1876 werden in der Textilsammlung des Österreichi- schert Museums für Kunst und Industrie i wie das Österreichische Museum für angewandte Kunst da- mals hieß - vierzehn Stoffabschnitte "nachträglich in- ventarisiertri, Produkte und ein Geschenk der Firma Phi- lipp Haas und Söhne in Wienf Das Inventar erwähnt außerdem die Vorbilder der Gewebe: mittelalterliche Fragmente, die das Museum fast alle schon elf Jahre früher von dem Kanonikus Dr, Franz Bock aus Aachen gekauft hatte. Das Vorhandensein mittelalterlicher Ori- ginale und ihrer historistischen tiStilkopienri ist ein Bel- spiel für die praktische Umsetzung der Gründungsidee des Wiener Museums. Diese Sammlung sollte nämlich - und auf dem Gedanken basieren auch andere, ähn- lich strukturierte Museen - vor allem der heimischen Industrie als Vorbilderschatz dienen? Das Interesse an einer fundamentalen Reform des Kunsthandwerks in diesem Sinne und an Textilmustern speziell geht theoretisch bekanntlich von Gottfried Semper aus? 1851, bei der ersten Weltausstellung in London, wurde er mit Objekten konfrontiert, die von ei- nem Historismus geprägt waren, der vergangene Stile kritik- und auswahllos als ein Reservoir für das aktuelle Kunstschaffen benutzte. Auf dem Textiisektor überwog dassich seitden vierzigerJahrendesJahrhundertsaus- breitende, neobarocke, naturalistische Blumenmuster, das ohne Rücksicht auf den speziellen Materialcharak- ter oder auf den jeweiligen Gebrauchszusammenhang für alle möglichen Textilprodukte verwendet wurde. Semoerentwickelt aus dieser für ihn überaus negativen Erfahrung seine nmaterialistischek Kunsttheorie, nach der die künstlerische Form ein Produkt aus Zweck. Ma- terial und Herstellungstechnik eines Werkes ist. Dabei erklärt er die Textilien zum Ausgangspunkt jeglicher kunsthandwerklicherErneuerung,denn in ihnensiehter seine Ideen besonders einleuchtend exemplifiziert. Au- ßerdem verweisteraufdieVorbildhaftigkeitnurganzbe- stimmter historischer Stile und schafft damit ein festes Wertsystem. Orientalische, mittelalterliche und in der Renaissance entstandene Textilien stehen an erster Stelle in dieser Wertskala, da ihre Muster, nach Sem- pers Meinung, aus den für ihn so wichtigen materiellen Gegebenheiten heraus entwickelt werden sind und so als vstylisiertrr und als ihrem Material und ihrer Funktion adäquat bezeichnet werden können. Im deutschsprachigen Raum hat die praktische Reform textiler Muster im Semoerschen Sinne ihren Ausgangs- 2 punkt in der Paramentik: fiDie Neubelebung der alten Vorbilder, welche wir auf anderen Gebieten des Kunst- gewerbes dem Luxusbedürfnis zu verdanken haben, schulden wir im Gebiet der Kunstweberei einem ganz anderen Faktor: der Kirche. Die streng katholische Richtung. welche sich im Anschluß an die romantische Periode unseres Jahrhunderts den Traditionen des Mit- telalters mit Liebe zuwandte, suchte auf allen Gebieten die Einflüsse der letzten frivolen Jahrhunderte zu ban- nen und äußerlich wie innerlich die Formen der frühmit- telalterlichen Zeit, in welcher die Herrschaft der Kirche am unbedingtesten zur Geltung kam, wieder zu gewin- nen." So begründeteJulius Lessing 1874 die Motivation der Kirche in dieser Frage. Gegenüber den parallelen heogotischen Tendenzen in der Kirchenraumausstat- tung allerdings bezog er eine äußerst kritische Positionlessing nennt auch den lnitiatordieserkirchli- chen Stoffmusterreform und beschreibt dessen Vorge- hen überauspositiv: rln Deutschlandwares der bekann- te Dornkaplari Bock . , ., welcher in dieser Richtung eine eusgebreitete Thätigkeit entfaltete und unermüdlich war, mittelalterliche Musterzu sammeln. welche an Mu- seen und Sammlungen verkauft wurden und den Fabri- ken zu Gute kamenß Vor allem zwei Museen haben von der Bocldschen - uns heute in einem bedenklicheren Licht erscheinen- den - Sarnmeltatigkeit profitiert; das für das Wiener und andere Museen vorbildliche Victoria and Albert Mu- seum in London, das mehrere Ankäufe aus dieser Quel- le tätigte, den ersten 18606, und das Österreichische Museum, das 1865 ndie zweite, völlig gleiche Hälften, der Kollektion erwarb. Stoffmuster aus Bock'schem Be- sitz befinden sich aber auch in anderen Sammlungen, z. B. im Musee Historique des Tissus in Lyon 71875 er- worben - oder im Musee de Clunyf? Kanonikus Bock hat seine für die damalige Zeit sicher umfassende Kenntnis mittelalterlicher Gewebe und Pa- ramente geradezu propagandistisch verwendet und sich in Publikationen und Ausstellungen um die Verbrei- tung seiner Ideen gekümmertfErwareinerderersten, der die Reform der Stoffmuster konkret praktisch vor- wärts trieb und dafür die als vorbildlich betrachteten Textilien systematisch untersuchte und sammelte. Ge- lingen konnte dem Kanonikus dies auf Grund seiner ein- gehenden Kenntnisfastallergroßermitteleuropäischer Kirchen- und Klosterschätze. "Mit Sammlergeist und Kennerblick versehen, begünstigt auch wohl durch sei- 1 Brokatell lanciert, Ph. Haas 5 Söhne, Wien, um 1873 (Frontisplz Abb. 1,5. f) 2 Seidenlampas lanciert und mit Hautcherigoldladen broschiert, Italien, letztes Viertel 14 Jh 3 Brokatell lanciert, Ph. Haas 8 Söhne, Wien, urn 1873