Es bedarf keiner außergewöhnlichen Situation, um an den Tod zu denken. Die Unstimmigkeit von dem durch die Jahre mitgebrachten jungen ich und dem ich des alternden Spiegelbildes genügt. Was ist geschehen? Nicht viel. Alles. Zeit ist ver- gangen. nMit jedem Stück Leben-i, sagt Max Sche- ler, ndas gelebt und als gelebt in seiner unmittel- baren Nachwirkung gegeben ist, verändert sich fühlbar der Spielraum des noch erlebbaren Le- bensat Zeit ist vergangen, verraucht, venrveht. Wir erfahren dies als Verhöhnung, als Ungereimtheit, weil es Verlust von Unwiederbringiichem ist. Die Jahre, die vergehen, die Erinnerungen, die plötz- lich da sind und die Zeit trügerisch aufheben, be- drücken uns. Und dann: dieses Gewicht des To- des, das spürbar wird in der Zeit! Der Gedanke an den Tod, hereinbrechender Anfang eines Weltmiß- lingens, drängt den Menschen zu letzten Fragen. Er will nicht sterben und wird es, er kann nicht an den Tod denken und muB es - Widersprüche in einer Gesellschaft, die ohnehin von dem Schau- spiel des Niedergangs nicht behelligt sein will, für die der Mensch nur Mensch ist, wenn er "operatio- neiiu und verfügbar bleibt. Dennoch: die Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz bekommt erst mit dem Denken über den Tod wirkliches Ge- wicht. An der dunklen Grenze der vorgeschichtlichen Nacht mit ihrer Stimme des Unvordenkiichen er- lischt im Halbschatten der animalische Gleichmut gegenüber dem Tod. Zum Zeitpunkt, da aus der Geschichte der Entstehung der Arten das Aben- teuer des Menschen beginnt, erscheint das Rätsel vom Bewußtseln des Todes gleichzeitig mit dem Rätsel der Kunst. Mit dern ersten Grab ist ein erstes Bildwerk geschaffen, und der Mensch beginnt seinen beunruhigenden Dialog zwischen dem Nichts und der Ewigkeit. Gesicherte Anhalts- punkte finden sioh beim Neandertaler im Mittei- palaolithikum, der seine Toten in Gräbern bestat- tet: sichtbarer Ausdruck der Idee eines Weiter- lebens nach dem Tod. Die Gräber sind, wie dann die Basiliken, westöstiich ausgerichtet, der Kopf der Toten schaut gegen Sonnenaufgang, dem er- weckenden Licht entgegen. Noch 80.000 Jahre später schreibt der Schoiastiker Guiiielmus Du- randus, man soll laden Toten derart betten, daß sein Kopf nach Westen und seine Füße nach Osten weisenu. Feuerstein, Gerät und Nahrungs- mittel sind für den Weg ins Jenseits beigelegt, der Tote mit Ockerfarbe bestreut. Denn Rot sichert, wie wir von den heutigen Naturvolkern wissen, dem Dahingeschiedenen Atem, Wärme, Leben. Rot Ist das Blut und rot ist der Feuerbail der Son- ne, wenn das alles belebende Himmelslicht über den Horizont der ewigen Ebenen, Meere und Sümpfe hinwegzieht. Verwlschte Spuren von Kult- ausübung und Religion, erste Schritte von Kunst, Götter, von denen wir keine Narnen wissen: Mittel, das Ende ertragbar zu machen... Das überwältigende Bewußtsein der Sterblichkeit verdunkelt die Ströme des menschlichen Den- kens. vSterbenu, sagt Sappho, "ist etwas Schlim- mes. Die Götter selbst haben so entschieden. Denn sie würden sterben, wäre Sterben etwas SCHÖNES." Die Dichterin steht unter dem Einfluß der kuiturtragenden homerischen Religion. in de- ren Unterweit "ruhen-x die Toten, wein veriosche- nes Heeru, iitühllose Geister verbiichener Men- schenwesenu. Achilleus verweigert sich dem Tode nicht, aber selbst sein Schatten murrt noch: vPrei- se mir jetzt nicht den tröstenden Tod, ruhmvoller Odysseus. Lieber möchte ich fürwahr dem unbe- güterten Maler, der nur kümmerlich lebt, als Tag- iöhner das Feld bauen, als die ganze Schar vermo- derter Toter beherrschenß Neben der offiziellen homerischen Religion gab es eine inoffizielle, die die Orphiker verbreiteten. Ihr Kult geht auf die uralte Dionysos-Verehrung zu- rück. Für die griechischen Todes- und Jenseitsvor- steilungen waren die Orphiker höchst bedeutend, denn sie besaßen ein Gegenbiid zum Tartaros: die elysischen Gefilde. Biumenübersäte, sonnengiän- zende Wiesen, erfüllt von Gesang und Tanz. Für die Mitglieder dieser Geheimreiigion galt bereits die Teilnahme am Kult als untrüglicher Weg zur Rettung. Pythagoras integrierte die orphische To- desvorsteilung in die griechische Philosophie. Durch die Stimme des Euripides vernimmt dann das Abendland zum ersten Mal das Bekenntnis: wich liebe die Götter nicht, die man des Nachts an- beteLir Es beginnt die verletziiche Weit der Götter, die mit der Sonne sterben müssen... vDer Auen und Haine ewig leuchtendes Grünir, die "lachenden Fluren" des Vergilschen Eiysiums un- terscheiden sich kaum vom Lustgarten, den der Koran seinen Gläubigen verheißt, kaum vom Para- dies der Christen. Die Toten schliefen in einem schönen Biumengarten. Demgegenüber gab es in Zeichnungen von Peter Prandslener 34