Zu den rarsten. wenn auch wenig beachteten Stücken der Wiener Akademiegalerie zahlt ein altniederländi- sches Leinwandbild. das die Weissagung der Tiburtini- schen Sibylle an Kaiser Augustus darstellt.' Flar istdieses Gemälde deshalb. weil es zu den wenigen erhaltenen Exemplaren seiner Gattung gehört. Relativ unbeachtet blieb es wohl wegen seines wenig anspre- chenden Erscheinungsbildes: matte Oberfläche. ein düsteres. unbuntes Kolorit, weiters eine nicht leicht les- bare Komposition. Eine Eigenart des Bildes fällt sofort insAuge. noch ohne daß man sich mit den näheren Bildzusammenhängen vertraut gemacht hat. Zwei Motivzitate nach prominen- ten Vorbildern sind in der Komposition verarbeitet wor- den. Details, die über bloß zufällige Ähnlichkeit hinaus- gehen: Das Madonnenbild der Erscheinung am Himmel gibt Dürers Madonna auf der Mondsichel nach einem Kupferstich aus dem Jahre 1508 wiederz. womit ein terminus post quem für die Datierung des Bildes gege- ben wäre. Die beiden Rückenfiguren auf der Brücke im Mittelgrund mit Blick auf eine Flußlandschatt paraphra- sieren Jan van Eycks bekanntes Mittelgrundmotiv aus der itFiOllftrMiidültflarti Das iiSibyllentüchleinu der Akademiegalerie gibt in vie- lerlei Hinsicht Fragen auf. Es sei vorausgeschickt. daß jene Fragen nach Zuschreibung. möglichen Vorbildern der Komposition, nach den unmittelbaren ikonographi- schen Voraussetzungen für die Themengestaltung in vorliegender Form kaum alle befriedigend beantwortet werden können. Uns geht es darum. allein die Bezugs- punkte einer stilistischen und ikonographischen Beur- teilung zu benennen und die möglichen. mitunter auch hypothetischen Zusammenhänge zur Diskussion zu stellen. Von Interesse sind drei Fragenkomplexe. Wie schon er- wähnt. handelt es sich beim Wiener Sibyllenbild um ein iiTüchlii. Dürers Bezeichnung für Leinwandbilder in einer Zeit. die die Holztafel als Bildträger noch favorisierte ' Das für den Erscheinungscharakter sol- cher Leinwandbilder Wesentliche war die Besonder- heit. daß mit Temperafarbe auf unbehandelte. das heißt ungrundierte Leinwand gemalt und auf abschließendes Firnissen verzichtet wurde. Damit läßt sich dieSichtbar- keit der Gewebestruktur. die matte Oberfläche sowie die stumpfe Farbigkeit erklären. Wie aus Quellen der Zeitüberliefert. wardieserOberflächenzustand bewußt intendiert, um einen textilen Eindruck zu erzeugen, da. wie es heißt. diese Leinwandbilder als Ersatzprodukte für Tapisserien gefragt waren? So hat das lisibyllefliülihlßlllit auch vorwiegend in Re- stauratorenkreisen lnteresse geweckt. zur Frage näm- lich. wie solche rare. den zerstörerischen Umweltein- flüssen viel stärker ausgesetzte Leinwandbilder des 16. Jahrhunderts erhalten und regeneriert werden kön- nen." Der heutige düster-gedeckte Gesamtton der Ma- lerei. den keinerlei Buntfarben aufhellen. entspricht kei- neswegs dem ursprünglichen Zustand des Bildes. Die schwärzliche Farbe des Himmels und der Architektur- kulissen ist ein Resultat chemischerVeränderungspro- zesse der ehemals blauen Farbe. Schmale F-tandstrei- fen der Leinwand. die seit aiters vom Rahmen abge- deckt waren. zeigen noch heute leuchtend bunte Far- ben. Es kanndavonausgegangenwerdendaßderFarb- charakter des iiSibyilentüchieinsir den koloristischen Usancen des ersten Viertels des iö. Jahrhunderts durchaus entsprochen hat. Vorstellungen davon haben sich an der - gefirnißten - Tafelmalerei zu orientie- ren. Der heutige Farbzustand der Leinwand kann je- dochzurBeurteilungnichtmehrherangezogenwerden. Zum zweiten ist es lohnend. das Darstellungsthema. namlich das vAra-Coeliu-Wunder, ikonographisch zu verfolgen. Es gehört zu jenen Themen. deren Bildfas- sung in ihren frühesten Formen als Teil eines typologi- schen Darstellungssystems auftritt und anscheinend erst spät den Schritt zur eigenwertigen Einzeldarstel- lung gemacht hat. Als textgeschichtliche Quelle ist ne- ben dem iiSpeculum humanae salvationisii vor allem die iiLegenda Aureaii heranzuziehen. Wo innerhalb der iko- 2 2 nographischen Entwicklung die vorliegende Darstel- lung ihren Platz haben könnte, wird im folgenden eben- falls zu prüfen sein. diese Frage ist auch in stilistischer Hinsicht nicht unwichtig. Stilistische Wertung und Einordnung ist der dritte Pro- blemkomplex.zu dem imtolgendenAnsätzezueinerLo- sung geboten werden sollen. in bezug auf die kunstge- schichtlicheEinordnungdesWienerTiJchleinsistzube- merken. daß es nicht in Friedländers Anthologie deralt- niederländischen Malerei aufscheintj Dies hat unter anderem dazu geführt. daß es bis heute keinen Platz in der stilgeschichtlichen Diskussion der niederländi- schen Malerei des frühen 16. Jahrhunderts erhalten hat; wenn lnv. Nr. 568 in der Forschung Erwähnung findet". dann marginal und mit divergenten Stellung- nahmen. Resümiert man das bisher in der Literatur dazu Gesag- te. so reduziert sich dies auf die Frage holländisch oder tlämisch. schwankt die Stilbestimmung zwischen Lei- dener Schule und Antwerpen. Ludwig Münz vertrat zu- letzt nachdrücklich die Zuweisung an Cornelis Enge- brechtsz auf Grund von stilistischen Überlegungen; an dieser Zuschreibung wurde bis heute mit Vorbehalten festgehalten." Robert Eigenberger dagegen brachte in der Münz vorausgehenden Publikation die lnv. Nr. 568 mit derGruppederAntwerpenerManieristen desersten Viertels des 16. Jahrhunderts in Zusammenhangfu Diese Gruppenbezeichnung subsummiert bekan verschiedene. nurstilkritisch greifbare undzume Notnamen versehene Malerpersönlichkeiten Ar pens. denen ein insgesamt noch gotisierend-n ristisches Stilidiom zu eigen ist. versetzt mit romai ten Renaissance-Einflüssen.dieabernichtsostar Tragen kommen wie in holländischen Malsohulei spielsweise der Leidener. Der Zuweisung Eigenbergers des Wiener Tüchle das Antwerpener Stilmilieu schließen wir uns a stützt auf Beobachtungen von konkreten Stileige lichkeiten. die sich mit einer spezifischen Hand a nem Manieristenkreis in Verbindung bringen las: DenStilcharakterdesWienerGemäidescharakte eineextremevertikalisierung der Komposition uni Einzelformen; dies gilt gleichermaßen für die Fi wie für die Architekturdarstellungen. Auf einer r Raumbühne sind die Beteiligten des Geschehe zwei Gruppen geschieden, wodurch für den Ausb die Raumtiefe eine Gasse frei bleibt. Der Kaiser l' Regalien vor sich auf den Boden gelegt und knieti der Seherin. die ihn auf die wunderbare Ersche der Madonna in der Aureole am Himmel hinweis hinter unmittelbar anschließend und am Gescl unbeteiligt stehen dicht gedrängt die Damen des i ges der Sibylle vor dem Portal eines Hauses. au: sie gerade getreten zu sein scheinen. Ihnen gege