Wirklichkeit bewahrt. Hart und steinig ist die New- England-Landschaft. felsige Küstenstriche und von Steinmauern durchzogene Felder. einfache Holz- häuser. oft in einer gedämpften. ziegelroten Farbe, die ursprünglich aus dem heimatlichen Lehm ge- wonnen wurde. auch weiß und grau angestrichen. die Eckpfeiler und Fensterrahmen weiß, das Haus gegen die Umgebung absetzend. Klar und stark, nichts verschleiernd. ist das Licht. das diese Landschaft zu allen Jahreszeiten. dem zarten und kurzen Frühling. dem trockenen Sommer. dem wundervollen. langen Herbst und schweren Winter. beherrscht. Zwischen dem Charakter dieser Landschaft und dem Mestlers bestand eine geheimnisvolle AtTmitdt. Es ist. als hätte die Landschaß sich ihren Maler erzogen. der sie sich aneignete und der sein Wesen in ihr Findend. zum "schaffenden Spiegel" wurde. Kehren wir noch einmal zum ..Sugar Hause" zurück. Mestler hat das kleine, rote Häuschen. in dem im Frühling in Vermont der Ahornzucker gekocht wird, in das Zentrum ge- stellt. Iäßt es von den jungen. in zarten Farben schon glänzenden Wiesen umfluten. Kleine Bäumchen, kaum beblättert. stehen in diesem nur von einer Steinmauer durchzogenen Wiesenmeer. Mestler hat es sich erlaubt. in diesem Bild kraftvoller als gewöhnlich der Stärke dieser Vorfrühlingswelt im symphonischen An- und Abschwellen des Frühwindes Ausdruck zu geben. Das Häuschen bleibt der ruhige Pol. aber das Fenster. ähnlich denen im Halleiner Bild. und die starke weiße Scheitellinie geben auch ihm Leben. Mestlers Aquarellkunst hat sicherlich ihren großen Ahnen im Werk Rudolf von Alts. Dennoch ist Mestlers Bild ganz modern. ist nachimpressionistisch und gerade in der Behandlung und Verwandlung der Formen selbst den Schöpfungen Paul Klees über- raschend nahe. Mestlers Nach-Expressionismus verdeutlicht sich. wenn man seine Pflanzenbilder, zum Beispiel den hier abgebildeten "Hollyhack with bumblebee", 1953, betrachtet und dabei an die Pflanzenbilder Egon Schieles denkt. Beide erfassen verschiedene Augen- blicke der sich entfaltenden und blühenden Pflanze und vermitteln das erregende Gefühl lebendigen Wachstums. Beide sind sie dem deutschen Kupferstich des 16. Jahrhunderts und der chinesischen Graphik verpflichtet. eine Erbschaft. die sich bei Mestler viel- leicht noch deutlicher zeigt als bei Schiele und wiederum aus dem gleichen Grund. der schon vorher angedeutet wurde. dem Zurückfiihren des formen- sprengenden Ausdrucks in die Grenzen der Er- scheinung. Nicht immer - und besonders in seinen letzten Ar- beitsjahren - hat Mestler seine Aquarelle zu Ende geführt. und nicht immer sind die fertig gewordenen seine geglücktesten Arbeiten. Zu den anziehendsten und besten seiner Aquarelle gehören viele solcher unfertigen Blätter. Manchmal sind Bildpartien gemalt. oft die obere Hälfte und andere Teile in der Zeichnung belassen. Siehe "Blick über die Dächer". Boston. um 1948; andere Blätter zeigen wieder ein durchgehen- des Übergehen von der Farbe zur Zeichnung und wieder zur Farbe. Fast immer ist das Resultat eine besonders reizvolle und eigenwillige Verbindung. Der fragmentarische Charakter vieler seiner Werke zeigt die unbeschreibliche Anforderung an seine Energien, und man kann an einen Bogen denken. der. wenn noch mehr gespannt. brechen würde. Ein weiterer Pinselstrich würde das Erreichte gefährden. und in diesem Sinne sind auch diese unvollendeten Werke in sich vollendet. Mestlers Schulung als Radierer ging die als Maler voraus. und in all den Jahren seines künstlerischen Schaffens wandte er viel Kraft und Zeit auf diese. Mestlers Zeichnungen, mit Ausnahme seiner Porträts. sind meistens Vorarbeiten zu Aquarellen oder Radie- rungen. Es besteht eine dichte Nähe zwischen Mestlers Zeichnung und Radierung. letztere bewahrt im Grunde noch den Charakter der Zeichnung. Straßenwin- dungen in Sievering. Blicke auf den Kahlenberg und Leopoldsberg sind häufig Gegenstand seiner Radie- rungen der dreißiger Jahre._ln diesen erscheinen immer wieder Zäune. und man kann den Zaun. später die diesen vertretende Steinmauer, als Mestlers Initiale bezeichnen. Zaun und Mauer durchqueren die Landschaft. drücken ihr zart, aber entscheidend. menschliche Tätigkeit auf. machen uns oft das Fremde heimlicher. Aber auch eine andere. der vorigen entgegengesetzte Bedeutung hat der Zaun. Er trennt, schließt aus. kann selbst den Blick in den Geselligkeit und Freude versprechenden Garten wehren. So symbolisiert der Zaun auch diese Seite für Mestler, der sich so oft aus menschlicher Gemeinschaft ver- stoßen und als Zaungast des Lebens fühlte. Zu Mestlers anerkanntesten Radierungen gehört ..Wintereinsamkeit".1937. die in einer Reproduk- tionsserie des Fogg Art Museums aufgenommen wurde. Alles. was über Mestlers Kunst und Leben angedeutet wurde. gilt auch für dieses Werk. Mit sparsamsten Mitteln ist hier die Identität von innerem und äußerem Dasein, von Ich und Landschaft erzielt. Klar und hart stehen die schwarzen Stämmchen im sanften Schnee. die Zweige einander berührend und überschneidend. Die ganze Schönheit des reinen Winters ruht in diesem Bild. in dem ein Augenblick der Schöpfung auf immer festgehalten ist. Mestler wurzelte als Künstler im Alten. gleichzeitig suchte und ging er neue Wege. Seine Kunst ist eine Brücke zwischen Altem und Neuem und zwischen Alter und Neuer Welt. 4 Ludwig Matter, Wintereinsamkeit. Radierung. 1937. Fogg Art Museum. Harvard Univevsity 5 Ludwig Mestler. Blick über die Dächer in Boston. Aquarell. um 1948. Fogg Art Museum. Harvard University 6 Ludwig Mestler. Hollyhock with bumblebee. Aquarell, 1953. Joan Peterson Gallery. Boston