Die Entwicklung des modernen Möbels verläuft par- allel zür Entwicklung der modernen Architektur und der modernen Technik. Die amerikanische Unab- hängigkeitserklärung von 1776 mit der Deklaration der Menschenrechte, die erstmalige Verwendung einer mit Wasserkraft angetriebenen Spinnma- schine in Nottingham (1775 von Sir Richard Ark- wrightin derersten amodernenw Fabrikerrichtet) und der Sturm auf die Bastille im Jahre 1789 stehen am Beginn einer grundlegenden Veränderung unserer Welt, die bis heute noch nicht zum Abschluß ge- kommen ist. Im zwanzigsten Jahrhundert ist der an- dauernde Prozeß des Suchens. des Veränderns, der Aktion und Reaktion gesellschaftlicher Umschich- tung durch die Auseinandersetzung zwischen Kommunismus und Kapitalismus. aber auch durch die Suche nach sozialer Gerechtigkeit in beiden Sy- stemen gekennzeichnet. Diese gesellschaftliche Wandlung, die heute durch das politische Mündig- werden der Dritten Welt erneut in Frage gestellt wird. bildet den Rahmen, in dem sich auch unser Bauen und Wohnen vollzieht. Möbel und Raumgestaltung können Aufstieg und Macht einer Klasse, einer Schicht oder eines Volkes auf gleiche Weise symbolisieren wie die Architektur einer Epoche. Im Grunde lassen sie sogar noch prä- zisere Schlüsse zu, da Veränderungen hier viel ra- scher und deutlicher zum Tragen kommen. Durch ihre unmittelbare Nähe zum Menschen charakteri- sieren Raum und Möbel seine Stellung und seine Beziehung zum Mitmenschen. Möbel sind Zeugnis seines öffentlichen Auftretens ebenso wie seiner persönlichen Vorstellungen: Ein Möbel von Andre CharlesBoulle mitseinen klaren Formen und pracht- vollen lntarsien steht für die absolutistische Macht- fülle Ludwigs XIV. ebenso wie der schlichte Bug- holzstuhl aus einer Fabrik von Michael Thonet für den beginnenden Massenkonsum. Klassizismus und Empire brachten, wenn auch im historischen Rückgriff, zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die Kraft alter gesellschaftlicher Ord- nungen nochmals im Möbelbau zum Ausdruck. Die fließenden Gewänder der Damen auf den Bildern von Jacques Louis David und die der römischen An- tike entnommenen Motive der Möbel wollten Glei- ches darstellen: die Stärke des lmperators und die Suche nach klassischer Regelmäßigkeit und Ein- fachheit. Durch die glatten Flächen des dunklen Mahagonifurniers, erste Zeichen technischer Per- fektion der beginnenden arbeitsteiligen Fabrikation. erhielt das Möbel schon durch das bloße Volumen verstärkte Aussagekraft. In den Möbeln und Wohnformen des Biedermeier kann man eine Vorstufe der modernen Formgebung sehen. Aus der Reduzierung der Ornamente von Klassizismus und Empire und der Anpassung an die räumlichen Verhältnisse der Bürgerstube entstan- den. zeigte diese bürgerliche Wohnkultur noch ein- mal die Kraft einer selbständigen Entwicklung. Die organischen Formen der Sitzmöbel könnte man durchaus als Vorboten eines Funktionalismus be- zeichnen, der durch die Abkehr von vordergründi- ger Repräsentation möglich wurde. Bescheidene. helle und freundlicheZimmermitschlichten Möbeln strahlten Ruhe aus und schienen dieser vor allem mitteleuropäischen Strömung etwas Endgültiges zu verleihen. Die Ruhe war jedoch trügerisch: Hinter der politischen Ordnung Metternichs bahnten sich tiefgreifende Umwälzungen auf gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Gebiet an. Die bürgerliche Ge- sellschaft war durch den Verlauf der Französischen Revolution zutiefst erschreckt und fühlte sich unter der Obhut ihrer Monarchen sicher. Man zog sich ins eigene Heim zurück, in dem Frau, Kinder und Freunde für jene Atmosphäre sorgten. die man heute als nbiedermeierlichii bezeichnet. im Land der frühen Industrialisierung. in England. hielt man zunächst an Wohnvorstellungen fest, die durch die drei großen englischen Möbelentwerfer 32 des achtzehnten Jahrhunderts- Thomas Chippen- dale, Thomas Sheraton und George Hepplewhite - geprägt worden waren. Im übrigen hieß das Motto "zurück zur Natur". hinaus in eine idyllische Land- schaft. das ebenso wie in Mitteleuropa durch die romantische Malerei unterstützt wurde. Man hielt sich in den Landhäusern der weiten grünen Graf- schaften auf. während im Mittelwesten die engen. schmutzigen Industrieviertel entstanden, die Schlote der ersten Fabriken rauchten und die Schiffe im Zeichen des Wirtschaftsliberalismus eine neue Freiheit der Meere nutzten, um Rohstoffe für die Maschinen heranzuschaften. Zurselben Zeit. als mit dem Ende der überkommenen Ordnung des Feudalismus die bisher gebundenen Arbeitskräfte frei wurden und sich in die Zentren der neuen Indu- strie ergossen. lebte die führende Schicht in einer gewollt historisierenden Umgebung. Die neue Gotik symbolisierte die Erinnerung an die glorreiche Ver- gangenheit des englischen Adels. die auch für die Fabrikanten Vorbild war. Während das frühe Viktorianische England in die 1 Leopold Kupelwieser, Gesellschaftsspiel der Schuber- tianen in Atzenbrugg "Vertreibung aus dem Paradiese. 1821. Aquarell. Historisches Museum der Stadt Wien. lnv.Nr. 18752. Schmucklcse und möglichst glatte For- men prägen den Stil des Biedermeier. dessen bequeme Möbel in hellen Räumen einen Hohepunkt bürgerlicher Wohnkultur darstellen. 2 Maurizio Dallasta und Davide Mercatali, Sessel "Noma- de", 1975. Fünf Kissen werden mit Gurten zu einem Ses- sel zusammengeschnalll und können auch zu anderen Kombinationen verbunden werden. Die Kissen sind mit Baumwollstoff oder Segeltuch bezogen. Hergestellt von Doricni Formart. 3 Englisches Flollbureau mit Büchervitrine, um 1790. Vic- toria and Albert Museum. London. Die Möbel dieser Zeit zeichnen sich durch äußerst zweckmäßige Gestaltung und zurückhaltenden Dekor aus. ländliche ldylle flüchtete, baute Leo von Klenze r 1816 aus dem kleinbürgerlichen München he mitten in das Grün der Vororte die klassizistisc Häuser der Ludwigstraße. In der Nähe von Wiei einer Stunde mit dem Pferdewagen zu erreic entstand eine biedermeierlich-klassizistische Ien- und Bäderstadt: Josef Kornhäusel gab durch einen Brand zerstörten Baden ein nr Stadtbild. Daß die politische Führung in ganz Europa trct rer konservativen Grundeinstellung eine fortscl liche Wirtschaftsentwicklung förderte. mag an Erkenntnis liegen, daß wirtschaftliche Sichel und Prosperität beruhigend und stabilisierend ken. so holte zum Beispiel Staatskanzler Metter Michael Thonet nach Wien. Die Thonet-Stühle gebogenem Holz standen zuerst tatsächlich in Palästen der adeligen Mäzene und wurden erst terzum Volksmöbel. Die offiziellen Staatskünstl Architektur und Malerei brachten - über den H rismus hinaus - keinen Versuch, die neue schöpferisch zu erfassen. Und die Arbeiterst war zu sehr durch den Kampf um die bloße Exis gebunden, um schon stilbildende Kräfte zu eni kein. Der rasante technische Fortschritt, die Entwick neuer Fabrikationsmethoden und die Einfüh neuer Materalien muBten indessen auch von i-Kunstmöbelherstellernw zur Kenntnis genom werden. Schon Andre Charles Boulle, der g Ebenist Ludwigs XlV..kanrite das arbeitsteilige fahren, und auch die berühmtesten Möbelfii Frankreichs oder David Roentgens Unternehme Rheinland waren arbeitsteilig aufgebaut. Hierl wenn auch sehr langsam, der Übergang vom H werks- zum Industriebetrieb statt. Ebenso wuchs die Größe der Unternehmen. man begann. den Absatz mit modernen Vertri methoden zu organisieren. In Wien beschäftigt Möbelfirma Dannhauser um 1808 bereits 130 A ter, man konnte- etwas später- Möbel und G1 (etwa Glaswaren) in seiner Fabrik und dem nahi legenen Verkaufsraum erwerben. Die i-Kunstschreinereiena sahen allerdings in noch ihre Aufgabe darin. die historisierei Fläume einer historisierenden Architektur mit beln verschiedenster Stilrichtungen zu füller waren handwerklich perfekte Möbel, die, ob Kopien vergangener Stile, von den Theoretikerr von den neu entstandenen Museen (Victoria an bert Museum in London. Museum für Kunst un dustrie in Wien) befürwortet wurden. In dieser Welt des Umbruchs und der Rückscha Stilepochen vergangener Zeiten und Gesellsch ordnungen wiesen - neben den Versuchen mit neuen Material Eisen - zwei Leistungen in dir kunft der industriellen Gesellschaft: die bereil achtzehnten Jahrhundert geschaffenen Möbe amerikanischen Sekte der Shaker und das l holzmöbel von Michael Thonet. Während die Sh - bereits hundert Jahre vor Adolf Loos- aus Üb gungen sittlich-religiöser Art Zierformen bei A tektur. Gerät und Möbeln ablehnten. wurde Bugholzmöbel auf Grund der verfahrenstei schen Entwicklung und durch seine Billigkeit frühen Modell eines Möbels der Massengesellsi und daruber hinaus zum Vorbild für das MObl sign bis heute. Die technische Entwicklung wirkte sich besor deutlich in Amerika aus. Zwarentstanden die ei Fabriken späterals im industriellen Mutterland land (die erste Baumwollspinnerei wurde 17! Pawtucket errichtet). doch setzte sich bald die l talistische Produktionsweise - in der zweiten l- des neunzehnten Jahrhunderts vor allem durct Versuch gekennzeichnet, die manuelle Tätigki allen Bereichen durch die billige Maschine zu e zen - mehr und mehr durch. Früher handwer hergestellte einfache Möbel wurden nun zume