältnisse durch eine durchgrei- fende Produktionsautomation überholt werden, die in hohem Maße mit Rückkoppelungsvorgän- gen arbeiteti". Selbst Definitionen der Technik nähern sich in überraschender Weise auf einer vergleichbaren Ebene den Gegebenheiten der Kunst an bzw. der Entwicklung, die die Kunst in den letzten Jahren einschlägt. Harvey Brooks definiert Tech- nik als „the use of scientific knowledge to specify ways of doing things in a reproducible mannerJ". Und selbst das Verhältnis des Men- schen zur Natur erhält eine den heutigen Ge- staltungstendenzen entsprechende Wandlung. R. Kuhns beschrieb dies so: „The fine arts, as they ore called,are distinguished, among otherthings, by their reiection of nature, while the engi- neering arts ore distinguished, among other things, by their ioining of nature to the man- made. lt is this closeness of the engineered to nature that hos given power to those artists who work with the machine as an artistic pro- ducti" 30 Die Frage nach der Beziehung des Künstlers zur Maschine berührt grundsätzliche Fragen heu- tiger Kunst, heutiger Gesellschaft und ihrer Wer- te. Es sind Fragen der Elite und Masse, der Le- bensqualität, der gesellschaftlich-politischen Pro- iektion und des Status quo und unlösbar ver- bunden mit ihren Fragen der Marktwirtschaft und internationalen Ökonomie. Dessenunge- achtet sind Wertfragen eingeschlossen, Wert- fragen, die die Gesamtheit der heutigen Ge- sellschaft betreffen. Quantität als Begriff ist von erheblicher Wichtigkeit geworden und findet sei- ne Entsprechung auch in der Kunst. Er zeigt sich in Kunstwerken, die nicht mehr nur einmal vorhanden sind, sondern im Prinzip unendlich oft, Kunstwerke, die allen Menschen zur Ver- fügung stehen. Medienwandel und politische Veränderungen Es ist wichtig zu wissen, daB in entscheidenden Wendepunkten der geschichtlichen Entwicklung vorher unterbewertete oder überhaupt nicht ge- sehene Bereiche der Kommunikation aufgewertet werden und daB dieser Prozeß einer gesellschaft- lichen Emanzipation entspricht. Der spätmittel- alterlichen Produktion für den unbestimmten Markt entspricht in der bildhaft dialektischen An- eignung von Wirklichkeit ein neues Medienbe- wußtsein, das weitgehender als stilistische Ver- änderunge'n den Realitätscharakter der Kunst selbst verändert hat. „The use of the graphic 1 Yoyoi Kusama, Narcissus Garden, 1966 2 Peter Roehr, Typomontage Ty-100 (Nachlaß- Verz.), 1965. Schreibmaschine auf Papier, 19,5 x 18,5 cm, signiert 3 Claudia Parmiggiani, „Fotolitografia 1968" 4 Peter Roehr, Fotomonlage FO-Sl (Nochlaß- Verz.l, 1965. Papier auf Pappe, 6S,5x7l cm, signiert Anmerkungen 1-8 'Art and lndustry, London 1934, S. 33. i Robert Morris in: G, de Vries, Hrsg: Über Kunst, Köln 1974. S. 219. 3Zitiert nach A. Beichman: Post-lndustrial lmperatives, Art International, Dec. 1974, S. 61. t Art and Machine, Journal of Aesthetics and Art Criticism, Spring m7, s. m. sCraig Harbison: lntroduction to the exhibition „Symbols iri Transformation - Iconographic Themes m m. Tims of the Reformation", The Art Museum, Princeton Uni- versity, March 15 to April 111969, S. 15. 6 A and Technics, New York 1952, S. 67. ' Zi ert nach L. Wawrzvn: Walter Benjamins Kunsttheorie. K ik einer Rezeption, Darmstadt und Neuwied 1973, S. 63. 'Gesammelte Schritten i, Z, hrgs. von R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, FrankfurtlMain 1974, S. 478. media was in itself as importont for the p and its purposes as were the themes portr The papularity and importance of the gr media ot this time was partly the resi Protestant antipathy to sculpturol or p: imagess." Sicher ist nicht allein der Protestantismus a sache für die Ausweitung der graphischer dien anzusehen, die gesellschaftlichen Ums tungen der Zeit wie auch die Revolutioi Technik haben erheblichen Anteil daran allem Gutenbergs Erfindung der beweg Lettern war von ausschlaggebender Bede für die Zukunft, und Lewis Mumford hi Recht erkannt, daß „the movable type i original model of the standardized, replac part... Finally the printing press itself, hand-operated, then, in the nineteenth c: power-driven, became one of the earliest l of standardized, increasingly automatic, n nervt." In der Zeit Gutenbergs läßt sicl Niederschlag dieses Wandels auch in der erkennen: iahrhundertealte Drucktechniken den neu aufgegriffen, erhalten eine neue I graphie und wenden sich an neue Bevölkei massen. Entscheidend ist, daß mit den Neuerunge Graphik das Gesamtwesen der Kunst rr ändert wird und daß allgemeine Verändern auch veränderte Verholtensformen zur Wir keit aufschließen. Ernst Fuchs hat sehr früh Verbindungslinien zwischen Reproduktion niken und politischen Veränderungen er und ausgesprochen: „Aus diesem Grunde eine gar nicht verwunderliche Erschei daB iede größere historische Umwälzung andere Klassen als die seither herrschende Herrschaft bringt..., regelmäßig auch eine änderung der bildlichen Vervielfältigungste resultierV." Walter Beniomin kommt in der zweiten Fa seines Essays „Das Kunstwerk im Zeitalter 1 technischen Reproduzierbarkeit" zu ähnlich: gebnissen; „lnnerhalb großer geschicht Zeiträume verändert sich mit der gesamte: seinsweise der menschlichen Kollektive auc Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmunga." So wie die Bedingungen der Produktion sei" Mittelalter sich verändert haben und neue hältnisse zwischen Produzenten und KOTlSl ten geschaffen haben, so hat auch das NEW dium veränderte Erlebnisformen dessen ge: fen, was vorher in einem begrenzterem Zi menhang als Kunst angesehen wurde.Dasb nende 16. Jahrhundert erreicht in diesem Pl eine neue Ebene. Die Reformatoren wie die Führer der Bauern wandten sich dire die des Lateinischen nicht mächtigen M und setzten für die dafür notwendige munikation neue Mittel ein. Diese, vorher wiegend für die Reproduktion älterer M benutzt, wurden bald zu selbständigen drucksmitteln und erhielten Eigenwert.