-
Die
österreichisch-ungarische Monarchie
IN
Wort und Bild.
Auf Anregung und unter Mitwirkung
weiland Seiner Kaiser!, und König!. Hoheit des durchlauchtigsten Kronprinzen Erzherzog
Rudolf begonnen, fortgesetzt unter dem Protectorate Ihrer Kaiser!, und König!. Hoheit
der durchlauchtigsten Iran Kronprinzessin-Mtwe Erzherzogin Stephanie.
Uöhmen (2. Abtheilung).
Wien 1896.
Druck und Verlag der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei.
Alfred Hölder, k. und k. Hof- und Universitätsbuchhändler.
Inhalt.
I. Abtheilung.
Landschaftliche Schilderung: Seite
Einleitung, von Gustav C. Laube 3
Nordwestböhmen, von demselben 6
Nordostböhmen, von A. Paudler 41
Südwestböhmen, von M. Willkomm 78
Südostböhmen, von August Sedläcek 120
Die alte Königsstadt Prag, von Joseph Alexander Freiherrn von Helfcrt ... 165
Zur Vorgeschichte Böhmens, von Johann Nep. Woldrich 205
Die Landesgeschichte Böhmens:
Vorzeit und Zeitalter der Premysliden, von Hermenegild von Jirecek . . . 230
Böhmen unter den Luxemburgern (1306 bis 1437), von Emil Werunsky . . 253
Geschichte Böhmens vom Jahre 1438 bis 1526, von Anton Rezek 274
Geschichte vom Jahre 1526 bis 1612, von Theodor Tupetz 291
Geschichte vom Jahre 1612 bis 1648, von Anton Gindely 309
Geschichte vom Jahre 1648 bis 1848, von Adolf Bachmann 327
Volkskunde Böhmens:
Die physische Beschaffenheit der Bevölkerung, von Eduard Albert und Lubor
Niederle 363
Charakter, Sagen, Trachten, Ortsanlagen und Wohnungen der Slaven, von
Alois Jiräsek 392
Feste und Bräuche der Slaven, von Primus Sobotka 438
Das slavische Volksschauspicl, von Ferdinand Mencik 459
Volkslied und Tanz der Slaven, von Josef Alexander Freiherrn von Helfert
und Ottokar Hostinsky 462
Die slavischen Dialecte, von Laurenz Dusek . 482
Volksleben, der Deutschen in West-, Nord- und Ostböhnien, von Anton August
Naaff ^06
Volksleben der Deutschen im Böhmerwald, von Josef Rank 564
Die Dialecte der Deutschen, von Heinrich Gradl 604
iv
Seite
i
2. Abheilung.
Musik in Böhmen, von Ottokar Hostinskh
Literatur und Theater:
Slavische Literatur, von Anton Truhlär
Die deutsche Literatur bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges, von Wendelin
Toischer
Die deutsche Literatur seit dem dreißigjährigen Krieg, von Alfred Klaar . . .
Die Theater Prags, von Oskar Tender
Bildende Kunst (unter Mitwirkung Josef Möckers):
Romanische Architektur, von Ferdinand I. Lehner
Gothische Architektur, von Josef Nenwirth
Architektur der Renaissance- und Neuzeit, von Karl Chytil
Burgen, Schlösser und Vesten, von August Sedläcek
Malerei und Plastik im Mittelalter, von Josef Neuwirth
Malerei und Plastik der Renaissance, der Barock- und Rococozeit, von Karl
Chytil
Malerei und Plastik der Neuzeit, von Victor Barvitius
Die Kunstindustrie, von Karl Chytil
Bolkswirthschastliches Leben (redigirt von Karl Meng er):
Landwirthschaft, von I. B. Lambl
Forstwirthschaft und Jagd, von Karl Heyrowsky
Bergbau und Hüttenwesen, von Josef Hrabäk
Das Münzwesen, von Josef Smolik
Das Verkehrswesen, von Josef Ulbrich
Industrie und Handel, von Hermann Hallwich
Gesundbrunnen und Bader, von Gustav C. Laube und Philipp Knoll . . .
61
126
139
163
193
206
282
318
347
364
385
432
481
502
523
577
588
600
667
Verzeichnis der Illustrationen.
1. Abheilung.
Kopfleiste: Hradschin, von Heinrich Tom ec
Randnitz mit dein Rip (Georgsberg), von Anton Lewy
Leitmeritz, von demselben
Elbcthal bei Aussig mit dem Schreckenstein, von demselben
Elbethal bei Tetschen-Bodenbach, von demselben
Motiv aus Graupen im Erzgebirge, von demselben
Stift Ossegg (1849); nach dem Aquarell von E. Gurk in der k. und k. Familien-Fidei-
commiß-Bibliothek zu Wien
Der Keilberg bei Joachimsthal, vom Knieriem aus, von Anton Lewy
Blick vom Kammerbuhl bei Eger gegen Haslau, von demselben
Maria Kulm, von Karl Lieb sch er
Elbogcn, von Rudolf Bcrnt
Der Herrgottstuhl bei Wotsch
Der Borschen bei Bilin
Blick von der Rosenburg
Pürglitz ,
Sämmtlich von Anton Lewq.
Die Grundmühle im Kamnitzbachthal
Böhmisch-Kamnitz
Habichtstein bei Leipa
Bösig
Einsiedlerstein 'Bürgstein)
Schloß Friedland
Sämmtlich von Heinrich Tom ec.
Ruine Michelsberg (Michalovic) bei Jungbunzlau, von Karl Liebscher
Ans dem Riesengrund
Adersbacher Felsen
Stadt und Stift Braunau
Nachod
Veste Trosky
Sämmtlich von Heinrich To in ec.
Ruine Lititz an der Wilden Adler, von Karl Liebsch er
Seite
3
7
9
11
13
15
17
21
25
27
29
31
33
35
39
45
49
51
55
57
61
63
65
67
69
71
73
75
VI
Seite
St. Ivan am Felsen bei Beraun; nach der Kohlezeichnung von Julius Maral im
kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien
Pilsen, von Johann Nowopack.y 88
Ruine Schwamberg, von Karl Liebscher 89
Der Osser vom Spitzberg aus, von Johann Nowopacky 91
Der schwarze See, von Julius Maral 9g
Eisenstein mit dem Arber, von Johann Nowopacky 97
Moldau-Ursprung am Schwarzberg bei Buchwald, von Julius Maral 99
Blöckensteinersee: Kronprinzenstein und Stifterdenkmal, von demselben 101
Prachatitz, von Johann Nowopacky 105
Die Teufelsmauer in der Moldau-Enge bei Hohenfurth, von Julius Marak . . . . 107
Stadt und Burg Rosenberg, von Johann Nowopacky m
Stadt und Schloß Krumau, von demselben HZ
Weitfällerfilz bei Mader, von Julius Maral uz
Ruine Raby, von Karl Liebscher
Stadt und Schloß Gratzen, von demselben 121
Schloß Frauenberg bei Budweis, von Johann Nowopacky 123
Ruine Klingenberg, von Karl Liebscher 125
Schloß Worlik, von demselben 127
Stromschnellen der Moldau bei Stechowitz, von Karl Lieb sch er 129
Roztok an der Moldau, von Anton Lewy 1g1
Rosenberger Teich, von Karl Liebscher Igz
Stadt Tabor, von demselben
Aus dem Luznitzthal bei Tabor, von Anton Lewy 1Z7
Der Berg Blanik, von Karl Liebscher 1Z9
Schloß Konopischt, von Robert Ruß m
Ruine Zlenitz (Hlaska) und das Sazawathal, von Karl Liebscher 147
Burg Kunetitz, von demselben 149
Blick auf die Stadt Pardubitz, von Anton Lewy 15g
Kuttenberg, von Karl Lieb sch er 157
Stadt Melnik an der Elbe, von Karl Liebscher igi
Schlußvignette: Schloß Zirovnitz bei Neuhaus, von demselben 164
Kopfleiste: Der Vysehrad, von Hugo Charlemont 105
Prag um die Mitte des XVII. Jahrhunderts; nach Merians Topographie (Frankfurt
1650), von Friedrich König 107
Prag in der Gegenwart: Blick auf den Hradschin, von Rudolf Bernt 171
Prag in der Gegenwart: Blick vom Hradschin, von Anton Lewy; Ornamentik von
Rudolf Bernt 175
Der Hradschin von Osten gesehen, von Anton Perko 177
Die Burg und der erzbischöfliche Palast auf dem Hradschin; nach dem Aquarell von
E. Gurk in der k. und k. Familien-Fideicommiß-Bibliothek zu Wien .... 179
VI!
Prager Burg: Der spanische Saal, von Anton Lewy 181
Prag: Die obere Inselgruppe, von Hugo CHarlemont 191
Der Roßmarkt (St. Wenzelsplatz) in Prag, von Friedrich Ohmann 193
Der Fünfkirchenplatz in Prag mit Renaissancebauten, von Anton Lewy 197
Der Hirschgraben in Prag, von demselben 199
Aus dem alten Judensriedhof in Prag, von Hugo Charlemont 201
Teich von Hostivitz bei Prag, von Ihrer kaiserlichen und königlichen Hoheit der durch -
lauchtigsten Frau Kronprinzessin-Witwe Erzherzogin Stephanie 203
Schlußvignette: Rolands-(Brunsvik-)Säule in Prag 204
Kopfleiste: Kalkfelsen von Zuslawitz im Wolynkathal (mit Spaltenhöhlen) 205
Steinzeit: Knochen-, Steinwerkzeuge und Thongefäße im Museum zu Prag .... 209
Bronzezeit: ältere Bronzefnnde ans Krendorf im fürstlich Schwarzenberg'schen Museum
zu Frauenberg 215
Hallstatter Zeit: Waffen, Werkzeuge und Schmuckobjecte aus Bronze, Gußformen u. s. w.
im Museum zu Prag 217
Hallstatter und Im Tsns-Zeit: Opferwagen, Schwerter, Gefäße, Fibeln, Armringe u. s. w.
aus Bronze 219
Die Wallburg St. Lorenzen bei Stitary nächst Bischofteinitz 225
Schlußbild: Durchstich des Walles auf dem Hradiste bei Strakonitz 228
Sämmtlich von Hugo Charlemont.
Titelbild, von Joses Mathias von Trenkwald 229
Initial mit Wenzel dem Heiligen; ans dem Vysehrader Codex (XI. Jahrhundert) in der
k. k. Universitäts-Bibliothek in Prag, von Gustav Schmoranz 235
Inneres der Unterkirche (St. Cosmas-Damian) mit der Gruft des heiligen Wenzel in
Altbunzlau; nach dem Aquarell von E. Gurk in der k. und k. Familien-Fidei-
commiß-Bibliothek zu Wien 237
Grabdenkmal Premysl Ottokars I. in der St. Veitskirche zu Prag, von Karl von Siegl 239
Siegel Premysl Ottokars II-, von Friedrich Wachsmann 242
Siegel Premysl Ottokars II., von demselben 243
Die Burg in Eger, von Rudolf Bernt 247
Grabdenkmal Premysl Ottokars II. in der St. Veitskirche zu Prag, von Karl von Siegl 249
König Johann; nach der Porträtbüste in der Triforiumsgallerie des Prager Doms,
von demselben 253
Karl IV.; nach der Porträtbüste in der Triforiumsgallerie des Prager Doms, von
demselben 255
Erzbischof Ernst von Pardubitz; nach der Porträtbüste in der Triforiumsgallerie des
Prager Doms, von demselben 257
Die Kroninsignien Böhmens unter Karl IV.; nach Dr. Franz Bock: „Krouiusignien
Böhmens", von Hugo Charlemont 259
Burg Karlstein, von Josef Mocker
Bethlehemsplatz in Prag mit dem Wohnhaus des Johann Hus, von Anton Lewy . - 263
Böhmische Söldner vom Jahre 1529; nach dem Holzschnitt von Niclas Meldeman in
der k. k. Hofbibliothek zu Wien
Gedenktafel von 1437 mit der Bestätigung von Compactaten; nach dem Original im
böhmischen Museum zu Prag
Siegel des Ladislaus Posthumus; nach dem Original im städtischen Archiv zu Prag,
von Karl von Siegl
Staatssiegel des Königs Georg von Podebrad; nach einer Urkunde vom Jahre 1459
im k. k. Staatsarchiv zu Wien, von demselben
Wappen der Altstadt Prag vom Jahre 1475; nach einer Urkunde im Stadtarchiv zu
Prag, von demselben
Siegel Wladislaws U. aus dem Jahre 1513; nach einer Urkunde im Stadtarchiv zu
Prag, von demselben
Kelch von 1510: Symbol des Utraquismus; nach dem Original in der Lorettokirche zu Prag
Die St. Wenzels-Kapelle im St. Veitsdom zu Prag, von Karl von Siegl ....
Wilhelm Swihowsky von Riesenberg; nach der Medaille im k. k. kunsthistorischen Hof-
Museum zu Wien, von demselben
Königin Anna; nach einem Ölbild von I. Seisenegger (1544) im kunsthistorischen Hof-
Museum zu Wien, von Friedrich König .
Katharina von Loksan; nach dem Original im Museum zu Prag
Grabmal Ferdinands I., seiner Gemalin Anna und Maximilians II.; nach dem Collin'schcn
Original im St. Veitsdom, von Karl von Siegl
Grabmal des Tycho Brahe in der Teynkirche zu Prag, von demselben
Peter Vok von Rosenbcrg; nach dem Ölbild im fürstlich Schwarzenberg'schen Besitz,
von Wilhelm Hecht g0?
Matthias Heinrich Graf Thurn; nach dem Stich des Wolfgang Kilian, von demselben 309
Wilhelm Graf Slavata; nach dem Stich des Elias Wideman, von demselben ....
Jaroslav Borita Graf Martinitz; nach dem Stich des I. F. Leouart, von demselben .
Die Unterschriften des ersten Pilsener-Schlusses vom 12. Januar 1634; nach dem
Original in der Freistandesherrlichen Majoratsbibliothek zu Warmbrunn in
Pr.-Schlcsien (verkleinert) 318, 319
Die Unterschriften des zweiten Pilsener-Schlusses vom 20. Februar 1634; nach dem
Original in der Freistandesherrlichen Majoratsbibliothek zu Warmbrunn in
Pr.-Schlesien (verkleinert) 322323
Ernst Albrecht Graf Harrach, Cardinal-Erzbischof von Prag; nach dem Gemälde im
Schloß Bruck an der Leitha, von Friedrich König
Johann Adolf Fürst zu Schwarzenberg; nach dem Stich von Domenico Rossetti, von
Wilhelm Hecht
Die Landtagsstube in Prag, von Anton Weber
Stefan Rautcnstrauch, Abt von Braunau; nach dem Stich von.J. E. Mansfeld .
Ferdinand Kindermann Ritter von Schulstein, Bischof von Leitmeritz; nach der Litho -
graphie von Dewehrt
269
271
277
279
281
285
289
293
295
297
299
301
303
311
313
329
331
335
339
343
IX
Seite
Gelasius Dobner; mit Benützung eines gleichzeitigen Bildes und des Stiches von
Johann Balzer, von Wilhelm Hecht
Soldat der Legion des Erzherzogs Karl von 1800; nach gleichzeitigen Aufnahmen ,m
k. und k. Kriegsarchiv in Wien, von Hugo Charlemont
Grundsteinlegung und Einweihung des Monuments der Schlacht bei Kulm
(29. September 1835); nach dem Aquarell von E. Gurk, in der k. und k. Familien-
Fideicommiß-Bibliothek, von Karl von Siegl
Karl Graf Chotek; nach dem Bild von Kriehuber (Stich von Karl Mayer), von
Th. Hrncir ' ) ' '
Krönung Ferdinands I. in Prag; nach dem Aquarell von E. Gurk, m der k. und
k. Familien-Fideicommiß-Bibliothek zu Wien, von Karl von Sregl
Schlußvignette: Das Landeswappen; nach der Sculptur am Pulverthurm zu Prag,
von Josef Mock er
Kopfleiste, von Adalbert Hynais
Typen aus dem Egerland (Mann und Frau)
Weiblicher Typus aus dem Egerland
Typen aus der Gegend von Neuhaus (Männer, ein Mädchen)
Alter Mann aus der Gegend von Turnau
Mädchen aus der Gegend von Turnau
Chode aus Taus
Chodin aus Taus
Mädchen aus Possigkau bei Taus
Mann aus der Gegend von Pilsen
Gesichtstypen aus Grulich
bei Znaim, von Karl
Typus aus dem slavischen Nordostböhmen
Sämmtlich von Franz Rumpler.
Zur Libusa-Sage; nach dem Wandgemälde im „Heidentcmpel
von Siegl ^ '
Die St. Wenzelsritter im Berge Blanik, von Hans Schwaeg er
Ein alter Chode ^
Tracht aus der Gegend bei Taus (Domazlitz)
Tracht aus der Gegend von Taus (Domazlitz) ...
Mädchen aus Skvrnan bei Pilsen (alte Tracht)
Bauer aus der Gegend von Pilsen (jetzige Tracht)
Bäuerin aus der Umgebung von Pilsen (alte Tracht)
Tracht aus dem südlichen Böhmen
Tracht aus dem östlichen Böhmen (Leitomischl) - - - - ' ' ' ' '
Farbiges Trachtenbild: Weibliche Tracht aus der Blata-Gegend und mannlrche ,ach
aus der Gegend von Taus (Domazlitz); chromozinkographych au-gefnhrt von
C. Angerer L Göschl (zum Gesammt-Artikel über Volkskunde gehör,g) . - - -
Sämmtlich von Franz Zen,sek.
349
353
355
357
359
362
363
365
369
371
375
377
379
381
383
385
387
389
397
401
407
409
411
413
415
417
419
421
X
Inneres eines Chodenhofes bei Taus, von Anton Lewy
Dorfgebäude im südlichen Böhmen (Zaluzi), von demselben
Holzgebäude bei Turnau, von Jan Prousek
Bauernstube im nordöstlichen Böhmen, von Anton Lewy .
Inneres einer böhmischen Chalupa, von Josef Schmoranz
Dav ^Lodaustragen und das Einbringen des Sommers (Ii'to), von Adolf Liebschcr
Das Schlagen mit der Ostergcrte (pomlürlca), von Ludwig Marold
Kirchenfest (pouy, von Adolf Liebscher
Erntefest (odriu!^), von demselben
Der Jahrmarkt (farmark), von demselben
Das Hahnschlagen (stmän, koliouta), von den,selben
In der Spinnstube (prästl^), von demselben
Josef Douba: Das Johannisfest auf der Karlsbrücke zu Prag
Stanislaus Sucharda: „Das Wiegenlied"; nach dem Originalrelief .
Josef Manes: Illustration zu dem Volkslied „Die Entfernte" (Vrckälsuä); nach dem
Original im Besitz der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde in Prag . . , .
Josef Manes: Illustration zu dem Volkslied „Tröstung" (?otöalm); nach derselben
Quelle
Tanz in einer Schenke (Tauser Kreis), von Josef Douba
Dudelsackpfeifer^in der Volkstracht, von Friedrich Wahle
Alois Vojtech Sembera; nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht
Josef Jirecek; nach einer Photographie
erachten und Bolkstypen aus dem Erzgebirge (Reischdorfer Fuhrmann, Bergleute re.)
von Adolf Liebscher
Volkstypen aus der Turnaucr und Elbegegend, von demselben
Volkstypen und Trachten aus dem Planer Gebiet, von Adolf Liebscher
Dorfanlage von Brunnersdorf bei Kaaden, von Hugo Charlemont
Typus eines Hauseinganges in Rumburg, von Anton Lewy
Der Ringplatz von Komotau, von Rudolf Bernt
Der Ringplatz von Leitmeritz, von demselben
Gothische Holzkirche (Friedhofskirchc) in Braunau
Egerländer Bauernhof im Dorfe Schlada bei Eger
Bauernhaus aus der Gegend von Kaaden
Dreistöckiges Bauernhaus in Neuschloß bei Leipa .
Bürgerhäuser mit Holzlauben in Reichenberg ......
Eine Baude (Hütte) im Riesengebirge
Sämmtlich von Hugo Eh arlcmont.
Egerländer Bauernhochzeit, von Rudolf von Ottenfeld
Das Hopfenkranzfest in Saaz, von Rudolf von Otteufeld
Das Fahncnschwingen der Fleischhauergenossenschaft am Faschingdienstag in Eger von
demselben
Seite
425
429
431
433
435
439
443
445
447
449
453
455
457
463
465
469
473
479
483
487
499
501
503
509
513
515
519
523
527
529
533
537
541
547
549
553
XI
Seite
Spitzenklöpplerin aus dem Erzgebirge, von Adolf Licbscher
Zur Sage vom Rübezahl, von Hans Schwaiger
Blockhäuser aus dem „Oberen Ort" im Städtchen Wallern, von Hugo Charlemont .
Ein Blockhaus aus dem Freibauerngebiet (im Klinischen), von demselben
Ältere Trachten aus Neumarkt und Umgebung, von Friedrich Wahle
Neuere Trachten aus Neumarkt und Umgebung, von demselben
Scene aus dem Adam- und Evaspiel, von demselben
Der Platz im Markte Höritz, von Robert Ruß
Das Passionsspielhaus in Höritz, von demselben
Der Kammerwagen der Braut mit der Anssteuer, von Friedrich Wahle
Todtenbretter aus der Gemeinde Deschenitz bei Neuern, von Robert Ruß . . ... .
Die weiße Frau (Bertha von Rosenberg); nach der Copic des Teltschcr-Bildes im
Schloß zu Neuhaus, von Karl von Siegl
Johann von Liechtenstein, der Gemal der „Weißen Frau", ebenda, von demselben . -
Hieronymus Brinke; nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht
Schlußvignette, von Fritz Gareis
559
561
567
569
573
579
583
585
587
591
595
597
601
613
618
2. Abteilung.
Farbiges Trachtenbild: Deutsche Trachten: Egerländer, Egerländerin, Braunauerin, von
Rudolf von Ottenfeld; chromozinkographisch ausgeführt von C.Angerer L Göschl
(zum Gesammt-Artikel über Volkskunde gehörig) ^
Kopfleiste: Villa Bertramka in Kosir bei Prag, wo Mozart 1787 seinen „Don Inan
beendete, von Hugo Charlemont - ' ' ' '
Das Adalbertslied (Uospockins pomilus 117); Facsimile nach der Haud,chrlft aus dem
Ende des XIV. Jahrhunderts in der Universitätsbibliothek zu Prag
Aus dem Kyrie des lateinischen Cantionales von Jnngbnnzlau (um 1500); nach dem
Lichtdruck in der Publikation des kunstgewerblichen Museums rn Prag, von Karl
Bi'dniß des Jan Kantor, aus dem böhmischen Cantionale von ^ungbunzlau (Io. ),
nach der Photographie in der Bibliothek des kunstgewerblichen Museums rn Prag,
Aus dem böhmischen Cantionale der Stadt Prag (Kleinseite) vom ^ahre 1572; nach
der Photographie in der Bibliothek des kunstgewerblichen Museums rn Prag
Der Literaten-(Kirchensänger-)Chor in Prachatitz; nach dem Gemälde rn der Decanal-
kirche, von Karl von Siegl . - - -
Andreas Hammerschmidt; nach dem Stich von
Franz Anton Graf Sporck; nach dem Stich von
Sam. Weisli (1646), von Wilhelm Hecht
Hiebet und Birckart (1713), von demselben
1
5
9
11
13
15
17
19
133
Georg Benda; nach dem Stich: Mechau äst. — Geyser 8e., von Wilhelm Hecht
Adalbert Gyrowetz; nach dem Stich von I. G. Mansfeld (1793) . . . ^
Johann^ Friedrich Kittl; nach einer Lithographie von I. Manes
,nanz Skroup (Skraup); nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht .
Wenzel Johann Tomäsek (Tomaschek); nach dem Stich: F. T. Mayer äsl. — U
Payne so
Joseph Dessauer; nach einer Lithographie von Josef Kriehuber .
Simon Sechter; nach einer Lithographie desselben
August Wilhelm Ambros; nach Photographien, von Wilhelm Hecht
Friedrich Smetana; nach einer Photographie, von demselben .
Schlußvignette, von Adalbert Hynais
Kopfleiste, von Franz Zenisek
Em Motiv ans dem Cyklns über die Königinhofer Handschrift, von Josef Manes
(1821 bis 1871); nach dem Original im Besitz der Umöleokä be86äu in Prag
Aus: Ritter Thomas von Stitne und seine Kinder; nach dem Original in der
k. k. Universitäts-Bibliothek zu Prag
Cosmas von Prag; nach der Leipziger Handschrift, von Karl von Siegl .
Blatt eines altböhmischen Legendenbuches von 1516: „Das Leben der heiligen Wüsten
bewohner"; nach der Publikation des Kunstgewerblichen Museums in Prag (Codcr
in der Universitäts-Bibliothek)
Aus der Trojaner Chronik vom Jahre 1468; nach dem Original im Museum des
Königreiches Böhmen in Prag
Ans der ,6ibls des Prager Typographen Georg Melantrich von Aventin vom
^ahre 1556; nach dem Original in der k. k. Hofbibliothek zu Wien
Daniel Adam von Veleslavin; nach dem Stich von Balzer, von Wilhelm Hecht .
Aus der Handschrift des Vsehrd: ,0 prävlelr reras Üssks« (XVI. Jahrhundert)- nach
dem Original m der Kinsky'schen Abtheilung der k. k. Universitäts-Bibliothek ru
Prag
Franz Josef Graf Kinsky; nach dem Gemälde in der Kinsky'schen Abtheilunq der
k. k. Universitäts-Bibliothek zu Prag
Josef Dobrovsky; nach dem Ölbild im böhmischen Museum zu Prag, von Karl von Siegl
^osef Jungmann; nach dem Stich F. Taddeo Mayer 6sl. — W. C. Wrankmore 8a
Johann Kollar; nach dem Bild von Barabas, von Th. Hrncir
F. L. Celakovsky; nach der Lithographie von I. Bekel
Paul Josef Safarik; nach dem Stich von L. Jacoby . ....
Franz Palacky; nach der Lithographie von Dauthage
Karl Jaromir Erben; nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht
Vitezslav Halek; nach einer Photographie, von demselben
Lmüg «-»z,l »»z dir Heide,b-i,„.<P«n,„.>H,„d,christ. den Karl den Sie»,
dee.«mj-Sdibel- »ach dem Oeigiml in de- I. ,, HesbMethe,
Seite
25
27
31
35
37
39
41
43
51
60
61
65
71
75
79
85
89
95
99
107
109
111
113
115
117
119
121
123
127
XIII
Karl Heinrich Seibt; nach dem Ölbild von A. Rähmel (1773), von Wilhelm Hecht .
Augnst Gottlieb Meißner; nach dem Stich A. Graff pinx,, Schreycr se
Kaspar Maria Graf Sternberg; nach einer Lithographie ans der „Porträt-Galleric
österreichischer Ärzte und Naturforscher" , . . . .
Karl Egon Ebert; nach dem Stich F. T. Mayer dal. — A. H. Payne so
Alfred Meißner; nach der Lithographie von Stadler (1858)
Moriz Harlmann; nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht
Das Stifterdenkmal im Böhmcrwalde, von Robert Ruß
Leopold Kompert; nach einer Photographie, von Wilhelm Hecht
Das Prachttheater auf dem Hradschin (1723); erbaut zur Krönungsfeier Karl VI.;
nach G. Galli Bibiena in der k. k. Hofbibliothek zu Wien
Franz Anton Graf Nostitz; nach dem Stich von Balzer, von Wilhelm Hecht . . > -
Das alte königliche Landestheater in Prag, von Friedrich Ohmann
Karl Liebich; nach dem Gemälde im königlichen deutschen Landestheater zu Prag, von
Wilhelm Hecht
Das neue deutsche Theater in Prag, von Rudolf Bernt
Das böhmische Nationaltheater in Prag, von Friedrich Ohmann
Cajetan Tyl; nach einer Litbographie, von Wilhelm Hecht
Schlußvignetle, von Franz Zeins
Kopfleiste: Romanische Motive aus Böhmen
Die Rotunde in der Postgasse zu Prag
Die Kirche im Dorfe St. Jakob bei Kuttcnberg
Die Nikolauskapelle in Vinec bei Jungbunzlau
Der Kapitelsaal in Hohenfurt
Sämmtlich von Anton Weber.
Porträtbüste des Peter Parier, in der Triforiumsgallerie des Doms zu Prag, von
Karl von Siegl
Aus dem Innern der Altneushnagoge in Prag
Die Südsei: e des Prager Doms
Der Chor des Prager Doms
Aus der Karlshofer Kirche
Die Tcynlirche in Prag
Sämmtlich von Anton Weber.
Der Altstädter Brückenthurm in Prag, von Friedrich Wachsmann
Die Erkerkapelle des Alistädtcr Rathhauses in Prag, von Josef Fanta . . - . . -
Der Erker am Carolinum in Prag, von Anton Weber
Die Barbarakirche in Kattenberg, von demselben
Der Pulverthurm in Prag, von demselben - - -
Gothische Motive vom Pnlverthurm in Prag, von Josef Mocker
Der Wladislaw'fche Saal in Prag, von Rudolf Bernt
Die Nikolanskirche in Laun, von Anton Weber
251,
XIV
Iachsmann
Seite
265
269
273
275
277
279
283
285
Aus der Decanalkirche in Brüx, von demselben
Erker in Laun, von demselben
Das steinerne Haus in Knttenberg, von demselben . . . ^
Ans dem Wälschen Hof in Kuttenberg, von demselben
Erker und Uhr am Altstädter Rathhaus in Prag, von Friedrich
Der gothische Brunnen in Kuttenberg, von Anton Weber
Lustschloß der Königin Anna am Hradschin (Belvedere), von Georg Stibral
Plafond aus dem Schloß Stern bei Prag; mit Benützung einer Photographie des
I 7 Kammer-Photographen Heinrich Eckert in Prag, von Karl von Siegl
der N b7 e des Schlosses Stern; „ach Photographien ans
der Publ. atwn ,Schloß Stern' der k. k, Central-Commission für Erforschung
^r Kunst-und historischen Denkmale (Wien 1879) . . . 288 289
Da^ Zdiarsky-Hcius in Prachatitz, von Rudolf Bernt
Das Rathhaus in Pilsen, von Anton Weber
Der Jnnenhof des Schlosses zu Mühlhausen, von Georg Stibral ^
Dm Waldstem-Halle im Palais Waldstein zu Praa . ' ' ' ' 7
Landschloß Troja bei Prag ^1
Palais Clam-Gallas in Prag 303
Die St. Niklaskirche in Prag (Kleinseite) ......
Aus dem Innern der St. Niktaskirche (Kleinseite) . . . ' ^09
Barocke Häuser (darunter das Polais Thun) in der Spornergasse zu Prag
Sümmtlich von Friedrich Ohmann.
Das Natronalmuseum in Prag, von Rudolf Bernt .
St. Clemens bei Beneschau, von Karl Liebscher
Pfraumberg bei Tachau, von demselben
Burg Bösig, von Rudolf Bernt 321
Hasenburg bei Libochowitz, von Karl Liebschcr
Die Kreuzkapelle auf Burg Karlstein, von Karl von Siegl -
Kokorin bei Melnik von Karl Liebschcr . 331
Burg Neuhaus, von demselben 333
Burg Kost bei Turnau, von deinselben 335
Schloß Sternberg, von Wenzel Jansa . . . ^ ^ 337
Schloß Stern bei Prag sammt Grundriß, von Rudolf Bernt
Schloß Leitomischl, von Karl Liebscher
7'dem Schloßbrunncn am Hradschin, von Hugo Charlemont . ' ' '
^er ^h.lrtlopferan der Thüre der St. Wenzelskapelle in Prag; nach einer Photographie
Nordportal der Temkirche in Prag, von Anton Weber ^ ^ ^
°°" °ch d°m 0mm.,
kunsthlstorischen Hos-Museum zu Wien, von demselben .... ^
311
315
317
319
339
341
343
349
351
353
XV
Seite
Titelblatt aus der böhmischen Handschrift „Leben der heiligen Wüstenbewohucr",
darstellend die Stigmatisirung des heiligen Franciscns mit der knieenden Gestalt
des Stifters; verfertigt im Auftrag des Ladislaus von Sternberg im Jahre 1516
durch Gregor Hruby von Jeleni; nach der Publikation des kunstgewerblichen
Museums in Prag
Miniatur aus einem lateinischen Cantionale von Jungbunzlau (Illuminator Janicek
Zmilely aus Pisek — um 1500)
Miniatur aus dem böhmischen Cantionale des Literaten-Chors in Chrudim (1570):
Initial 8 mit der Auferstehung Christi
Der eherne Brunnen im Schloßgarten zu Prag
Karl Skreta: Porträt eines Unbekannten; nach dem Original in der Gallerie der Gesell -
schaft patriotischer Kunstfreunde zu Prag
Peter Brandl: Selbstporträt; nach dem Original in der Gallerie der Gesellschaft
patriotischer Kunstfreunde zu Prag (Eigenthum Sr. Durchlaucht Fürst G.
Lobkowitz)
Wenzel Lorenz Reiner: Der heilige Augustin; Plafondgemälde in der St. Thomaskirche
zu Prag; mit Benützung einer Photographie des Hof- und Kammer-Photographeu
Heinrich Eckert
Sämmtlich von Karl von Siegl.
Ferdinand M. Brokoff: Grabmal des Johann Wenzel Vratislav Graf Mitrovitz in der
. Jakobskirchc zu Prag, von Ferdinand Ohman
Josef von Führich: Aus der Legende des heiligen Wendelin; nach den Heliogravüren
aus der Publikation der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien - 387,
Franz Kadlik: Der heilige Lukas malt die heilige Maria; nach dem Original-Gemälde
im k. k. kunsthistorischen Hofmuseum zu Wien - -
Christian Rüben: Columbus; Original in der gräflich Nostitz'schen Gemäldegallerie zu
Prag
Josef Manes: Illustration zu dem Volkslied „Die Kuh ein Trost" (kräva potSSonl),
im Besitz der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde in Prag
Josef Mathias von Trenkwald: „Die Engel" aus der Apsis der Karolinenthaler Kirche
Ferdinand Laufberger: „Der Tanz", auf dem Vorhang des k. k. Hof-Operntheaters in
Wien; nach dem Carton im k. k. kunsthistorischen Hofmnseum, von Karl von Siegl
Jaroslav Cermak: Die Montenegrinerin und ihr Kind; nach der Photographie im
Besitz von Goupil L Co. Nachfolger in Paris - -
Adalbert Hynais: Lunettenbild „Die Dichter des XVII. Jahrhunderts: Shakespeare
und seine Zeit"; nach dem Lichtdruckwerk „Das k. k. Hof-Burgtheater in Wien"
(Verlag von V. A. Heck; 1890)
Gabriel Max: Der letzte Gruß (gezeichnet von Wilhelm Hecht)
Wenzel Brozik: Hus vor dem Concil in Constanz '
Julius von Payer: Kaiser Franz Josephs-Land mit dem verlassenen „Tegetthoff";
nach dem Gemälde im k. k. naturhistorischen Hofmuseum zu Wien
371
375
377
379
381
383
389
391
395
399
401
403
405
407
409
413
415
XVI
" d"'^° H'"" «E«"s s«
7 77 ^ «.rl «m. Si-gl ^
' ^ ,.ch „
L»-,- ?-»- - -
Lr: «°-°°. .- -
»,ms»-«dk i» P.»g. ^ ° '"' " c»->°«'ch-,t p-,rwti>ch„
Geschliffene Gläser aus dem XVll und XVIIl < 7
kunstgewerblichen Museum in Prag, van Iebmm K oula"'^ '
Brunnen in Neuhaus (XVl. Jahrhundert). van demselben
Gravirte Gla,er aus der Gegenwart, van Hugo Cbarlemant
Lchlukvignette; Glas van C. Leman auä b..r> -- e. I"
Kopfleiste: Denkmal der Erfinder des RnckwR^^Oo'Johann Koula .
Charlemant. . . R'-chadla-Pfluges in Pardubitz, van Hu
Karte der Gebirge und Flüsse Böhmens .
Dampfpflugarbeit, van Hugo Charlemant
Badenpraduete aus Böhmen, van demselben
«r: Lsrrr ,
D>° M-rd»»,ch„l. j. R-,»«ltz, ... z,»»,
».«« v°rs,y RM-- ««» ...
Seite
417
421
425
427
435
437
441
443
449
451
453
455
457
460
461
463
467
469
473
475
477
479
481
483
ie. von Wilhelm Hecht
Urwaldpartie aus den, Böhmerwalde, von Robert Run
Hiychbergener Schwemmkanal-die älteste ^
demselben . ' ^ - ä ransportanlage des Böhmerwaldes.
-°d T°« z..ch.„^, ,h„,.
487
497
499
501
505
- - 507
mont 509
von
XVII
Seite
Johann Georg von Hamilton: Wisenthetze im XVIII. Jahrhundert; nach dem im Besitze
Sr. Durchlaucht Adolf Josef Fürst zu Schwarzenberg befindlichen Gemälde - - 513
Das Jagdschloß „Tirolerhaus" auf der Domäne Worlik, von Robert Ruß .... 515
Hasenjagd: Nach dem ersten Bogen, von Jaroslav Vesin 517
Erfrischung während der Jagd, von demselben 519
Aufbruch zur Jagd auf Schloß Frauenberg; nach einer Photographie von C. Pietzner 521
Kuttenberger Bcrgwerksbetrieb; aus einem Cantionale vom Anfang des XV. Jahr -
hunderts; nach dem Original im Besitze Seiner Durchlaucht Georg Fürst
Lobkowitz, von Karl von Sie gl 527
Siegel der Bcrgstadt Joachimsthal vom Jahre 1545; nach dem Original in der
Sammlung Lanna zu Budweis, von demselben 529
Stadt Pribram in der Gegenwart, von Robert Ruß 531
Montanwerk in Pribram: Arbeit in der Grube, von Rudolf von Ottenfeld . ... 533
Montanwerk in Pribram: Aufbereitung des Erzes, von demselben 535
Montanwerk in Pribram: Ter Silberblick, von demselben 537
Aus dem Schienenwalzwerk in Kladno, von demselben 547
Eisenwerk der „böhmischen Montan-Gesellschaft" (Karl-Emil-Hütte) in Königshof, von
Hugo Charlemont 5o1
Kohlentagbau in Dux; nach dem Gemälde von Alois Schönn im k. k. naturhistorischcn
Hosmuseum zu Wien 559
Duxer-Kohlenbergbau: Einfahrt der Frühschicht, von Rudolf von Ottenfeld ... 563
Duxer-Kohlenbergbau: Begegnung im Schacht, von demselben - 567
Dux in der Gegenwart, mit den Erdrutschungen im Vordergründe, von Anton Lewy 571
Haupttypen der Denaren-und Bracteaten-Periode, von Friedrich Wachsmann - . 579
Haupttypen der Groschen- und Thaler-Periode, von demselben 583
Umschlagplatz bei Laube an der Elbe, von Hugo Charlemont o91
Die alte Budweis-Linzer Eisenbahn, von demselben 593
Albert Ritter von Lanna; nach der Lithographie von Dauthage 597
Siegel der Kürschner (1536) und der Wagenbauer (1561); nach den Originalstempeln
im Städtischen Museum zu Prag, von Karl von Sie gl 601
Zinnerne Zunftkanne der Weber; nach der Publikation des kunstgewerblichen Museums
in Prag, von demselben ' ^0?
Wappen der Schürer von Walthaimb; nach einer Copie des Rudolfinischen Adelsbriefes
(1592), von demselben
Reichenberg, von Hugo Charlemont ' '
Der Marktplatz von Gitschin (Jicin), rechts die Residenz Wallensteins, von Rudolf Bernt 61o
Aus der Fabrik des Stiftes Ossegg, von Hugo Charlemont ........ 621
Siegel der Schuhmacher-Innung; nach dem Originalstempel im Städtischen Museum
zu Prag, von Karl von Siegl 02o
Aus der Glashütte zu Neuwelt (Harrachsdorf), von Hugo Charlemont 629
Trautenau, von demselben
ii
>
Seite
Joses Johann Maximilian Graf Kinski,; nach dem Gemälde im Schlosse Bürgstein . . 637
Cosmanos-Josefsthal, von Hugo.Charlemont . 641
Die Industriestadt Asch, von demselben 643
Franz und Johann Josef Leitenberger; nach gleichzeitigen Bildern, von Wilhelm Hecht 645
Glashütte in Eleonorenhain (Böhmerwald), von Hugo Charlemont 649
Aus dem bürgerlichen Brauhaus in Pilsen, von demselben 653
Tschinkels Fabrik in Schönfeld, von demselben 657
Aus der L. «L C. Hardtmuth'schen Bleistiftfabrik in Budweis, von demselben .... 659
Johann von Liebieg; mit Benützung einer Photographie, von Wilhelm Hecht . . . 661
Walzwerk einer Actiengesellschaft in Teplitz, von Hugo Charlemont 663 «
Karlsbad, von Rudolf Bcrnt 669
Aus Franzensbad, von demselben - 671
Marienbad im Kaisergebirge, von Anton Lewh 673
Teplitz, von Rudolf Bernt 675
Mühle bei Stein an der Eger, von Ihrer kaiserlichen und königlichen Hoheit der durch -
lauchtigsten Frau Kronprinzessin-Witwe Erzherzogin Stephanie 677
Kaiser Franz und Kaiser Nikolaus in Teplitz; nach dem Aquarell von E. Gurk in der
k. und k. Familien-Fideicommiß-Bibliothek zu Wien 679
Schlußbild: An der Quelle i» Gießhübel, von Hugo Charlemont 681
»
Musik in Böhmen.
st -.schichMch-,, Oa.ll.» wisst» »»s °i-. di- Ras., dm h-ibmsch-» V°r.
j-i, B°h--»s »ichts j» »--ich«-». S->°S°»«ich-«-»'»»»
»»s saät-r-i Z-it lasse» -s ad-r aast-r Zw-,sei. d»ß d,- Last am -st S
sich li d°» Böhm-» »icht -tw° --ft »»ch B-k-hr»»g -»»> «hnstm-
!ch»>. g.».»d -°„,°ch. M i° °"ch
st, «.->,,,. d-r «Pisiiani!-..,»- s° ^ ^ „„„.-.mich
irgendwie an das Heidenthnm eum - „ -uerlassen sich genöthigt sah,
wiederholte Verbote wider das Absingen „teus sich ^en
.Md.» «ich ».ch.... --»-7.77^^»!^^«»»..
««si,,g-l.°d.>-„ ii-°>°6x). -,h° °». ,-« ^ m östlich- s-r°g-»,°iis.
z»,»«g-siih.i w°,d°». w...» s,° »,ch -»»7« ' om'-s-schl-chi -,,z°h°>°„d-„ «-ist»
li-d°r ,,,»a-wa,.d-It ,-sch-i,,-». Shr- !«>»*-„. d-»> °»> »I ö
m-g-a sich »„,»!...«,°r »,,- d-m -hh.h„..'ch.» Sh-»«- --W.« h»»' ,
Böhmen.
2
Wie überall bei neubckehrten Völkern, hat man auch in Böhmen zunächst die
imponirende Pracht des christlichen Gottesdienstes aufgeboten, um die alle Ordnung der
Dinge baldmöglichst vergessen zu machen. Schon etwa zur Zeit der Errichtung des Prager
Bisthums (973) wurde eine glänzende Liturgie wohl allgemein als Bedürsniß empfunden.
Der Gemeinde konnte man die Theilnahme am Kirchengesange nicht gut verwehren, doch
hat sich dieselbe anfangs auf den Ruf eleison- beschränkt, der im Munde des
Volkes hier zu »Li-Ies- geworden ist, wie in Deutschland zu „Kirleis«. Eine Übersetzung
und Erweiterung dieses Rufes ist denn auch das früheste böhmische Kirchenlied, das alt -
ehrwürdige »llosxoäino xomiliZ i^-, als dessen Autor eine Tradition, gegen die sich
wohl (was die vorliegende Fassung des Liedes anlangt) nichts Zwingendes einwenden
läßt, den zweiten Prager Bischof und heiligen Landespatron Adalbert (gestorben 997)
bezeichnet. Dieses tiefernste, markige „Adalbertslied", ein Gebet um Erlösung, Wohlfahrt
und Landfrieden, durfte infolge besonderer päpstlicher Genehmigung schon seit 992 selbst
während der Messe, als X^iie, gesungen werden; später ertönte es dann auch außerhalb
des Gottesdienstes bei den verschiedensten festlichen Gelegenheiten, kirchlichen wie weltlichen,
namentlich bei Königskrönungen, und selbst als begeisterter Schlachtgesang wurde es von
den böhmischen Heeren gern angestimmt. Mit der Zeit kam ein zweites ebenso kraft -
volles Lied hinzu, dessen Bedeutung nicht geringer anzuschlagen ist: das wahrscheinlich im
XIII. Jahrhundert entstandene Wenzelslied, eine an den „Herzog und Erbherrn des Böhmer -
landes" gerichtete Bitte um Fürsprache und Hilfe. Auch dieser Choral, wie das ,6ospoäins
pomilch i^-, wurde mit der Zeit zum offiziellen Festgesang, sozusagen zum Staatslied.
Die älteste notirte Niederschrift (aus dem XV. Jahrhundert) bringt diese Melodie:
2. ?o - MO - ei MX lvs 2L - ää, . MS, smi -. lui SS naä NL - mi.
3. «e-vs-slesr jest ävor-stvo - sns, KM - rs js - mu, Käo2 Mm xü - M,
2. V - Iss sirm-Ins, ocl-vsck vZs ?Is, svg, - IF Vä, - eM - vs, Kri-'sts -
3
Es ist natürlich, daß die Pflege der Kirchenmusik, deren Grundlage und Kern
selbstverständlich der lateinische Ritualgesang war, sich vornehmlich in Prag und hier
wieder vor Allem im St. Veitsdom concentrirte. Einen besonderen Aufschwung bemerken
wir hier um die Mitte des XIII. Jahrhunderts: die Kathedrale erhielt ein neues Orgel -
werk, 1259 wurde das Institut des Knabenchors (12 .dorn Mori-, auch .donikarrtos-
genannt) ins Leben gerufen, die alten, abgenützten Chorbücher wurden durch neue
ersetzt u. s. f.
Was die weltliche Tonkunst dieser ältesten Epoche betrifft, so bezeugen die Chroniken,
in denen zwar oft genug, aber immer nur mit sehr spärlichen Worten über den Antheil der
Musik an großen Nationalsesten berichtet wird, wenigstens soviel, daß Gesang, Musik und
Tanz als ein wesentliches Erforderniß jeder Volksbelustigung, ja sozusagen als ihr Gipfel -
punkt betrachtet wurden. So wurde - um nur einige wenige Beispiele von Instrumental -
musik anzuführen — Bretislav II. bei seinem Einzuge in Prag 1092 von den auf den
Gassen aufgestellten Gruppen von Mädchen und Jünglingen, die bei Pfeifen- und Trommel -
klang Tänze aufführten, freudevoll begrüßt. Beim Einzuge der Königin Margaretha
1255 erklang Musik „auf verschiedenen Instrumenten", deren beim Krönungsfeste
Wenzels II. im Jahre 1297 sieben Gattungen mit lateinischen Namen aufgezahlt werden
(. . . txmpuim, nadln, elrori, tnda, sarnduoiguo sonori, rota, llgalla, lira. . .). Auf
der Heerfahrt gegen Mailand 1158 führte die böhmische Hilfsschaar Trompeten und
Trommeln was von den deutschen Chronisten als eine Eigenart der Böhmen bezeichnet
wird, während wir diesem Gebrauche in Alt-Rußland wiederholt begegnen. Vladislav II
ritt sogar voran vor der Truppe der Trompeter und Trommler. Von den Musikern sel 'st
wissen wir allerdings wenig, nur durch Zufall, ans Rechtsurkunden erfahren wir hier und
da einen Namen. Doch mag hier einer dieser Namen aus dem Anfang des XH^a r-
hnnderts verzeichnet werden, da er dem ältesten historisch beglaubigten onkunstler
Böhmens angehört: es ist Dobrata, der Zoonlator- (Jongleur, das heißt Spielmann
und Sänger, vielleicht zugleich Spaßmacher) des Herzogs Vladislav l. der rhu für stme
Dienstleistungen mit dem lebenslänglichen Genuß eines Grundstückes m der Nahe von
Hohenmaut entlohnte.
Die Lage Böhmens und die Mannigfaltigkeit seiner Politiken Beziehungen zum
Ausland brachte es mit sich, daß die fremden Einflüsse, die sich auch in der Tonkunst den
heimischen Elementen gegenüber geltend machen mußten, aus verschiedenen Quellen kamen,
wenn auch bald diese, bald jene Quelle reichlicher als die übrigen floß. Zur Zeit der
Prempsliden, nameutlich der letzten, überwogen ohne Zweifel deutsche ^Wirkungen,
bekannt ist die Gunst, welche die böhmischen Könige seit Wenzel I. der denstchen höfischen
Poesie geschenkt haben. Mit der Erhebung Johanns von Luxemburg auf den v imip iui
4
Thron beginnt sodann der Einfluß Frankreichs in den Vordergrund zu treten. Die nahen
verwandtschaftlichen Bande, die Johann mit dem französischen Königshofe verknüpften,
der stete lebendige Verkehr mit diesem sowie mit dem päpstlichen Hofe zu Avignon, die
Erziehung des Kronprinzen in Paris, zeigen die Wege, auf welchen jene französischen
Einflüsse, zu denen dann bei Karl IV. noch italienische Beziehungen hinzutraten, überhaupt
nach Böhmen kamen. Speciell auf dem Gebiete der Tonkunst kann eine hervorragende
Persönlichkeit genannt werden, die ohne Zweifel zur Verbreitung französischer Musik in
Böhmen viel beigetragen hat: der bekannte Trouveur Guillanme Machaut (1284 bis
1377), der durch volle dreißig Jahre Geheimschreiber des Königs Johann gewesen ist. Die
Reflexe, welche der Kunstgesang der Troubadoure und Minnesänger, sowie die ersten
Versuche der Vielstimmigkeit auf das einheimische Musiktreiben der Böhmen zur Zeit der
Luxemburger geworfen haben, lassen sich in nicht zahlreichen, doch zum Nachweise der
Empfänglichkeit sowohl, als auch des selbstthätigen Interesses für solche verfeinerte
musikalische Genüsse genügenden Documenten Nachweisen.
Alles, was in früheren Zeiten die Landesfürsten und die Geistlichkeit für die
kirchliche Tonkunst gethan haben, wurde durch die väterliche Sorgfalt und wahrhaft
königliche Freigebigkeit überboten, mit welcher Karl IV. sich derselben zuwandte. Die
Erhebung Prags zum Erzbisthnm, die Gründung neuer Klöster, der Neubau des Doms,
der gleichzeitige Aufschwung des Mariencultus, Alles dies bot vielfache Gelegenheit zu
einer gar glänzenden Entfaltung der gottesdienstlichen Musik. Schon 1343 stiftete Karl
am St. Veitsdom eine Sängerkapelle von 24 geistlichen „Mansionaren", die unter
Mitwirkung der »bonitantog" namentlich den täglichen Mariendienst zu versehen hatten.
Um dann auch die Pausen, welche die Gesänge der Domherren und der Mansionare noch
übrigließen, auszufüllen, gründete er 1360 einen zweiten Chor von 24 Psalteristen,
ebenfalls Klerikern, denen sich schließlich noch weitere 30 Choralisten mit einem Cantor
an der Spitze anschlossen, so daß die Gesammtzahl der speciell für den Gesang bestellten
Personen wohl an hundert betrug, die übrige singende Priesterschaft (im Ganzen nahezu
400) nicht mitgerechnet.
Eine Besonderheit des religiösen Volksgesanges in Böhmen scheint in der Zeit
Karls IV. ihren Ursprung zu haben; ihre Einführung wird geradezu dem ersten Erzbischof
Ernst von Pardubitz zugeschrieben. Es sind dies die Rorategesänge, die zu den täglichen
Frühmessen der Adventzeit zunächst lateinisch, bald aber (jedenfalls schon im XV. Jahr -
hundert) böhmisch gesungen wurden und bis heute volksthümlich geblieben sind. Sie
bestehen hauptsächlich aus einer abwechselnden Reihe von Chorälen und Liedern,
deren Melodien zum Theil der Meßliturgie und den lateinischen Mariensequenzen, zum
Theil aber, namentlich bei den Liedern, dem weltlichen Volksgesange entlehnt waren.
Das Adalbertslied (Sosxoäiiio xowil^ ay).
6
Karls IV. Liebe zur Tonkunst beschränkte sich übrigens nicht auf die Kirchenmusik.
Gern erholte er sich, nach seinem eigenen Geständnis von den Mühen des Tages durch
Anhören eines wohlklingenden Trompeterstücks und hielt darauf, auch seine Gäste aus
nah und fern durch Musik zu erfreuen. Weder an Musikinstrumenten noch an Spielleuten
hatte seine Hofhaltung noth; den letzteren gegenüber erwies er sich ebenso herablassend
wie freigebig.
Infolge der lebhaften religiösen Bewegung, von welcher Böhmen gegen Ende des
XIV. Jahrhunderts erfaßt wurde, nahm die Zahl der böhmischen Kirchenlieder bedeutend
zu. Der Inhalt der Texte erregte aber mitunter bei der Hierarchie so sehr Anstoß, daß
der Erzbischof, um dem Überhandnehmen von Irrlehren zu steuern, 1406 alle neuen
Lieder verbot und von den alten Gesängen nur vier dem Volke ganz besonders am
Herzen liegende gestattete, darunter selbstverständlich auch das Adalbertslied und das
Wenzelslied. Nicht minder bedacht war man übrigens auf die künstlerische Reinheit und
Würde der Kirchenmusik; wiederholt wurde der Mißbrauch der Instrumentalmusik zum
Vortrag ausgelassener Volksweisen getadelt und die Beschränkung auf das Orgelspiel
empfohlen, auch gegen die Einschmugglung neu auftauchender profaner Kunstformen, wie
der „Rondelli", entschieden Einsprache erhoben. Die weltliche Musik muß damals offenbar
zu großer Beliebtheit, Ausbildung und Verbreitung gelangt sein, wenn die Kirche, die doch
über eine reich ausgestattete, glänzende musikalische Liturgie gebot, sich so ernstlich gegen
den Ansturm derselben zu wehren hatte.
Die beschränkenden Maßregeln aber, welche man kirchlicherseits gegen den Volks -
gesang anwenden zu müssen glaubte, hätten ihn selbst und seine Weiterentwicklung in
Frage gestellt und die Kirchenmusik, wie in anderen katholischen Ländern, auch in Böhmen
zunächst nur als lateinischen Kunstgcsang gefördert, wenn nicht gerade im Anfang des
XV. Jahrhunderts durch die husitische Bewegung ein durchgreifender Umschwung ver -
ursacht worden wäre. Der volksthümliche Zug, der die reformatorischen Strömungen in
Böhmen überhaupt charakterisirt, hat sich auch in der Musik geltend gemacht und der nun
beginnenden zweihundertjährigen Epoche (1420 bis 1620) seinen Stempel aufgedrückt.
Zwar konnte die heftige grundsätzliche Opposition, die sich gegen den äußeren Glanz
und Pomp des katholischen Gottesdienstes richtete, auch die Musik nicht unberührt lassen.
Allein nur der lateinische Priestergesang und zum Theil die Instrumentalmusik, hier und
da sogar der Gebrauch der Orgel wurde von ihr wirklich getroffen; dem Gemeindelied
in der Volkssprache aber ließ man, nach dem gelegentlich citirten Grundsätze ,qr>I onnit,
bis orrrt°, allenthalben die eifrigste Pflege zu Theil werden. Zunächst wurde nun der ganze
Schatz der bereits vorhandenen, ursprünglich katholischen, böhmischen Gesänge frei -
gegeben — allerdings mußten die Texte es sich gefallen lassen, dort, wo es nöthig schien,
7
den neuen dogmatischen Anschauungen in allen ihren Schattirungen und Wandlungen
angepaßt zu werden. Dazu kam ein mit Johannes Hus beginnender Eifer im Schaffen
neuer Lieder, der wohl um die Mitte des XVI. Jahrhunderts, namentlich m den
Canzionalen der böhmischen Brüder seine Culmination erreichte. Die Melodien flössen
aus einer dreifachen Quelle: vor Allem bot sie in großer Auswahl der bisherige -
lateinische und böhmische — Kirchengesang, dann aber entnahm man sie mit Vorliebe auch
dem weltlichen Volkslied und schließlich waren sie mitunter freie Erfindung der un Sinne
der damaligen Zeit auch musikalisch gebildeten Liederdichter.
Das älteste etwa in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts geschriebene hnsitpche
Canzionale enthält auch den berühmten Schlachtgesang .XäoL Me dom dozo.mim-
s Die ihr Streiter Gottes heißet"), dessen Autor wohl in der nächsten Umgebung Z'M-
zu suchen ist. Die dorische Weise fügt sich vollkommen in den Nahmen des damaligen
Kirchengesanges, allein sie besitzt, melodisch wie rhythmisch, eine elementare Krafh eme
nnbiegsame Entschlossenheit, welche ihren in mehr als einer Schlacht erprobten mächtigen
Eindruck wie auf die Singenden selbst, so auf die Hörenden wohl begreiflich macht. D
Melodie lautet: _
LäoL Ms do
Die ihr Strei
jov - M - oi
ra - No - na
sür sein Ge
ss - No,
setz kämpst,
ns - LnS vLäy -
des Herrn Hil - se
s n!ln rv! - tk - r!
Euch end - lich Sieg wird.
, . n - Nud - si iS - Is - siy-eN,
,m) MchV* »>- -d
- voi sto - Li . li pro In - sNn KI!L. nisN.
GE hei-ß°t uns ans Nach - sten - lieb' zn ge - hen in den Tod!
8
Die gedruckten Liedersammlungen können wir non dem 1501 erschienenen böhmischen
Gesangbuch der Brüdernnität an verfolgen. Die frühesten verlassen sich bezüglich der
Melodien auf die mündliche Überlieferung; sie begnügen sich damit, die Weisen durch die
Textanfänge allgemein bekannter geistlicher oder weltlicher Lieder anzudeuten, und nur
ausnahmsweise werden Melodien in Noten wiedergegeben. Ein großer Fortschritt in dieser
Beziehung ist der böhmischen Brüdergemeinde zuzuschreiben. Sie hat überhaupt den
geistlichen Gesang stets als wichtigen Bestandtheil der Erziehung angesehen und infolge
dessen die Publikationen religiöser Lieder streng überwacht und kritisirt, hielt es also auch
für ihre Pflicht, für die Bedürfnisse ihrer Gläubigen selbst zu sorgen und dies nicht, wie
die übrigen Confessionen, dem Ermessen des Einzelnen zu überlassen. So sind z. B. gerade
im <-chooße der Unität auch die Anfänge des deutschen geistlichen Liedes in Böhmen zu
suchen: 1531 ließ in Jungbunzlau Michael Weisse (ein Schlesier aus Neiße, gestorben
1534 in Landskron) das erste deutsche Brüdergesangbuch (157 Lieder mit notirten
Melodien) mit Genehmigung des Ältesten der Gemeinde drucken, und die Unität selbst
veianlaßte später weitere Ausgaben desselben. Ein monumentales Unternehmen war
aber das große böhmische Canzionale (»Umns elrval betitelt, 744 Lieder
mit Melodien), dessen Druck 1561 in Samter (Szamotnly in Posen) vollendet wurde.
Zahlreiche Auflagen sowie kleinere Auszüge ohne Melodien folgten nun rasch nach
einander, darunter wahre Prachtausgaben, wie die Kralitzer von 1576 und 1581. Dem
böhmischen Canzionale von 1561 stellten sich schon nach fünf Jahren die deutschen
„Kirchengesänge" (mit 456 Liedern) zur Seite, die gleichfalls wiederholt aufgelegt
wurden.
Das größte Verdienst um die Herstellung des großen Samterer Gesangbuches gebührt
wohl Johannes Blahoslav, dem nachherigen Bischof der Unität (gestorben 1571),
der gemeinschaftlich mit Johannes Cerny die Nedaetion führte. Blahoslav, ein Mährer
von Geburt (aus Prerau), spielt überdies in der Musikgeschichte der Böhmen auch aus
einem anderen Grunde noch eine Nolle: er ist der erste gewesen, der ein theoretisches Werk
über die Tonkunst in böhmischer Sprache geschrieben hat. Dieses Handbüchlein, das in
übersichtlicher Darstellung das Nothwendigste über das Tonsystem und die Solmisation,
die Kirchentöne, die Mensnralnotenschrist und die Taktlehre enthält, erschien 1558 (in
Olmütz) unter dem Titel „Mnsica" und wurde schon 1569 (in Eibenschütz) zum zweiten-
male aufgelegt, erweitert durch Regeln für praktische Sänger, zu deren Nutz und Frommen,
soweit sie des Lateinischen nicht mächtig waren, die Schrift ja zunächst verfaßt worden,'
und durch eine Abhandlung über Licderdichtung und Prosodie. Blahoslavs Vorgang war
offenbar anregend; schon 1561 erschien eine zweite Schrift dieser Art in böhmischer Sprache,
deren sonst unbekannter Verfasser, Johannes Josqnin, ausdrücklich sich auf das durch
9
das neue Brüdercanzionale geschaffene Bedürfniß beruft, die Kenntniß der Notenschrift
und überhaupt der Tonlehre im Volke zu verbreiten.
Das Beispiel der Brüdergemeinde wirkte sogleich auf die übrigen Confessionen
Böhmens; reichhaltige Gesangbücher mit notirten Melodien wurden nun von allen
Seiten gefordert und auch geboten, so daß gegen Ende des XVI. Jahrhunderts die
Utraquisten und die Lutheraner schon im Besitze von umfangreichen Canzionalen waren,
die den großen Vorsprung der Unität so ziemlich wettmachen konnten. Interessant ist der
Umstand, daß für den von allen nichtkatholischen Confessionen mit besonderer Vorliebe
gepflegten Psalmengesang sich mit der Zeit die ursprünglich von den Brüdern (zurTextüber -
setzung von Georg Streyc) recipirten Singweisen der französischen Calvinisten eingebürgert
haben, zum Theil sogar in der vierstimmigen Bearbeitung von Claude Goudimel.
Dem Allen konnten sich natürlich auch die Katholiken nicht verschließen. Die schroff
abweisende Stellung, welche gegenüber der Zulassung der Volkssprache im gottes -
dienstlichen Gesänge das Baseler Concil 1435 eingenommen
Aus dem Kyrie des lateinischen Canzionales von Jungbunzlau (um isoo).
10
in Mähren propagirt, nnd so erschien denn 1601 in Olmütz das Gesangbuch des Stern-
bcrger Propstes Johannes Rozenplut von Schwarzenbach, das auf 866 Qnart-
seiten nebst einer kleinen Auswahl der bekanntesten lateinischen Gesänge eine Menge
böhmischer geistlicher Lieder enthielt, die den eigentlichen Grundstock aller folgenden
katholischen Gesangbücher bildeten.
Diese ganze Canzionalliteratur Böhmens war zunächst zum Gebrauche des Volkes
bestimmt. In der katholischen Welt war aber im Verlaufe des XVI. Jahrhunderts der
eigenen, vorzüglich geschulten Sängerchören anvertraute vielstimmige lateinische Kunst -
gesang zu seiner höchsten Blüte gelangt; es ist die überaus glänzende Epoche von
Josquin bis Palestrina, Orlando di Lasso und Giovanni Gabrieli. An dieser ganzen
Kunstbewegung konnte daher Böhmen doch nur einen im Verhältniß zu seinen: Mnsiksinn
geringen Antheil haben, da sa hier der Katholicismns und mit ihm der lateinische Kirchen -
gesang erst in zweiter Linie, zum Theil sogar ganz im Hintergrund stand, hingegen das
geistliche Volkslied znm treibenden und führenden Element geworden war.
Allerdings war dadurch das Verlangen nach höheren Kunstleistungen im Gebiete
der Kirchenmusik durchaus nicht beseitigt, umsoweniger aber gestillt. An die Befriedigung
desselben trat jedoch wiederum das Volk heran, natürlich in seiner Weise. Für den täglichen
Bedarf des Gottesdienstes hatten zwar die Cantoren der Schulen und die Organisten zu
sorgen, denen meist ein gezahltes Sängerpersonale zur Hand war; das aber, was dem
Kirchengesange Böhmens namentlich im XVI. Jahrhundert einen ganz eigentümlichen
Charakter verlieh, ja geradezu eine Speeialitüt des Landes bildete, waren die sogenannten
Literatenchöre, das heißt Vereine von angesehenen Bürgern, die an Sonn- und Feier -
tagen, sowie bei anderen statutenmäßig bestimmten Gelegenheiten den Kirchengesang in
knnstgemäßer, würdiger Weise zu versehen hatten. Die ersten Spuren solcher Genossen -
schaften mögen bis ans das zunftmäßigen Organisationen besonders günstige XIV. Jahr -
hundert zurückleiten: soviel ist sicher, daß die Ausbreitung und Popularisirung der
Literatenvereine auf Rechnung der religiösen Bewegung seit den Husitenkriegen zu setzen
ist und daß ihre Blüte vorzüglich in das XVI. Jahrhundert fällt.
Der Confessio,: nach gab es katholische, utraquistische, später auch Protestant,sche
Literatenchvre, der Sprache nach lateinische, böhmische und gemischte. Ursprünglich,
namentlich wo der lateinische Gesang gepflegt wurde, war eine höhere Schulbildung oder
mindestens eine hervorragende Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft Bedingung der
Aufnahme, daher der Name: Literat, eivis litoratus. Die von eigenen Cantoren geleiteten
künstlerischen Leistungen bestanden vor Allen: im einstimmigen Gesang, daneben pflegten
aber viele Literatenvereine auch die polyphone Vocalmusik, das heißt sie sangen ihre
Kirchenlieder in vier- oder fünfstimmiger, mitunter auch dreistimmiger Bearbeitung und
theilten sich demnach in zwei besondere Chöre: die Choralsänger und die Figuralsängcr.
Die zahlreichen gedruckten Canzionale leisteten hier, zumal beim einstimmigen Choral, gute
Dienste; doch waren schön geschriebene, mit Initialen und Miniaturen kunstvoll ansgestattete
Chorbücher stets ein besonderer Stolz der Literatenvereine Böhmens, und eine ganze Reihe
Bildniß des Jan Kantor, aus dem Löhmischen Canzionale von JungLunzlau (1S7S).
wahrer Prachtwerke hat sich aus der Blütezeit dieser Genossenschaften erhalten, zu deren
oft bedeutenden Herstellungskosten die Freigebigkeit der Stadtgemeinden oder einzelner
Gönner gern beisteuerte. Bis zur Mitte des XVI. Jahrhunderts wurden diese kostbaren
Canzionale in lateinischer, von da an in böhmischer Sprache geschrieben.
Nach dem dreißigjährigen Kriege waren die Literatenvereine natürlich durchwegs
katholisch; im Übrigen blieb aber ihre Organisation dieselbe wie zuvor, nur standen sie
12
fortan unter geistlicher Aufsicht, und da es allmälig Sitte geworden war, jeden schlichten
Bürger, sofern er nur unbescholten und des Singens kundig war, aufzunehmen, sank
allerdings das gesellschaftliche und Bildungsniveau ihrer Mitgliedschaft. Der conservative
Charakter dieser Bereine brachte es mit sich, daß sie in althergebrachter Weise auch dort
noch böhmisch sangen, wo im Laufe der Zeit sich die nationalen Verhältnisse derartig
umgewandelt hatten, daß das deutsche Element in der Bürgerschaft und daher auch unter
den Mitgliedern selbst entschieden überwog. So hat zum Beispiel der Literateuchor vou
Prachatitz, einer jetzt vorherrschend deutschen Stadt, bis in unsere Tage den traditionellen
böhmischen Gesang festgehalten. Dieser Chor, dessen gottesdienstliche Function ein 1604
gestiftetes Bild aus der Prachatitzer Decanalkirche in interessanter Weise veranschaulicht,
ist übrigens heute der einzige noch übrige Repräsentant des einst so blühenden Literaten -
thums. Denn unter Kaiser Josef II. wurden 1785 sämmtliche noch bestehende (über 100)
Literatenchöre aufgelöst und ihr nicht unbedeutendes Vermögen dem Religionsfoude, sowie
wohlthätigen und Schulzwecken zugeführt, und als einige Zeit nachher mehrere dieser
Vereine zu neuem Leben erweckt wurden, besaß, mit einziger Ausnahme des Prachatitzer
Chors, keiner vou ihnen Lebenskraft genug, um vou neuem für die Dauer feste Wurzeln
zu schlagen. — Auf den ersten Blick scheinen die Literatenchöre Böhmens den deutschen
Meistersingern zu entsprechen, doch beschränkt sich bei näherer Betrachtung die ganze
Ähnlichkeit ans die aus dcni mittelalterlichen Zunftwesen hervorgegangene Organisation
des Bürgcrthums zu musikalischen Zwecken. Die böhmischen Literaten oblagen aus -
schließlich der Pflege des kirchlichen Gesanges und waren im Verein nur als ausübende
Musiker thütig, verlegten sich also weder auf weltliche Kunst, noch auf Dichten und
Componireu, daher auch die mannigfaltigen unter den Mitgliedern der Meistersinger -
zünfte bestehenden Gradunterschiede bei ihnen entfielen.
Kehren wir in das XVI. Jahrhundert zurück. Da seit Ferdinands I. Königswahl
(1527) die Kaiser größteutheils in Prag residirten, Rudolf II. sogar seinen ständigen Sitz
hier hatte, so konnte natürlich die Hofkapelle nicht ohne Wirkung auf die musikalischen
Verhältnisse in Böhmen bleiben, wenn auch der kirchliche Volksgesang seine eigenen Wege
ging. Die kaiserliche Hofkapelle war damals noch ein zunächst für den katholischen
Gottesdienst bestimmter Vocalkörper, und zwar ein vorwiegend aus Niederländern
bestehender, unter denen sich gar manche klangvolle Namen finden, wie die Kapell -
meister Arnold von Prughk, Philippus de Monte und Jakob Regnart, denen noch die
Organisten Jakobus Buus und Karl Luyton (der letztere ein Engländer) angereiht
werden mögen. Zur Zeit Rudolfs II. war überdies die Hauptstadt Böhmens ein
Anziehungspunkt auch für solche berühmte Musiker, die nicht der kaiserlichen Hofkapelle
angehörten; so kam z. B. der Kramer Jakobus Gallus (Handel) von Olmütz, wo er in
14
-dslich-n W-ust-i, gestnud.n, „ach P„g, floß hj„ mehoere seiner berühmten Serke
d-uck-n ,md stur am 4, Ja« l5gl -ls «-p-stm-tfl-r der (nicht m.hr besteheudeu, Kirche
St. Johann an der Furth. ^
Das musikalisch, Leben der Hafkr-is- wirkte „ffeubar auch auf d-u Dtl-ttautiSmuS
et Prager -nr-geud. Selbst ,», Herrenstande gab es Mlinuer, die ihr- sechsstimmig-,,
^»tette» zu eompouireu »erstände», wie der IS2I Hingerichtete Christoph Haraut »du
P° ,,tz und B-zdrnzitz, nud ISIS g-grü„d-,,z .«»iiaginm muoievm- war Wahl der
- -B-r-,„ Bah»,.», der di- Mnsik um ihrer selbst willen pflegte nnd nicht etwa
religiöse Zwecke d-b-, »erfolgt., BemerkenSwerth in jener stürmischen Zeit sdi-, wie es
Ich-Mt dmn Colleginui ein frühes Ende bereite,., nnd charakteristisch snr di- begeist-rt-
chusckü-b- der L!,tglt-d-r ,st gewiß der Ilmstaud, daß sich nute- ihnen «»gehörige nicht
,,,,, b-id-r Rntionalitnten, sondern offeubar auch verschiedener Religionsbekenntnisse
b- -»den, da ,-d-s politisch, nnd theologische Gespräch sch,„ jm porhiuet» durch di-
Statuten ausgeschlossen war. ^
Bon der profanen Mnsi, des XV, und XVI, Jahrhunderts hat sich nicht oie, mehr
erhalten alz oo» ,-»er der oorhergegange»-,, Epoche, nnr über di- weltlichen Volksweisen
»,a„ efler „nterncht-t, da sich in den Eauziouale» -ine ziemliche Anzahl derselben
- offenbar die beliebtesten und b-,-n».-st-„ - erhalten hat, nämlich solche, „ach welchen
?, , w ,e,er gesungen wurde», «a§ di- Jnstrnmentalmnsil anbelangt, so hatte» wie
überall auch ,„ Böhn,e„ namentlich di- Trompeter und Posanner in Städten und ans
Herrensitzen den oerschiedensten festliche, Gelegenheit.» äußere» Glanz zu »erleihe» Jm
Übrigen war, trotz der großen Zahl nud Mannigfaltigkeit der üblichen Tonwerkz.nge, in -
tus,,„mentale Kunst UN XV,, Jahrhundert kaum erst im Entstehen begriffen, «elche
-lulmerll-mkeit ihr aber g-sch-nlt wurde, zeigt z, B, der Umstand, daß das Jno.utar der
4,-ittingau-r Sap-llm-ister der Herren oon Rosenherg im Jahr- IMS nahezu zweihundert
der o-r,chi-d-n,te„ Mnsiliustrnm-ut- aufweiSt und daß dieselbe» Magnaten ihr- Trompeter
Von den kaiserlichen Hofmusikern unterrichten ließen.
X^U-Jahrhundertr also gerade zu der Zeit, wo die Hofkapelle unter italienischen
Smflnß kam und die neue Musik, namentlich die um 1600 aufgekommene Oper und das
Oratormm dem Norden Zufuhren half, änderte sich die Situation ganz und gar. Zunächst
wur e ie kaiserliche Residenz noch vor Ausbruch des dreißigjährigen Krieges nach Wien
verlegt, so daß die Hofkapelle nur noch in Ausnahmefällen, etwa bei Krönungs- oder
Hvchzertsfesten nach Prag kam. Durch die Folgen der Schlacht am Weißen Berge wurde
,vdann die Contmnität in der gesummten Entwicklung des Landes unterbrochen, die bald
darauf angeführte neue Ordnung der Dinge war anfänglich einem namhaften Aufschwung
der Lonkunst in dem damals modernen Sinne wenig günstig.
In kfsigienr I
c»MMZ8.
c:i.n»>!>,2""-^»-'"^^''- ° . ?1
Zot,an«n»A'l,«-'tr'Äl>> H
Der Literaten- (Kirchensänger-) Chor i» Prachatih.
16
Die Kirchenmusik mußte auch nach dem dreißigjährigen Kriege und der Gegen -
reformation den bisherigen volksthümlichen Charakter möglichst wahren, vor Allem
durfte das Volk den ihm liebgewordenen Gemeindesang nicht vermissen. Diesem wurde
also neben der lateinischen Liturgie ein breiter Spielraum gelassen, ja die katholischen
Liederbücher nahmen sogar die beliebtesten Melodien der Utraquisten, Brüder und
Protestanten auf. Anderseits aber konnte sich die kirchliche Kunst nicht den großen
musikalischen Neuerungen der Zeit entziehen und namentlich — auch im Interesse einer
erwünschten gesteigerten Anziehungskraft der künstlerischen Darbietungen — nicht die
Theilnahme der sich nun frisch entwickelnden Instrumentalmusik und des Bravour -
gesanges abwehren. Vor der Hand kam es freilich weder zu einer höheren künstlerischen
Fortentwickelung dessen, was das XV. und XVI. Jahrhundert gebracht hatte, noch zu einer
wirksamen glänzenden Pflege des Neuen. Die Figuralmusik und die Instrumentalbegleitung
suchten dem Volke verständlich zu bleiben, bequemten sich seiner Fassungskraft an, so daß
die Kunstmusik in Böhmen trotz zahlreicher Talente, die das Land hervorbrachte, bis
zum Beginn des XVIII. Jahrhunderts im Ganzen kein besonders hohes Niveau aufweist.
Einen unschätzbaren Vortheil hatten aber diese, man möchte sagen, popularisirenden Fesseln,
welche ursprünglich religiöse Interessen der böhmischen Kirchenmusik für volle drei Jahr -
hunderte angelegt haben: Gesang und Jnstrumentenspiel gingen nun erst recht in Blut
und Saft des schon von Haus aus musiklicbenden Volkes über, um ein unveräußerliches
Besitzthum desselben für alle Zeit zu bilden.
Der Prager Domprobst Johann Ignaz Dlouhovesky schildert uns, wie im
Jnbilänmsjahre 1674 der Gesang der böhmischen Pilger in Rom bei einer von ihm
geführten Procession allseitig Aufsehen und Interesse erregte. Gewiß konnten diese
böhmischen Pilger und ihre Lieder nicht mit den Leistungen und dem Repertoire der
päpstlichen Kapelle concnrriren: aber der tüchtige, jedermann zugängliche, dabei ohne
Zweifel auch trefflich zu Gehör gebrachte Volksgesang mußte wohl als solcher imponiren,
zumal dort, wo das Volk daran gewöhnt war, lieber kunstgeübten Sängern zuzuhören
als selbst mitzusingen. Einen Begriff von der Art und Weise, wie damals in Böhmen
der Kirchengesang, an dem das Volk sich betheiligte, durch schlichte Harmonisirung und
Instrumentalbegleitung, hier und da durch bescheidene Polyphonie ausgestattet wurde,
gibt eben das böhmische Canzionale des Vysehrader Kapellmeisters Wenzel Karl Holan
Rovensky, welches 1694 (unter dem Doppeltitel „OnMig, ro^in. Xnplo llrälovslln
2p6vrn n musürnini v roei n v essirein svntoväciavZlltzm«) erschienen ist und
in dessen Vorrede Dlouhovesky jene römische Reminiscenz mittheilt. Die Verhältnisse
besserten sich indeß zusehends. Einen interessanten Beleg sür die Bestrebungen der
musikalischen Kreise Prags finden wir ans literarischem Gebiete. Der „Böhme, Kuttenberger
17
Böhmen.
Patrizier, Magister der Philosophie und Organist an der Altstädter Tehnkirche", wie er
sich selbst auf dem Titelblatt nennt, Thomas Balthasar Janovka ließ 1701 das erste
musikalische Reallexikon der modernen Zeit, seinen lateinisch geschriebenen Eilavis sä
llrssnm'E mnZimo nrlis mnsicmo" in Prag drucken.
Schon in: XVII., ungleich mehr aber noch im XVIII. Jahrhundert führten theils
zufällige Lebensumstünde, theils bewußte Absicht hervorragende heimische Musiker über
die Landesgrenzen. Hier mögen vor der Hand drei bedeutende Künstler anv der ersten
Hälfte dieser Epoche verzeichnet werden, auf die Böhmen mit Stolz Hinweisen darf. Der
^rste ist Andreas Hammerschmidt. Im Jahre 1611 zu Brüx geboren, wurde er 1635
Organist bei St. Peter in
Freiberg (Sachsen) und kam
1639 in derselben Stellung
an die Johanneskirche in
Zittau, wo er, zu Ehren
und Wohlstand gelangt, am
29. October 1675 starb. Von
seinen zahlreichen gedruckten
Werken haben ihm namentlich
die fünf Theile „musikalischer
Andachten", die „Fest-, Buß-
nnd Dancklieder", vor Allem
aber die „Dialogi oder Ge -
spräche zwischen Gott und
einer gläubigen Seele" eine
der ehrenvollsten Stellen
unter den gleichzeitigen
«.„chm «rchmt°.,,M.isim «ich» Er ich-i-b m -»...-rtirmd-m Stil sü- -!«- »
.«ö„ ,,..d mehr Stimmt.., ...rist mit znlt„,..,mt°lb-gl-it,...g, sldcht.m-m'-r °..ch «uchl.ch-
Lh°m,m°t°di» -i», 1° dch °r .„cht ,m° -- dm B°„.br°ch°m d-r
»irchmmnsil g-HSrt, ,°>.d-m !,, ,.i..m „Di-l-gm" g-r°d-z„ uls «..rd,gm
H»..d-l m.d Buch -rsch-iut, - «. B!°>i.,«irt.wl° -rftm R-ng-s, dm I... , .... .
„ist,...,... um. dm, M„«i.bmdm «mir. L.°d°,d I, ,n dm R-ichdud.l
z. „ich -b» m.ch -in-, dm s-iih-Itm L°.„d°..istr.. .«» Vi°t..„°.mh. imn,ch
Bedrutung -mummm »°t, H..°..ch F--»i °°" »'
„tirdlichm B-hm» gtbur..., „d'° -- "d-r '» «"-chur- -« 7 ^m'dn»'.
»-»-«m-istm «d Tmchl-b und stnrd dch-lbst zw„chm I,u? m.d ' "
Andreas Hammerschmidt.
18
hier zu erwähnende Künstler, Johann Dismas Zelenka, gehört seinem Wirken nach
schon der ersten Hälfte des XVIIl. Jahrhunderts an. Er war als der Sohn eines Organisten
in Lounovitz bei Tabor geboren, erhielt nach kurzer Dienstleistung beim Grafen Hartig
1710 die Stelle eines Contrabassisten in der Dresdener Kapelle und war als solcher in der
glücklichen Lage, seine musikalische Ausbildung bei Lotti in Venedig und bei Fux in Wien
zu vervollständigen. Der Kurfürst war stolz darauf, die Compositionen Zelenkas allein
zu besitzen und zu hören, und hatte darin wohl Recht; soll doch selbst Sebastian Bach
kein Hehl daraus gemacht haben, daß er Zelenkas Kirchenwerke höher schätze als jene
Hasses, und von vielen wurde der böhmische Künstler, den auch auf instrumentalem
Gebiete nur wenige seiner Zeitgenossen übertrafen, für den vorzüglichsten Vertreter der
katholischen Kirchenmusik in Deutschland gehalten. Trotzdem bewarb er sich vergeblich um
die Kapellmeistersstelle und mußte sich schließlich mit dem Titel eines Kirchencomponisten
begnügen. Er starb zu Dresden am 23. December 1745 im Alter von 66 Jahren.
Eine große, wichtige Neuerung brachten den musikalischen Verhältnissen Böhmens
die Zwanziger-Jahre des XVlll. Jahrhunderts. Es war die Opernmusik. Die arto
irnova der Florentiner, der begleitete einstimmige Gesang, war vermuthlich schon an
den Hof Rudolfs II. gelangt, die erste theatralische Vorstellung im neuen Stil dürste
aber für Prag eine 1627 bei der Königskrönung Ferdinands HI. auf dem Hradschiner
Schlosse gesungene „Pastoralkomödie" gewesen sein. Nach dem dreißigjährigen Kriege
kam zivar die kaiserliche Hofkapelle ab und zu nach Prag und führte hier ohne Zweifel
auch Opern ans. Ausnahmsweise gab sogar 1703 bis 1704 eine wandernde Truppe (des
Impresario Giov. Fed. Sartvrio) einige italienische Opernvorstellungen. Doch konnten
diese vereinzelten Fälle in der Prager Bevölkerung kein solches Bedürfniß nach musikalisch-
dramatischen Kunstgenüssen wecken, das von selbst zur Befriedigung gedrängt hätte; dies
vermochte erst die in ihrer Art allerdings einzige Aufführung von Fux' ,lm co-t-E o
korto^a" am 31. August 1723. Das Werk des berühmten Wiener Hofkapellmeisters
wurde nämlich bei der Krönung Karls VI. zum König von Böhmen in einem von Giuseppe
Galli-Bibiena eigens erbauten großen überaus prachtvollen Theater von etwa 100
Sängern und doppelt so viel Orchesterspielern unter Caldaras Leitung — der Componist
selbst war kränklich, aber anwesend — mit allem erdenklichen künstlerischen Aufwand
gegeben. Die ausgezeichneten Kräfte der Hofkapelle, die damals gerade ihre Glanzepoche
durchmachte, war nicht nur durch die besten Chorsänger und Jnstrumeiitalisten Prags,
sondern auch durch eine Reihe von Virtuosen ersten Ranges verstärkt, welche aus allen
Landern Europas herbeigekommen waren und die Persönliche Teilnahme an dieser in
den Annalen der italienischen Oper unübertroffenen Monstre-Anfführung sich zur Ehre
und zum Vergnügen rechneten.
20
Dieses musikalische Ereigniß legte den Gedanken nahe, der Stadt öfter Ähnliches zu
bieten, wenn auch natürlich an eine Concurrenz mit dem äußeren Glanze und der
künstlerischen Vollendung der Krönungsoper nicht zu denken war. Der folgenreiche Schritt
vom Gedanken zu seiner Ausführung war bald gethan. Der edle Menschenfreund und
Knnstmäcen Graf Franz Anton Sporck (1662 bis 1738) förderte überhaupt die Ton -
kunst mit besonderem Interesse; so hat er gegen Ende des XVII. Jahrhunderts das Wald -
horn (als musikalisches Instrument) eingeführt, indem er zwei seiner Bedienten in Paris zu
tüchtigen Bläsern ausbilden ließ; für das Volk sorgte er durch Herausgabe eines böhmischen
Canzionals und seiner Vorliebe für den populären Dudelsack gedenkt ein Volkslied,
das noch über hundert Jahre nach seinem Tode gesungen wurde. Graf Sporck berief nun
den Impresario Antonio Denzio mit einer wie es scheint guten Truppe, die alsbald ihre
Vorstellungen begann, zunächst in einem provisorisch adaptirten Theater, seit dem Herbst
1725 jedoch in einem zweckmäßigen neuen Opernhause, das mit Bioni's „Armida"
eröffnet wurde. Mit der Zeit wagte Denzio sogar eine Wiederholung der Fux'schen
Krönungsoper „Im eoslnrmn o lortsMu" und 1734 soll er sich von einigen finanziellen
Mißerfolgen durch die Aufführung von „UrnFn nnseerllo äi Inbrmsn o Urimisluo",
dem Werke eines unbekannten Componisten, erholt haben.
Das Repertoire der italienischen Operntruppen, die seit 1739 in dem neuen vom
Prager Magistrat erbauten Theater in den „Kotzen" spielten, erhob sich aber erst um die
Mitte des XVIII. Jahrhunderts unter dem Impresario Giov. Batt. Locatelli zu größerer
künstlerischer Bedeutung. Dieser stellte namentlich Gluck und Hasse in den Vordergrund,
und die Prager konnten sich sogar zweier interessanten Premieren rühmen: 1750 erlebte
hier Glucks „Ezio" und 1752 desselben Meisters „Jssipile" die erste Aufführung. Daß
Gluck, der damals allerdings noch nicht der große Reformator war, bei dem Prager
Publikum auf ganz besondere Sympathien rechnen durfte, da er ja bekanntlich seine
Jugendzeit und seine ersten musikalischen Lehrjahre in Böhmen, namentlich in Prag
zugebracht hatte, war dem rührigen Unternehmer jedenfalls klar. Spätere Impresari
fuhren fort, die böhmische Hauptstadt mit den Mode-Opern der Zeit bekannt zu machen
und brachten hier und da auch italienische Opern von vaterländischen Componisten, wie
Gaßmann, Johann Ev. Kozeluch, Myslivecek auf die Bühne.
Bereits 1783 war von der deutschen Schauspiel- und Operettengesellschaft Wahrs
in dem eben vom Grafen Nostitz neu erbauten „Nationaltheater" Mozarts „Entführung
aus dem Serail" aufgeführt und vom Publikum mit einer solchen Begeisterung aus -
genommen worden, daß der Mozartbiograph Nemeeek aus eigener Erfahrung sagen
konnte: „Es war, als wenn das, was man hier bisher gehört und gekannt Hütte, keine
Musik gewesen wäre!" Als nun Ende 1786 auch die italienische Operngesellschaft Bondini's
21
mit >1.6 ^E6 äi viguro" einen künstlerisch wie materiell gleich glänzenden Erfolg
erzielte, folgte Mozart einer an ihn ergangenen Einladung und erschien im ^annar 1,87
in Prag, so daß er sich selbst von dem grenzenlosen Enthusiasmus überzeugen konnte.
Die Anwesenheit des großen Künstlers wurde zu einem Markstein in der Musikgeschichte
Böhmens, und zwar nicht blos dadurch, daß in Folge dessen Mozart sein Meisterwerk
„Don Giovanni" für die Prager schrieb und daselbst am 29. November 1787 zur
ersten Aufführung brachte, sondern auch durch den Umstand, daß fortan die Verehrung
für den Meister und seine Werke zum Leitstern wurde, der die Bahnen mehrerer Musik,
generationen Böhmens bestimmte. Das Publikum hatte sich eben Mozarts Schöpfungen
mit der naiven vertrauensvollen Unbefangenheit eines mnsikliebenden, vom Parter-
getriebe der Wiener Künstlerkreise unbeeinflußten Hörers hingegeben, und so gelangte
denn Prag gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zu dem Rufe erner nicht nur musik-
verständigen, sondern auch fortschrittsfreundlichen Stadt. Die Partitur der „Oper aller
Opern" wurde übrigens erst in Böhmens Hauptstadt vollendet, und zwar ans der
Villa Bertramkast dem Sommersitze des Künstlerpaares Dusek, das Mozart den Prager
Aufenthalt in der liebenswürdigsten Weise angenehm zu machen verstand. Der treffliche
Klavier-virtuose Franz Xaver Dusek (geboren 1731 in Choteborky bei Königgratz,
gestorben 1799 in Prag) spielte eine der ersten Rollen in dem musikalischen Leben der
Stadt und seine Gattin Josepha, geborene Hambacher, eine Pragerin, galt vielen
- auch dem großen Meister, der schon von Salzburg her mit ihr befreundet war - für
eine Sängerin ersten Ranges. ,
Im Jahre 1791 folgte abermals die Erstaufführung eines Mozart ichen Werke».
es war „va vlemon.n äi Mio«, welche als Festoper für die Königskronung Leopolds U.
geschrieben war und am 6. September unter der Leitung des bereits den Kenn der
tödtlichen Krankheit in sich tragenden Meisters aufgeführt wurde. Bald darauf machten
die Prager die Bekanntschaft mit kan tntte«, aber noch bevor sie Mozarts letzte»
Bühnenwerk, die „Zauberflöte" zu Gehör bekamen, traf die Trauerbotschaft von punem
Tode ein. ^ ^ ..
Nach den bewegten, glanzvollen Mozarttagen und -Jahren verschwanden zwar die
Werke des Meisters, namentlich .von kiovannv und .vo äi l^aro" nicht von
den Brettern der italienischen Oper, aber das Repertoire derselben beherzten ball die
Mode-Overn Paers, bis endlich nach wiederholtem vergeblichem Einschreiten der Lcheater-
nnternehmer selbst die so rasch zur Bedeutungslosigkeit herabgesnnkenen äallenychen
Stagionen ausgelassen wurden. Die letzte derselben und mit ihr em wichtiger älpchnä in
. Dien Villa ist seit Jahre» im Besitz de- Familie Popel'a. welche v>eiäi°°ll 'ürin--m°°ränd°ri° Erhaltung der °°n
Mozart bewohnten Zimmer sorgt nn° auch den Garten mit einem würdigen Dentmal geschmückt .
22
der Musikgeschichte Prags schloß Ende April 1807 mit der Aufführung von Mozarts
,6Ierr>6imn äi Dito".
Die deutschen Schauspieltruppen, die nach damaliger Sitte auch das Singspiel zu
versehen hatten, brachten, nebst Bearbeitungen italienischer Intermezzi und französischer
Operetten, Werke von Mozart, Hiller, Dittersdorf, sowie von verschiedenen vaterländischen
Komponisten, die auch auf auswärtigen deutschen Bühnen bekannt waren, vor Allem
natürlich von Georg Benda, ferner von Andreas Holy, Franz Tucek, B. Zak (Schack),
dem Mährer Wenzel Müller u. a. Auch die damals modernen Melodramen wurden ab
und zu anfgeführt, so Rousseaus „Pygmalion", G. Bendas „Medea".
Das Bild, welches uns die Prager Oper des XVIII. Jahrhunderts bietet, muß durch
eine Erwähnung des Oratoriums sowie der musikalischen Schuldramen ergänzt werden.
Nachrichten übervereinzelteOratorienaufführungen und selbst über einheimische Komponisten
datiren bereits ans früherer Zeit, aber eine ausgiebigere Pflege wurde dieser Kunstform
erst nach 1700 zu Theil, und zwar von Seiten der vornehmeren Kirchen der Stadt, in
denen namentlich zur Osterzeit solche Aufführungen nachgerade zur Regel wurden. Dabei
hatten zunächst die Italiener selbstverständlich ein entschiedenes Übergewicht, doch haben
späterhin die Prager Komponisten — es seien nur I. A. Sehling, A. M. Taubner,
F. W. Habermann, Felix Benda genannt — zum guten Theil selbst für italienische und
deutsche Oratorien zu sorgen gewußt. Diese einst so blühenden kirchlichen Aufführungen
nahmen jedoch ihr Ende fast gleichzeitig mit der italienischen Oper; denn seit 1803 war an
eine erfolgreiche Concurrenz mit der neugegründeten „Tonkünstlersocietät", die nach außen
zunächst als Oratorienverein auftrat, nicht zu denken. Viel früher dagegen, nämlich infolge
eines 1765 erlassenen behördlichen Verbotes, hörten die lateinischen Schulopern auf. Die
lateinischen und griechischen Schnlkomödien der humanistischen Zeit nämlich, bei denen hin
und wieder auch der Chorgesang (in einer vermeintlich antikisirenden rhythmischen Fassung)
zur Mitwirkung herangezogen worden war, sind allmälig von musikalisch-dramatischen
Aufführungen neuen Stils in den Schatten gestellt worden, die, wie sie sich selbst als
„rnoloärninn" bezeichnten, in der That geradezu für lateinische geistliche Opern angesehen
werden dürfen. Eine der bemerkenswerthesten Vorstellungen dieser Art, die namentlich in
den Jesuiten- und Piaristencollegien eifrig gepflegt wurden, war wohl das während der
Krönungstage von 1723 im Prager Clementinum gegebene Festspiel ,8ub olon pneis at
pnlmn virtutis eormpieun . . . regln Lolieinine eoronn", das eine Begebenheit aus der
St. Wenzelslegende vorführte und dessen Musik von dem uns bereits bekannten I. D.
Zelenka herrührte.
Die italienische Oper hat ohneZweifel das musikalischeLeben Prags um neueGenüsse
bereichert und wohlthätig angeregt, ja sie wurde zeitweilig sogar zum Brennpunkt des
23
öffentlichen künstlerischen Interesses. Allein ihr exotisches Wesen konnte sich doch nicht ganz
verleugnen, und lange hat es gewährt, bis sie einen oder den anderen Tonsetzer — von
den außerhalb des Landes wirkenden natürlich abgesehen — in ihre Kreise zu ziehen
vermochte. Um so eifriger und wirksamer wurde dafür die Kirchen- und die Instrumental -
musik gepflegt. ..
Während des XVIII. Jahrhunderts gewann allmälig die homophone Schreibweise
das Übergewicht selbst auf dem Gebiete des Kirchengesanges, auf dem bis dahin die Poly-
phonie sich am entschiedensten behauptet hatte. Dieser Vorgang spielte sich natürlich auch
in Böhmen ab, doch treten uns in der ersten Hälfte des Jahrhunderts noch bedeutende
Contrapunktisten entgegen, deren wohlthätiger Einfluß in den folgenden Kunstler-
generationen lange nachhält. Ihr vorzüglichster Repräsentant ist ohne Frage der Mmont
Bohuslav Cernohorsky. Zu Nimburg als Sohn eines Organisten 1684 geboren und
in Prag, später auch in Italien musikalisch gebildet, war er eine Zeit lang in Padua' als
Regenschori thätig, kehrte aber nach Prag zurück, um die Leitung der Musik im Mmonten-
kloster von St. Jakob zu übernehmen. Hier entfaltete er als Dirigent, Orgelspieler,
Komponist und Lehrer eine vielseitige Thätigkeit, welche ihm den wohlverdienten Ruhm
eines der größten Musiker verschaffte, die das Land überhaupt hervorgebracht. Er starb
am 2. Juli 1742 in Graz auf der Reise nach Italien. Leider bezeugen nur spärliche
Proben seines Schaffens die vollendete Meisterschaft, mit welcher er die contrapunktischen
Formen beherrschte, denn sein Nachlaß wurde 1754 bei einem Brande des Jakobsklosters
ein Raub der Flammen. ...
Von den neben Cernohorsky in Prag wirkenden Tonkünstlern muß sem Migerer
i>-j,genoss- Loses Anton S-Hling <»»s T-isin» bei sliog-n) g-n-nnt werde», der
17SS in sein-,» »7. J-Hr- »ls D°mkech-llm-ist-r g-storie» ist. Unier de» Scholen,
L°r»°h°-sl°s »de,, di- »icht ,,»r selbst dem R-ist-r -i»° d-i-Ibm- E-irm-rmi, b-w-chrie».
sondern »ist seinem Innstlerische» Erbe »nch di- eigene Bi-tiit stir ,h» »ns dr- ,»»g-r°»
Gen.rniionen über.,»ge», sind-» «ir ,m° «h- «°-stl°-, deren °mrg- mich
im «»sland z« -hr-nooll-n Sie»,,»ge» g-I-ngi sind. wie Tum- >md 7 'öfs °
»i°r,»rdi.b-m,isch°Mi,st!««S°I-sF-rdi»-»dN>>ri-rtS-g-r<l7lSb.°1.82,.
i» Rech» bei Relnil geb°re». s-doch seit seiner Schnlzei. nnchchli.sstich i» P-°g «Mig. wo
er bnld als der best. Org.l°irt»°s nn.rlmmi wnrd. »nd -ine» Mreiche» Sch»,°r-r.w »m
sich n-rs-inmeste. Dieser Kirnst,-rgr»p»° muß noch Frnnz «. Hnbermnn» -»gerecht
werde», obgleich er »i-l- L-Hr- im «»«»»d z»g°i-°cht hat. znnnchst °», S>»d,-»>-»-».
dn»n i„ Diensten des Prinzen L°»d° »nd des Srosth-rzog- °°n roseanm Ser.
- - Loemo - zu Assisi, der den berühmten Geiger Tartini
' Ob Cernohorsky identisch ist mit Mem Orgamstei ^
in der Nomoositlon und i-n Accompagl.lment unterrichtete, lst -lN- offene Frage.
«>
24
wirkte jedoch der tüchtige (1706 in Königswart geborene) Künstler in seinem Vaterlande
olv Kirchenkapellmeister, und zwar dreißig Jahre lang in Prag, dann in Eger, wo er
1783 starb.
Derjenige böhmische Kirchencompouist des XVIII. Jahrhunderts aber, dessen Werke
sich de^ nachhaltigsten Erfolges rahmen dürfen, ist unstreitig der hochbegabte, formgewandte
und äußerst fruchtbare Franz Xav. Brixi, ein geborener Prager, der seiner künstlerischen
Stellung als Kapellmeister des St. Veitsdoms im Alter von 39 Jahren durch einen
vorzeitigen Tod (1771) entrissen wurde. Seine Messen bilden heute noch einen wesentlichen
Bestandtheil des Repertoires gar vieler Kirchenchöre in Böhmen. Noch muß Brixi's
zweiter Amtsnachfolger genannt werden, der vor nun hundert Jahren zu den tonangebenden
Künstlern Prags gehörte: Johann Anton Kozeluch (Kozeluh — 1738 bis 1814), der
Vetter und Lehrer des bekannten Wiener Hofcomponisten Leopold Kozeluch, dem ihn
übrigens manche Zeitgenossen gleichstellten.
Dem angeborenen valent für die Instrumentalmusik und der allgemeinen eifrigen
Pflege derselben hat die Bevölkerung Böhmens vor Allem ihren musikalischen Ruf
zu verdanken. Recht viele böhmische Virtuosen des XVIII. Jahrhunderts verließen ihr
Vaterland, um ihr Glück auswärts zu suchen und oft genug auch im vollsten Maße
zu finden. Von den in Prag lebenden Künstlern haben wir bereits einen der bedeutendsten,
Franz Xaver Dusek, kennen gelernt; unter seinen zahlreichen Schülern wäre etwa der
tüchtige Pianist und Harmonikavirtnos Wenzel Vincenz Maschek (1755 bis 1831)
hervorzuheben. Unbedingt der größte Meister des Klavierspiels aber, den im Laufe des
vorigen Jahrhunderts Böhmen in die Welt geschickt hat, war Johann Ladislav
Duslk, gewöhnlich Dussek geschrieben? Wie er seine Ausbildung mehr als Einem Orte
verdankte (Caslau, wo er am 9. Februar 1761 geboren war, Jglau, Kuttenberg, Prag),
so erwarb er sich seinen glänzenden Ruf als einer der Bahnbrecher der modernen Klavier -
technik, dessen Compositionen noch heutzutage überall zu den schätzenswerthesten, geradezu
klassischen Unterrichtsmitteln gezählt werden, ans seinen nur selten von einer längeren Rast
unterbrochenen Kreuz- und Querzügen durch ganz Europa. Als hochgefeierter Künstler
besuchte Dusek 1802 seinen Vater, einen braven Organisten und Regenschori, und
concertirte bei dieser Gelegenheit nicht blos in Prag, sondern auch in seiner Vaterstadt, hier
mit dem aus derselben Gegend stammenden Hornvirtuosen Johann Stich, der als
Giovanni Punto zu einer europäischen Berühmtheit gelangt war. Stich starb ein Jahr
darnach in Prag, Duslk am ^0. März 1812 in St. Germain en Lahe. Noch eines seinerzeit
berühmten Harfenvirtuosen sei hier gedacht, der 1790 in Paris in den Wellen der Seine den
- Die beiden Künstlcrsanulien Dusik (Dussek) und Dusek (- Dusche!, nach der alten böhmischen Orthographie allerdings
auch Dussek geschrieben) sind wohl zu unterscheide».
25
gesuchten Tod fand: es war J oh ann B. Krumph olz (1745 in Zlonitz geboren und in der
Hauptstadt Frankreichs erzogen), der sich auch große Verdienste um die Vervollkommnung
des Harfenbaues erworben hat.
Aus der stattlichen Reihe der Violinvirtuosen mögen nur zwei namhaft gemacht
werden: Johann Karl Stamitz aus Deutschbrod (1719 bis 1761), erster Concertmcister
Georg Benda.
der durch damals unerhörte Vortragsniiancirung berühmten Mannheimer Kapelle, und
Franz Benda ans Altbenatek (1709 bis 1786). Der letztgenannte Künstler war
ursprünglich zum Sänger ausgebildet, dann aber wandte er sich dem Vwlmspwl zu,
schwang sich nach etwa zehn bewegten Wanderjahren vom Geiger emer wandernden
Musikantentrnppe zum Kammermusiker des preußischen Kronprinzen, schüeßli ) zum
Nachfolger Granns als Concertmeister empor und gewann m Berlin bald den uy
nicht nur eines der besten lebenden Violinisten, der sich namentlich durch gefühlvolle
26
Wiedergabe der Cantilene auszeichnete, sondern auch den eines ausgezeichneten Lehrers.
Da Franz Benda der älteste unter zahlreichen, durchwegs musikalischen Geschwistern
war, trachtete er die ganze Familie nach Berlin zu bringen und hier zu versorgen.
Es gelang ihm, sein jüngster Bruder Josef folgte ihm sogar in der Stellung als Concert-
meister. Der bedeutendste Mann aber, den diese ganze vielverzweigte Künstlerfamilie
auszuweisen hat, ist Georg Benda, geboren 1722 in Altbenatek. Nachdem er einige
Jahre in der Berliner Hofkapelle zugebracht, wurde er 1748 herzoglicher Kapellmeister
in Gotha, in welchem Amte er dreißig Jahre nach allen Richtungen seiner Kunst mit
Erfolg thätig war. Seinen Ehrenplatz in der Geschichte der Tonkunst hat er jedoch Bühnen -
werken zu verdanken, denen er sich seit einer italienischen Studienreise in erster Linie
widmete. Eine Reihe von Singspielen Bendas gehörte zu dein beliebtesten Bestand des
damaligen deutschen Repertoires, namentlich wurde „Romeo und Julie" hochgehalten.
Das größte Aufsehen aber erregten allenthalben seine Melodramen „Ariadne auf Naxos"
und „Medea", denen er spater, durch die wachsenden Erfolge (selbst in Italien) ermuthigt,
noch einige weitere folgen ließ. Benda fand hierin zahlreiche Nachahmer; auch Mozart
fühlte sich durch diesen seinen „Liebling unter den lutherischen Kapellmeistern" zur
melodramatischen Composition (zweier Scenen in „Zaide") angeregt, ja er kam sogar auf
den Gedanken, den größten Theil der Opernrecitative durch Melodramen zu ersehen.
Benda gab 1778 seine Stellung in Gotha auf, lebte kurze Zeit in Hamburg, concertirte
in Wien, dirigirte seine „Ariadne" in Paris und verlebte den Rest seines Lebens an
verschiedenen Orten des Thüringerlandes in einer schließlich bis zur Menschenscheu und
Musikflucht ausartendeu Zurückgezogenheit, bis er am 6. November 1795 in Köstritz bei
Altenburg starb.
Ein anderer Komponist böhmischer Abkunft, Joseph Myslivecek, stellte seine
Kunst in den Dienst der italienischen Oper. Der in Prag geborne und daselbst bei
Habermann und bei Seger musikalisch gebildete junge Mann vertauschte gleich nach seinem
ersten Erfolge als Symphoniker den väterlichen Beruf, das Müllcrhandwerk, mit der
Künstlerlaufbahn und wanderte frischen Muths nach Italien, wo er als „Vonatorini"
(Jtalianisirung des böhmischen Familiennamens) oder ZI Loemo" bald einer der
beliebtesten Komponisten des Tages wurde, dessen Opern in vielen Städten, namentlich in
Neapel stets auf den größten Beifall zählen durften. Er wurde 1777 auch nach München
berufen, wo im Carneval des folgenden Jahres sein „Ezio" zur Aufführung kam, starb
aber schon 1781 in Rom, erst 44 Jahre alt, trotz aller seiner Erfolge in dürftigen
Verhältnissen.
Wenn die böhmischen Musiker als Virtuosen und Componisten ganz Europa durch -
zogen oder weit von den Grenzpfühlen des Heimatlandes wohlbestellte Kapellmeisterstellen
27
innehatten — zu den bereits angeführten mögen noch etwa Johann Zach in Mamz,
Fräulein Antonie Nöszler (Rosetti) in Schwerin, Johann Stefani in Warschau, W. Pichl
in Mailand hinzugefügt werden — fo mußte umsomehr das nahe Wien als Sitz eines
kunstfreundlichen Hofes und
als zeitweiliger Vereini -
gungspunkt eines musik-
liebcnden Adels auf streb -
same Tonkünstler eine ganz
besondere Anziehungskraft
ausüben. Einige wenige
Namen mögen uns genügen.
Franz Tuma aus Adler-
kostelec war als Schüler
Cernohorskys und Fux' zu
einem ausgezeichneten Orgel -
spieler und ernsten Kirchen-
componisten herangereift
und wurde 1741 von der
Kaiserin-Witwe Elisabeth
Christine zu ihrem Kammer-
componisten ernannt; von
Schwermuth gebeugtbeschloß
er sein siebzigjähriges Leben
1774 in Wien. Durch eine
gar vielseitige Thätigkeit
zeichnete sich Florian
Leopold Gaßmann aus.
Am 3. Mai 1729 in Brüx-
geboren, entzog er sich dem
ihm°l,r°hiri°,,K°«M°,ms.
stände durch die Flucht,
schlug sich zunächst als Harfenist durch, bis es ihm gelang, seine musikalischen Studien m
'L„ 'd.° und sich rst.ra Namra z. machm, d°b er 170- °°r°-astrr
J«II. als B-l>-tr°,nh°nist nach «i-n b-rus-» w«d-, w° -r am 22^-armr -
st-rb. Er Hai -im R.ih° °°» st» Ost« B-««' « «»>«-
m -ammr! »«assta, dir ihn d°.r sr-chibarst-- imd b-st°».°st°.r °°mst°mst.° I-»»-
28
Zeit an die Seite stellten. Ein bleibendes Verdienst hat er sich aber um Wien und das
Wiener Musikleben dadurch erworben, daß er 1771 den „Pensionsverein für Witwen
und Waisen österreichischer Tonkünstler" ins Leben rief, der noch jetzt als „ Tonkünstler-
societät Haydn" eine segensreiche Wirksamkeit entfaltet und den Namen seines edlen
Urhebers wohl für immer der Vergessenheit entrissen hat.
Leopold Kozeluch (aus Welwarn, 1752 bis 1818) führte sich in Wien zunächst
als brillanter Pianist und Lehrer ein, um schließlich der Nachfolger Mozarts als Hof-
componist und Kammerkapellmeister zu werden. Auch Johann B. Wanhal (1739 bis
1813), der als Leibeigener sich schon durch den Ertrag seiner ersten künstlerischen
Bemühungen freizukaufen vermochte, und Abb e Josef Gelinek (Jelinek, 1757 bis 1825),
dessen zahme Klavierstücke in den weitesten Dilettantenkreisen soviel Anklang fanden, daß
„Gelinek sche Compositionen" in Paris sozusagen gewerbsmäßig erzeugt wurden, gehörten
vor etwa hundert Jahren dem Kreise der Wiener Modepianisten an. Und ihnen darf
wohl auch noch der Budweiser Adalbert Gyrowetz beigesellt werden, obwohl dieser
einst so beliebte, vielseitige und fruchtbare „göttliche Philister" erst 1850, von dem Strome
der neuen Kunst ganz und gar in den Hintergrund gedrängt, als siebennndachtzigjähriqer
Greis starb.
Diese Umschau außerhalb der Grenzen Böhmens war nothwendig, um die
musikalische Bedeutung des Landes, das nicht blos die Wiege, sondern auch die Schule so
vieler tüchtiger Künstler geworden ist, ins rechte Licht zu stellen. Doch kehren wir wieder
in das Land selbst zurück, dessen reges und reiches Musikleben im XVIII. Jahrhundert zur
unerläßlichen Vorbedingung jedenfalls den angeborenen Tonsinn des Volkes hatte, aber
in seiner üppigen Entwicklung und namentlich in jener Hyperproduction von Berufs-
musikeui ohne Zweifel auch noch von anderen Ursachen mitbestimmt wurde. An erster
Stelle werden dabei immer, und das mit Fug und Recht, die Landschulen Böhmens
genannt. Jeder Schulmeister war zugleich Mnsiklehrer, und da er in kleineren Orten meist
auch Leiter der Kirchenmusik war, lag es in seinem Interesse, stets für einen entsprechenden
Nachwuchs von ausübenden Kräften, Sängern und Jnstrumeutalisten zu sorgen. Der
Musikunterricht wurde dann an den Lateinschulen nicht minder eifrig fortgesetzt, da ja die
Klostergeistlichkeit selbst, in deren Händen sich diese Schulen befanden, fast durchaus
musikalisch war; die Prager Universitätsstudenten aber mußten sich zum guten Theil ihren
Lebensunterhalt mit Hilfe der Tonkunst verdienen — bekanntlich war seinerzeit auch Gluck
in dieser Lage. Zahlreiche, mitunter nicht unbedeutende Stiftungen und Dotationen halfen
die Kirchenmusik fördern, und wenn auch die Blütenepoche der Literatenchöre längst vor -
über war, so bestanden doch untilgbare Spuren ihrer einst so wohlthätigen Einwirkung in
vielen Landstädten fort. Die weltliche Musik hatte wieder einen schätzenswerthen Rückhalt
29
in den Privatkapellen der reichen Adelsgeschlechter: manchen, Talente wurde durch sie
eine glänzende Carriere eröffnet. Viele Cavaliere ließen nämlich ihre besonders begabten
jungen Unterthanen auf eigene Kosten gründlich ausbilden und verlangten von Jedem, der
in ihre Dienste treten wollte, auch musikalische Fertigkeiten; so kam es denn, daß diese
Kapellen mitunter bis an vierzig gut geschulte Spieler aufwiesen, mit eurem tüchtigen
Dirigenten an der Spitze. Auch Haydn hat seine Kapellmeisterlanfbahn in den Diensten
eines böhmischen Cavaliers, des als guter Musiker bekannten Grafen Ferdinand M. Morzu,
(1759, in Unterlukavec), begonnen. Gerühmt wurden auch die Kapellen der Grafen Thun,
Pachta, Nostitz, der Fürsten Lobkowitz und Andere mehr. Nicht selten hat auch die
Reiselust der Böhmen, namentlich in jenen Gegenden, wo Glas- oder Leinwandhandel
genug Veranlassung dazu boten, ans den Landschulen vorgebildeten Talenten die weite
Welt erschlossen und sie dadurch dem Künstlerbernfe zugeführt.
Gar vieles änderte sich indeß gründlich gegen Ende des XVIII. Jahrhunderts.
Unter Kaiser Josef II. wurden zahlreiche Klöster aufgehoben, die Stiftungen reduerrt,
die Literatenchöre aufgelöst. In den kriegerischen Neunziger-Jahren sahen sich nicht wenige
Cavaliere genöthigt, ihre Privatorchester aufzulassen, andere gaben Wien als Winter-
residenz den Vorzug vor Prag, wieder andere beschränkten die Thätigkeit ihrer musikalischen
Dienerschaft auf ihre Sommerschlösser, so daß in der Hauptstadt Böhmens die einst so
gerühmten Adelskapellen zur Seltenheit wurden. Dazu kamen nun einerseits die großen
socialen Umwälzungen der Revolutionszeit, andererseits die gesteigerten technischen An -
sprüche, mit denen die herrlich aufblühende elastische Epoche an den ausübenden Musiker
herantrat: das bisherige, einst so wohlthätige patriarchalische Mäcenaten- und Dilettanten -
thum hatte sich überlebt, es mußte der öffentlichen Organisation der Kunstpflege weichen,
der Musiker selbst strebte nach persönlicher wie künstlerischer Emancipation. Es konnte
nicht ausbleiben. daß den auf solche Weise in ihren Grundfesten erschütterten musikalischen
Verhältnissen Böhmens und namentlich Prags ein offenbarer Niedergang zu drohen schien,
der die wahren Kunstfreunde mit Besorgniß erfüllte. Wird doch 1808 von bewährter
Seite constatirt, daß „die in Böhmen sonst so blühende Tonkunst bereits so sehr herab -
gekommen ist, daß es sogar in der Hauptstadt Prag schwer fällt, ein gutes Orchester
vollständig zusammenzubringen, und selbst bei diesem mehrere Instrumente nicht gehörig
und nach Wunsch besetzt sind". „ s
Alles wandte sich jedoch znm Guten. Die musikalische Noch drängte unwiderstehlich
zur Selbsthilfe, und in den kurzen Zeitraum weniger Jahre fallen drei hochbedeutende
Ereignisse, welche die Musik Böhmens auf durchaus neue Grundlagen stellen halfen: 1803
wurde die Prager „Tonkünstlersocictät" gegründet, 1807 an dem nunmehr (seit 1793)
ständischen Theater die italienische Oper aufgelassen und 1811 das Conservator.nm eröffnet.
Der erste Schritt svllte zur Besserung und Sicherung der socialen und materiellen
Stellung der Berufsmusiker führen. Ihre hervorragendsten Vertreter gründeten unter dem
Protectorate des Grafen Johann Wenzel Sporck nach dem Muster der Wiener Societät
die noch heute bestehende und wohlthätig wirkende „Tonkünstlergesellschaft", deren
eigentlicher Zweck, die Altersunterstützung der Mitglieder sowie die Witwen- und Waisen -
versorgung, vorzüglich durch Oratorienanfsührnngcn und Concerte gefördert werden sollte.
Der Verein begann seine Thätigkeit in würdigster Weise: zu Ostern 1803 wurde Haydns
„Schöpfung gegeben, der sodann zu Weihnachten die „Jahreszeiten" und im nächsten
Jahre Handels „Messias" folgten. Wie in Wien, haben sich auch in Prag die beiden
Oratorien Haydns als die ergiebigste Einnahmequelle erwiesen, und es war nur ein Act
schuldiger Dankbarkeit, daß das fünfzigjährige Jubiläum der Societät 1853 nach einer
bunten Folge von Werken großer Meister und ephemerer Modecomponisten mit einer
Aufführung der „Schöpfung" gefeiert wurde. In den „Akademien" der Gesellschaft so
wurden ursprünglich die (später aufgegebenen) Concerte derselben genannt — waren zwar
häufig genug einheimische Componisten durch kirchliche und weltliche Werke vertreten,
allein zu einer ausgiebigen Thätigkeit auf den: Gebiete des Oratoriums fühlten sich
dieselben nicht angeregt.
Gleich die ersten Oratorienansführungen der „Tonkünstlersocietät" mußten einen
Hauptübelstand grell beleuchten: Prag verfügte über kein Orchester, das auf der Höhe
der Zeit stand. Dies wurde denn auch unverhehlt mit den oben angeführten Worten in
einen, Aufrufe ausgesprochen, mit welchem sich die Grafen Fr. Wrtby, Fr. Sternberg,
Johann und Friedrich Nostitz, Chr. Claim Gallas, I. Pachta, Fr. Klebelsberg und
K. Firmian am 25. April 1808 an die Musikfreunde Böhmens wandten, um einen
„Verein zur Beförderung der Tonkunst" zu gründen, dessen Zweck in erster Linie die
Schaffung eines guten Orchesters, in zweiter aber die Sorge für einen gesicherten Nach -
wuchs von Orchesterspielern, die den zeitgemäßen Forderungen vollkommen entsprächen,
sein sollte. Der Verein constituirte sich unter dem Vorsitz des Grafen Johann Nostitz und
verfügte bald über solche Mittel, daß bereits mit 1. Mai 1811 der Unterricht in der
neuen „Musikschule", die erst im folgenden Jahre den klangvolleren Titel eines Conser-
vatoriums annahm, beginnen konnte. Alle Orchesterinstrnmente waren durch tüchtige
Lehrkräfte vertreten — die Gesangsabtheilung kam erst 1815 hinzu — und an der Spitze
der Anstalt stand Friedrich Dionys Weber als Director. Dieser (1766 in Welchau bei
Karlsbad geborene) treffliche Pädagog war schon in früher Jugend mit den meisten Instru -
menten vertraut, widmete sich aber der Musik erst, nachdem er in Troppau das Gymnasium
studirt und in Prag philosophische, theologische und juridische Studien betrieben hatte.
Als Componist vermochte er zwar nicht sich zu größerer Bedeutung emporzuschwingen,
31
aber als Lehrer und theoretischer Schriftsteller gebührt ihm volles Lob, als umsichtiger,
alle gegebenen Verhältnisse genau erwägender Organisator der neuen Anstalt leistete er
Vorzügliches. Schon 1816 zeigten sich die Früchte: die ersten Absolventen, unter denen sich
namentlich der bekannte Geiger und Componist Johann Kaliwoda (ein Prager, 1800
bis 1866) hervorthat, entsprachen vollkommen den gehegten Erwartungen.
Johann Friedrich Kittl.
Als Weber zu Weihnachten 1842 starb, trug den Sieg über die zahlreichen Cvn-
currenten Johann Friedrich Kittl davon. Den talentvollen, noch jungen (1809 in
Orllk geborenen), aber schon damals durch seine muntere „Jagdsymphonie" auch un
Ausland bestens bekannten Componisten bestimmte erst die Wahl zum Conservatoriums-
director, den juristischen Staatsdienst zu verlassen, ohne daß übrigens die neue pädagogische
Stellung seinen Compositionseifer beeinträchtigt hätte: nebst Liedern, Ouvertüren,
32
Symphonien u. s. >v. schrieb er in der Folge auch Opern. „Bianca und Giuseppe oder
die Franzosen vor Nizza", wozu Richard Wagner den Text geliefert hatte, errang 1848
einen entschiedenen und anhaltenden Erfolg, dessen sich jedoch die zwei späteren „Die
Waldblume" und „Die Bilderstürmer", nicht rühmen konnten. Es war nur der wohlver -
diente Lohn seiner ersprießlichen Thätigkeit als Director, daß es Kittl vergönnt war, ein
rauschendes fünftägiges Musikfest zu leiten, durch welches im Juli 1858 das fünfzigjährige
Bestehen des das Conservatorium erhaltenden Vereines gefeiert wurde. Fremde Künstler,
darunter viele Celebritäten, mit Louis Spohr an der Spitze, kamen damals in
stattlicher Anzahl nach Prag, um seinem Conservatorium — bekanntlich dem ältesten
in Mitteleuropa — einen huldigenden Gruß zu bringen, die böhmischen Musiker aber
strömten aus nah und fern herbei, um die künstlerische Bilanz eines halben Jahrhunderts
(namentlich in einem vierstündigen Monstreconcert einstiger Schüler der Anstalt) ziehen
zu helfen und sich an ihr zu erfreuen. Der berühmte Pianist und Pädagog Ignaz
Moscheles (1794 bis1870), selbst ein gebornerPrager, dessen Lehrer einstDionys Weber-
gewesen, war neben Ambros beim Festbankett der beredte Dolmetsch dieser Gefühle.
Kittl trat 1865 von der Leitung des Konservatoriums zurück und ging nach Polnisch
Lissa, wo er drei Jahre darauf sein Leben beschloß. Zu seinem Nachfolger wurde der
damalige Director der Organistenschnle Joseph Krejcl (1822 bis1881) berufen, welcher
die durch Kittl in eine moderne Strömung gerathene Anstalt wieder in bedenklich con-
servative Bahnen zu lenken suchte, nach dessen Pensionirung aber der seit 1865 als Professor
des Violinspiels wirkende ehemalige Jnstitutszögling Anton Bennewitz (geboren 1833
in Prlvrat bei Leitomischl) mit der Direktion betraut wurde, der zunächst die Concerte
wieder in näheren Contact mit den Zeitbedürfnissen und Localverhältnissen brachte und
unter dessen Regime das Conservatorium sein neues Heim im Künstlerhause Rndolphinum
bezog, jüngst auch seine ganze Organisation zeitgemäß erneuerte und (namentlich durch
eine Klavierschule) erweiterte.
Die überaus große Menge tüchtiger, mitunter ausgezeichneter Musiker, welche das
Prager Conservatorium im Laufe von achtzig Jahren herangebildet hat, kann hier nur
durch einige wenige der bekanntesten und klangvollsten Namen angedeutet werden, wobei
wir uns selbstverständlich auf die einheimischen Künstler beschränken. Den Reigen der
Komponisten eröffnet der bereits erwähnte Donaueschinger Kapellmeister Johann Kali-
woda. Sein Zeitgenosse Franz Gläser (aus Obergeorgenthal, gestorben 1862 als Hof -
kapellmeister in Kopenhagen) war ein fleißiger Theatercomponist, dessen Oper „Des Adlers
Horst" (1830) einst viel gegeben wurde. Auch Josef Labitzky's Name (ans Schönfeld
bei Eger, 1802 bis 1881) darf hier nicht fehlen: wurde doch der Schöpfer der renommirten
Karlsbader Curkapelle zur Zeit der ersten Blüte der österreichischen Tanzmusik als Dritter
33
im Bunde neben Strauß und Lanner genannt. Die größten künstlerischen Erfolge hat
aber unstreitig Johann Josef Abert (geboren 1832 in Kochowitz bei Leitmeritz) auf -
zuweisen; er gehörte unter die geachtetsten deutschen Componisten der letzten Jahrzehnte.
Gleich nach Absolvirnng des Conservatoriums kam er 1852 als Contrabassist in die
Stuttgarter Hofkapelle, wurde 1867 zu deren Kapellmeister ernannt und hat sich vor
kurzem in den Ruhestand zurückgezogen. Seinen Ruf auf instrumentalem Gebiete haben
vor Allem die O-irroll-Symphonie und die „Columbus"-Symphonie begründet; in seinen
Opern „Anna von Landskron" (1859), „König Enzio" (1862), „Astorga" (1866) und
„Ekkehard" (1878) bewährte sich Abert auch als wohlerfahrener Bühnenkenner und hat
namentlich mit „Astorga" Glück gehabt, welches Werk sich auch im Repertoire der Prager
Oper längere Zeit behauptete.
Der Löwenantheil an dem Ruhme des Prager Conservatoriums gebührt den
Geigern. An erster Stelle muß des genialen Josef Slavik (aus Jinec bei Prlbram)
gedacht werden, eines Virtuosen von phänomenalerTechnik, der denNamen des „böhmischen
Paganini" ohne Zweifel voll gerechtfertigt hätte, wäre er nicht schon in seinem 27. Jahre
(1833 in Pest) der Kunst durch den Tod entrissen worden. Raimund Dreyschock
(1820 bis 1869) wirkte in Leipzig als geschätzter Violinlehrer am Conservatorium und als
Eoneertmeister des Gewandhauses. Durch seine langjährige Lehrthätigkeit hat namentlich
Moritz Mildner (aus Türmitz, 1813 bis 1865) viel zu dem guten Rufe der Anstalt bei -
getragen, an welcher auch er selbst sich einst gebildet hatte. Sein Schüler Ferdinand
Laub (geboren 1832 in Prag, gestorben 1875 in Gries bei Bozen als Professor des
Moskauer Conservatoriums), unbedingt ein Künstler ersten Ranges als Solist wie als
Quartettspieler, war wohl überhaupt die größte Zierde der Prager Geigerschule. Wenige
kamen Laub so nahe als Johann Hrnnaly (geboren 1844 in Pilsen), sein Nachfolger
am Conservatorium zu Moskau. Noch seien Hrimaly's Bruder Adalbert, jetzt Director
des Czernowitzer Musikvereins, Wenzel Kopta, einst Professor am Conservatorium in
Philadelphia, Hans Sitt, gegenwärtig in gleicher Stellung in Leipzig, Florian Zajic
in Straßburg, Karl Hallt in Weimar genannt und die mit dieser Aufzählung allerdings
noch lange nicht erschöpfte Liste der Geiger, auf welche das Prager Conservatorium stolz
sein darf, mit der Nennung eines Künstlers beschlossen, der unbestritten zu den glänzendsten
Erscheinungen in der heutigen Musikwelt gehört: es ist Franz Ondrlcek (geboren 1857
in Prag). Unter den Cellisten hat sich David Popper (geboren 1846 in Prag) schon in
frühen Jahren zu einem Virtuosen von europäischem Namen emporgeschwungen.
Ein Institut, das für die Kirchenmusik Böhmens mit der Zeit eine große Bedeutung
gewonnen hat, wurde etwa zwei Jahrzehnte nach dem Conservatorium eröffnet. Es ist
die gewöhnlich kurzweg „Organistenschule" genannte Anstalt für Kirchenmusik, die von
Böhmen.
31
einem bereits 1826 gegründeten „Verein zur Beförderung kirchlicher Tonkunst in Böhmen"
ins Leben gerufen wurde und 1830 mit dem Unterricht begann. Ihr erster Director war
der Dvmkapellmeister Johann Nepomuk Vitäsek (Wittassek — geboren 1771 in
Horm bei Melnlk), einer der besten Pianisten und Orgelspieler ans der Schule Fr. Dnseks,
der wenige Jahre zuvor den Ruf nach Wien als Hofkapellmeister (an Salieri's Stelle)
abgelehnt hatte. Nach Vitasek's Tode (1839) bestand kurze Zeit eine Personalunion
zwischen der Organistenschulc und dem Conservatorium unter Dionys Weber, dann folgten
als Leiter der Schule Karl Pitsch (ans Batzdorf bei Roketnitz, 1786 bis 1858), der
bereits erwähnte Josef Krejct und nach dessen Berufung an das Conservatorium
schließlich Fr. Zdenko Sknhersky (geboren 1830 in Opocno, gestorben 1892 in
Budweis). Der letztgenannte, auch als tüchtiger vielseitiger Componist thätige Pädagog
und theoretische Schriftsteller, welcher zuvor durch mehrere Jahre als Dirigent des Musik -
vereines und als Kirchenkapellmeister in Innsbruck gewirkt hatte, beschließt übrigens die
Reihe der Direetoren der Organistenschule, denn diese wurde nach seiner Pensionirung
(1890) mit dem Conservatorium vereinigt. Die Ersprießlichkeit der Anstalt bezeugt übrigens,
abgesehen von der stattlichen Zahl tüchtiger Organisten und Chorregenten, die aus ihr
hervorgegangen sind, am besten der Umstand, daß sie eine Reihe von Lehrern und
Theoretikern herangebildet hat, die dann selbst zu den bewährtesten Lehrkräften derselben
gehörten: so namentlich I. Krejct, Fr. Blazek, Josef Leopold Zvonar, Domkapellmeister
Josef Förster. Auch mehrere hervorragende böhmische Componisten verdanken dieser
Anstalt ihre musikalische Bildung; hier seien nur Karl Bendl, Anton Dvorak und
Eduard Napravni'k (Kapellmeister der kaiserlichen Oper in Petersburg) genannt.
Das definitive Aufgeben der italienischen Oper wurde schon als eines der
drei entscheidenden musikalischen Ereignisse im Beginn unseres Jahrhunderts hingestellt,
es hatte aber für den ersten Augenblick nur den Einfluß auf das am 3. Mai 1807 mit
Cherubini's „Fanisca" cröffnete deutsche Opernrepertoire,daß neben den bisher gegebenen
Singspielen und den (von jetzt an in deutscher Übersetzung aufgeführten) italienischen
Werken auch die französische Literatur mehr zur Geltung kam. Aber alles ernstere Streben
mußte dem Unwesen erliegen, welches die albernsten Operetten und Gesangspossen, zumal
die des ersten Kapellmeisters Wenzel Müller selbst, ans der Bühne trieben. Nur dem
rastlosen Bemühen einer echten energischen Künstlernatur, wie K. M. v. Weber es war,
der kurze Zeit (1813 bis 1816) das Amt eines „Operndirectors" verwaltete, konnte
es gelingen, die deutsche Oper Prags zu heben. Unter seinen Nachfolgern wechselten
zwar die Schicksale derselben mannigfach, aber sie machte die wichtigsten musikalisch -
dramatischen Tageserscheinungen dem Publikum in der Regel rasch zugänglich und hatte
in den Vierziger- und Fünfziger-Jahren glänzende Erfolge aufzuweisen. Der Antheil,
35
welchen die einheimischen Cvmponisten am dentschen Opernrepertoire hatten, beschränkte sich
auf nicht gerade seltene, aber doch nur vereinzelte, unzusammenhängende Bestrebungen,
die blos in wenigen Ausnahmefällen eine mehr als ephemere Bedeutung gewannen. Gleich
im Beginn fühlten sich Vitäsek und Tomasek zu Bühnenversuchen angeregt; später trat
namentlich der Teplitzer Bürgermeister Josef M. Wolfram (1789 bis 1839) mit einer
Reihe von mitunter auch in Deutschland aufgeführten Opern auf, unter denen der
Franz Skroup (Skraup).
„Bergmönch" (1831) den meisten Erfolg erzielte; in der Folge überragte Kittl entschieden
alle Mitstrebenden.
Obgleich auf dem Gebiete des böhmischen Theaterwesens bereits zu Ende des
vorigen Jahrhunderts eine große Rührigkeit herrschte, hier und da auch Versuche mit
Gesangspossen und Operetten gemacht wurden, so kann doch erst seit 1823, da Dilettanten,
denen das Theater freundlich entgegenkam, sich der Sache annahmen, von eigentlichen
Opernvorstelluugen in böhmischer Sprache die Rede sein. Die erste brachte (am
28. December des genannten Jahres) Weigels „Schweizerfamilie" und wurde vom
36
Publikum mit solcher Begeisterung ausgenommen, daß sie siir die nationalen Bestrebungen
der Böhmen die Bedeutung eines denkwürdigen Kunstereignisses gewonnen hat. Da nämlich
bald daraus weitere Versuche (unter zunehmender Mitwirkung von Opernsängern) nicht
minder geglückt waren — es wurden u. a. „der Wasserträger", „der Freischütz", „Josef
und seine Brüder", „Don Juan" und selbst Rossinische Opern in böhmischer Sprache
anfgeführt —, so faßten der Dichter I. K. Chmelensky und der Jurist und Musik -
dilettant H-rauz Skroup (Skraup, geboren 1801 in Vositz bei Chrudim, gestorben 1862
in Rotterdam) den Muth, eine Originaloper zu schaffen. Dieses Erstlingswerk war der
am 2. Februar 1826 mit Jubel empfangene ,vrat6inle° (der Drahtbinder), eine komische
Oper mit gesprochenem Dialog, deren bescheidene, aber eine gewisse Bühnenrontiue
venatheude Musik zunächst Mozart, Cherubim, Mehul nachstrebt, ohne indeß eine
ausgesprochene künstlerische Individualität oder ausgeprägt nationalen Charakter zu
zeigen. -Lkronp, der die Titelrolle sang und überhaupt die Seele des ganzen Unter -
nehmens war, sah sich infolge dessen bald in der angenehmen Lage, die juridische Lauf -
bahn verlassen zu können, da er 1827 zweiter und nach zehn Jahren erster Kapellmeister
des ständischen Theaters wurde, das an ihn: einen seiner besten Dirigenten für volle
dreißig ^ahre gewann. Den Erfolg des „Orateinü" vermochten jedoch, bis in die
sechziger-Jahre hinein, weder Lckronp selbst mit zwei weiteren böhmischen Opern, noch
seine vereinzelten Nachfolger, unter denen sich auch sein jüngerer Bruder, der spätere
u.omkapellmeister ^ohann Nep. Skroup (1811 bis 1892) befand, zu erreichen,
geschweige denn zu überbieten. Einen bleibenden Gewinn hatte von alledem zwar nicht
die nationale Musikliteratur, wohl aber das böhmische Publikum, dem nun ab und zu
wenigstens fremde Opern in seiner Sprache geboten wurden. Übrigens sind auch die
deutschen Opern Franz Skroups, von denen blos der „Meergeuse" seinerzeit nicht nur in
Plag, sondern auch in Rotterdam Erfolg hatte, längst vom Repertoire verschwunden;
aber Eine seiner Compositionen lebt heute noch im Munde des ganzen böhmischen Volkes
geradezu als Natioualgesang fort und sichert seinem Urheber siir immer eine ehrende
Erinnerung: das ,Lcks ckomov müj?" (Wo ist mein Vaterland?), das zum erstenmale
ani 21. u.eeember 1831 in I. K. Thls Gesaugsposse ,1IckIovaaIea" (Name eines noch
heute beliebten Prager Volksfestes) als Lied eines blinden Geigers von dem trefflichen
Bassisten K. Strakaty gesungen wurde — wohl die schönste, wenngleich durchaus nicht
böhmisch-national gefärbte Melodie, welche Skroup geschaffen.
Die erfreuliche Wandlung in den Musikverhältniffen Böhmens ist, wie wir gesehen,
zunächst durch die Opferwilligkeit des Adels angebahnt und dann durch den redlichen
Eifer der hauptstädtischen Tonkünstler ins Werk gesetzt worden. Doch würde man irren,
wenn man deni „kleinen Mann" auf dein Lande jeden Antheil daran und jedes Interesse
37
dafür absprechen wollte. Dieser „kleine Mann" war vor Allem der Schullehrer und
Organist, dessen vielseitiges Streben in einem bescheidenen Wirkungskreise die löblichen
Traditionen der früheren Zeiten aufrechthielt. Er spielte, sang und componirte, mitunter
massenhaft, Kirchen- und Kammermusik, wagte sich nicht selten sogar an Opern und
Oratorien; der Lehrer Jakob I. Ryba in Rozmitäl, um ein Beispiel statt viele
anzuführen, der sich auch als Musikschriftsteller, wohl der erste in der neuen Periode der
Wenzel Johann TomäZek (Tomaschek).
böhmischen Literatur, versuchte, gewann 1805 durch eine Festmesse sogar das Bürgerrecht
der Stadt Pilsen. Unter solchen Umständen überrascht allerdings weder der stete reichliche
Zustuß meist wohl vorbereiteter musikalischer Talente vom Lande nach Prag, namentlich
in das Conservatorium, noch die Zuversicht, mit der selbst kleine Städte an große Aufgaben
herantraten; in Schüttenhofen wurde z. B. 1827 Glucks „Orfeo" gegeben, drei Jahre
nachher in Warnsdorf Beethovens große v-äur Messe (von 92 Musikern) und in Rakonitz
Mozarts Requiem, während Hahdns Oratorien auf dem Lande selbst in unbedeutenden
Orten durchaus keine Seltenheit waren.
38
Auch der Meister, dessen Name im Musikleben Prags zur Signatur der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts geworden ist, Wenzel Johann Tomasek (Tomaschek), kam vom
Lande; er wurde am 17. April 1774 in Skuc, einem Städtchen des östlichen Böhmens,
als Sohn eines schlichten Webermeisters und Leinwandhändlers geboren. Man kann voll
ihm nicht gerade sagen, daß sein Entwicklungsgang ein allzn rascher gewesen ist. Nachdem
der neunjährige Knabe den grundlegenden musikalischen Unterricht von einem tüchtigen
Regenschori in Chrudim empfangen und sodann die erforderlichen deutschen Sprach-
kenntnisse — von einem alten Invaliden — sich ungeeignet, wurde er nach Jglau geschickt,
wo er als Vocalist bei den Minoriten aufgenommen und hauptsächlich seiner Coloratur
wegen sehr geschätzt wurde, und zugleich die Gymnasialstudien begann, welche er dann in
Prag beendete, um sich der Jurisprudenz zuzuweuden. Eine „Don-Juan"-Vorstellung
machte aber mit Einem Schlage ans dem bisherigen Pleyel-Verehrer einen der begeistertsten
Mozartianer, und von nun an war die Musik als Lebensaufgabe das höchste Ziel seiner
Wünsche. Die Theorie eignete sich Tomasek aus Büchern an — der Unterricht bei Johann
A. Kozeluh war zu theuer — und das Clavierspiel, in dem er es bald zur Virtuosität
bringen sollte, lernte er im Grunde genommen von selbst, natürlich nach verzweifelten
Kämpfen mit dem Fingersätze. Ende der Neunziger-Jahre trat er endlich mit seiner erstell
gedruckten Composition (Claviervariationen) vor die Öffentlichkeit und bald darauf
gelang es ihm, selbst einen gewiegten Kenner wie Forkel mit einer sozusagen improvisirten
„Scarlatti'schen" Phantasie zu mystifiziren. Aber erst der durchgreifende Erfolg seiner
Ballade „Lenore" führte ihn an das ersehnte Ziel: Graf Georg Buquoi ernannte ihn
1806 zu seinem Componisten und ermöglichte ihm dadurch, sich nun der Kunst ausschließlich
zu widmen. Von seinen Clavier-Compositionen machten die „Wogen", „Rhapsodien" und
„Dithyramben" als interessante Versuche, „die Dichtuugsarten der Poetik in das tonische
Gebiet zu verpflanzen" und dadurch dieses Gebiet zu erweitern, sowie als willkommene
Concertpiecen das meiste Aufsehen. Das verständnißvolle Eingehen Tomaseks auf die
von ihm componirten Goethe'schen Texte wurde vom Dichter selbst gelobt und ein gewisser
pathetischer Zug befähigte ihn ganz besonders zu der wiederholten musikalischen Illustration
Schillers; dagegen wurde die Oper „Seraphine" zwar 1811 günstig ausgenommen, konnte
sich aber nicht behaupten. Die Orchester- und Kammerwerke Tomaseks, sowie seine Kirchen-
compositionen wurden noch nach seinem Tode geschätzt und aufgeführt, als sein reifstes
Werk gilt aber — nebst der Musik zur Schlußscene aus Schillers „Braut von Messina"
und einer Krönungsmesse — das große Requiem in 6-inoll (1820), das bei seiner noblen
Factur durch thematische Einheit und Abrundung ein fast modernes Gepräge erhält.
Tomasek brachte den größten Theil seines Lebens in vornehmer Zurückgezogenheit
zu, doch umgeben von einem ihn treu verehrenden Schülerkreise und gern ausgesucht von
39
fremden Künstlern; er starb hochbetagt am 3. April 1850 als eine der angesehensten
Persönlichkeiten Prags. Bereits 1811 hatte ihn die Prager Universität mit dem Magi-
sterium liboralinm nrlinrn geehrt. Seine fünfzigjährige Lehrthätigkeit war eine reich
gesegnete. Von der großen Zahl der Pianisten, die er herangebildet hat, sollen zunächst
die drei weitaus bedeutendsten genannt werden: Joh. Hugo Vorisek (Worschischek
— aus Wamberg, 1791 bis 1825) starb noch jung als Hoforganist in Wien; Alexander
Joses Dessauer.
Dreyschock (geboren 1818 in Zaky, gestorben 1869 in Venedig), der Lieblingsschüler des
Altmeisters, machte sich durch seine damals nur von wenigen überbotene glänzende Technik,
namentlich durch die sensationelle Schulung der linken Hand bald einen europäischen
Namen, so daß er 1862 als Klavierlehrer an das nenbegründete Petersburger Conserva-
torium berufen wurde; Julius Schulhofs (1825 in Prag geboren) hat sich nicht nur
als Virtuos, sondern auch als geschmackvoller Saloncomponist eine ehrenvolle Stellung in
der musikalischen Welt errungen. Ihnen mag sich dann als Vertreter aller übrigen noch
Josef Dessaner (geboren 1798 in Prag, gestorben 1876 in Mödling) anschließen,
40
der seine musikalische Laufbahn als Dilettant begann, um mit der Zeit ein beliebter Pianist
und Liedercompouist zu werden. Unter den Componisten aus der Schule Tomäseks nimmt
Friedrich Kittl ohne Frage den ersten Platz ein. Auch der Sängerund Pädagog Franz
Hauser (geboren 1794 in Krasovitz, gestorben 1870 in Freiburg), einst Director des
Münchener Couservatoriums,und der Musikschriftsteller Eduard Hanslick(geboren 1825
in Prag), der seit Ende der Vierziger-Jahre in Wien wirkt, wo er bald der einflußreichste
Kritiker und 1856 auch Professor an der Universität wurde, nachdem er durch seine epochal
gewordene Schrift „Vom Musikalisch-Schönen" 1854 eine wohlthätige Bewegung in die
stagnirenden Gewässer der Ästhetik der Tonkunst gebracht hat, waren Tomäseks Schüler.
Böhmen war überhaupt und namentlich in dieser Epoche die Heimat gar vieler
trefflicher Pädagogen. Von den älteren Zeitgenossen Tomäseks ist Wohl auch der berühmte
Gesangslehrer Johann Miksch (aus Georgenthal, 1765 bis 1845) hier anzuführeu,
obgleich er seine höhere musikalische Ausbildung erst in Dresden, seinem nachherigen
Wirkungskreise, erhielt. Einer der ersten musikalischen Theoretiker und Schriftsteller seiner
Zeit war aber Anton Reicha (geboren 1770 in Prag), der 1836 als Professor der
Composition am Pariser Couservatorium starb, nachdem er kurz zuvor an Boildieu's
Stelle in die Akademie ausgenommen worden war — der einzige Böhme, dem diese Ehre
widerfahren ist. In Wien war der Hoforganist Simon Sechter (aus Friedberg,
1788 bis 1867) nach Albrechtsberger die erste pädagogische Autorität auf dem Gebiete
des strengen Satzes und in Prag selbst entwickelte der seit seinem dreizehnten Jahre
erblindete Reichenberger Josef Proksch (1794 bis 1864) eine so ersprießliche Lehr-
thätigkeit, daß der 1830 von ihm gegründeten Musikbildungsanstalt und ihrer (auf dem
Logier'schen System beruhenden) Methode ein bleibender Ehrenplatz in der Musikgeschichte
Böhmens gesichert ist. Aus der großen Zahl der Schüler Prokschs mögen hier nur einige
wenige, auch auswärts wohlbekannte Namen herausgegriffen werden: Franz Bendel,
Pius Richter, W. Kühe, CH. Wehle, Wilhelmiue Clauß-Szarvady, Auguste
Kolär-Auspitz u. s. w. Prokschs Musikschule wurde übrigens vielfach nachgeahmt, so
daß in Prag mit der Zeit eine erkleckliche Zahl von Anstalten entstand, in denen so
mancher tüchtige Pianist mit den ersten Elementen seiner Kunst vertraut wurde: der (1852
geborene) Prager Alfred Grüufeld, heute eine der hervorragendsten Persönlichkeiten
unter den Klavierspielern der Gegenwart, ist wohl das beste Beispiel.
In den letzten Lebensjahren Tomäseks hat allerdings der Einfluß desselben eine
nicht unerhebliche Einbuße erlitten. Der begeisterte Mozartcultus, welcher in dem Schöpfer
des „von Oiovanni« den unerreichten Gipfelpunkt der Tonkunst erblickte und in dem
sich Tomäsek mit Weber und Vitäsek Eins fühlte, bedeutete zu Ende des vorigen Jahr -
hunderts gewiß eine fortschrittliche Tendenz, er wurde aber nach der vollen Entfaltung
gewissermaßen offiziell bestätigt: in der Reihe seiner neuernannten Ehrenmitglieder finden
wir auch die Namen Berlioz und Liszt.
Neben Kittl, der die Mitwirkung des Conservatoriumorchesters in den Concerten
Berlioz' durchgesetzt, hatte einen großen Antheil an den glänzenden Erfolgen jener ^age,
die auch Liszts Gegenwart verherrlichte, August Wilhelm Ambros. Der noch junge
Justizbeamte (geboren am 17. November 1816 zu Mauth, nicht weit von Pilsen), der
sich unter den Prager Musikern bereits eine Stellung zu sichern vermocht hatte und al»
Beethovens zum Konservatismus mit der Zeit sogar zu einer beklagenswerthen Reactivn,
welche die jüngere Künstlergeneration zur Opposition drängte. Den Umschwung förderte
der Directionswechsel am Conservatorium, indem D. Weber durch Kittl ersetzt wurde, der
sich zu den Romantikern hingezogen fühlte. Schon 1846 spielte Prag die Rolle einer —
Berliozstadt. Der Enthusiasmus, mit dem die Prager die sechs Concerte des französischen
Meisters aufnahmen, wurde im folgenden Jahre von Seite des Conservatoriums selbst
Simon Sechter.
42
„Flamin" mit dem Kreise der „Davidsbündlcr" in Verkehr stand, ergriff nämlich mit
Feuereifer die Gelegenheit, als beredter Anwalt des kühnen Neuerers aufzutreten. Ambros
war übrigens auch ein wohlgeschnlter, ernste Ziele verfolgender Componist; zu voller
Geltung kam aber sein künstlerischer Feinsinn in Verbindung mit einem reichen, vielseitigen
Wissen und einem phänomenalen Gedächtnis) auf literarischem Gebiete. Er führte sich als
Musikgelehrter 1856 durch die geistvolle ästhetische Studie „die Grenzen der Musik und
Poesie" ein und schwang sich durch die drei Bände seiner leider unvollendeten „Geschichte
der Musik" (1861 bis 1878) zu einem Musikhistoriker ersten Ranges empor, der sich
namentlich um die Würdigung der Niederländer und Palästrina's ein unvergängliches
Verdienst erworben hat. Der Staatsdienst, den Ambros nicht verließ, gewährte ihm
glücklicher Weise so viel Muße, daß er auch noch als Professor der Musikgeschichte an
der Prager Universität und an den Conservatorien von Prag und Wien wirken konnte.
In Wien, wohin er 1872 zur Dienstleistung im Justizministerium und zugleich als Lehrer
weiland des Kronprinzen Rudolf berufen wurde, starb er am 28. Juli 1876.
Ein Brennpunkt ernster künstlerischer Bestrebungen in fortschrittlichem Sinne war
der 1840 von Anton Apt (1815 bis 1887) begründete und durch ein volles Vierteljahr -
hundert mit unermüdetem Eifer geleitete „Cäcilienverein", der zunächst für Chorgesang
und Kammermusik bestimmt war, bald aber über ein eigenes Orchester verfügte, so daß er
— nebst dem elastischen Repertoire und Compositionen einheimischer Autoren — mit der
Zeit nicht nur die großen Chorwerke Mendelssohns und Schumanns pflegen, sondern
auch zu Beginn der Fünfziger-Jahre durch erfolgreiche Vorführung von Bruchstücken
ans Richard Wagners Opern dem großen Reformator den Weg auf die Prager Bühne
bahnen konnte. Dem Chorgesaug leistete noch ein anderer, fast gleichzeitig von Johann
Alois Jelen (1801 bis 1857) ins Leben gerufener Verein, die (heute nur noch als
Musikschule bestehende) „Sophienakademie" die besten Dienste. Dem Gründer derselben,
einem trefflichen Dirigenten, gebührt auch das Verdienst, den Pragern zum erstenmal
(1842) Beethovens „Neunte" vorgeführt zu haben. So wie Apt und Jelen war auch der
Componist Wenzel Heinrich Veit nicht Berufsmusiker, sondern Beamter: er starb
1864 als Kreisgerichtspräsident in Leitmeritz, in dessen Nähe er 1806 geboren war. Veit
gehört in diese Gruppe, da auch er durch die Romantiker beeinflußt wurde und nebst
Jnstrumentalwerken (namentlich guter Kammermusik) zahlreiche wirkungsvolle Chöre und
Lieder geschaffen hat.
In der „Sophienakademie" und zum Theile im „Cäcilienverein" war es auch, wo
der böhmische Gesang zuerst eine ernste concertmäßige Pflege fand. Der erste, der
(1800) mit einem gedruckten Hefte böhmischer Lieder auftrat, ist der uns bereits bekannte
Rozmitaler Schullehrer Ryba gewesen. Es war dies ein sehr bescheidener Anfang — aber
43
1812 folgte der in Wien lebende Pianist Johann Ein. Dolezälek nach und 1813 nahm
sich der Sache auch Meister Tomäsek an, indem er nach seinem eigenen Geständniß „um
seine Muttersprache nicht ganz und gar zu vergessen" und aus Pflichtgefühl für dieselbe,
sechs böhmische Lieder herausgab, denen später noch einige weitere nachfolgten.
Bald begannen jüngere Musiker, wie Franz Skroup und Jelen, auch böhmische Männer -
quartette zn componiren, und die gleichzeitigen Erfolge der ersten Opernvorstellungen in
böhmischer Sprache wirkten so anregend und aufmunternd, daß sich nun der Kreis der
August Wilhelm Ambros.
Gesangscomponisten durch Dilettanten und Künstler zusehends erweiterte und zu den
eben Genannten namentlich noch Franz Knize, Josef Vorel, W. E. Horäk, Kittl, Beit re.
hinznkamen, als jene beiden Concertinstitnte ihre Thätigkeit begonnen hatten. Auch hatten
bereits 1825 die von Rittersberg veröffentlichten 300 böhmischen Volksweisen, noch
mehr aber des Prämonstratensers I. P. Martinovskh seit 1844 erscheinende, bald
populär gewordene Klavierausgabe eines Theiles der Erben'schen Volkslieder-Sammlnng
die Aufmerksamkeit und das Interesse auf einen Schatz gelenkt, dessen künstlerische
Hebung und Verwerthung iudeß noch Zeit brauchte, wenn auch schon gegen Ende dieser
44
Übergangs- und Vorbereitungsperiode, namentlich durch den trefflichen Pädagogen und
fleißigen Schriftsteller Josef Leopold Zvonar (1824 bis 1865) so Manches für die
bessere Erkenntnis; und Würdigung desselben geschehen war. Alles dies stand natürlich im
engsten Zusammenhang mit der ganzen literarischen Bewegung jener Tage, daher auch
der Blick in die Vergangenheit, den schon 1815 Martinovskh's gelehrter Ordensbruder
Gottfried Johann Dlabac (1758 bis 1820) mit seinem „Allgemeinen historischen
Künstlerlexikon für Böhmen, zum Theil auch für Mähren und Schlesien" seiner Nation
eröffnet hatte, einen nicht zu unterschätzenden nachhaltigen Einfluß auf die böhmischen
Tonkünstler ausübte. War doch Dlabac selbst nicht blos als einer der ältesten Vorkämpfer
für böhmische Sprache und Literatur, sondern auch als praktischer Musiker (langjähriger
Regenschori des Strahover Stiftes) angesehen, und sein mit Unterstützung der böhmischen
Stände herausgegebenes „Künstlerlexikon" ist in der That ein auf der emsigsten Quellen -
arbeit beruhendes monumentales Werk, das auch heute noch dem Fachmann die besten
Dienste leistet.
Die beiden Elemente aber, deren Durchdringung das Entstehen einer böhmischen
Musik als nationaler Kunst bedingte, lagen in den Vierziger- und Fünfziger-Jahren
noch gänzlich auseinander. Die hervorragenderen unter den tonangebenden Musikern
kennzeichnete zwar einerseits ein gewisser moderner fortschrittsfrenndlicher Zug, während sie
sich andererseits mächtig hingezogen fühlten zu dem Volksliede, von dessen großer Bedeu -
tung für die künftige böhmische Musik sie fest überzeugt waren; doch wurden die Volks -
weisen entweder in ihrer ganzen Schlichtheit mit mehr oder weniger Glück einfach nur
nachgeahmt oder man benützte die Originale zu Transscriptionen, Potpourris, Variationen,
man harmonisirte sie für den Chorgesang — und damit war die Sache abgethan. Den
wahren Geist derselben, ihren tiefinnersten musikalischen Charakter zu erfassen und auch in
den höchsten Kunstsormen organisch zu voller Geltung zu bringen, also das Volksthümliche
zum Nationalen zu erheben, vermochte man noch nicht. Zur Bewältigung dieser großen
Aufgabe mangelte es vorläufig nicht nur an dem geeigneten schassenden Künstler, es fehlten
auch so manche unerläßliche äußere Bedingungen des Gelingens. Diese letzteren erfüllten
sich erst im Anfang der Sechziger-Jahre, glücklicherweise sozusagen in demselben Augenblick,
in welchem der berufene Mann in der vollen Reife seiner Kunst den Schauplatz betrat.
Zunächst wurden alle Culturbestrebnngen des böhmischen Volkes in erfreulicher
Weise belebt durch den Beginn des verfassungsmäßigen Lebens nach dem 20. October
1860: das sich frisch entfaltende Vereinswesen fand eifrige Unterstützung in der auf -
strebenden Tagespresse, ja die künstlerischen Interessen durften nun ans werkthätige
Förderung selbst von Seite der politischen Factoren rechnen. Der erste Schritt ans der
neuen Bahn war die 1861 erfolgte Gründung des Zllnlloll-, Bereits 1859 war ein
45
von Ed. Tauwitz geleiteter „Männergesangverein" ins Leben getreten, der nach einer-
kurzen utraquistischen Durchgangsperiode sich bald in zwei Vereine spaltete: den noch
heute bestehenden „Deutschen Mannergesangverein" und die böhmische „Beseda", welche
jedoch in der Concurrenz mit dem unterdessen — vorzüglich auf Betreiben des Opern -
sängers Johann Lukes — gegründeten „lliallol" nicht bestehen konnte und in den
Siebziger-Jahren einging. Der ,H1allc>1« aber entwickelte sich rasch, namentlich unter der
kunsteifrigen Direction Karl Bendls (1865 bis 1877) zum mächtigsten und bestgeschulten
Vocalkörper Prags, der bald nachher, unter Kittls Leitung zu einem gemischten Chor-
erweitert, mit Glück selbst an die schwierigsten Aufgaben, Beethovens v-äur-Messe und
Berlioz' Requiem herantreten konnte. Daß die seit der Gründung des Prager
von zahllosen (meist gleichbenannten) Vereinen wie in der Hauptstadt, so im ganzen
Lande eifrigst betriebene Pflege des böhmischen Chorgesanges die beste Wirkung auf die
musikalische Production in diesem Gebiete üben mußte, versteht sich von selbst. Eine
mächtige Anregung ging übrigens um diese Zeit von Mähren aus. Der Brünner
Augustinermönch Paul Krlzkovsky verstand es wie keiner zuvor, den vierstimmigen
Satz mit volksthümlichem Geiste zu durchdrungen und so nicht nur den Chorgesang im
nationalen Sinne zu fördern, sondern auch weiteren, höheren Kunstbestrebungen dieser
Art die Bahn zu ebnen. Unter den zahlreichen böhmischen Chorcomponisten nahm bald
Karl Bendl (geboren 1838 in Prag und an der Organistenschule daselbst musikalisch
ausgebildet) die erste Stelle eiu; auch eine Reihe größerer Chorwerke mit Orchester,
sowie zahlreiche vielgesungene Lieder hat er geschaffen.
Die zweite — und wie die Folge lehrte, jedenfalls folgenreichste — Etappe war
die Eröffnung des böhmischen Jnterimtheaters am 18. October 1862 und die
bald darauf erfolgte völlige Trennung desselben vom deutschen Landestheater. Das seit
den Vierziger-Jahren datirende Streben nach einem böhmischen Nationaltheater war
damit zwar noch keineswegs dem Ziele zugeführt, allein eine ausgiebige Förderung wurde
dieser Idee in dem neuen bescheidenen Hause am Franzensquai doch zu Theil: allmülig
wuchsen und reiften die künstlerischen Mittel des Theaters und sein (mit dem „Wasser -
träger" inaugurirtes, doch rasch einerseits bei der modernen großen Oper psrankreichv,
andererseits bei Gluck und Mozart angelangtes) Repertoire wuchs und allmälig reiste
auch das Publikum. Zu einem wirksamen Vermittlungsorgan zwischen dem böhmischen
Publikum und seinen Künstlern gestaltete sich sodann gleich in den ersten Jahren ihres
Bestehens (seit 1863) die „vinsleekü Lsssäa", ein Verein, der Schriftsteller, bildende
Künstler und Musiker umfaßt und schon 1864 durch Aufführungen von Liszts „Elisabeth"
und Berlioz' „Romeo und Julie" (gelegentlich der Shakespearefeier) einen erheblichen
Einfluß auf den musikalischen Geschmack in fortschrittlichem Sinne nahm und überhaupt
46
im Laufe der Jahre vor Allem durch seine mannigfaltigen oft geradezu gediegenen Concert-
unternehmungen: Orchesteraufführungen, Ooneerts spiritusls, Kammermusikproductionen,
historische und populäre Concerte, nicht nur selbst das Prager Musikleben belebte, sondern
auch andere Factoren nach den verschiedensten Richtungen hin anregte.
Es kvnnte allerdings nicht ausbleiben, daß die Trennung der beiden Landestheatcr,
die eine Verdoppelung des bisherigen Einen Institutes bedeutete, sowie die sprachliche
Spaltung mancher kunstpflegender Vereine im ersten Augenblick als eine Zersplitterung
der Kräfte, daher auch als Schwächung der künstlerischen Interessen sich darstellte und
bei so manchem ernsten Musikfreunde nicht geringe Bedenken erregte. Allein es war eine
unvermeidliche Übergangskrisis, die überwunden werden mußte. Eine heilsame, alle Kräfte
anspannende Concurrenz führte bald zur Belebung und Steigerung des Prager Musik -
lebens und zu seiner Bereicherung durch neue Elemente. Daß dies in erster Linie der
böhmischen Nation zu Gute kam, deren Kunstinteressen sich in Prag concentriren, liegt
in der Natur der ethnographischen Verhältnisse Böhmens und seiner Hauptstadt; doch
haben wohl auch die deutschen Kunstinteressen mit der Zeit aus jener Trennung und der
daraus folgenden nationalen Verselbständigung mehr Vortheil gezogen als Schaden
erlitten. Das deutsche Concertwesen — von den gemeinsamen neutralen Instituten und
Unternehmungen natürlich ganz abgesehen — hat im Vergleich mit dem Beginn der
Sechziger-Jahre einen entschiedenen Fortschritt zu verzeichnen: zu dem Männergesang-
verein hat sich, um nur die namhafteren Factoren zu nennen, die „Liedertafel deutscher
Studenten", der (aus dem ursprünglich utraquistischen St. Veitsverein hervorgegangene)
gemischte Chor des „Singvereins" gesellt und schließlich gehört auch der blühende
Kammermusikverein hierher, der nach außen zwar den Utraquismus wahrt, aber nach
innen doch überwiegend deutsch ist. Für die deutsche Oper ist die Concurrenz der beiden
Landestheater wiederholt ebenso zum wohlthätigen Sporn geworden wie der böhmischen,
und wenn auch der mächtige, fördernde Einfluß, welchen die letztere auf das Schaffen der
einheimischen Tonkünstler seit drei Jahrzehnten übt, kein entsprechendes Gegenstück in der
Wirksamkeit des deutschen Schwesterinstitntes findet, so kann dieses doch niit Genugthuung
auf die Vorführung der späteren Werke Richard Wagners — der „Meistersinger" (1871),
des „Nibelnngenringes" (1885 bis 1887) und des „Tristan" (1887) — Hinweisen als
auf eine für das ganze musikalische Prag hochbedeutende und denkwürdige, daher unter
allen Umständen verdienstvolle künstlerische That.
Die neue Situation zu Beginn der Sechziger-Jahre mit ihrem augenblicklichen
Thatendrang und ihrer Sangeslust, aber auch in ihrer ganzen weittragenden Bedeutung
für die weiteren nationalen Kunstbestrebungen der Böhmen mit genialem Blick richtig
erkannt und — noch mehr — sie sogleich in jeder Richtung erfolgreich ausgenützt zu haben,
47
ist das unvergängliche Verdienst Friedrich Smetana's. Er verließ 1861 eine ehren -
volle Stellung als Director der philharmonischen Gesellschaft in Gothenburg (Schweden),
nm fortan sein ganzes künstlerisches Streben und Können der vaterländischen Tonkunst
zu widmen. In Prag begann er eine vielseitige unermüdliche Thätigkeit zu entwickeln:
als Chormeister des „Ulnllol" und Cvncertdirigent der „Umöleeüü Lasackn", als
Pianist und Lehrer, als Kritiker und Componist. Schon im Frühjahr 1863 war seine
Oper »Urnnibori v Oaekinell" (Die Brandenburger in Böhmen) fertig, aber nahezu
drei Jahre dauerte es, bis sie sich den Weg auf die Bühne des Jnterimstheaters erkämpfte.
Die Theaterleitung begünstigte das später entstandene Werk eines jüngeren Componisten
und gewährte ihm den Vortritt; so kam es denn, daß die /leinpläri nn iUornva-
(Templer in Mähren) von Karl Sebor (geboren 1843 in Brandeis an der Elbe) die
Reihe der böhmischen Originalopern am 19. November 1865 eröffneten. Der äußere
Erfolg der Oper war ein glänzender, allein in musikalischen Kreisen bedauerte man
sogleich, daß der ungewöhnlich begabte und temperamentvolle, am Konservatorium
gebildete Autor derselben ein den packenden Effecten Meyerbeers und Verdi's nachgehender
Eklektiker ohne entschiedene Stilrichtung sei. Und das mußte im Ganzen und Großen
auch gegenüber Sebors weiteren rasch aufeinanderfolgenden Opern „Urullonnra/,
»Husitsüü nbvastn" (Die Husitenbraut) und »Llnnkn" constatirt werden; nach Jahren
machte dann der übrigens auch auf instrumentalem Gebiete vielfach thütige Componist
mit seiner „^innrsnä svslbn" (Die vereitelte Hochzeit, 1879) den Versuch, die Bahnen
der unterdessen von Smetana geschaffenen komischen Volksoper zu beschreiten.
Am 5. Januar 1866 gelangten endlich Smetana's ,8rnnibori« zur Aufführung.
Die mit unbeschreiblicher Begeisterung aufgenommene Premiere bedeutet einen Markstein in
der Geschichte der böhmischen Musik; sofvrt drängte sich Jedem der Gedanke auf und wurde
auch öffentlich ausgesprochen: dies sei der Künstler, der berufen ist „den Grundstein
zu dem Gebäude zu legen, welches dereinst unter dem Namen der böhmischen Oper
bekannt werden wird." Friedrich Smetana stand damals bereits im reifen Mannes -
alter; er war am 2. März 1824 in Leitomischl als Sohn eines Bräuers geboren.
Schon mit fünf Jahren spielte das Wunderkind die Primgeige in Quartetten und erntete
1830 seine ersten Lorbeeren als Pianist in einem Festconeert, mit welchem seine Vater -
stadt den Namenstag des Monarchen feierte. Neben seinen Gymnasialstudien, die ihn in
verschiedene Städte, zuletzt nach Pilsen, führten, trieb der junge Smetana mit steigender
Leidenschaft Musik, bis es ihm endlich — allerdings nicht ohne harten Kampf mit
den Wünschen des Vaters — gelang, die Kunst zu seinem Lebensberufe zu machen. Mit
zwanzig Gulden in der Tasche und kühnen Plänen im Kopfe kam er ini Herbst 1843 nach
Prag, ohne jede Unterstützung vom Hause, lediglich auf den Verdienst als Pianist und
48
Lehrer angewiesen. Doch schon nach einigen allerdings entbchrnngsvollen Monaten erhielt
er eine Stelle als Musiklehrer im Hause des Grafen Leopold Thun. Nun konnte er nicht
blos als Pianist sich sorglos weiter ansbilden, sondern auch — als Privatschüler Prokschs
— eingehende theoretische Studien machen, deren Früchte sich alsbald in Gestalt einer
Claviersonate zeigten.
Die Prager musikalischen Ereignisse und Bestrebungen der Vierziger-Jahre, wie
wir sie oben kennen gelernt haben, machten zunächst den empfänglichen jungen Künstler
zu einem unentwegten Fortschrittsmann für alle Zukunft, sein höchster Wunsch aber, den
von ihm über Alles verehrten Liszt seinen Lehrer nennen zu dürfen, konnte allerdings erst
in Erfüllung gehen, da er nach vier Jahren das Haus des Grafen Thun verlassen hatte,
um eine eigene Clavierschule zu eröffnen. Er brachte einige Zeit in Weimar zu und erhielt
von dem Meister die künstlerische Weihe ebenso als Pianist — eine außerordentliche Zart -
heit und Weichheit des technisch vollendeten und stets klaren Vortrags machte Smetana
namentlich zu einem ausgezeichneten Chopinspieler — wie als schaffender Künstler. Das
Letztere zeigte sich vorläufig in seinen Claviercompositionen, die überdies auch noch einen
anderweitigen Einfluß der Vierziger-Jahre verrathen: der Blick Smetana's war auf die
Volksmusik gelenkt, und wie sich unter seinen Erstlingswerken Phantasien und Variationen
über böhmische Volksweisen finden, so ist es in der Folge eine Reihe von brillanten und
feinfühligen, delicaten Polkas, die den böhmischen Tanz in ähnlicher Weise künstlerisch zu
verwerthen begannen, wie es Chopin mit dem polnischen gethan hat. Schon dies war,
wenn auch noch auf eng begrenztem Gebiete ein vielsagender Fortschritt in der Entwicklung
der böhmischen Musik. Doch war Smetana bereits 1849 mit einer „Jnbelouverture",
1855 mit einer — ursprünglich zur Feier der Vermählung des Kaiserpaares geschriebenen
und zum guten Theil auf der Haydn'schen Volkshymne beruhenden — „Triumph -
symphonie" und im selben Jahre noch mit einem Claviertrio vor die Öffentlichkeit getreten.
Auch der Verdienste Smetana's um die Pflege der Kammermusik in Prag sei hier gedacht;
der musikliebende Kaiser Ferdinand selbst, dessen Vorspieler damals Smetana war, beehrte
eine private Musikaufführung desselben mit seiner Gegenwart.
Durch drei interessante, lebensvolle symphonische Dichtungen: „Richard III.",
„Wallensteins Lager" und „Hakon Jarl", welche während der fünf in Gothenburg
zugebrachten Jahre (1856 bis 1861) entstanden waren, hat sich der Autor ganz entschieden
als Angehöriger des Weimarer Kreises bekannt, doch ohne noch die in seinen Clavier -
compositionen bereits zu Tage tretende nationale Färbung auf das orchestrale Gebiet zu
übertragen. Die Vocalmusik war ihm bis dahin so gut wie ganz ferne gelegen; sein erstes
bedeutenderes Gesangstück ist ein unter dem Eindruck von Krizkovsky's Männerquartetten
1862 für den Prager .Hialiol" geschriebener Chor ,Tri jerckoi- (Die drei Reiter),
49
dcm später einige weitere folgten, eigentlich das erste Zeichen der neuen Strömung, in
welche Smetana nach seiner Rückkehr aus Schweden gerathen war. Die gleichzeitig
entstandene Oper »Urarllbori v Osalläell" erscheint aber geradezu als die Synthese aller
bisher getrennten Elemente seiner künstlerischen Thätigkeit und Individualität. Der
Schüler Liszts konnte nicht anders als ein Anhänger Richard Wagners sein, der böhmische
Musiker aber, der die Lieder seines Volkes im Herzen trug und auch bereits die Polka
künstlerisch zu idealisiren wußte, vermochte selbst das Opernorchester mit nationalem
Geiste zu durchdringen und namentlich Chören und Tänzen ein packendes volksthiimliches
Colorit zu verleihen. Die „Lrarnbori- sind weit entfernt, das Ziel zu bedeuten, welches
Smetana sich gesteckt hat, sie sind vielmehr der Ausgangspunkt seines operistischen
Schaffens gewesen, aber die Partitur derselben, welche nicht einen Anfänger, sondern
einen selbstbewußten, alle Kunstmittel beherrschenden Meister verrieth, enthielt doch
bereits die wesentlichen Keime aller seiner nachfolgenden dramatischen Werke. Zunächst
kam das volksthümliche Element zur vollsten Geltung in der wenige Monate nach den
„Lranibori" gegebenen »Urockanä n6V68ta/ (Die verkaufte Braut). Die Absicht des
Componisten, ans den anspruchslosen Text Sabina's eine Operette leichteren Stils zu
schreiben, schlug fehl: es entstand eine köstlich frische und muntere komische Oper von
üppiger musikalischer Erfindung und ausgeprägter nationaler Eigenart — allerdings
mit gesprochenem Dialog, der nach Jahren erst durch Recitative ersetzt wurde — und
man kann wohl sagen: es entstand das populärste Werk der modernen böhmischen
Kunst überhaupt. Bereits weit über 200 Aufführungen hat die ^Urockarm uovösta," nur
auf der Prager böhmischen Bühne aufzuweisen. Doch gerade dieser Erfolg sollte dem
Meister bald verhüngnißvoll werden: seine nächste Oper,vaiibor« (1868), ein Werk
von tragisch-ernster Stimmung, wurde mit dem Maßstabe der „Urockana nevösta-
gemessen und als Abfall von der durch Smetana selbst geschaffenen nationalen Musik
zum „Wagnerianismus" verurtheilt! Angesichts dieses an „valibor" verübten Unrechtes
wurde von Seiten der Freunde Smetana's vergeblich darauf hingewiesen, die Oper sei
einerseits böhmischer, andererseits aber (etwa abgesehen von einer wirksameren, durch -
greifenderen Ausnützung der Leitmotive) um nichts wagnerischer, als es die mit
allgemeiner Begeisterung aufgenommenen ,Urarübori" gewesen: erst nach achtzehn Jahren,
als der Schöpfer des „vaiibor« schon todt war, löste ein glänzender Erfolg im National -
theater den Bann.
Im Stil seiner ersten Opern hatte Smetana Coneessionen an den herrschenden
Geschmack gemacht, um durch stufenweise Zurücknahme derselben in den nachfolgenden
Werken das Publikum allmälig auf seinen eigenen idealen Standpunkt zu heben.
Der Fortschritt, den er in diesem Sinne mit der 1872 vollendeten Zmbrma? gethan,
Böhmen. 4
50
konnte um so entschiedener sein, als sie von vornherein zum Festspiel bestimmt war,
also von allen Repertoirerücksichten frei bleiben durfte. In der That ging »llibnsa" bei der
Eröffnung des Nationaltheaters am 11. Juni 1881 in Gegenwart Seiner kaiserlichen
Hoheit weiland Kronprinz Rudolf zum erstenmal in Scene. Auch dieses Werk von edler
Haltung und feierlicher Stimmung wollte zwar Smetana nicht als sein letztes Wort
betrachtet wissen, aber soweit es ihm der Text erlaubte, schritt er, unbeschadet der specisisch
böhmischen Art seiner Musik, im Stil doch vielfach weiter über „Lohengrin" hinaus, als
andere Componisten zu Beginn der Siebziger-Jahre zu wagen pflegten. Zwischen die
Vollendung und die Ausführung der fallen die drei komischen Opern „vvo
vckov^- (Zwei Witwen, 1874), ,Hudieira- (Der Kuß, 1876) und „Dajsmstvl« (Das
Geheimniß, 1878). Die erste lehnt sich in ihrem feinen Conversationston an die französische
Spieloper an, erhielt jedoch später ebenfalls Recitative statt des gesprochenen Dialogs,
die beiden anderen durchcomponirten bedeuten aber einen unverkennbaren Fortschritt
auf dem Wege zum Musikdrama komischer Richtung, doch unter vollkommener Wahrung
des in der „?roäanü rmvssta" gewonnenen nationalen Wesens. So ist denn auch nächst
dieser letzteren unstreitig »UniEn« — deren reizender Gemüthssrische es niemand
anhört, daß der Meister, als er sie schuf, bereits vollkommen taub war — wohl das
populärste Bühnenwerk Smetanas: als seine höchste Leistung in der komischen Oper
muß aber ,4aj6M8tvi", namentlich seines groß angelegten und prächtig ausgeführten ersten
Actes halber bezeichnet werden. Übrigens ist auch die Musik zu der 1882 aufgeführten
komischen Zauberoper »Üertovä Mona« (Die Teufelsmauer) ein des Meisters durchaus
würdiges Werk.
Wenn sich Smetana in seinem dramatischen Schaffen nicht selten durch Rücksichten
ans die Theaterverhältnisse oder durch Schwächen seiner Texte beengt und beschränkt fühlen
mußte, so bewegte er sich um so freier, um so rücksichtsloser auf instrumentalem Gebiete.
Aber erst nach einer mehr als dreizehnjährigen Pause (seit „Hakon Jarl") begann er —
von Gelegenheitscompositionen, wie zum Beispiel einem schwungvollen Festmarsch
zur Shakespeare-Feier, abgesehen — sich wieder mit Orchesterwerken großen Stils
zu befassen und schuf 1874 bis 1879 in dem vlast- (Mein Vaterland) betitelten
Cyklus von sechs symphonischen Dichtungen ein Meisterwerk von ausgeprägtem individuellen
und nationalen Charakter, das allein genügen würde, ihm einen Ehrenplatz unter
den ersten Tondichtern unserer Zeit zu sichern. Die vollendete Form, die farbenreiche
musikalische Charakteristik, die mächtige Steigerung und der harmonische Abschluß des
Ganzen zeigt uns den Genius Smetanas auf der Höhe seiner Kunst. Das einleitende
Stück, »V^sollraä" ist gleichsam der Gesang des begeisterten Rhapsoden, der den alten
Fürstensitz in seinem vollen Glanze von Sage und Geschichte der Phantasie vorzaubert;
51
darauf folgen die frisch dahin strömende ^Vllnvn" (Moldau), die pathetische ,8nrkm°
(eine Amazonengestalt aus dem Mädchenkrieg), das romantisch angehauchte Stimmungs -
bild ,2 esskfelr Intin g. linjü" (Aus Böhmens Hain und Flur), dann „Tabor", eine
gewaltige polyphone Phantasie über das Schlachtlied der Husiten, und unmittelbar daran
sich anschließend das siegesfreudige letzte Stück Manila (Name des Berges, dessen
Inneres die zur Rettung des Volkes in seiner größten Noth berufene Ritterschaft birgt)
als Verherrlichung der Wiedergeburt der böhmischen Nation in einer jubelnden Wiederkehr
Friedrich Smetana.
des einleitenden Rhapsodenthemas aus dem »V^ssbrnä" ausklingend. Diesem groß
angelegten orchestralen Cyklus steht das herrliche Streichquartett »2 rnsbo LIvota"
(Aus meinem Leben) ebenbürtig zur Seite, in welchem Smetana (1876) die musikalische
Summe seiner persönlichen Schicksale zog: fesselnd durch den gediegenen Kammerstil,
ergreifend durch das zu Grunde liegende Programm. Unter den Claviercompositionen
ans den Meisterjahren des Künstlers mögen die ,Höv68° und die „Böhmischen Tänze"
besonders hervorgehoben werden.
Der Bericht über Smetanas äußere Lebensumstände kann, so inhaltsschwer derselbe
ist, mit wenigen Worten beschlossen werden. Nach dem Erfolge der „Trockniiä nevestn"
4»
"VSLU!«
käu-.' ... «<u««r
vv ! L
52
wurde er 1866 Kapellmeister der böhmischen Oper und blieb in dieser Stellung bis zum
Eintritt seiner Physischen Unfähigkeit zum Dirigiren.Die symphonische Dichtung, VMllrnä«
wurde unter den Qualen eines nervösen Gehörleidens beendet, das in kürzester Zeit, noch
vor Vollendung der ,VItnv-r« (Ende 1874) zur völligen, unheilbaren Taubheit wurde.
Der rastlose Künstler fuhr jedoch während der nun folgenden Jahre der Muße im Schaffen
mit dem besten Erfolge fort, bis endlich ein 1883 entstandenes neues Streichquartett den
plötzlichen rapiden Verfall der geistigen Kräfte offenbarte. Vom Wahnsinn, in den er nun
verfiel, befreite ihn bald der Tod: am 12. Mai 1884 starb in der Prager Irrenanstalt
Friedrich Smetana, der Begründer der modernen böhmischen Tonkunst, einer der besten
Söhne seines Volkes.
Den Weg ins Ausland vermochten sich nur einzelne Werke des größten böhmischen
Tondichters der Neuzeit zu bahnen, so lange er noch lebte. „Ui-oäana, novöstn" wurde
1870 in Petersburg und 1873 in Agrani vom Publikum günstig ausgenommen, von der
russischen Kritik aber völlig verkannt. Über Anregung Ludwig Prochazka's (ans
Klattau, 1837 bis 1887), eines vortrefflichen Pianisten und Clavierlehrers, der seinerzeit
sich große Verdienste um das gesammte Musikleben Prags erworben und später in
Hamburg und Dresden viel für die Verbreitung böhmischer Musik gethan hat, führte
sodann 1881 das Hamburger Stadttheater Smetana's „Zwei Witwen" auf, und allgemein
begegnete man dem Componisten mit der größten, einem Meister seiner Kunst gebührenden
Achtung. Von seinen Jnstrumentalwerken wurden auswärts nebst der (meist als „Lustspiel-
ouvertnre bezeichnten) Ouvertüre zur „Brockaus, nsvostn" die symphonische Dichtung
„Vltnvn- und das Streichquartett „Aus meinem Leben" am häufigsten gespielt und
rückhaltslos gewürdigt.
Zur werkthütigen Nachfolge reizte Smetana die böhmischen Componisten vor Allem
durch den glücklichen Griff ins Dorsleben, den er mit der „?iocknnä novtzskn" gethan.
Zunächst entstanden auf diesem Gebiete freilich meist bescheidene Werke, die zwar den
volksthümlichen Ton erstrebten, aber mehr oder weniger zwischen Oper und Operette
schwankten: Wilhelm Blodek machte 1867 mit dem übrigens frischen Einacter „V stnckiri«
(Im Brunnen) den Anfang, dann folgten Rozkosny und Ad. Hrtmaly. Erst 1874,
also acht >zahre nach der „lNockunä novostu", erschien Dvorak mit einer musikalisch
gehaltvollen komischen Oper ,Lrül a ulllir- (König und Köhler). Auf die dramatische Musik
ernster Richtung wirkte dagegen das Beispiel Smetana's vorläufig noch nicht, vielmehr
steuerte sie kühn ans die conventionelle „große Oper" los. Nebst dem bereits erwähnten
Sebor trug auch Skuhersky mit einigen Opern znm Repertoire bei; einen bedeutenden
Erfolg erzielte aber 1868 Karl Bendls »llchlu", welche die weiche Melodie der Epigonen
Mendelssohn's mit dem Opernapparate Meyerbeer's zu verbinden strebte, zugleich aber
53
nächst Smetana den verhältnißmäßig reifsten und individuellsten Musiker verrietst, der sich
bis dahin der böhmischen Oper gewidmet hat. »lässig," fand demnach im Publikum große
und nachhaltige Sympathien, während bald darauf desselben Autors »Lratisiav" abfiel;
später aber erfreuten sich die »Üornoliorai" (Die Montenegriner, 1881) wieder einer nicht
geringen Popularität und die komische Oper „Larei LLreta? (1883) sowie neuestens die
tragische »vitö luborn« (Das Taboriteukind, 1892) bezeugten die offenbare Absicht,
auf modernen Bahnen fortzuschreiten, zumal im Sinne ernster musikalischer Vertiefung und
detaillirterer Charakteristik. In den Siebziger-Jahren hat Bendl, dessen bleibende Verdienste
um den „H1uliol° und die böhmische Gesaugsliteratur bereits erwähnt wurden, auch eine
leichtgeschürzte komische Oper »8tur^ Leniell" (Der alte Freier) und eine Burleske
»Inciieirä prineoMg? (Die Prinzessin von Indien) geschrieben. Dieser Componisten-
gruppe gehört auch der oben genannte Jos. Richard Rozkosny (geboren 1832 in
Prag) an, dessen einigermaßen von Gounod'scher Lyrik beeinflußte romantische Oper
„Svntosniislrs xrouckx" (Die Johannisstromschnellen, 1871) bald zu einem beliebten
Repertoirestück wurde. Der Componist, der sich kurz zuvor durch den Einacter
(Der Nikolo) eingeführt hatte, war später mit zwei weiteren Opern weniger glücklich,
dagegen erzielte 1884 seine »kopellrn" (Aschenbrödel) einen ganz entschiedenen, durch -
schlagenden Erfolg.
Das Jahr 1874 brachte der böhmischen Oper zwei neue Componisten, die sich
übrigens beide schon zuvor auf anderen Tongebieten in einer Weise eingeführt hatten,
daß an der großen Rolle, die sie in Hinkunft neben und nach Smetana zu spielen berufen
waren, kaum mehr zu zweifeln war. Im April wurde nämlich „iönirovln-, den Zdenko
Fibich in seinem zwanzigsten Jahre geschrieben hatte, gegeben und nachdem er als
erfreuliche Legitimation eines unverkennbaren dramatischen Talents seine Schuldigkeit
gethan, allerdings nä nein gelegt. Anton Dvoräk's komische Oper ,I<räI g. uliiir"
aber, die im November zur ersten Aufführung gelangte, hatte eine interessante Vor -
geschichte: ihre ursprüngliche Musik erwies sich so unsangbar, daß der Autor inmitten
der Proben die Partitur zurückzog und statt mißmuthtg zu grollen, nach einigen Monaten
eine völlig neue Compositiou desselben nichts weniger als guten Textes einreichte, die
dann vom Publikum mit lautem Beifall ausgenommen und selbst nach Jahren noch im
Nationaltheater gegeben wurde. Dieser Act der Selbstbeherrschung ist bezeichnend für den
Thatendurst des Stürmers und Drängers, dessen eruptives Talent damals seiner all-
mäligen Klärung entgegenging.
Auch Dvorak öffnete sich die Künstlerlaufbahn erst nach hartnäckigen Kämpfen.
Am 2. September 1841 in Mühlhausen au der Elbe als Sohn eines Gastwirths und
Metzgers geboren, war er ursprünglich für denselben Beruf bestimmt, aber seine während
54
der Schuljahre (in seinem Geburtsort, in Zlonitz und in Böhmisch-Kamnitz) geweckten und
geförderten musikalischen Anlagen trugen schließlich den Sieg davon und die Prager
Organistenschnle, welcher er dann anvertraut wurde, verließ er 1860 als ein ungewöhnlich
begabter und tüchtig geschulter, vorläufig aber noch nicht mit sich einiger, gewaltig
gährender Absolvent. Ausschließlich auf sich selbst angewiesen, wurde er Bratschist zunächst
in Komzaks Civilkapelle, seit 1862 aber im böhmischen Theaterorchester, dessen Mitglied
er dann durch elf Jahre blieb. Von allen Seiten drängten sich nun dem außerordentlich
empfänglichen Kunstjünger die mannigfaltigsten Eindrücke auf, ohne daß er sie zu
bewältigen und in sich zu verarbeiten vermochte: ziellos ließ er sich damals noch von den
stürmischen Wogen tragen, — aber im Laufe der Jahre lernte er gar vortrefflich die
Ruder führen, indem er fleißig Quartette und Symphonien schrieb, die nicht gespielt
wurden, und sogar eine (deutsche) Oper „Alfred" componirte, die nie das Licht der Lampen
erblickte. Endlich trat 1873 die entscheidende Wendung ein: in einem „HInllol"-Concert
errang Dvorak mit dem „Hymnus", einem Chorwerke von elementarer Gewalt, einen so
stürmischen Erfolg, wie ihn das Prager Musikleben nur selten verzeichnet, und wurde
vom Publikum wie von der Kritik sogleich den Besten zur Seite gestellt. Hochgespannt
waren die Erwartungen — sie blieben nicht unerfüllt. Nach der günstigen Aufnahme, die
sein ,LräI n nllUr" gefunden, machte er sich an die Composition des Einacters „llvräö
palies" (Die Dickschädel), der aber erst nach Jahren (1881) zur Aufführung gelangte,
nachdem ihm im Frühjahr 1876 ein interessantes Werk ernster Gattung, ,Vanän« und
anfangs 1878 eine (seitdem auch in Dresden und Wien gegebene) komische Oper ,8olmn
secklnü« (Der Bauer ein Schelm) zuvorgekommen war, welche letztere in ihrer lebens -
frischen, temperamentsvollen Musik eine entschiedene Einwirkung der nationalen Richtung
Smetanas zeigt, so daß Dvorak in der That auf diesem speciellen Gebiete dem Schöpfer
der ,?i'ocknnn novöstn/ und der „Unding," näher steht als irgend ein anderer
böhmischer Componist. Im übrigen aber hat er als Dramatiker das Werk Smetanas nicht
fortgesetzt; denn wenn auch in den früheren Partituren Dvoräks Spuren von modernen,
selbst Wagner'schen Einflüssen nicht zu verkennen sind, so stellte er sich doch mit dem
1882 zum ersten Male ausgeführten ,vimilrij" (Demetrius), einem musikalisch reich
ausgestatteten, pompösen Werke, auf den Boden der „großen Oper" herkömmlichen Stils,
wie er denn überhaupt nach Überwindung jener oben gekennzeichneten Sturm- und
Drangperiode conservative Bahnen einschlug. Das letzte Bühnenwerk Dvoräks gehört
abermals der komischen Gattung an; es heißt „cknkobin" (Der Jakobiner, 1889).
So Vortreffliches im Einzelnen auch die Opern Dvoräks enthalten, die stets mit
den größten Sympathien empfangen wurden und der Mehrzahl nach im Repertoire der
böhmischen Bühne festen Fuß gefaßt haben, so ist doch die wahre künstlerische Bedeutung
55
dieses Meisters in der Instrumentalmusik zu suchen. Dvorak ist eben ein absoluter
Musiker, dessen geniale Phantasie ihre schönsten Gaben dort bietet, wo sie sich vollkommen
frei weiß von Rücksichten ans das dichterische Wort und einzig aus den überquellenden
Tiefen ihrer eigenen Tonwelt schöpfen darf. Daher die unverwüstliche Lebendigkeit und
Beweglichkeit des Rhythmus und der natürliche, stets ungezwungene Fluß der Melodie;
dazu kommt als willkommene Frucht langjähriger Übung und Erfahrung eine spielende
Beherrschung des üppigen Stimmengewebes und eine anziehende Harmonie. Ein
Künstler dieser Art spricht sich allerdings am unmittelbarsten in der intimen Sphäre der
Kammermusik aus; unter den zahlreichen Werken dieser Gruppe sind namentlich mehrere
Streichquartette, sowie ein Sextett hervorzuheben, an die sich, gewissermaßen als Über -
gang zu den Orchestercompositionen, vor Allem zwei Serenaden schließen, die eine für
Streichorchester, die andere für Blasinstrumente. Als Symphoniker kann sich überdies
Dvorak — von dessen seit den Siebziger-Jahren geschaffenen Symphonien vier (U-änr,
v-cknr, v-nioll und 6-cknr) auch jenseits der Grenzen Böhmens sich Geltung zu verschaffen
gewußt haben — eines Vorzugs rühmen, der heutzutage bei absoluten Musikern selbst
von bedeutendem Rang nicht immer angetroffen wird: einer blühenden, der besten
Wirkung stets sicheren Instrumentation. Die Meister, deren Stil vorwiegend das Schaffen
Dvoraks bestimmt, sind wohl Beethoven, Schubert und Brahms, doch hat ihn einmal
auch das Beispiel Liszts angeregt zu drei „Slavischen Rhapsodien". Noch möge
der Ouvertüren gedacht werden; zu den zwei allbekannten, der „Husitslrä" (in welcher
nebst dem Wenzelsliede der Schlachtgesang der Husiten verwerthet ist) und „Mein
Heim" (eigentlich ein zu Samberks Volksstück ,1os. Las. ^«geschriebenes Vorspiel,
dessen thematisches Materiale der Melodie des von Tyl gedichteten Liedes ,Lcks ckoinov
inüj?" entnommen ist) haben sich neuestens drei weitere gesellt: „Natur" (Mainacht),
„Leben" (Böhmischer Carneval) und „Liebe" (Othello).
Das nationale Element, das in den meisten Kompositionen Dvoraks hervortritt, ist
nicht immer ein specifisch böhmisches wie bei Smetana, sondern spricht oft auch die
musikalische Eigenart anderer Slavenstümme aus, daher z. B. die vierhändigen Clavier-
compositionen, deren lebensfreudige Verve (1878) den Namen Dvoraks eigentlich in die
Welt gebracht und populär gemacht hat, ganz richtig als „Slavische Tänze" bezeichnet
sind, wenn auch selbstverständlich böhmische Weisen und Rhythmen darin vorherrschen.
Unter den Werken aber, welche der Künstler sonst noch für das ihm übrigens ferner
liegende Clavier geschrieben hat — auch ein Concert ist darunter, der Pendant zu einem
etwas älteren Violinconcert, sowie ein Ihrer kaiserlichen und königlichen Hoheit der Kron -
prinzessin Stephanie gewidmeter Cyklus „Aus dem Böhmerwald" — dürften wohl die
„Legenden" vermöge ihrer vornehmen Innigkeit die erste Stelle einnehmen.
56
Außerhalb Böhmen wurde das neue Leben, welches sich seit 1862 in den
böhmischen Musikkreisen regte, kaum beachtet. Nicht die rauschenden Prager Erfolge seiner
größeren Kompositionen waren es daher, welche die Blicke in der Fremde ans das Talent
Dvorak's lenkten, sondern der im Grunde genommen zufällige Umstand, daß er 1878 dem
Gesuche um Wiederverleihung eines Staatsstipendinms unter Anderem die kurz zuvor
erschienenen ,iUorg.v8kö clvos^pav)" (Mährische Duette) beilegte: dadurch wurden zunächst
Brahms und Hanslick für ihn gewonnen, und als dann Simrock in Berlin die „Slavischen
Tänze" als Gegenstück zu Brahms „Ungarischen Tänzen" bestellte, war Dvorak's Glück
begründet. Nirgends aber, außerhalb Böhmen, hat er soviel Sympathien gefunden als in
England. Einem 1883 in London aufgeführten, aber schon in den Siebziger-Jahren ent -
standenen schönen ,8tak)at water" hat er dies zu verdanken, das ohne Frage auch heute
noch zu seinen besten Schöpfungen gehört und, was musikalischen Gehalt anlangt, selbst
von den späteren Chorwerken nicht Übertrossen wird, obgleich sich unter ihnen größer
angelegte und anspruchsvollere befinden, wie die Ballade „Svalsbw koSila" (die Geister -
braut), das Oratorium „8v. Unckwila" und ein Requiem — sämmtlich für England
geschrieben. Nun blieben auch officielle Ehren nicht aus: der Monarch zeichnete Dvorak
durch den Orden der eisernen Krone aus und ernannte ihn bei der Constituirung der
böhmischen Akademie zum Mitglied derselben, die böhmische Universität verlieh ihm das
philosophische Doctorat, die in Cambridge promovirte ihn zum Doctor der Musik, das
Prager Conservatorium übertrug ihm die Professur der Composition und schließlich wurde
er als Direetor des Nationalconservatoriums nach New-Iork berufen.
Der jüngste unter den drei Meistern, die hier als die berufenen Vertreter der
böhmischen Tonkunst der Gegenwart charakterisirt werden müssen, ist der am 21. December
1850 in Leboritz bei Caslau geborene Zdenko Fibich. Schon während seiner Gymnasial -
studien in Wien und Prag widmete er sich der Musik mit soviel Eifer und Selbstvertrauen,
daß er als vierzehnjähriger Knabe in Chrudim einen Symphoniesatz eigener Composition
dirigiren konnte. Diesem gerechtes Aufsehen erregenden Talente wurde nun die sorgfältigste
Pflege zu Theil; 1865 bis 1867 war Fibich Schüler von Moscheles und Richter am
Leipziger Conservatorium, sowie von Jadassohn und beendete nach längerem Aufenthalte
in Paris seine Studien bei Vincenz Lachner in Mannheim, von wo er 1870 in die Heimat
zurückkehrte, die er, abgesehen von einem einzigen Jahre, das er (1873 bis 1874) in Wilna
als Müsiklehrerzubrachte,nun nicht mehr verließ. Sein künstlerischerBildungsgang hatte eine
frühe technische Reife zur Folge, die selbst bei dem Anfänger ein jugendlich übermüthiges,
blindes Umhertappen umsomehr ausschloß, als Fibich in Leipzig zu einem aufrichtigen
Lchumannianer wurde, um von diesem Ausgangspunkt durch , einen zwar raschen, aber
durchaus nicht plötzlichen, sondern stetigen und organischen Übergang zu der selbstständigen
57
Entfaltung einer die Bahnen des entschiedensten Fortschritts wandelnden musikalischen
Individualität zu gelangen. Dieser Übergang hat sich eigentlich schon während der drei
Jahre vollzogen, welche die gleich nach Abschluß der Lehrjahre componirte bereits er -
wähnte Oper »lZuIroviir" brauchte, bevor es ihr beschieden war, auf die Bühne zu kommen.
Der Einfluß Schumann's herrscht noch in den bis 1872 geschaffenen Werken
— namentlich mehreren Ouvertüren und Kammercompositionen, einer ganzen Menge zum
guten Theil noch gar nicht veröffentlichter fein empfundener Lieder sowie einer größeren
Chorballade „Windsbraut" — vor; aber schon im darauffolgenden Jahre glückte dem
jungen Künstler nicht nur der erste Schritt in den Bereich der symphonischen Dichtung mit
seinem „Othello", sondern auch der zweite, bedeutungsvollere mit ,2übos, Sinvoj n
liuäölr" als dem ersten derartigen Werke von nationalem Colorit, welchem bald eine
weitere, »Toirmir n losni xmrma," (Toman und die Waldfee) folgte, so daß er hierin den
übrigen böhmischen Komponisten, selbst Smetana nicht ausgenommen, ebenso zuvorkam,
wie in der Kammermusik durch ein etwa um dieselbe Zeit entstandenes bemerkenswertstes
Streichquartett (^-vur), in dessen Scherzo (als Trio) zum erstenmale die heimische Polka
verwerthet wird. So schritt denn Mich in der von Smetana gewiesenen Richtung rüstig
fort, schlug aber mitunter auch eigene Wege ein, nm zu demselben Ziele zu gelangen. Der
Schöpfer der »kroclanü iiavastn" erscheint innerhalb der Kunstmusik als der bahnbrechende
Vertreter jenes naiven, bald heiter kecken, bald sinnig elegischen Geistes, wie er sich in den
Weisen der böhmischen Volkslyrik kundgibt, und Dvorak folgte ihm hierin mit Glück;
Mich aber gelang es, zuerst 1874 in dem ergreifenden Melodram „Stöckr^ äan" (der
Weihnachtsabend) und später ähnlich in »Vöönosl" (die Ewigkeit) und »Voärnll" (der
Wassernix) ans voller Gemüthstiefe jenen specifischen volksthümlichen Balladenton anzu -
schlagen, der uns auf poetischem Gebiete aus K. I. Erben's »IMios" (welcher Sammlung
auch das erste und das letzte der eben genannten drei Melodramen entnommen ist),
entgegenweht. Als die reifste, werthvollste Frucht dieser Entwicklungsstufe muß aber ein
überaus lebensfrisches und erfindungsreiches Clavierquartett (Il-Lloll) mit formvollendeten
Variationen im Adagiosatz bezeichnet werden, das dem Autor im Laufe der Jahre wieder -
holt in den weitesten Kreisen der musikalischen Welt, namentlich auch in Wien und London
zu verdienten Ehren verholfen hat.
Die nahezu fünf Jahre, welche von der Beendigung der zweiten Oper Fibich's,
„Liamll", eines musikalisch gehaltvollen und dramatisch lebendigen Werkes, das übrigens
der entsprechenden Würdigung noch harrt, bis zu ihrer ersten Aufführung (gegen Ende
1881) verflossen sind, bedeuten für die künstlerische Entwicklung des Komponisten
abermals einen mächtigen Fortschritt. Das beredteste Zengniß ist wohl die wenige Wochen
nach der Premiere des „lllaillü" begonnene und 1884 im Nationaltheater aufgeführte
58
tragische Oper „bisvostn Llossinsicü" (die Braut von Messina, nach Schillers Trauer -
spiel), ein meisterhaftes Musikdrama, das in seiner alle Nachgiebigkeit gegen den
herkömmlichen Operngeschmack ausschließenden Stilconsequenz den idealen Zielen
Wagners ungleich näher steht als irgend eine andere böhmische Oper, in seinem gediegenen
durchwegs vornehmen musikalischen Inhalt aber die persönliche Eigenart ihres Schöpfers
zum treuesten Ausdruck bringt. Da überdies die Declamation des böhmischen Wortes, der
bis dahin nur Smetana in seinen Opern allmälig volle Geltung zu verschaffen wußte,
in der „i^evsstn NoLsinsIcü" eine unübertroffen tadellose ist, erscheint Fibich in diesem
Werke als Erbe und Fortsetzer der fortschrittlichen Tendenzen des eben genannten
Meisters speciell auf dramatischem Gebiete. Auch seine alle Kunstformen ebenmäßig
beherrschende Vielseitigkeit erinnert an Smetana; so entstanden seit 1875 — um nur die
bedeutenderen Jnstrumentalwerke hervorzuheben — nebst weiteren Kammercompositionen
und Ouvertüren (zu Shakespeares „Sturm", zu Vrchlickys Lustspiel „Eine Nacht auf
Karlstein", zur Comenius-Feier) eine Prächtige, heiter bewegte Symphonie (b'-vnr), eine
von tief poetischer Frühlingsstimmung getragene symphonische Dichtung „Vesrin" (Lenz),
nicht zu vergessen zwei reizende Kabinetsstücke, die ursprünglich für das Clavier
geschriebenen, dann aber orchestrirten „Vigilien".
Eine besondere Vorliebe für das Melodram — den genannten Werken dieser
Gattung fügte Fibich später noch einige andere, ebenfalls für den Concertvortrag bestimmte
hinzu — führte ihn zu dem kühnen Gedanken, ein ganzes Bühnendrama melodramatisch
zu begleiten. Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts hatten sich Georg Benda und seine
Nachahmer in ihren „Monodramen" und „Dnodramen" auf einzelne Scenen und wenige
handelnde Personen beschränkt und, mit nur seltenen Ausnahmen, die Declamation nicht
durch zusammenhängende Musik begleitet, sondern durch Zwischenspiele (nach Art des
alten Recitativs) vielmehr zerklüftet. Diese selbstständigen scenischen Melodramen
geriethen indeß mit der Zeit in Vergessenheit, und seitdem finden sich nur hier und da in
Opern und Schauspielen, doch selbst von den größten Meistern einzelne Scenen melo -
dramatisch behandelt und dabei endlich mitunter (wie in Schumanns „Manfred") Wort
und Melodie gleichzeitig fortlaufend angewendet. Dies Alles bot höchstens spärliche
Anhaltspunkte, aber keine Vorbilder für das, was Fibich im Sinne hatte, als er 1888 —
also nach mehr als hundert Jahren wieder ein Böhme als Bahnbrecher auf diesem
Gebiete — an die Composition nicht Eines Drama, sondern gleich einer ganzen Trilogie,
„Hippodamia" von Jaroslav Vrchlicky, herantrat. Die drei Tragödien ,?6lox>ov^
(Pelops' Brautwerbung), „Tnntnlnv smir- (Die Sühne des Tantalus) und
,8mrl llip^ockninis" (Hippodamias Tod) wurden 1890 bis 1891 im Prager National -
theater mit einem Erfolge aufgeführt, der die vielumstrittene Frage nach der künstlerischen
59
Berechtigung und der musikalischen Entwickelungsfähigkeit des Melodrama endlich aus
dem schattigen Bereich der bloßen theoretischen Discussion in das volle Licht der praktischen
Erfahrung gestellt und die gangbaren principiellen Zweifel an der Möglichkeit dieser
Kunstgattung wohl entkräftet hat. Fibichs formell der Technik des modernen Musik -
dramas entsprechende instrumentale Begleitung der gesprochenen Rede, deren Fluß sie
weder stört noch deckt, muß an und für sich geradezu als eine geniale schöpferische That
bezeichnet werden, die ihre musikgeschichtliche Bedeutung behalten wird, mag sie nun in
der nächsten Zukunft Nachahmer finden oder nicht. Solch ein Wurf konnte allerdings nur
einein Meister gelingen, der nicht blos über den ganzen technischen Apparat seiner Kunst,
zunächst über das Orchester, unbeschränkt verfügt, sondern zugleich jene Gabe der wohl -
berechnenden Reflexion besitzt, ohne welche an die Lösung eines derartigen neuen Problems
kaum zu denken ist. Diese Gabe aber, die Frucht gründlicher theoretischer und historischer
Studien, durch die Fibich, der entschiedene Fortschrittsmann, längst in allen Formen und
Künsten des strengen Satzes heimisch geworden, macht ihn endlich auch zu einem trefflichen
Pädagogen, dessen heilsamer Einfluß sich bei so manchem Angehörigen der jüngsten Musiker -
generation Böhmens bewährt hat. Einen Theil seiner pädagogischen Erfahrungen hat er
denn auch in einer großen (mit Johann Malat herausgegebenen) Klavierschule niedergelegt.
Die vorstehende mit drei klangvollen Künstlernamen abschließende Skizze mußte
notgedrungen sich auf das künstlerisch oder geschichtlich Wichtigste beschränken und daher
namentlich auch von der Besprechung des zu schönen Hoffnungen für die Zukunft berech -
tigenden musikalischen Nachwuchses ebenso Umgang nehmen, wie von der Darstellung der
bereits von den besten Erfolgen gekrönten Reformbestrebungen auf dem Gebiete der
Kirchenmusik. Sie war bereits niedergeschrieben, als gelegentlich des Gesammtgastspiels
des Prager Nationaltheaters auf der Bühne der Wiener internationalen Musik- und
Theaterausstellung im Juni 1892 die böhmische Oper eine über alle Erwartung glänzende
Aufnahme von Seiten des Publikums wie der Kritik fand, welche das soeben über
Smetana, Dvorak und Fibich Gesagte in vollem Umfange bestätigte.
Vor Allem ist Smetana endlich von der großen musikalischen Welt mit Jubel
begrüßt, sozusagen entdeckt worden. Den wiederholten Vorstellungen der „Uiockunä
nsvssta- und des „vulibor" im Ausstellungstheater folgte 1893 die mit derselben Begeiste -
rung ausgenommene deutsche Aufführung der erstgenannten Oper im Theater an der Wien
und in Berlin, und seitdem hat die Oper, wie auch der „Kuß" bereits den Weg auf andere
deutsche Bühnen gefunden. Dvorak, der im Ausstellnngstheater durch seinen »vimitris«
vertreten war, ist als Dramatiker für Wien keine völlig neue Erscheinung gewesen;
dagegen wirkte Fibichs melodramatische Musik zum ersten Theil von Vrchlickys
„Hippodamia"-Trilogie als völlige Neuheit, nicht blos des bis dahin wenig bekannten
60
Tondichters, sondern auch der ungewohnten Kunstform halber, und wurde in auszeichnender
Weise gewürdigt, so daß „Pelops' Brautwerbung" im März 1893 und bald darauf
„Die Sühne des Tantalus" in Antwerpen unter großem Beifall gegeben wurden, als
Vorläufer der in Aussicht genommenen ganzen Trilogie. Dazu kommen dann weitere
durchschlagende Wiener Erfolge der drei Componisten auf dem Gebiete des Kammerstils
und der Orchestermusik, so daß das Kapitel „Musik in Böhmen" kaum passender geschlossen
werden kann, als durch diesen erhebenden Hinweis ans die, wenn auch späte Genugthuung,
welche die musikliebende Rcichshanptstadt der seit dem Aufschwung des nationalen Lebens
in den Sechziger-Jahren emporblühenden und doch außerhalb des Landes kaum beachteten
böhmischen Tonkunst in so vollen! Maße geboten hat.
Literatur und Theater.
Äavische Literatur.
t^tnter den Literaturen der slavischen Stämme nahm die
böhmische lange Zeit hindurch eine hervorragende Stellung
ein und noch heutzutage spielt sie in der culturellen Entwicklung
der Slaven überhaupt und der österreichischen insbesondere eine
wichtige Rolle als treues Abbild seltener Rührigkeit des Geistes,
wie auch der mannigfachen, mitunter mächtig ergreifenden
Geschicke, die dem böhmischen Volke im Laufe der Zeit wider -
fuhren. Ihre Products lassen sich nach sprachlichen, stofflichen
und formellen Eigentümlichkeiten, wie sie sich in den einzelnen
Phasen zeigen, in drei große Gruppen theilen. Die erste Gruppe
umfaßt die schriftlichen Denkmäler seit dein Beginn der literarischen
Thätigkeit bis zu der husitischen Bewegung oder bis zum Anfang
des XV. Jahrhunderts (1410), die zweite jene vom Jahre 1410 bis zur Organisation
des Volksschulwesens unter der Kaiserin Maria Theresia (1774), die dritte geht vom
Jahre 1774 bis zur Gegenwart.
Das slavische Volk, welches in der historischen Zeit unter dem Namen der Ccchen
auftaucht, bestand ursprünglich qus mehreren kleineren Stämmen, die sich wahrscheinlich
zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umstünden ans dem Gebiete des heutigen
Königreiches Böhmen verbreiteten und erst nach geraumer Zeit, namentlich im Laufe des
62
IX. und X. Jahrhunderts zu einer bleibenden politischen Einheit verschmolzen sind,
während sie sich zuvor nach Benennung und auch dialectisch von einander unterschieden.
Unter diesen Stämmen und Dialecten erlangte allmälig jener die Oberhand, der auch durch
das Anwachsen der politischen Macht gefördert wurde: der böhmische (cechische) Stamm
und Dialect, der im mittleren Böhmen verbreitet war. Dieses Übergewicht äußerte
sich in der Anerkennung des böhmischen Dialects als Verkehrssprache in bestimmten Fällen,
namentlich bei Personen, die mit dem fürstlichen Hofe in Berührung kamen, und durch ihre
Vermittlung auch bei angesehenen Persönlichkeiten in anderen Gebieten des Landes. Aber
die Macht des böhmischen Dialects war nicht so groß, daß er alle Eigenthümlichkeiten der
anderen Dialecte hätte verdrängen können; wie er selbst seinen Einfluß verbreitete, so erfuhr
er durch die umgekehrte Beeinflussung so manche Veränderung, bis er bei jenem Stand -
punkte der Schriftsprache anlangte, der sich der früheren Verkehrssprache gegenüber durch
einen mehr conservativen Zug auszeichnet, so daß er neben dem gemeinen Böhmisch und
neben den übrigen Dialecten in seiner Entwicklung eine künstliche Bahn eingeschlagen hat.
Es sind jedoch viele Jahrhunderte vergangen, bevor es zu irgend welchen, wenn
auch noch so bescheidenen Aufzeichnungen in der böhmischen Sprache kam. Der nachdrück -
lichste Schritt dazu ward im IX. Jahrhundert durch die Annahme des Christenthums
gethan, das seine Bekenner mit dem Gebrauche der Schrift vertraut machte und ihnen
dadurch die Bahn des Culturlebens erschloß. Doch war dieses Schriftwesen anfangs nicht
einheitlich, da das Christenthum auf verschiedenen Wegen nach Böhmen kam und daher
vermuthlich infolge der Wirksamkeit der beiden Slavenapostel Cyrill und Methodius hier
sowohl die griechisch-slavische, als auch durch den Einfluß der westlichen Kirche die
lateinische Schrift Eingang fand. Die erstere ist wohl nie ans den engen Grenzen der Liturgie
herausgetreten und schwand selbst auch hier ziemlich schnell, indem sie sich nur künstlich
an einigen Centralpunkten behauptete — am längsten im Kloster zu Sazava, das im
Jahre 1032 der heilige Prokop für slavische Mönche erbaut hatte —, während die andere
sich immer mehr entfaltete und schließlich überall zur Geltung kam, da sie nicht blos in
den politischen Verhältnissen, sondern auch im Verkehr mit den abendländischen Völkern,
die in der Cultur vorgeschritten waren, eine Stütze fand. In dieser Schrift haben sich
auch die ältesten Proben der böhmischen Sprache erhalten, und zwar theils in Originalen,
theils in späteren Abschriften.
In Originalen vor dem XIII. Jahrhundert kommen nur einzelne Wörter, besonders
als Benennungen der Wässer, Berge, Ortschaften, Gegenden, Stämme und Personen in
alten fremdsprachigen, namentlich lateinischen Denkmälern sowie auch Glossen zwischen
den Zeilen lateinischer Texte vor. Unter allen diesen Überresten nehmen sowohl was
Alterthümlichkeit als auch was Menge und Bedeutung anlangt, die erste Stelle die
63
St. Gregorius-Glossen aus der Zeit um das Jahr 1100 ein. Sie wurden erst im
Jahre 1878 in einer Handschrift des Prager Domkapitels, welche Dialoge des heiligen
Gregorius enthält, entdeckt; von ihrer ursprünglich großen Anzahl blieben nur noch
etwa 200 Wörter übrig, darunter einzelne, die gegen die Denkmäler des folgenden Jahr -
hunderts einen so archaistischen Charakter verrathen, daß sie auch für altkirchenslavisch
gehalten werden können. Die Echtheit derselben wird von einigen Gelehrten bezweifelt.
Zahlreicher und vollkommener in Inhalt und Form sind die Überreste, die sich uns
aus einer früheren Vergangenheit in späteren Aufzeichnungen erhalten haben. Unter den
religiösen Denkmälern reicht in die früheste Zeit das Lied »Hospoäins pomilus un -
feine Paraphrase des griechischen Xxrie eleison) hinauf; es ertönt noch heutzutage
majestätisch in den böhmischen Kirchen und wird nach seinem vermeintlichen Ursprung als
ein Lied des heiligen Adalbert bezeichnet. Das Lied besteht aus acht ungereimten Versen und
gehört wegen seiner Eigenthümlichkeiten in den Ausdrücken (poinilvs, spss, mir) ohne
Zweifel schon in die erste Zeit des Auftauchens der slavischen Liturgie in Böhmen. Im
Laufe der Zeit ward es zu einer erhabenen Nationalhymne, die man nicht blos in den
Kirchen und bei feierlichen Gelegenheiten, sondern auch im Kampfgetümmel, wie z. B. in
der Schlacht bei Kressenbrunn im Jahre 1260 vernahm. Durch seinen alterthümlichen
Zug und seine erhabene Einfachheit nähert sich ihm das Lied »8vstF Vselsvo, vevoäo
össleo (Heiliger Wenzel, Herzog des Böhmerlandes), das ursprünglich drei-
strophig und gleich jenem ungereimt war. Frühzeitig im Volke verbreitet, setzte es in
der Folgezeit immer neue Strophen an, durch welche das böhmische Volk in Zeiten der
Noth sein Sehnen wie auch sein inbrünstiges Gebet um Hilfe zu seinem Landesheiligen zum
Ausdruck brachte. Als drittes in der Reihe dieser alterthümlichen Denkmäler wird das
Lied ,81ovo cko svots stvororiis v boLstvi sellovsno" (Vor der Erschaffung
der Welt ward das Wort in der Gottheit geborgen) angesehen; erhalten in einer Abschrift
ans dem XIII. Jahrhundert, berührt dasselbe in 16 Versen Menschwerdung, Leiden und
Auferstehung Christi. Wie es scheint, gehörte es den Osterliedern an und unterscheidet sich
von den beiden älteren Liedern durch einen schon bedeutend vervollkommneten Reim.
Gewichtige Momente sprechen dafür, daß auch unter den Prodncten, die in späteren
Zeiten auftauchen, manches viel älteren Ursprungs ist; so namentlich die Lieder, welche
die Menschwerdung, Geburt und Auferstehung Christi zum Gegenstand haben, wie: »Vitus
1sr:ri Xriste" (Sei willkommen lieber Jesus Christus), »Xsroäil so Xristus ?sn"
(Geboren ward Christus der Herr), , Vsts.lt,'fest toto ellvile" (Erstanden ist in diesem
Augenblick), »Uuoir vseinollüoi vstsl 2 rartv^ell Lscküoi" (Der allmächtige, liebe Gott
ist erstanden), dann das Lied vom Leib des Herrn: »Vitss ürslu vZemollüeU (Sei
willkommen allmächtiger König), manche Marienlieder und ähnliche.
64
Man kann demnach behaupten, daß die Anfänge der literarischen Thätigkeit auch
in Böhmen zum großen Theile unter den mächtigen Eindrücken des neuen christlichen
Glaubens entstanden sind. Gewiß ist aber eine geraume Zeit vergangen, bevor das
Christenthnm im Volke die einstigen heidnischen Anschauungen wenigstens im Großen zu
unterdrücken vermochte, bis das slavische Volk seine Traditionen aufzugeben begann und
sich der fremden Lebensweise und Gewohnheit anschloß. Die ältere böhmische Geschichte
berichtet uns vielfach von dem zähen Widerstand, der sich gegen Neuerungen, auch wenn
sie nützlich waren, im Lande erhob, — und dieselbe Geschichte weist uns eine Fülle über -
zeugender Belege von einer frischen nationalen Kraft, die uns bezweifeln läßt, daß es bei
dem überdies durch seine Gabe des Gesanges berühmten Volke lange Zeit hindurch zu
keinen selbständigen Äußerungen, wenigstens einer elementaren Begeisterung gekommen
sein sollte.
Die Vermuthung von der Existenz solcher Producte fand nach den Angaben jener,
die die ganze Entdeckung für echt halten, im ersten Viertel des XIX. Jahrhunderts eine
Bestätigung durch den Fund zweier Denkmäler altböhmischer Volkspoesie; wir meinen
die Grünberger und Königinhofer Handschrift.
Die Grünberger Handschrift, weniger richtig Libusa's Gericht genannt, hat
ihren Namen von dem Schlosse Grünberg (Zelonä Hora) in der Nähe von Nepomuk (südlich
von Pilsen), wo sie im Jahre 1817 unter alten Archivalien gefunden worden sein soll
und von wo sie nach der Gründung des böhmischen Museums im Jahre 1818 nach Prag
geschickt wurde. Sie besteht aus vier Octavblättern, deren Pergament alt, die lateinische
Schrift rund und grünlich ist. Sie enthält zwei ungleich lange Bruchstücke. Das erste
davon hat 9 Verse und wird für den Schluß eines Gedichtes, in dem vor den Knieten,
Lechen und Vladyken über eine Familiensatzung verhandelt wurde, gehalten; das zweite
enthält 112 Verse und schildert einen Streit zwischen den Brüdern Chrudos und Skaglav,
die wegen des Erbes uneinig geworden sind und die Schlichtung des Streites der Fürstin
Libusa übertrugen. Es werden zu Gericht die erwähnten Großen auf den Vysehrad
berufen und hier wird entschieden, daß beide Brüder nach herkömmlicher Weise das
väterliche Erbe gemeinsam besitzen sollen. Durch diese Entscheidung aufgebracht, da er -
sieh in seinem Rechte verkürzt wähnt, beschimpft der ältere Chrudos Libusa; die beleidigte
Fürstin entsagt der Regierung und fordert die Anwesenden auf, sie möchten sich einen
Mann, der ihnen gewachsen wäre, erwählen, auf daß er sie mit eiserner Hand beherrsche,
die Kräfte eines Mädchens reichten dazu nicht aus. — Der Schluß fehlt.
Das Denkmal weist sowohl bezüglich seiner äußeren Gestalt, als auch bezüglich
seines Inhalts so manche Eigenthümlichkeiten auf. Ausfallende paläographische Momente
lassen nicht das Alter mit aller Bestimmtheit erschließen und in seiner Sprache
(7^
,
' X
7
> ^
- - L7 H ^
5- ->Dl
ft'S
-
Ein Motiv aus dem Cyklus über die
Königinhofer Handschrift, von Josef Manes
(1821 bis 1871).
und in den sachlichen Einzelheiten
gibt es so manches Räthsel, das
aus Mangel anderer ähnlicher
einheimischer Schriftdenkmäler
bisher ungelöst blieb. Daher
erhoben sich gleich bei seinem
Erscheinen Stimmen gegen seine
Echtheit (Dobrovsky, Kopitar)
und diese Streitfrage ist selbst
heute noch nicht zu einer be-
M.
'
M
friedigenden Lösung gediehen. Poetischen Werth hat das eigentliche Gedicht „Libusa's
Gericht"; die Technik erinnert an die slavische Volksepik, namentlich durch den zehn-
silbigen nicht gereimten Vers, durch verschiedene Tropen, Figuren und den Rhythmus.
Auch das zweite Denkmal, „die Königinhofer Handschrift", hat seinen Namen
von seinem Fundorte, der Stadt Königinhof (im nordöstlichen Böhmen), wo es im
5
66
Jahre 1817 in einer Kammer des Kirchthurms von Wenzel Hanka gefunden wurde.
Es besteht aus 12 Pergamentblätteru vou kleinem Format und zwei länglichen schmalen
Streifen, die dadurch entstanden sind, daß man zwei Blätter in der Nähe der Bugstelle
durchschnitt. Die Schrift ist klein und die Orthographie complicirt. Das Ganze enthält
14 Gedichte, sechs epische, zwei lyrisch-epische und sechs lyrische; auf den Streifen finden
sich nur Bruchstücke von einzelnen Wörtern. Nach den Überschriften im Text sollen
diese Gedichte in das 25. bis 28. Kapitel des dritten Buches gehören und demnach
nur als ein bescheidenes Fragment eines großen Sammelwerkes, das etwa um die
Mitte des XIV. Jahrhunderts zusammengestellt wurde, erscheinen. Allein dem Inhalt
nach weisen einzelne Gedichte auf sehr verschiedene Zeiten.
Den Kern der Handschrift bilden die epischen Gedichte, welche nach der Zeitfolge
folgende Reihe bilden: 1. „Zaboj, Slavoj und Lndek"; 2. „Cestmir und Vlaslav";
3. „Oldrich und Boleslav"; 4. „Benes Hermanöv"; 5. „Ludise und Lubor";
6. „Jaroslav". Die beiden ersten, nach den Haupthelden benannt, gehören ins graue
Alterthum; „Zaboj" schildert den siegreichen Kampf der heidnischen Böhmen gegen Feinde,
die unter der Anführung des Lndek in das Land eingedrungen waren und das Christen -
thum hier gewaltsam einführten, „Cestmir" hat dagegen einen Kriegszug unter der
Herrschaft des Fürsten Neklan gegen Vlastislav, den Herrscher von Lucko, und die voll -
ständige Besiegung dieses aufständischen Fürsten durch den Anführer des Prager Heeres —
den tapferen Cestmir — zum Gegenstand. Beide haben einen freien Rhythmus, es
wechseln kürzere Verse mit längeren mannigfach ab, je nachdem sich die Situation eben
entwickelt. „Oldrich und Boleslav" ist nur das Bruchstück eines Gedichts über die
Vertreibung der Polen ans Prag im Jahre 1004 mit einigen besonders schönen Einzeln-
heiten in der Schilderung; die Form ist schon mehr künstlich, zehnsilbiger nicht gereimter
Vers. Das Gedicht „Benes Hermanöv" ist ein historisches Lied (in Strvphen), das
in dramatischer Eile und mit freudig erregten Worten von der Niederlage der plündernden
Sachsens-Haaren in der Nähe der Hrnba Skala (bei Turnau) erzählt; die Zeit der Handlung
versetzt man in den Anfang des XIII. Jahrhunderts. Eine bloße Reminiscenz an die einstigen
Gewohnheiten scheint „Ludise und Lubor" zu sein,das Bild eines altböhmischen .söckäni"
(Turnier) oder abwechselnden Kampfes zu Pferde zwischen je zwei Gegnern, um die
Behendigkeit und körperliche Kraft zu zeigen; der Plan ist breit angelegt, der Vers achtsilbig
mit theilweisem Refrain. DerZeit nach das letzte ist das epische Gedicht „Jaroslav" oder
„Von den großen Kämpfen der Christen mit den Tataren", die unter König Wenzel I.
bis nach Mähren vordrangen und hier, im Jahre 1241, in der Nähe von Olmütz von
Jaroslav, einein Ahnherrn des Hauses Sternberg, besiegt worden sein sollen. Es sind
einzelne frei aneinander gereihte Episoden, worunter namentlich die Schilderung des
67
heldenmüthigen Kampfes auf dem Berge Hostyn (wo die Christen durch die wunderbare
Hilfe der Mutter Gottes dem Verderben entrinnen) den Gipfelpunkt des Gedichts bildet.
Die lyrisch-epischen Gedichte »leien- (Hirsch) und »2bMon- haben in Form
und Dietion mit den epischen viele Ähnlichkeit, aber sie unterscheiden sich durch das Vor -
wiegen des lyrischen Elementes. Das erste ist der Ausdruck der Trauer über einen
meuchlings ermordeten Jüngling und das zweite schildert die Befreiung eines entführten
Mädchens aus der Macht eines rohen Gewaltthäters. In beiden kommt der Parallelismus,
dort mit einem Hirsch, hier mit einer Taube, in ausgiebiger Weise zur Anwendung. Die
lyrischen Gedichte »X^tiee- (Sträußchen), »lalrocl^- (Erdbeeren), IlüLe (Rose),
»^erlruliee- (Kukuk), „OpuZtenü- (Die Verlassene), »Sütiväneü- (Lerche) sind
reizende Kleinigkeiten, die in echten, zarten Gefühlen die Sehnsucht, die Lust, die Klage
und das Leid eines jungen Mädchenherzens zum Ausdruck bringen.
Die Königinhofer Handschrift hat seit ihrem Erscheinen auf die böhmische Literatur
nachweisbaren Einfluß geübt, nicht minder hat sie so manche Schöpfungen der modernen
Kunst in Böhmen — wir erinnern hier nur an den von Josef Manes ausgeführten Bilder-
cyklus — inspirirt.
Lange Zeit wurde die Königinhofer Handschrift allgemein für das kostbarste
Denkmal der ursprünglichen altböhmischen Poesie, für eine eigene Blüte der heimischen,
noch intact erhaltenen Cultur angesehen. Aber die neuere Forschung fing an diesen
Glauben zu untergraben, indem sie darauf aufmerksam machte, daß, so wie Libusa's
Gericht, auch die Königinhofer Handschrift in der gleichzeitigen poetischen Produetivn
kein Analogon finde, daß sich darin so mancher sachliche Widerspruch zeige, und schließlich,
was der wesentlichste Einwand ist, daß der sprachliche Ausdruck häufig von der Regel -
mäßigkeit, die man sonst in anderen altböhmischen poetischen und prosaischen Produeten,
so weit sie uns nämlich bekannt sind, bemerkt, abweiche. Die Controverse ist noch
nicht entschieden.
Zusammenhängende Reihen in ihrer Echtheit unanfechtbarer altböhmischer Denk -
mäler, die nach Inhalt und Form das Zeichen der vorwiegenden Zeitrichtnng an sich
tragen, fangen erst in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts an. Sie haben zumeist
einen poetischen Charakter und bewahren ihn bis ans Ende dieser Phase, das ist bis in
die ersten Jahre des XV. Jahrhunderts. Die Hauptquelle, ans der diese Production die
Veranlassung zu ihrer Entstehung und stetiger Erneuerung nimmt, ist die westeuropäische
Sitte und Cultur. Die unter solchen Verhältnissen entstandenen literarischen Producte sind
die natürliche Folge eines Nachahmungsstrebens, das bald mehr, bald weniger zum
Vorschein kommt; die Poesie ist von diesem Streben beinahe ganz beherrscht und durch
ihre Vermittlung auch ein Theil des prosaischen Schriftthums. Einen nationalen Zug hat
68
diese Literatur nicht. Ihr werthvoller und zum großen Theile unerreichbarer Vorzug ist der
glänzende Reichthuin der Sprache, namentlich was Formen, Kernigkeit und Elasticität
betrifft. Werke, die nach Form und Inhalt bedeutend wären, gibt es darunter nur wenige.
In den poetischen Producten erlag den im Westen herrschenden Neuerungen vor
Allem die äußere Form; es wurde der Reim eingeführt. Schon die ersten erhaltenen
Denkmäler zeigen hierin eine ungewöhnliche Reife, so daß man eine ziemlich frühe und
intensive Pflege voraussetzen muß. Der Strophenban und andere formelle Eigenthümlich'
leiten fanden gewiß ihre Vorgänger schon in der alten einheimischen Poesie und konnten
daher ohne Schwierigkeiten festen Fuß fassen. Hinsichtlich des Stoffes ist das weltliche
Element anfänglich ganz in den Hintergrund getreten; die Production war ja ausschließlich
in den Händen der Geistlichkeit, und wenn auch andere Schichten irgend welchen Antheil
daran hatten, so standen auch sie unter dem Einfluß der religiösen Richtung ihrer Zeit.
Die in diesem Geiste erzogenen Generationen suchen sehnsuchtsvoll die Welt der Wunder,
Abenteuer, der Romantismus kommt in Fluß und findet infolge des Beispiels, das die
einheimischen Herrscher (namentlich Wenzel l., Premysl Ottakar II. und Johann von
Luxemburg) und auch einzelne böhmische Magnaten gaben, weite Verbreitung; doch ziemlich
frühzeitig lenkt die Richtung zur Ascese ein, das wirkliche Verdienst wird im Kampfe der
Seele gegen die leibliche Welt, in der Selbstverleugnung und Demuth gesucht, bis schließlich
die Phantasie einer moralischen Reflexion zu weichen beginnt, die reale Anschauung der
bloßen Abstractiou, womit die Poesie zum großen Theile in eine unfruchtbare und leere
Versmacherei übergeht. Der Grundbau selbst pflegt selten ursprünglich zu sein, in der
älteren Zeit resultirt er aus lateinischen, in der späteren sehr häufig aus deutschen Quellen.
Ans dem Gebiete der weltlichen Poesie ist am schwächsten die lyrische vertreten.
Während in Frankreich und in Deutschland vom XII. Jahrhundert an die Lyrik im
Sonnenschein der Gunst der Höfe und Magnaten in üppigen Formen sich entfaltet, kann die
nationale Lyrik in Böhnien nicht gedeihen, da die Vorliebe zu dieser Form der Dichtkunst,
wo immer sie sich in den höheren Kreisen zeigt, nicht die Unterstützung der einheimischen,
sondern fast ausschließlich nur der fremden Poesie mit sich bringt, wie dies von der Zeit
Wenzels I. und Premysl Ottakars II. bekannt ist. Erst nach der Gründung der Universität
in Prag (1348) hat das neu entstandene bewegliche Studentenelement eine Veränderung
hervorgernfen, da es hauptsächlich die küustliche Lyrik verbreitete. Zahlreiche und bunte
Proben dieser Thätigkeit haben sich in Abschriften aus dem XV. Jahrhundert erhalten;
ihr Werth ist ungleich und die Form abendländischen Mustern nachgeahmt. Ein besonders
wichtiges Zeichen ist bei manchen der halb künstliche, halb volksthümliche Zug.
Ein viel günstigeres Geschick ward in Böhmen der auswärtigen epischen Dichtung
zutheil. Ihre romantische Richtung gab den ersten Pflegern in geistlichen Kreisen die
69
erwünschte Gelegenheit, christliche Vorbilder nnd Tugenden zn verherrlichen, und kam
bei den weltlichen Zeitgenossen der Vorliebe für alles Abenteuerliche entgegen. Diese
allgemeine Beliebtheit trug nicht wenig zur Vervollkommnung der äußeren Form und
zugleich auch zu einer großen Mannigfaltigkeit des Inhalts bei, denn neben zahlreichen
und umfangreichen geistlichen Dichtungen gibt es auch eine Reihe weltlicher romantischer
Gedichte, in denen fremde, antike, deutsche, bretonische Stoffe bearbeitet sind.
Unter den weltlich en Denkmälern müssen wir, wasZeit und Bedeutung anlangt, das
epische Gedicht über Alexander den Großen — die Alexandreis — an die Spitze stellen.
Sie ist nur bruchstückweise erhalten, in sieben Fragmenten, etwa die Hälfte des einstigen
Ganzen, die ihrem Ursprung nach etwa in das letzte Viertel des XIII. Jahrhunderts
gehören. Die Handlung beruht im Wesentlichen ans der lateinischen Alexandreis des
Gualther Castillianus (XII. Jahrhundert), aber zahlreiche Einschiebsel nnd Erweiterungen
beweisen, daß der Verfasser auch andere Quellen, nach denen er entweder gleich sein
ursprüngliches Concept erweiterte oder, was wahrscheinlicher ist, das fertige Gedicht
später ergänzte, zur Hand hatte. Von besonderer Begabung zeugt nicht blos der voll -
kommene Vers und untadelige Reim, sondern auch der Reichthum der Sprache und die
besondere Art, wie der Dichter seine Lebenserfahrung in Worte zu kleiden weiß.
Neben der Alexandreis hat sich sonst ans dem antiken Sagenkreise kein in Versen
verfaßtes Product erhalten, obgleich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß es einst
mehrere solche Gedichte gegeben hat, wie z. B. von dem trojanischen Kriege. Daß diese
Annahme berechtigt, beweisen die unlängst gemachten Funde umfangreicher erzählender
Gedichte ans dem Gebiete der deutschen Sage, deren poetische Bearbeitung in der
böhmischen Literatur geradezu bezweifelt wurde, und doch zeigt es sich, daß gerade in
dieser Richtung der Nomantismus in Böhmen sich üppig entfaltete. So wurden im
Jahre 1881 Fragmente des „großen Rosengartens", im Jahre 1887 der vollständige
„Lanrin und zugleich auch „Ernst" (^rnoZk) gefunden; es sind dies Bearbeitungen
bekannter deutscher Originale und zwar, wie es scheint, wiederholte Bearbeitungen, welche
in ihrer ursprünglichen Form in Böhmen vielleicht schon im Anfang des XIV. Jahr -
hunderts circulirten. Der Hauptwerth dieser Gedichte beruht in ihrer literarisch-historischen
Bedeutung, der Technik und dem stilistischen Werthe nach stehen sie viel tiefer als die
Alexandreis.
Dasselbe gilt auch von zwei anderen Gedichten aus dem Sagencyklus von Artus
uud seiner Tafelrunde, nämlich von Tristram und Tand arias. Tristram, das umfang -
reichste altböhmische epische Gedicht (beinahe 9000 Verse), ist aus zwei wesentlich ver -
schiedenen Theileu zu einem Ganzen vereinigt worden; der erste davon rührt etwa aus der
Mitte des XIV. Jahrhunderts her und entstand aus der mangelhaften Übersetzung eines
70
gleichnamigen deutschen, jetzt verschollenen Gedichts des Eilhard von Oberge, während
der zweite einem jüngeren Verfasser, der in der Arbeit seines Vorgängers namentlich
nach Gottfried von Straßburg und Heinrich von Freiberg ziemlich geschickt fortfuhr,
angehört. Tandariäs ist eine freie Bearbeitung von Pleiers „Tandarois und Flordibel"
(XIII. Jahrhundert); im Gegensatz zu dem weitschweifigen Original zeigt sich in ihm das
löbliche Streben nach Kürze und infolge dessen nach einer gewissen Selbständigkeit. Seiner
Entstehung nach stammt es aus dem Ende des XIV. Jahrhunderts.
Neben der Sage und den erdichteten Stoffen beeinflußte der Nomantismus auch
ein anderes Gebiet des einheimischen Schriftthums nachdrücklich und durchgreifend. Wir
meinen die böhmische Geschichte, welche im ersten Viertel des XIV. Jahrhunderts ein
unbekannter, gemeiniglich Dalimil genannter Schriftsteller in einer Reimchronik
bearbeitete. Er beginnt mit der Urzeit und schreitet rasch vor bis zum Jahre 1318; mit
Vorliebe schildert er Sagen, Heldenthaten und denkwürdige Begebenheiten, besonders
solche, die zur Verherrlichung des böhmischen Namens wesentlich beitrugen, nicht selten
gibt er aber auch in trockenen Worten nur ein Skelet der Handlung. Der Einfluß des
Nomantismus zeigt sich bei ihm vorzugsweise im stürmischen Patriotismus, ja mitunter
in überspannter patriotischer Gesinnung. Das ganze Werk wurde schon zur Zeit Johanns
von Luxemburg in gereimten Versen ins Deutsche übersetzt. Die Richtung, welche der
Urheber der Dalimil'schen Chronik eingeschlagen hatte, wurde mehrfach nachgeahmt und
veranlaßt neue Gedichte über einheimische Begebenheiten. Gelungenere Versuche dieser
Art sind in einzelnen gleichzeitigen historischen Liedern erhalten; geringen Werth haben
die eigentlichen Reimchroniken, von denen einzelne Proben bis zum Schluß des XV. Jahr -
hunderts Vorkommen.
Mit dem romantischen Element in der böhmischen Poesie wetteifert gleich im Anfang
die didaktische Tendenz und nimmt im Laufe des XIV. Jahrhunderts so überhand,
daß sie den Verfassern zum Hauptziel wird. Gern geschieht dies in Form der Fabel, bei
der die Handlung oder in einer besonderen Art des Physiologus, bei dem die Erklärung
vorwiegt. Nicht selten verliert sich die Lehre in abstractem Nebel; häufig werden auch
warnende Beispiele gewählt, um die menschlichen Untugenden lächerlich zu machen.
Der muthmaßliche Bestand zahlreicher Fabeln wurde erst im Jahre 1887 uach-
gewiesen, als man einen gereimten Aesopus (3242 Verse) oder 60 Fabeln aus der
Sammlung des Romulus in einer Handschrift entdeckte. Die Bearbeitung reicht in die
erste Hälfte des XIV. Jahrhunderts und ist für die böhmische Literatur von ähnlicher
Bedeutung wie für die deutsche der gleichzeitige Edelstein Boners. Nicht minder denk -
würdig, aber origineller ist das durch theilweise Nachahmung mittelalterlicher Physiologe
entstandene allegorisch-didaktische Gedicht „Xovü UuärU (Der neue Rath), welches im
71
Jahre 1394 bis 1395 der böhmische Edelmann
Rychmburk (gestorben 1403), ein Brndersohn
-^r?icncknv6
ist)
"soljmoy
bvchvrc
ÄwkS'
mrM
Smil Alaska von Pardubitz und
des berühmten Erzbischofs von Prag
Ernst, verfaßte. Es enthält eine Debatte
der Thiere, die der junge König — der
Löwe — zu sich kommen läßt, um von
ihnen nach ihrer Erfahrung den nöthigen
Rath zu bekommen. Wenn auch zum
Theile breit und schwach, ab und zu
unnatürlich nüancirt — der Leopard
zum Beispiel und der Elephant rathen
dem König zur Frömmigkeit — zeigt
doch das Ganze kernigen Witz und
anmnthige Beredtsamkeit. Dieses Ge -
dicht hat anfangs des XVI. Jahr -
hunderts Johann Dubravins, Bischof
von Olmütz (gestorben 1553), in
lateinischen Versen zur Belehrung des
Königssohnes Ludwig bearbeitet. Ein
anderes Werk, welches ebenfalls mit
Smil Flaska's Namen in Verbindung
gebracht wird, ist die Ha 6a oteo
s^novi (Der Rath des Vaters an
seinen Sohn) oder Lehren, welche ein
alter Edelmann seinem heranreifenden
Sohne gibt, wie er sein Leben regeln
und die Ehre des Ritterstandes fördern
soll. Die Tendenz ist edel, der Grund -
gedanke derselbe wie in dem mittel -
alterlichen deutschen Gedicht „Der
Winsbeke".
Zu dieser einfachen didaktischen
Aus: Ritter Thomas vons^tltnö und seine Kinder. Ärt steht im entschiedenen Gegensatz
das mystisch-allegorische Gedicht Alan
(XlV. Jahrhundert), benannt nach Alan von Ryssel, mit dessen Anticlaudianns cs
dem Inhalt nach übcreinstimmt. Die Weisheit, die Botin der Tugenden, fährt darin
durch neun Himmel hindurch bis znm Throne Gottes und erhält hier das Versprechen,
nuÄvL' uemHÄL wrumvety k
U')>süi^tv
MMSSMyodMMvL.HZL
luwkt
KNLÜ
72
daß die verdorbene Menschheit durch die Ankunft des Erlösers sittlich regenerirt werden
soll. Meditationen und weitschweifige, sonderbare Erörterungen charakterisiren das Werk.
Andere Gedichte aus dem didaktischen Gebiete sind fast ausnahmslos von einer
religiös-erbaulichen Tendenz durchdrungen. Oft haben sie einen allegorischen Charakter,
indem sie den Kampf des guten und bösen Princips darstellen, wie zum Beispiel der in
mehreren Bearbeitungen vorliegende 8xor änse o tölsrn (Der Kampf der Seele mit dem
Leibe), Lravän (Die Wahrheit) und ähnliche; meist schlagen sie einen tadelnden Ton an,
wobei es nicht an Drohungen und warnenden Beispielen fehlt. Eine ganze Sammlung
derartiger Proben findet sich in dem Gedicht vosntoro kä^nni doLi'ell (Die zehn
Gebote Gottes). Hier und da gewinnt das satirische Element die Oberhand, manchmal mehr
von feinerer Art — wie im 8vür voä^ s vinsna (Der Streit des Wassers mit dem
Weine) —, manchmal wieder derber — wie in den 8atir;- o ronaoslnioioll (Satiren
von den Handwerkern). Eine humoristische Nüancirung sieht man in dem satirischen Streit -
gedicht ,?oäüoni n Lull« (Der Stallknecht und der Vagant).
Auf dem Gebiete der geistlichen Poesie gelangt besonders zur Zeit des Erzbischofs
Ernst von Pardubitz (gestorben 1364), des weisen Rathgebers und Freundes Karls IV.,
das Kirchenlied zu hoher Vollkommenheit. Auch fehlt es schon frühzeitig nicht an
hymnischen und psalmodischen Versuchen; anfänglich nur schüchtern, etwa Glossen in
lateinischen Texten und unvollkommene Übersetzungen, streben sie seit Anfang des XIV. Jahr -
hunderts theils im begeisterten Mariencultus, theils in zahlreichen Bearbeitungen des
Psalters dem Gipfelpunkt zu.
Die epischen Gedichte dieser Periode haben zum großen Theile denselben Charakter
wie die weltlichen Gedichte der romantischen Schule, mit denen sie in gleicher Atmosphäre
entstanden sind: sie lieben Wunder und phantastische Combinationen, häufig moralisiren
sie und verfallen nicht selten in einen klagenden Ton. Von Ursprünglichkeit kann man
nur bezüglich ihrer Einkleidung sprechen, aber auch da machen sich nicht selten fremde
Muster bemerkbar. Am meisten wurden Legenden in Versen verfaßt, wobei man in der
Regel lateinische Vorlagen benutzte, besonders solche, die ihren Inhalt entweder aus den
Apokryphen oder aus der sehr verzweigten und überaus bunten Tradition von den
Auserwählten des Herrn schöpften. Schon am Ende des XIII. und in den ersten Jahren
des XIV. Jahrhunderts kann man ganze Legendengruppen bemerken, darunter einzelne,
welche, soweit man nach den erhaltenen Bruchstücken urtheilen kann, sowohl der Reich -
haltigkeit ihrer Handlung, als auch ihrer kernigen Sprache und ihrem vollendeten
Reim nach zu den werthvollsten Producten der damaligen Poesie gehören. Zum Mittel -
punkt haben sie meist Personen und Begebenheiten aus dem neuen Testament. Nach
einheimischen Quellen wurde die große Legende vom heiligen Prokop, welche vollständig
73
erhalten ist, verfaßt, doch der Verfasser hatte wenig Talent, so daß er eher ein Conglomerat
mannigfaltiger Nachrichten über den Patron und Beschützer des Landes als ein dichterisches
Werk lieferte. Am eifrigsten wurde die Legende unter dem Kaiser Karl IV. gepflegt, der
den Cultus der Heiligen mit Begeisterung förderte; damals ist neben anderen ohne Zweifel
auch die größte und bedeutendste böhmische Legende, jene von der heiligen Katharina
entstanden; sie heißt „die Stockholmer Legende" nach ihrem Fundorte, wohin sie zur Zeit
des dreißigjährigen Krieges mit vielen anderen Büchern und Handschriften verschleppt
worden war. Sie ragt durch schöne, blumenreiche Sprache und stilistische Fertigkeit hervor,
dagegen fehlt es ihr an poetischer Wärme. Den meisten anderen Prodncten der geistlichen
Poesie kommt nur eine culturelle und sprachliche Bedeutung zu, ihr poetischer Werth ist
nicht erheblich.
Mit der geistlichen Poesie sind auch die dramatischen Erstlinge, nämlich jene
Texte, die ursprünglich bei jährlich wiederkehrenden Festen, namentlich zu Ostern, lateinisch
gesungen und recitirt wurden, innigst verbunden. Derartige Proben finden sich in böhmischer
Übersetzung schon zu Anfang des XIV. Jahrhunderts vor; ihnen folgen bald längere
Texte, die nach der allgemein herrschenden Sitte der größeren Mannigfaltigkeit halber
durch weltliche Elemente erweitert wurden und allmälig den Charakter wirklicher Spiele
annahmen; es entstehen Einschiebsel, ja ganze Scenen mit profanem Text, vor denen
der eigentliche religiöse Zweck ganz in den Hintergrund tritt. Ein charakteristisches Denkmal
dieser Richtung ist die Episode aus einem Osterspiel ,iVlastioüLr" (Der Quacksalber), in
welcher Meister Severin, ein Salbenverkäufer, mit seinen Gehilfen Rubin und Pusterpalk
ansgelassene Possen und Gaukeleien treibt. Von Passionsspielen, die namentlich in Deutsch -
land seit jeher beliebt waren, haben sich nur unbedeutende Bruchstücke erhalten.
Auch der erzählenden Prosa bemächtigte sich der romantische Geist nicht weniger
wie der weltlichen und geistlichen Epik, ja man kann sagen, daß namentlich in dieser
literarischen Gruppe die zügellose Phantasie am meisten zur Schau tritt. Der trojanische
Krieg des Guido von Columna und das Leben Alexander des Großen von Psendo-
Kallisthenes, die Geschichte des Apollonius von Tyrns, Stilfrid und Bruncvi'k
und andere bezaubern den naiven Sinn und stellen ein wahrhaftes Märchenlabyrinth
dar. Auch die sonderbare Form eristischer Auseinandersetzungen, in welchen die morali-
sirende allegorische Poesie mit Vorliebe sich bewegte, fand Nachahmung im „Tkadlecek"
(der Weber) oder im „Streite zwischen dem Liebenden und dem Unglück wegen des
Verlustes der Geliebten."
Auf dem geistlichen Gebiete wird die Wunderwelt nicht weniger gepflegt; so in
dem berühmten Roman von Barlaam und Josafat, in den biblischen Erzählungen
Ävol ^äamüv (Adams Leben), 2ivot üoscllüv und seiner Gemalin „Asseneth",
74
theilweise auch im 2ivot Xrista ?aua (Das Leben Jesu Christi), einer Bearbeitung der
ülackitaliones vitaa Ollristi des heiligen Bonaventura, die zur Zeit Karls IV. verfaßt
wurde und in sprachlicher Hinsicht wie auch der Art der Erzählung nach zu den Zierden
altböhmischer Literatur gehört. Die eigentlichen Legenden wurden in der zweiten Hälfte des
XIV. Jahrhunderts in zwei Sammelwerken vereinigt, »knZsioiral« und „^ivotovä
n roei 8V. Otcüv 6F^pt8Ü;>oir« (Leben und Reden der heil, egyptischen Väter).
Das erste ist eine freie Bearbeitung der »llsFsncka nrirea" des Dominicaners Jakobus
de Voragine, wobei die Nachrichten über die heiligen einheimischen Patrone hinzugefügt
wurden; die Grundlage des zweiten bildeten die „Vitaa pntrnm" des heiligen Hieronymus.
Die wissenschaftliche Prosa hatte in der lateinischen Sprache, welche damals
in Kirche, Schule und Wissenschaft ebenso herrschte wie in den Acten der politischen
Verwaltung und des öffentlichen Lebens, eine mächtige Gegnerin; es war freilich nicht
leicht, ihre Positionen zu erobern. Ein wichtiger Fortschritt geschah erst unter Karl IV.
durch die Gründung der Prager Universität. Diese hatte zwar einen internationalen
Charakter und vertheidigte das Privilegium der lateinischen Sprache in der Wissenschaft
mit zünftiger Eifersucht, dennoch bot sie die unschätzbare Gelegenheit zur Vertiefung und
zum Austausch der Kenntnisse, was auf das einheimische Schriftthum nicht ohne Einfluß
blieb. Daneben wirkte überaus wohlthätig die Gunst des erlauchten Herrschers, der nicht
blos die böhmische Sprache vollkommen beherrschte, sondern auch zur literarischen Thätig-
keit eifrig aufmnnterte.
Namentlich war es derthealogische Wissenszweig, der nach mannigfaltigen früheren
Versuchen und Vorbereitungen (wie z. B. Gebete, Psalter, Evangelien und überhaupt
Übersetzungen von biblischen Büchern) damals zu voller Blüte gelangte. Es stimmt dies
vollkommen überein mit den Anforderungen der damaligen Richtung der Kultur, deren
wichtigster, ja vielfach einziger Repräsentant eben der geistliche Stand war. Directen Anlaß
dazu boten die Bestrebungen religiöser Eiferer, die sich in der zweiten Hälfte des XIV. Jahr -
hunderts mit elementarer Leidenschaft theils gegen den allgemeinen sittlichen Verfall, theils
gegen den entarteten geistlichen Stand erhoben. Berühmte Prediger, wie Konrad Wald-
hanser, ein Deutscher, den im Jahre 1358 Karl IV. aus Österreich nach Prag berief, und
sein Zeitgenosse Johann Milic aus Kremsier, ein Mährer, der, um das Wort Gottes frei
predigen zu können, der Würde eines Erzdiacons bei der St. Veits-Kirche entsagte, riefen
in allen Schichten der Bevölkerung eine bis dahin nicht gesehene Begeisterung hervor und
erweckten eine flammende Sehnsucht nach Sittenreinheit und Wahrheit. Auf literarischem
Gebiete erlangten sie freilich nicht jenen Erfolg, dessen sie sich als Prediger rühmen
durften; in dieser Hinsicht zeichneten sich erst ihre Anhänger und Nachfolger M. Mathias
von Janov (gestorben 1394) und Thomas von Stitnö (von 1331 bis 1402) aus.
Der erste verdankte seine Bitdung der Pariser Hochschule, war Canonikus des Prager
Domkapitels und verfaßte in lateinischer Sprache sein denkwürdiges Werk: Vs rs^ntis
vslsris et novi tsstninsirti, in dem er die Grundprincipien des Christenthums ent -
wickelt und auf das göttliche Beispiel des Erlösers hinweist. Der zweite, Thomas von
Stltne, ein Vladyka aus dem südlichen Böhmen und Zögling der Prager Universität,
betrat nicht die bei den damaligen Gelehrten gewohnte Bahn, cr schrieb nicht lateinisch
und in der dunklen Manier der theologischen Casuistik, sondern er liebte die Volkssprache
, und bot in klarem, anmuthigem,
d von allem leeren Philosophiren
freiem Stil Belehrung. Seine
Werke sind nicht Producte einer
Fachgelehrsamkeit, sondern die
Resultate einer frommen und
geistvollen Reflexion über die
wichtigsten Dinge der christlichen
Moral und Dogmatik; er selbst
leitet in seiner ungekünstelten
Bescheidenheit ihren Ursprung
aus dem Verkehr mit dem be -
geisterten Milic ab, ans der Be -
rührung mit gelehrten Freunden,
aus den Exegesen der Kirchen -
lehrer und aus der fleißigen
Lectüre der heiligen Schrift.
Was er hier fand, bearbeitete er
mit sorgfältiger Hand, theils zur
Belehrung seiner Kinder, theils
zur eigenen Erbauung. Er wählte
dazu meist die Form kleinerer Tractate, die er dann nach ihrer Verwandtschaft in größere
Sammelwerke vereinigte, für den weiteren Gebrauch änderte und oft auch von Grund aus
nmarbeitete. Unter den ursprünglichen haben den größten Werth die ,vsei dsssckni"
oder fromme Gespräche zwischen Vater und Kindern über Gott, die Engel und die
Menschheit, ein Werk von speculativem Charakter, das hier und da mystisch angehaucht
ist, dann die „Knills Lsstsr^ o obsen^cti vsesell krsst'ansk^eU" (Sechs
Bücher über allgemeine christliche Dinge) und die ihnen ähnlichen ,UniU^ nnuesnt
üdssl'nnsüsllo" (Bücher der christlichen Lehre) mit moral-philosophischem Inhalt.
Cosmas von Prag; nach der Leipziger Handschrift.
76
Unter den Übersetzungen lenkt das mystische ^joveni sv. LriFitt^-- (Die Offenbarung
der heiligen Brigitta) die Aufmerksamkeit auf sich. Stitne wird mit Recht der bedeutendste
altböhmische Prosaiker genannt. Meisterhaft weiß er den Neichthum der einheimischen
Sprache auszunutzcn, so daß er ihm auch vortrefflich zu Bearbeitungen solcher Stoffe
dient, an die sich bis dahin nur die lateinische Sprache wagte; seine Sprache ist nicht blos
fließend, sondern geradezu von elastischer Gediegenheit. Durch den Unwillen und die
Feindschaft der Gelehrten, die in seiner Thätigkeit eine Profanation ihrer wissenschaftlichen
Interessen sahen, ließ er sich durchaus nicht abschrecken; er harrte aus und vollendete
Werke, die eine bleibende Zierde des böhmischen Schriftthums bilden.
Neben der theologisch belehrenden Gruppe verlieren sich beinahe die Producte der
historischen Prosa. Auf diesem Gebiete wurde fast Alles lateinisch geschrieben. Den
Anfang machte Cosmas (gestorben 1125), Dechant des Prager Domkapitels, der Vater
der böhmischen Geschichtsschreibung, mit seiner berühmten Chronik von der ältesten Zeit bis
zum Regierungsantritt Sobeslavs 1. Seinem Beispiel folgten dann alle angeseheneren
Annalisten, wie Vincentius, Prager Canonikus, Gerlach, Abt von Mühlhausen,
Peter von Zittau, Abt des Königsaaler Klosters (gestorben 1338) und Andere. In
großer Zahl entstanden solche Chroniken während der Regierungszeit Karls IV., der zur
Bearbeitung des historischen Stoffes aufmnnterte und selbst erfolgreich Hand anlegte; neben
anderen schrieben in jener Zeit über böhmische Geschichte Johann Marignola, Bischof
zu Bisignano in Calabrien, ein Florentiner, Franz von Prag, Benes Krabice von
Weitmile und Priblk Pulkava von Hradenln. Eine böhmische Originalarbeit ist blos
die erwähnte Reimchronik Dalimils.
Ein werthvolles Denkmal juridischen Inhalts bildet das sogenannte Rosen -
berger Buch (anfangs des XIV. Jahrhunderts); es enthält Belehrungen über einzelne
Fragen der böhmischen Gerichtspraxis. Auf ihrer Grundlage entstand beinahe hundert
Jahre später eine zweite berühmte juridische Schrift, ,VMnll irn prävo romslco-
(Die Erklärung des Landrechts) von Ondrej z Dube (gestorben 1412), Oberstland -
richter von Böhmen. Sonst beruhte das Hauptwesen jeder jndiciellen Ordnung in
Böhmen, Mähren und Schlesien auf den Landtafeln, die unter Premysl Ottakar II.
entstanden sind und nicht blos zur Jntabulirnng von Gütern, sondern auch zur Eintragung
wichtiger Entscheidungen der Gerichte, der Landtage, wie überhaupt jener Bescheide, die
politischer Natur waren, dienten, so daß sie infolge dessen die Geltung eines allgemeinen
Gesetzbuchs hatten. Diese Tafeln wurden lateinisch geführt, obzwar die eigentlichen Ein -
tragungen auch böhmisch stattfanden, bis zum XV. Jahrhundert, wo ihre Amtssprache
böhmisch wurde, zuerst in Schlesien (1426), dann in Mähren (1480) und schließlich in
Böhmen (>495).
77
Von einem regen literarischen Interesse zeugen schließlich auch die altcrthümlicheu
lexikographischen Denkmäler. Die Erstlingsarbeiten dieser Art erscheinen in Form
von Glossen, wie sie z. B. in Salomons Mater verdorum", etwa aus der Mitte des
Xlll. Jahrhunderts, enthalten sind; später werden die Wortvorräthe entweder nach der
Ähnlichkeit der Bedeutung (z. B. Lodeinarlug maior und das Preßburger Voca-
bnlarium in Hexametern) oder schließlich auch nach dem Alphabet geordnet.
Die mittlere Zeit der böhmischen Literatur umfaßt die schriftlichen Denkmäler
vom Jahre 1410 bis zum Jahre 1774. Dieselben sind sehr zahlreich, sprachlich und
inhaltlich durch verwandten, gleichmäßig fortschreitenden Charakter gekennzeichnet. Ihre
Sprache gewinnt einestheils durch Anlehnung an den Volksdialect, anderntheils durch
den bildenden Einfluß lateinischer Muster feste Formen und im Inhalt macht sich
allenthalben der Wiederhall religiösen Eifers bemerkbar. Populäre Schriften in Prosa
tauchen massenhaft auf; die poetische Thätigkeit ist von untergeordneter Bedeutung. Die
Wissenschaften werden größtentheils lateinisch gepflegt.
Religiöse, culturelle und politische Änderungen bedingen die Theilung dieser Zeit
in drei Perioden, und zwar: 1. Vom Aufkommen der husitischen Lehre bis zum Tode
Georgs von Podcbrad (1410 bis 1471). 2. Von der Thronbesteigung Wladislaw des
Jagellonen bis zur Schlacht am Weißen Berge (1471 bis 1620). 3. Von der Schlacht
am Weißen Berge bis zur Regelung des Volksschulwesens unter Maria Theresia (1620
bis 1774).
In der ersten Periode sehen wir ein Bild ruheloser Verhältnisse, welche die
materiellen und geistigen Kräfte des Volkes aufs äußerste zerrütten. Sie sind das Resultat
vieler vorangehender Umstände, die der Zeitgeschichte ein eigenthümliches Gepräge ver -
leihen. Der mächtige Cnlturstrom, der ein halbes Jahrhundert lang von der Prager
Hochschule ans sich über Böhmen ergoß, die Berührungen mit Vertretern der Civili-
sation von einem großen Theil Europas, der materielle Wohlstand und das politische
Ansehen äußern einen günstigen Einfluß nicht nur auf die Entwicklung der Literatur,
sondern auch auf die Hebung des nationalen Bewußtseins und auf thatkräftiges Auftreten
in Allem, was die wichtigsten Interessen der damaligen Gesellschaft betraf. Im Vorder -
grund dieser Interessen stand die Reform in Glaubenssachen und in den Einrichtungen der
Kirche; dafür setzten nicht nur Einzelne entschlossen ihr Leben ein, sondern auch das ganze
Volk stürzte sich muthig in den Kampf und erregte durch Kriegserfolge das Staunen
Europas. Das blutige Ringen lähmte zwar auf lange hinaus die Fortschritte der Literatur,
hatte aber auch zur Folge, daß das böhmische Element überall das Übergewicht erlangte
und, sobald ruhigere Zeiten eintraten, ziemlich schnell die Verluste wettmachen konnte, die
es in cultureller Beziehung erlitten hatte.
78
In den damaligen Literaturdenkmälern spiegelt sich der Zeitcharakter deutlich ab.
Anfangs sieht man überall die Fülle religiösen Eifers; dann stellen sich Parteileidenschaften
ein im Gefolge von Kriegsgetümmel und dogmatischen Grübeleien; die körperliche und
geistige Abgespanntheit sucht endlich Erquickung in mystischen ascetischen Ansichten.
Die poetische Thätigkeit weist in einigen Richtungen eine Fülle von Producten auf,
während sie in anderen entweder völlig brach liegt oder doch nur geringe Lebenskraft
verräth. Der künstlerische Werth ist unbedeutend, denn die Stürme und endlosen Partei -
kämpfe ertödten den Schönheitssinn oder beschränken und lähmen jede freiere Bewegung
und Entwicklung. So ist die weltliche Lyrik nur spärlich vertreten, ob wir nun die volks-
thümliche oder die kunstmäßige Richtung ins Auge fassen. Die meisten erhaltenen Reste
gehören noch dem erotischen Kunstliede an, aber es sind größtentheils ältere Products,
nur in späteren Abschriften fixirt. Formell nicht selten geschmackvoll ausgeführt, zeigen
sie oft auch wieder eine nachlässige Form und innere Leere, die durch verkünstelte
Empfindelei schlecht verhüllt ist. Strophische Gliederung ist dabei von früher her über -
nommene Regel; namentlich die dreitheilige Strophe, wegen ihres lebhaften Charakters
in Böhmen seit jeher beliebt, tritt öfters auf, selbst in dem berühmten Kriegsliede der
Taboriten »LckoL jste Uom bojovrnci", das mit Donnerstimme zum Kampfe gegen die
„Feinde der Satzungen Christi" auffordert.
Viel besser entsprachen dem Charakter der Zeit Lieder epischen Inhalts, durch
welche man verschiedene Private und öffentliche Zeitereignisse verbreiten und den Lesern
zurechtlegen konnte. Von dieser Art ist z. B. das ältere Lied ,0 Storaborüovi
welches die meuchlerische Tödtung eines jungen Edelmanns bei einem Besuche in Melnik
lebendig und ergreifend schildert, oder ,0 bitvs preä Üstim" (Von der Schlacht bei
Aussig), mit Einzelnheiten über die Niederlage des deutschen Heeres im Jahre 1426,
,0 rnjeti Sigmunän Lor^dutn" (Von der Gefangennahme Sigmund Korybuts) im
Jahre 1427, ,0 ditve u Vnrir^" (Von der Schlacht bei Varna) im Jahre 1444 und
viele andere. Manchmal geht das Lied in chronikartige Erzählung über, die nach dem
Vorgänge Dalimils gereimt ist, wie z. B. »UoLätirove llusitstvi" (Die Anfänge des
Husitismus), oder ,0 vülce 8 Ullr^ I. 1468—1474" (Von dem Kriege mit Ungarn).
Von eigentlichen Neimchroniken sind nur Bruchstücke erhalten.
Sehr oft enthalten die geschichtlichen Lieder schmähende Anspielungen, da sie Wohl
ausnahmslos von Parteigängern herrühren und daher oft in Satiren übergehen. Die
populäre Form des Liedes blieb auch hier gewahrt, aber der poetische Werth ist gänzlich
gesunken. Von den zahlreichen Producten dieser Art sind etwas mehr bekannt ,2b>nrv6ni
mirioliovö" (Die gefärbten Mönche), na Hu8itx" (Klagen gegen die
Husiten), ,0 Uoü^ennovi« (Das Lied von Rokycana) und andere.
»ccstncrstc scrorst-stci, >XcstSn ostra
tin> sc 6ic>n br-ik'i»,; stcr^i; st> naS ü
>»»,pronxi;cst reckst stic.;nxiskr,.r -
tr;i;c stcwn^cst ^rc>nxst>iticsc a;st>
Alisstcnr<nn^>tr;«>ivsR'cstcSnaö »c-
c><stck'kst st 6>v; tvinicr; insstc^stn c
cstotnicst 6c»n» siostannst.r >5 tiann
cpiv cstncst:oi, st„nstni>n> cicc^str»-
^'N ;c n'!stcstnn>stc.,sttt'ri N<n»st'ist'
c;^', a;rstn Lccsivsst' So st»c >'>>»cii: -«-
stnoS ilasstotoststnstv tosto sX'kvstnc
tnstnanistiastx'niststn n'ro;>nst>n'a
micstsiin-cst niostli nassticstati^ioro;
posticstuicclcs na»» p:;istl'>isti»n:
akn p.'inccoS naS ncoScsta;cst: ncr.st
stvcstoni xvsscc^' orr^c i> ivsstd- stcici
stncston, cstncst stasstcii' ostkcSast .stci
st'st ivjstcstobcsnn stS,n> ncinnost -
>'?Xstststnan.'>c^,ston.inu:^'!isti5u-u;
aticnurc-sloni' >x>stst»»iniic n.>n,Srst
-st^>orcstnacs nxiS ^>a„ ;i§vo>,n n>in»
rc stcrststntc»! st>strcc st» L?cii t^.ilcn,
sistc: poinsstc;st. Sni;,nx->m
>ixxrrcii)^»,,noni, st'v.ltii^c
b-ram;ai>iu>ifom' ststost»
st.ciccttsi:n'<^§catrst.
nncci slnsstst o^inino
non'iLinatcns »nstl cst
ssto;ts nistc »nzcsto n»! r
M'
stcncin^Acst ostvii'-^an-dicst sinn na E>
vW' ;aist> stncniacsn stitt,;a ^
>>ccstaii» ^rost; st'n; sinn^nincski
^sM^prrril»>>stra st stnastiann»ar,
jskc ster.^cststk,polcSni: nnSicst
sinn sflastna p>?cM KrSy csrst sc »>-
scßs' Snab ncstst: crcstosto tn^ sc osi»o
n»5-. nvstst, n-ckik.st -aG st,. A:,Sa st
»icnam ,,'lcqctta bvla vo vsicsRi -
s<^okSnssiin>vrrvk^sk-acKcn,„vststc
stnststnvsv.'astui- §>ratr?,jc rxrst^'^W
w« »aS s>ronn;cst: «asioinnnast si> st'M
iias'astnckoin st nistcsto: nckist: »c; st
a s» fflaß, r«Sratzn^st ^stV V
ssil ^?r«bst't»6c> stnan, insittniki
ni;cst ,ast»moi>o um»; nnicni:^>n;
»»Sicti binVtcst s> > n^crc,' >a v! s, ? Icb
stn» nn' nmolio n -nmion» n staSnon-
v rcst.ic?non' stnn»» ;l»is> rn!?nn-l --
.,'^ck st nikro pläno^cst^tx-nn': stncn,
kccnn; vn'-cr;» n-7iic^c stil"spastic5
ro abn Mp>ili s,v sta-i,ccst cv ssn,r^,,cn
n ^'»'sstsist nior;! n^iicst-stc'lst^,..- ^
st'0inro»i6lnnki »in si,n'sts>ro»iSst'^
k» ncnncn- nasflicn'iiccc a wncac
sstacstc»n.its a sirost'st simn^nst.astn s
pofsstrsti;a st;Sni örastn, ncstst:astst'a..
cncAii<stn'cstc,n vprsticoin strast st c;c- Di
sst'- -Eicstnisr.istrnrcstncinc'st.i stvrcM
rstnNX' st,! >tt>i»! nn;Sr;cn DtIcst;>> ^
Sca^n;:., Ayst^csst »cSastst» cStriSna'
st^^cstscrcsHml: nvtä^cstna »>rS:
astncstcn^kniämr s^st asso-ncnxi!, st ^ »7
st»,q! tcc nncc^n <Lcöc>> »ast stratr >7^^
n^'strcstivprost »ai,,: q nucstcst>M- 7
ncstrstd stvn^stastis»» :»cstrstna»n?
^cp,ü^nan»rc;^»cstm?stii! nvstst» rc>;
Srast:a st ncstnScnrn >n,< »isc^ ans st
ststSiciirscIcsto.1 ^asti st,csst: ;n»sti ^
ststc^roic: stst«!)» »r^ ttlc?ta^>n«c
stc ncnnstist pcau'i^cc^stcn st»n
nnistrst^asto rvstc Svasti 6cr>>> nacain
»>c cstst u'cüstc a «a varn»;-sttc stst-
Blatt eines altböhmischen Legendenbtlches von 1516: „Das Leben der heiligen Wüstenbewohner.'
80
Die Tendenz, welche beinahe die gesaimnte Zeitliteratur durchdringt, tritt mit
Vorliebe auch auf didaktischem Gebiete auf, und zwar entweder in moralisirender oder
in religiöser Richtung; so die dialogische ,kkaäa Lvir-rk" (Der Rath der Threre), etwa
dem Anfang des XV. Jahrhunderts angehörend und auch der etwas später entstandene
„Otvarollrairüe" (Der Vierkanter oder Vierschröter), nach den vier Cardinaltugenden so
genannt, eine Prosa-Übersetzung der Apologie des Cyrillus.
Die religiöse Tendenz tritt am schärfsten bei Herrn Ctibor Tovacovsky von Cunbnrg
(gestorben 1494 als Landeshauptmann der Markgrafschaft Mähren) hervor, und zwar in
seinem allegorischen Werke „Hüäarrr?ravä^ n 4>Li o ürrtzLsüe rdom a Miro vom stell«
(Streit der Wahrheit und Luge über die Güter der Geistlichkeit und ihre Herrschaft), wo
wir den Wiederhall der damaligen endlosen Kontroversen zwischen den Hnsiten und der
römischen Kirche zu hören bekommen. Der poetische Werth dieses Denkmals besteht einzig
in der reichen, blumigen Sprache, die von biblischen Reminiscenzen durchsättigt ist und
sich dadurch nicht selten einen erhabenen Schwung aneignet; Inhalt und Einkleidung sind
eintönig und ermüdend.
Auf dem Gebiete der geistlichen Poesie kann man nur in einer Richtung von
Fortschritt sprechen, und zwar bei dem Kirchenlieds. Hier mußte infolge der religiösen
Bewegung der bis dahin überwiegende Einfluß des rituellen Lateins trotz aller Bemü -
hungen der Geistlichkeit nach und nach der Nationalsprache Raum gewähren. Böhmische
Lieder, als kräftiger Ausdruck dogmatischer Orthodoxie, erklangen immer mächtiger
nicht blos in überliefertem Wortlaute, sondern oft in neuen Fassungen, die theils als
Übersetzungen aus dein Latein, theils als Nachahmungen, theils als Originalproducte
beliebten Melodien sich anschmiegen. Bereits um die Hälfte des XV. Jahrhunderts war man
im Stande eine ganze Liedersammlnng anzulegen, wie das noch erhaltene Cancionale
von Jistebnitz beweist. In der Folge wurde die Zahl der böhmischen Kirchenlieder fort -
während vermehrt, weil nicht nur das allgemeine Interesse ihre Production förderte,
sondern auch die neuen religiösen Sekten ihre Lehren auf diese Weise am kräftigsten ver -
breiteten. Dem entgegen erlangte der lateinische Gesang nie mehr eine größere Bedeutung;
er wurde zwar von den Humanisten eifrig gepflegt und auch von den Genossenschaften der
Literaten zum Theile gefördert, aber dem Volke blieb er fremd und konnte deshalb nur
künstlich und auf kurze Zeit erhalten werden.
Der erzählenden Prosa fiel in dieser Zeit die Rolle der ehemaligen epischen
Dichtungen zu, die demokratisirte Einkleidung verschaffte ihr überall freundliche Auf -
nahme. Doch fehlte es der reichen Production an Originalität. Der weltlichen Lectüre
genügten meist Abschriften älterer Denkmäler (Geschichte Alexanders, Trojanische Chronik,
Tkadlecek, Apollonius von Tyrus, Gesta Romanornm, Bruncvik), teilweise auch neue
«1
Übersetzungen (Walter und Griseldis, Briselidis und der Ritter Rudolf); ebenso ging man
bei den geistlichen Stoffen vor: beliebte ältere Stücke wurden abgeschrieben und nach
Bedarf umgearbeitet (Adams Leben, Asseneth, Barlaam, Passionale, Das Leben der
heiligen Väter), oder es kamen neue Übersetzungen auf. Von letzteren sind namentlich:
Oteni 5likoäsmovo (Modems Evangelium), SoikeriruZ, Lalinh llamant 8v. Oteü
v tamnoslealr (Der heiligen Väter Klage in der Finsterniß), Rriüovo vickvni (Georgs
Vision) bemerkenswert^
Die lehrhafte Prosa überragt die bisher genannten Denkmäler unendlich an
Wichtigkeit. Um ihre formelle Ausbildung und Vervollkommnung hat sich M. Johannes
Hus direct und indirect unvergängliche Verdienste erworben. Direct zeigte sich sein Einfluß,
insoferne er statt der unbequemen Gruppenorthographie zur Bezeichnung der der
böhmischen Sprache eigenthiimlichen Laute, Punkte und Striche als diakritische Zeichen
über den Buchstaben des lateinischen Alphabets aufnahm, und auch darin, daß er die
Schriftsprache nicht nur rein, sondern auch allgemein verständlich zu machen suchte,
indem er verschiedene Formen, die aus dem lebendigen Verkehr bereits verschwunden waren
und nur in Literaturwerken sich traditionell erhielten, beseitigte. Sein indirecter Einfluß
ergibt sich aus seiner Lehre, wonach die Kenntniß der heiligen Schrift jedes Menschen
unausweichliche Pflicht sei; die Überzeugung davon hatte zur Folge, daß die Lectüre des
Buches der Bücher mit ungeahntem Eifer gepflegt und die daselbst herrschende Stilart als
allgemein giltige Norm angesehen wurde.
Den eigentlichen Schwerpunkt der prosaischen Production bilden die theologischen
Werke, denn an diesen betheiligen sich gerade die Männer, deren Schicksale und Lehrsätze
die Hauptquelle der literarischen Thätigkeit abgaben. Die erste Stelle gebührt zeitlich und
sachlich dem unglücklichen Prediger der Betlehemskapelle zu Prag, M. Johannes Hus
(1369 bis 1415). Seine zahlreichen böhmischen und lateinischen Schriften zeugen nicht
nur von einer umfassenden Kenntniß beinahe aller Wissenschaften der damaligen Zeit,
sondern auch von unbeugsamer Kraft der Überzeugung und musterhafter Würde des
Charakters. Originell sind sie nur so weit, als es sich um die Erklärung und Erörterung
der in denselben als richtig anerkannten Grundsätze handelt; die Grundsätze selbst beruhen
auf der heiligen Schrift, welche als die einzige sichere und feste Glaubensregel angesehen
wird. Diese evangelische Ansicht fand Hus am vollkommensten ausgedrückt in der Lehre
des berühmten Johannes Wiklef, dem er sich denn auch am nächsten anschloß und von
dessen Lehrsätzen er viele in seine Werke aufnahm. Nichtsdestoweniger folgte er den Spuren
Wikless nicht blind, sondern erwog sorgfältig alle Gründe, und was immer er von irgend -
woher übernahm, trachtete er mit der Lehre der katholischen Kirche in Einklang zu bringen.
Er dachte nicht daran, den allgemeinen Glauben durch kühne Neuerungen umzugestalten,
Böhmen. 6
82
sondern eiferte, wie seine frommen Vorgänger Waldhauser, Milic, Thomas von Stttne
und Matthias von Janov zunächst für die Besserung der praktischen Seiten des Christen -
thums oder für die Reform jener Institutionen, die nach seiner Ansicht der Gemeinde der
Gläubigen nicht zum Vortheil gereichten.
Als wichtigste Handhabe zur Erkenntniß der Richtung von Hus' Lehrthätigkeit
istsein »VFiriack vir^, äesatsra koLilro pkiicä^ani a iriockiitb^?üire^ (Erklärung
des Glaubens, der zehn Gebote Gottes und des Gebetes des Herrn) vom Jahre 1412
anznsehen. Es enthält in 96 Kapiteln eine Reihe von Tractaten, die wie dogmatische
Predigten eingerichtet sind und die Hauptsätze der christlichen Glaubens- und Sittenlehre
umfassen. Das Werk war hauptsächlich für die gebildeten Classen, vor Allem für den
Priesterstand bestimmt; zur Belehrung des Volkes im Allgemeinen sind immer zu Ende
der einzelnen Abschnitte kurze Summarien der wichtigsten Lehrsätze beigefügt. Ein anderer
wichtiger Tractat ,0 svatokirpoetvi" (Von der Simonie) vom Jahre 1413 bietet eine
rückhaltlose Schilderung der Mißbräuche, die sich in die Kirchenverwaltnng eingeschlichen
hatten, und gegen die bereits früher auch Matthias von Janov energisch aufgetreten war.
Die Grenzen der Wahrheit werden hier zwar nicht überschritten, wohl aber die Grenzen
der Mäßigung und Nachsicht, so daß der Verfasser hier schon ans einem Boden steht, auf
welchem an eine Versöhnung mit seinen Gegnern nicht zu denken war.
Unter seinen weiteren böhmischen Werken ragt die ,?ostilla« (1413) hervor, eine
geistliche Auslegung der sonntäglichen Evangelien des Kirchenjahres, welche in populärem
Gewände viele Anspielungen auf die damaligen Ereignisse enthält; ferner der ,V^kiack
pisniesll Saloirrnirov^olr« (Erklärung der Lieder Salomons), eine allegorische
Erläuterung des Textes. Die Begeisterung des Eiferers verfolgen wir deutlich auch
in Hus' übrigen Arbeiten, als da sind »vearlea« (Die Tochter), ,?rovü?6l<
tripi-airreirn^« (Das dreidrähtige Seil), ,v6V6t Irusü ?1at^elr° (Die neun goldenen
Stücke), der Tractat »0 Zesti kluckieir" (Die sechs Jrrthümer), welcher zur stetigen
Mahnung des Volkes an die Wände der Betlehemskapelle geschrieben war u. a. Auch
sind hier die ergreifenden Briefe zu nennen, die er ans dem Kerker in Constanz an
verschiedene Freunde richtete.
Mit der lehrhaften und schriftstellerischen Thätigkeit des M. Johannes Hus hängt
unzertrennlich der überraschende Aufschwung der biblischen Literatur zusammen. Gerade
dadurch, daß man die heilige Schrift in Sachen des Glaubens als die einzig sichere Grund -
lage ansah, wurde die Sehnsucht wach, die Wahrheit an der Quelle selbst zu erkennen,
und diese Sehnsucht wurde theils durch eigene Lectüre, theils durch die Vermittlung ver -
schiedener Eiferer, namentlich aus dem Priesterstande, so Vollkommen befriedigt, daß es
gar nichts Seltenes war, selbst Frauen aus dem Volke zu finden, die ihre Meinungen durch
83
Citate aus beiden Testamenten zu belegen verstanden. Diese geistige Regsamkeit hatte zur
Folge, daß die biblischen Bücher nicht nur einzeln abgeschrieben, sondern auch in einheit -
liche Cvmplexe zusammengefaßt wurden, wobei der vormalige Text lange Zeit entweder
ganz beibehalten oder zum Behuf des Verständnisses nur mäßig geändert wurde. Als
Hauptproduct dieses Sammeleifers stellt sich, so weit bekannt, die Slavatische (Leitmeritz-
Wittinganer) Bibel dar, zwischen den Jahren 1410 bis 1416 von Matthias Jacobi aus
Prag auf Pergament geschrieben und so prächtig ausgestattet, daß nach Dobrovsky's Worten
ihrer „sich der König nicht schämen dürfte"; neben dieser existirt noch eine lange Reihe
anderer Bibeln, unter denen die Leskowetzer (Dresdner), die Emanser (in glagolitischer
Schrift) und die Olmützer zu den ältesten und stilistisch originellsten gehören.
Hus' treuer Freund M. Hieronymus von Prag (cirea 1379 bis 1416) that
sich durch keine schriftstellerische Thätigkeit hervor, obgleich er ein Mann von hinreißender
Beredtsamkeit war und sich nebstdem einer umfassenden Kenntniß fremder Länder rühmen
konnte. Sein heftiger, immer nach Neuem strebender Charakter ließ ihn bei ruhigen:
Schaffen nicht ansharren, er brachte daher außer einigen literarischen Versuchen kein
größeres Werk zuwege. Dafür trug er durch seinen tragischen Tod zu der vollständigen
Änderung des nationalen Lebens sehr viel bei.
Die leidenschaftliche Gährung, die von den Constanzer Flammen angeregt alle
kirchlichen und socialen Verhältnisse in Böhmen zerrüttete, ergriff in kurzer Zeit die
gesammte Literatur und gab ihr einen scharf polemischen, unerfreulichen Charakter, weil
die Anhänger der verschiedenen Seiten sich mehr und mehr in Unnachgiebigkeit verrannten
und nur sich selbst für unfehlbar hielten.
Einen ganz eigenthümlichen Standpunkt nahm Peter Chelcicky (gestorben 1460)
ein. Er war ein einfacher Landmann ans der Umgebung von Wodnan, im Latein sehr wenig
bewandert, aber dafür ein eifriger, nachdenkender Leser böhmischer Schriften, der mit den
ersten einheimischen Theologen Persönlich bekannt und ihrer Lehren wohl bewußt war.
Über die heilige Schrift, namentlich die Bücher des Neuen Testaments grübelnd, war er
zu der festen Überzeugung gelangt, daß keine von den damaligen religiösen Parteien die im
Evangelium gepredigten Grundsätze durchführe, sondern daß jede aus weltlichen Beweg -
gründen von ihnen abweiche. Das Muster wahrhaft christlichen Lebens ist nach ihm in der
ursprünglichen apostolischen Kirche zu suchen, welche keine Gewalt eines Menschen über
den anderen, keine Standesunterschiede, sondern nur brüderliche Liebe kannte. Dieses
Verhältniß habe sich jedoch seit jeher sowohl durch weltliche als auch durch geistliche
Institutionen getrübt; es bleibe daher nichts übrig, als die Rückkehr anznstreben, und
zwar nach Christi Beispiel ans dem Wege der Geduld und Deinnth, da nnt materiellen
Waffen gegen die Bosheit der Welt anznkämpfen sündhaft sei. Diese seine Ansichten
84
verbreitete Chelcicky theils mündlich, theils schriftlich; gewissermaßen systematisch geordnet
enthalten sie seine zwei größeren Werke, die Luilru vFRluckuov (die Postille) und
8it vir^ (Das Netz des Glaubens). Die theoretischen Grundsätze Chelcickh's versuchte in
der Folge die Brüdergemeinde ins praktische Leben einzuführen.
Auf anderen Gebieten gibt es sehr wenig eigentliche Literaturproducte. Die
Philo sophie findet beinahe nur im Dienst der Religion Beachtung und fristet in bunten
Compilationen ein kümmerliches Dasein. Ziemlich umfassend beschäftigte sich mit ihr
der abenteuerliche Polyhistor M. Paul Zidek (gestorben nach 1471), ein Prager von
jüdischer Abkunft, in der Jugend Utraquist, später Katholik, der außer einer Schrift über
die Pflichten des Herrschers, „liri spravovirn" (Georgs Regierungsunterricht) genannt,
ein großes encyklopädisches Werk in lateinischer Sprache (, Inbor vi^iuti artium")
zusammengestellt hat. Es befindet sich in der Jagellonischen Bibliothek zu Krakau und
wurde seines riesigen Umfanges wegen mitunter dem polnischen Zauberer Twardowski
zugeschrieben.
Die Geschichte wurde sehr vernachlässigt. Es treten nur kunstlose annalistische
Versuche verschiedener Verfasser auf, welche nach eigenem Gutdünken und persönlicher
Neigung über die gleichzeitigen Ereignisse Aufzeichnungen machten. Besser war die
lateinische Geschichtschreibung bestellt, obschon auch sie von groben Mängeln nicht frei blieb.
Laurentius von Brezova, Magister der Prager Hochschule, verfaßte eine ausführliche,
pragmatische Schilderung der Ereignisse vom Jahre 1414 bis 1422. Von Belang sind
auch die Nachrichten Peters von Mladenovic über die Verurtheilung Hus' durch
das Constanzer Concil und einige andere Chroniken (zum Beispiel Bartoseks von
Drahynitz, Nikolaus von Pilgram), aber von künstlerischer Durchführung kann da nicht
die Rede sein.
Die Kenntlich fremder Länder und Völker wurde durch weite Kriegszüge und
Reisen gefördert. Daher erfreuten sich die Schriften über ferne Gegenden großer Beliebt -
heit, namentlich wenn sie nach den: Vorgänge des berühmten Millione von Marco Polo
wunderbare Einzelnheiten Vorfahrten. Diesem Geschmack entsprach ganz besonders die von
Laurenz von Brezova besorgte Übersetzung der bekannten „Wanderschaft des weitfahrenden
Ritters" Sir John Mandeville durch das gelobte Land, Indien und Persien. Aus
der Zeit Georgs von Podebrad rührt das interessante Tagebuch Jaroslavs, eines
Gefährten des Herrn Albrecht Kostka von Postnpitz, geschrieben während der Reise, die
im ^ahre 1464 eine diplomatische Hofgesandtschaft von Prag nach Frankreich unternahm,
und ebenso die ausführliche Beschreibung der Ritter-, Hof- und Pilgerreise, welche in den
Jahren 1465 bis 1467 Leo von Rozmital mit einem zahlreichen Gefolge ausführte.
Die Erlebnisse dieses Zuges, der über Frankreich nach Spanien und Portugal und von
Aus der Trojaner Chronik vom Jahre 1468.
oanne u>recr^ uo
d^k mektrve öawrre ^<ru>
»,o Fsu ^Smrwk^ ^ ^irr-e^o
^Mre«»krko^l ^uoboxn^
»pzöp ^rwUi^re ^Ln»e^r - ^r
MN Alcb ivekc^o^ sle^^m
zemm mero; » ^<^n»
nnnrr^eAo r^cr^u «Vöc^a. ietrr
x^nrt!rr ni^e^u-o^k zawv^re'
<r^e8 öru-a^r u>mc^ ör^re««
(^eb wre^^ UV^e8»»o^
tawna z^smrnanHe.k-^zöo ^e^ko«» krr^oLsmnim
ö^rpL u>rern^m ^r^ni»m » ^^^u-npcb b ^b<r
öa^ovv «»repna popsame kLem-zt» H»pm ;ac^owan,m
mr rrrke wrey^ rako;ü> ^riomnr ^V^mrr okazrrgr
s^mu^o«, ^abe^^cb ktrveziv ^krr^ ^preirr «-reß
^arvno ^e ^sH^b;8eökra>^ni ^rtamm »^r
«V obrrr^ ^rrc^om nL^rn, ozn»mrr^e»^6rytoj»^blv'
^anskebv'^re^a zrrr^me nenie ^oöne 8^ kiVre^o ^rr
i^a^.wre§u useör^oD 8^ko zaA(ä;e»io^Aez «8^
V^ckwrtzn^m ^^»mrnamm b^ve^o nam^r
mio^e^^r^ow rrr^ wrerixni ^rjmem ^e
ia?e s k^<r^risö)^tbo^^
o8^^egeu ^evc^ow^m w«»z8bn^1boöo8en^wre
^rLcw.rkr.D^?e zeA^s^te^an^ne^mw^-sAlle
8a^ne se^wsse-^ez^mmrös;asu»xk§
86
dort wieder zurück nach Venedig über die Alpenlünder nach der Heimat ging, verzeichnte
einer der Theilnehiner, Ritter Sasek von Mezihori, in böhmischer, ein zweiter, der Nürn -
berger Gabriel Tetzel, in deutscher Sprache.
Die Kriegswissenschaften ließen den Ruhm des böhmischen Namens weit über
die Grenzen des Landes strahlen. Es gab beinahe keinen größeren Krieg in Mittel- und
Osteuropa, an deni nicht Böhmen als Meister und Rathgeber theilgenommen hätten. In den
Kümpfen der Polen mit den Rittern des deutschen Ordens spielten böhmische Heerhanfen
die Hauptrolle; in noch größerem Maße war dies in den Ländern der ungarischen Krone
unter den berühmten Führern Johann Jiskra von Brandeis im Norden und Johann
Vitovee im bilden der Fall. Der Einstuß dieser Verhältnisse ist auch in der Literatur
zu erkennen; schon während der Regierung König Wenzels stellte Johann Hajek von
Hodetin die »?rava, vojoimüü« (Kriegsregeln) zusammen (1413) und im Jahre 1423
that dasselbe Johannes Zizka von Trocnov, indem er im Verein mit seinen Hanpt-
üuten und anderen Genossen eine Kriegsordnung „Üück herausgab. Auch
Wenzel Vlcek von Cenov, der tüchtigste Heerführer Böhmens am Ausgang des
XV. Jahrhunderts, verfaßte eine gründliche Belehrung: „Wie die Reiter, Fußgänger und
Streitwagen zu ordnen seien".
Die Rechtvprosa wurde durch das öffentliche Leben kräftig gefördert. In der
^envaltung des Landes, bei den Landtagen, vor Gericht und in den Stadtümtern gelangte
die böhmische Sprache zur Herrschaft, wodurch der Geschüftsstil an Kernigkeit, Gewandtheit
und Glätte immer mehr gewann. Dies beweisen außer zahlreichen öffentlichen Acten
namentlich auch die Briefsammlungen verschiedener Staatsmänner und hervorragender
Edelleute, wie zum Beispiel des Ales Holicky von Sternberg, Prokop von Rabstein, Jobst
von Rosenberg, Leo von Rozmitäl und Anderer. Die Naturwissenschaften fanden nur
zufällige und systemlose Behandlung. Auf sprachwissenschaftlichem Gebiete entstand
zu dieser Zeit das erste Werk, welches einen Theil der böhmischen Grammatik systematisch
behandelt: die Orthographie des M. Johannes Hus.
In der zweiten Periode erscheinen die Erfolge geistiger Thätigkeit in einem viel
günstigeren Lichte als während der husitischen Zeit. Die literarische Production wächst
von Jahr zu Jahr und verbreitet Kenntnisse in Hütten und Palästen. Kostbare Werke
sind im Familienheim ein gewöhnlich anzutreffender Luxus. Die Sprache, auf bisher
ungewohnte Bahnen geführt, muß sich ein neues Gewand aneignen und gewinnt darin
verjüngte Gestalt, geschmackvolle Anmnth und Biegsamkeit. Diese Vorzüge treten klar
hervor, wenn man äußeren Umfang und stilistische Fassung allein ins Auge faßt, minder
günstig ist der Eindruck, wenn man auch den inneren Gehalt betrachtet. Man kommt gar
oft zn der Überzeugung, daß die Literaturwerke keine originellen Richtungen verfolgen,
sondern von fremden Strömungen getragen auf Sandbänke anlaufen und hier in einer
Art trüber Einförmigkeit verharren. Selbst der Sprache kommt die elegante Fassung theuer
zu stehen, weil sie derselben einen großen Theil ihrer ursprünglichen Reinheit und Kernigkeit
zum Opfer bringt.
Die Ul suchen dieser ungleichartigen Erscheinungen fließen aus mehreren Ouellen.
Vor Allem übten hier die günstigen öffentlichen Verhältnisse großen Einfluß aus; das
von früher her erstarkte nationale Bewußtsein erhielt sich durch das ganze XVI. Jahr -
hundert in voller Kraft, da es nicht nur durch allgemeinen Wohlstand, sondern auch durch
hilfreiche Unterstützung der entscheidenden weltlichen und geistlichen Kreise eifrig gefördert
wurde. Der Literatur gereichte dies inimerdar zu ausgiebiger Kräftigung, aber sie hätte
ihre Aufgabe nicht mit Erfolg erfüllen können, wenn sich nicht außerdem noch andere
Faetoren beigesellt Hütten, nämlich die Buchdruckerkunst und der Humanismus, durch
welche sie erst allgemeine Verbreitung und Förderung fand. Eine Schattenseite gab dem
gegenüber das Vvrurtheil ab. daß alles literarische Streben in einer Renaissance im antiken
Sinne gipfeln müsse, was höchstens nur in formaler Beziehung sich durchführen ließ,
sonst aber mit offenbarer Schädigung vieler Eigenthümlichkeiten des nationalen Lebens
verbunden war. Aber einen weit beklagenswertheren Einfluß übten die neu austauchenden
Llliömungen der religiösen Reformation ans; sie verschuldeten größtentheils die
ermüdende Eintönigkeit auf literarischem Gebiete.
Als erste Probe der Bnchdruckerkunst in Böhmen gilt die im Jahre 1468 zu
Pilsen gedruckte Trojaner-Chronik, aber die verhältnißmäßig vollkommene Ausstattung
scheint zu beweisen, daß kleinere Versuche vorangegangen waren, bevor man sich an ein
ausgedehntes und kostspieliges Werk wagte. Außer den Pilsener Drucken kennt man aus
den nächsten Jahren auch Prager, Kuttenberger und Winterberger Jncunabeln; hervor -
stechend ist bei ihnen die Eigenthümlichkeit, daß es mit geringfügigen Ausnahmen lauter
Bücher der lebendigen Volkssprache sind und keineswegs lateinische Werke, wie es sonst
fast überall stehende Gewohnheit war.
Der Humanismus, die Quelle altclassischer Bildung, gipfelte in Böhmen seit jeher,
wie auch sonst überall, in der Kenntnis; des Lateins, welches wegen seines kosmopolitischen
Charakters nicht nur bei höheren Studien, sondern auch im öffentlichen Leben und
namentlich in kirchlichen Angelegenheiten geradezu als unumgänglich erschien. Dies Ver-
hültuiß begegnete anfangs nirgends einem Widerstande. Selbst Hus nahm keinen Anstand,
Kirchenlieder und wichtige dogmatische Schriften lateinisch zu verfassen, und dasselbe thaten
auch seine Freunde und Widersacher. Sobald aber die Zerwürfnisse und Zwistigkeiten in
blutige Kümpfe ausarteten und die entscheidende Macht in die Hände des Volkes überging,
da wurde jedes Merkmal der gegnerischen Seite rücksichtslos ausgemerzt und demgemäß
88
auch die lateinische Sprache beseitigt. Erst unter König Georg trat eine Wendung ein,
theils durch den Einfluß italienischer Schulen, an denen viele Böhmen studirtcn, theils
auch auf heimische Anregung, namentlich als nach dem Jahre 1466 M. Gregorius
von Prag auf Karls Hochschule die Classiker zu erklären anfing.
Unter der Regierung Wladislaws des Jagellonen fand diese Richtung einen aus -
gezeichneten Vertreter in Bohnslav Hassenstein von Lobkowitz (1462 bis 1510).
Ein längerer Aufenthalt unter dem südlichen Himmel an den Hochschulen Bolognas Lind
Ferraras, die wissenschaftlichen Bestrebungen der dortigen Gelehrten und Freunde, die
unmittelbare begeisterte Anschauung der Denkmäler des Alterthums, endlich auch die
günstigen materiellen Verhältnisse bewirkten, daß dieser reich begabte Mann an der
rauhen Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens kein Gefallen fand und sich nach idealen,
aus der elastischen Vergangenheit geschöpften Mustern eine neue Welt schuf, die nur für
eine private Zurückgezogenheit paßte. Auf seinem Schlosse Hassenstein im Saazer Kreise
richtete er sich ein vollkommenes Studienheim mit reichen Sammlungen und wissenschaft -
lichen Instrumenten ein, namentlich versorgte er sich mit gedruckten und geschriebenen
Büchern, die ihm eigens bestellte Vermittler in Deutschland und Italien verschafften, und
keine Auslage schien ihm zu groß, wenn es galt, etwas Seltenes zu bekommen. Selbst
weite Reisen unternahm er, um im Alterthnm berühmte Örtlichkeiten in Augenschein zu
nehmen; namentlich besuchte er Palästina, Egypten, Griechenland, Nordafrika und Sicilien.
Der Ruhm seiner lateinischen Gedichte drang weit über die Landesgreuzen hinaus und
erhielt sich lange auch in der Folgezeit.
Für Bohuslav und seine gleichgesinnten Freunde war die antike Welt das Ideal,
dem sie durch die Pflege der altelassischen Sprache und Literatur nahe zu kommen bestrebt
waren. Soweit sie dabei die Veredlung des Geschmacks oder den Nutzen und Fortschritt
der Wissenschaft im Auge hatten, war ihr Beginnen löblich, insoferne sie jedoch über dieses
Ziel nicht hinauskamen, sondern sich mit steter Nachahmung und Wiederholung antiker
Muster znfriedenstellten, übten sie einen sehr nachtheiligen Einfluß auf die Literatur aus.
Viel besser erfaßten das Wesen der antiken Bildung jene Humanisten, welche die
E> folge ihrer Studien aus den Stamm der böhmischen Sprache übertrugen und aus diese
Weise die Bereicherung und Vervollkommnung der nationalen Literatur förderten. Der
erste Mann, der durch seine außerordentlichen Erfolge bewies, wie man die elastische
Gelehrsamkeit zur Hebung der Nationalliteratnr verwerthen kann, war Victorin Cor -
nelius von Vsehrd, ein Schüler Gregors von Prag, zuerst Busenfreund, später,
wegen einer religiösen Controverse, erbitterter Widersacher Bohuslavs von Lobkowitz.
Einige Zeit hielt er an der Universität Vorträge über philosophische Disciplinen, sodann
wendete er sich der Jurisprudenz und der gerichtlichen Beredtsamkeit zu, erhielt ein Amt
Aus der Lreskä" vom Jahre 1556.
me. A on odpowcdel/teb' gjem. Rzckl gemu/ Osta jweho/poyaw s fibau dwa Mladen-
Pogmr Gyna twcho gednorozencho/ kte- ce / a Izaka G^na stveho. A kdyz nalekal
kchoz milugejs/Izaka/a gdi do Zeme WL- Drrjwq k Obeti zapalne/bral se gest k mg-
demj /a tam budejs obetowatr ho ober za- stu/na kterez byl prikazal gemu Bush. Dne
paliiau/na gedne hoke/kterauzt okazi tobe, pak tretqho pozdwLhw Ocy / vzrel nnisto
Tchda Abraham vvstaw w nocy / ostdlal zdaleka.
90
bei der Landtafel und starb als Privatmann im Jahre 1520. Reiches Wissen, glänzende
Rednergaben und stilistische Gewandtheit verschafften ihm einen klangvollen Namen, so
daß man ihm unter den zeitgenössischen Humanisten nach Lobkowitz die nächste Stelle ein-
ränmte. Aber dieser Ruf bewog ihn nicht, die nationale Fahne zu verlassen und sich mit
den reinen Latinisten in eine Reihe zu stellen. „Da ich ein Böhme bin, will ich lateinisch
lernen, aber böhmisch schreiben und sprechen" — das war seine Devise, die er gewissenhaft
einhielt und der gemäß er in seinen Schriften wahre Muster edlen böhmischen Stils
hinterließ. Victorins Werk: ,0 prüvielr ?6irre Üsbüd Knills cievalerx" (Nenn Bücher
vom Recht und Gericht in Böhmen) ist ein Muster classischer Prosa.
In gleicher Richtung bewegte sich auch Gregorius Hruby von Jeleni (gestorben
1514), ein hervorragenderBürgerPrags aus derZeitWladislawsll., ein klassisch gebildeter
und durch seltene Charakterreinheit ausgezeichneter Mann. Seine literarische Thätigkeit
beschränkte sich fast ausschließlich auf Übersetzungen von ethischen, manchmal auch satirischen
Schriften, insbesondere eines Joh. Jovianus Pontanus, Franc. Petrarca, Erasmus vvn
Rotterdam. An Kernigkeit des Ausdrucks kann er sich wohl mit Vsehrd messen, weniger an
Gewandtheit und Glätte des Stils. Des Gregorius Vorliebe für classische Studien ging
auch auf dessen Sohn Sigismund (Si^isinrmclus Ovleirius) über, der nach dem Jahre
1520 einer Aufforderung des berühmten Erasmus von Rotterdam folgend sich in Basel
niederließ und dort bis zu seinem Tode (1554) in der bekannten Frobenianischen Druckerei
sich in hervorragender Weise an der Ausgabe antiker und kirchlicher Klassiker betheiligte.
Gleiches Streben nach Ausbildung der Nationalsprache belebte auch einen
jüngeren Humanisten, Wenzel Pisecky, der als Reisebegleiter und Mentor des Sigis -
mund Gelenius während dessen Studien an Italiens Hochschulen in blühendem Alter
zu Venedig an der Pest starb (1511). Er war der erste Böhme, der sich gründlicher in
das Studium der griechischen Sprache vertiefte und auf dem Wege der Vergleichung
die Überzeugung gewann, daß die böhmische Sprache bei gehöriger Pflege nicht nur mit
dem Latein, sondern auch mit dem Griechischen den Wettkampf aufnehmen könnte. Um
dies zu beweisen, befaßte er sich in Italien mit Jsokrates und übersetzte von dessen Reden
als Probe die Mahnung an Demonikos, die er dann als Zeichen seiner Freundschaft
Sigmunds Vater zuschickte. In der unmittelbar folgenden Zeit zogen vielen Vortheil aus
den Klassikern Nicolaus Konac von Hodlstkov (gestorben 1546), Prager Buchdrucker
und zugleich Landesbeamter, ferner Ulrich Velensky von Mnichov, ein Landedelmann
ritterlichen Standes, eine Zeit lang auch Buchdrucker, Johann Geska, Erzieher im Hause
Pernstein, und Andere.
Die bisher genannten Männer waren sozusagen die Pflanzer des heimischen
Humanismus, aber ihr Bestreben ging nicht blos dahin, die Schriftsprache in stilistischer
91
Beziehung zu heben, sondern sie sorgten in gleicher Weise, wenn nicht noch energischer
auch für den Inhalt, indem sie in den lateinischen und griechischen Denkmälern einen
unerschöpflichen Vorrath von Bildnngsmitteln ersahen. Diese Ansicht hat sich in der
Folge allgemein verbreitet; nur ist zu bedauern, daß man durch die Einwirkung der
Zeitverhältnisse immerfort moralisirende und religiöse Stoffe bevorzugte. Die daraus
hervorkommende Eintönigkeit und Einseitigkeit konnte durch keinerlei stilistische Vorzüge
wettgemacht werden.
^n der zweiten Hälfte des XVI. Fahrhunderts erscheinen als die ausgiebigsten
Pflanzstätten des Humanismus die zahlreichen Schulen, welche nach auswärtigen Mustern
überall im Lande errichtet wurden. Aber der daselbst gepflegte Humanismus unterschied
sich gar sehr vom Humanismus der vergangenen Jahre; statt des ehemaligen nationalen
Charakters hatte er ein kosmopolitisches Gepräge angenommen und war meistentheils zu
einem unfruchtbaren Latinismus verflacht. Die lateinische Versmacherei gelangte zur
üppigen Entwicklung und feierte besonders in der Rudolfinischen Periode, wo die Anzahl
der Teilnehmer bis zu Hunderten stieg, ihr goldenes Zeitalter. Nicht wenige mitunter
vorzügliche Talente wurden dadurch der Nationalliteratur entzogen; wir erinnern
beispielsweise an den reichbegabten M. Matthäus Collinns von Choterina (1516
bis 1566), Professor der Prager Hochschule, der zur Zeit Ferdinands 1. als Dichter glänzte
und unter dem Schutze des gelehrten, edelgesinnten Ritters Johann Hodejovsky von
Hodejov (gestorben 1566), Vicelandrichters von Böhmen, eine blühende Poetenschule
begründete, an Thomas Mitis von Limusa (gestorben 1591), David Crinitus von
Hlavacov (gestorben 1586), Kaspar Cropacius (gestorben 1580), Georg Caro-
lides von Carlsperg (gestorben 1612), Laurentius Benedicti von Nudozer
(gestorben 1615), Johann Campanus Wodnanus (gestorben 1622) und viele Andere.
Neben dem Humanismus griff in die Entwicklung der Zeitliteratnr am mächtigsten
die religiöse Strömung ein. Die auf Besserung der kirchlichen Institutionen und des
Lebens überhaupt hinzielenden Bestrebungen waren mit den Husitenkriegen keineswegs
erloschen, sondern lebten auch zur Zeit Georgs von Podebrad und der Jagellonen
weiter fort. Angeregt von feurigen Predigern, wie Rokycana in seinen jüngeren Jahren
einer war, und tiefsinnigen Forschern, wie Peter Chelcieky, bildeten sich kleine religiöse
Genossenschaften, die ein tugendhaftes Leben zu ihrer Hauptaufgabe machte», die gewohnten
kirchlichen Institutionen als angeblich verderbt verwarfen und jede weltliche Gewalt-
Maßregel als mit der evangelischen Nächstenliebe unvereinbar verurtheilten. Nach längerem
unentschiedenem Schwanken zwischen Theorie und Wirklichkeit organisirte sich aus jenen
Elementen die bekannte Unitüt der böhmisch-mährischen Brüder. Dieselbe erhielt zwar
den nationalen Geist in größter Reinheit unter ihren Mitgliedern und vermehrte auch die
02
literarischen Reihen in ausgiebiger Weise, aber ihre Grundansicht von der Eitelkeit alles
Irdischen und theilweise auch die endlosen Verfolgungen, denen sie ausgesetzt war, gaben
dem Schriftwesen einen düsteren, ja beinahe ascetischen Charakter. Die ausländische
Reformation, der sich die Utraquisten größtentheils anschlossen, brachte ebenso wenig Aus -
frischung, vielmehr hatte sie unendliche Zerwürfnisse zur Folge und machte die Literatur
nicht nur eintönig, sondern entzog ihr auch beinahe jede Originalität.
Dem entsprechend ist die weltliche Dichtung, wo immer sie auftritt, allen Reizes
und jeder Anmnth bar. Zur Zeit Wladislaws II. begegnet man einer verwässerten Nach -
ahmung des einstigen Minnegesanges im Mäjov^ sau" (Maientraum), einem erotisch -
rhetorischen Fragmente, welches muthmaßlich Heinrich von Münsterberg (gestorben 1492),
den Sohn Georgs von Podebrad, zum Verfasser hat. Die späteren Producte sind fast
durchgehends bloße Reimereien von silbenzählenden Versen, inhaltlich flach und oft einer
wunderlich steifen, ungelenken Prosa ähnlicher als wirklichen Gedichten.
Das Gebiet der Epik beherrschen fast ausschließlich geistliche Stoffe ans der Bibel
und der Legende. Was außer diesen noch auftritt, ist vorwiegend Gelegenheitsprodnct und
bezieht sich auf verschiedene meist gleichzeitige Ereignisse. Sonst begegnet man Bearbeitungen
fremder Vorlagen, wie zum Beispiel in der interessanten »Lrorrilrn o rodovern
Ln^friäovi" (Vom hörnen Seyfried).
Unverhältnißmäßig zahlreicher und gelungener sind Tendenzgedichte, bald
belehrender, bald warnender oder auch tadelnder Natur. Einzeln treten sie schon zur
Zeit Wladislaws auf. Rein belehrend sind die ,?ravicl>a priskolni« (Tischregeln)
und Ludwigs von Pernstein „diauüonl roäiöüin", das heißt die Belehrung „eines
Wickelkindes an die Eltern, wie sie dasselbe bis zur Reife und Selbständigkeit zu leiten
haben", aber selten wird man hier eine Spur von Poesie entdecken. Dasselbe gilt im Ganzen
auch von den didaktischen Versuchen eines Paul Aquilinas Vorlicny (gestorben 1599),
eines Adam Sturm von Weißkirchen (gestorben 1565), eines Georg Streyc von Hohenstadt
(gestorben 1599), eines Georg Carolides (gestorben 1612) und Anderer. Gewandtheit im
Versificiren bildet den unleugbaren Vorzug Simon Lomnicky's von Budec (1552 bis
1622), den man den böhmischen Hans Sachs nennen könnte; schade nur, daß Redseligkeit
und Mangel an Geschmack seine mitunter kernigen Gedanken — wie zum Beispiel in der
Ilistrukei mlLäanrn Ii03poäüri (Kurze Belehrung für einen jungen Hauswirth 1586)
nicht einmal aufkommen lassen. Dem Gebiete der Satire gehört von älteren Gedichten
,2reaälo inarnotralnosti" (Spiegel der Verschwendung) an, welches wahrscheinlich
von demselben Verfasser herrührt wie der „Maientranm", aus späterer Zeit „ko?-
mlonrünl ?etra svalolro se ?ün6m" (1585), Gespräch des heiligen Petrus mit
dem Herrn über die Gewohnheiten und Sitten der jetzigen Welt, eine Übersetzung aus
dem Deutschen, frisch und lebhaft sowohl im Ausdruck als auch in der Form, und des
Nikolaus Daeicky von Heslov ,?rostopruvcka« (Reine Wahrheit, 1620).
Sehr oft birgt sich die moralisirende Tendenz unter allegorischer Hülle. Kleinere
Versuche dieser Art rühren aus dem XV. Jahrhundert her und sind hauptsächlich durch
die witzige volksthümliche Einkleidung bemerkenswert!). So schildert z. B. „dtirost«
(Die Tugend), ein Reinigedicht, die Erlebnisse der Tugend im Umgänge mit der Weisheit,
der Freiheit, dem Glück und ähnlichen Personen; ein anderes Stück, ,k>än ruck)'- (Der
Herr des Rathes), erzählt wieder von einem jungen Ritter, welcher auf die Burg des
Glücks gelangt, dort die Wahrheit und die Weisheit mißachtet, sich an die Willkür und
die Hoffart hält, bis ihn endlich Herr Garaus erwürgt. Späterer Zeit entstammt das
posthume Werk des Nikolaus Konäc von Hodlstkov: ,0 üoisüovüiri u nuiiüäiri
Spi-uvecklivogti, üiülovn^ u pari! vSeolr etriostl« (1547), das heißt „Jammer
und Klage der Gerechtigkeit, der Königin und Herrin aller Tugenden", über die Laster
und Mißbräuche der Welt, und des Laurentius Leander Rvacovsky „Llasopust" (1580)
oder Nachricht vom Ursprung und der Macht des Herrn „Carneval von Krapfenheim",
von dessen 12 Söhnen, als da sind der Geizhals, der Hoffärtige, der Prunksüchtige, der
Klatschliebende re., von seinem Processe mit Quadragesima und von dem endlichen Urtheils-
spruche, durch welchen der Carneval zu den Türken und Heiden verwiesen wird, damit
er dort mit seiner Familie zu Grunde gehe. Die Neigung zum Allegorisiren tritt auch
in Fabeln und fabelähnlichen Erzählungen zu Tage, so in den Übersetzungen von
Stainhöwels ^esop (cirea 1480 in Kuttenberg mit rohen Holzschnitten gedruckt und
bis 1557 einigemal überarbeitet), in den ,XovS kudrile« (Neue Fabeln) aus dem
Griechischen des Planudes und den Erzählungen des Sebastian Brandt. Eine verdienstliche
Arbeit lieferte Kouac in seiner Übersetzung des indischen Pancalantra oder der Fabeln
Bidpai's, die er nach dem lateinischen Texte »UruvicUo Uä8Üalio Livotu" (Regel
des menschlichen Lebens, 1528) benannte, doch ist der Stil schwerfällig. Letzteres gilt auch
von dem Werke des Bartholomäus Paprockh »Odoru irab ^aliracka" (1602), das
heißt „der Garten", in welchem verschiedene Geschöpfe ihre Gespräche halten.
Die geistliche Poesie fand in der herrschenden Gesinnung allgemein Anklaug
und kann sich demnach der weltlichen Dichtung gegenüber einer ungleich größeren Anzahl
von Producten rühmen. Leider sind sie nur ziemlich selten der ungetrübte Ausfluß
frommer Begeisterung, meist überwuchern dogmatische Grübeleien oder doch eine maßlos
moralisirende Tendenz.
Das kirchliche und überhaupt religiöse Lied bildet auch jetzt den Kern und
Mittelpunkt der poetischen Thätigkeit. In ihm entwickeln nicht nur die Vertreter des
Priesterstandes verschiedene Dogmen und Satzungen den Gläubigen zur Belehrung,
94
sondern auch Angehörige des Volkes tragen ihr Scherflein bei, indem sie fromme Gefühle
zum Ausdruck bringen und im Gesänge Seelentrost und Gemüthsruhe wiederfinden. Es
entstehen umfangreiche Cancionale, Antiphonarien und Graduale, werden nicht selten
prachtvoll ausgestattet und bald mit größerer, bald mit geringerer Sorgfalt geordnet,
linier den Utraquisten bildeten die Grundlage ähnlicher Gesangbücher die reichhaltigen
Sammlungen des Priesters Wenzel Mirlnsky (gestorben 1492), die nach dem Jahre
1520 aus Handschriften im Druck herausgegeben und namentlich durch Johann
Taborsky von Ahornberg (seit 1567) vermehrt wurden. Eine Anzahl von Liedern,
die wegen der Glätte der Form und Amnuth der Melodie allgemein beliebt waren,
dichtete der Slovake Johann Sylvanus (gestorben 1573); auch andere Namen
kommen ziemlich häufig vor, aber der ursprüngliche Charakter der Lieder nähert sich
immer mehr der evangelischen Richtung, die von Deutschland aus über Böhmen
unaufhaltsam sich ausbreitete. Ein Übergangsstadium läßt sich in vielen Cancionalen,
welche im Verlaufe des XVI. Jahrhunderts an verschiedenen Orten aufkamen, ganz
deutlich verfolgen, so z. B. in dem Gesangbuche des Johann Musophilus von
Sobeslau (gestorben circa 1585) und Thomas Resätko von Schüttenhofen (gestorben
1602), die beide noch immer conservativ verfuhren. Viel weiter ging das Gesangbuch des
Valentin Subar von Landskron (gestorben 1593) und andere, die am Anfang des
XVII. Jahrhunderts erschienen, bis endlich die Änderung im Sinne des Lutheranismus
völlig durchgeführt wurde.
Größere Erfolge als die Utraquisten erzielte auf dem Gebiete des geistlichen Liedes
die Gemeinde der böhmischen Brüder. Hier hat man nämlich die Production nicht dem
freien Willen und Eifer des Einzelnen überlassen, sondern systematisch dafür gesorgt,
daß die Zahl angemessener Lieder in Gesangbüchern dauernd erhalten werde. Zu derartigen
Sammlungen wurden die achtbarsten und fähigsten Männer berufen (z. B. Br. Lukas,
Johann Roh, Johann Blahoslav), welche eifrigst darauf bedacht waren, daß Alles, was
im Namen der Gemeinde herausgegeben wurde, auch das Gepräge des echten Glaubens
und gottgefälligen Sinnes an sich trage. Der Erhöhung des dichterischen Werthes
durch Wohllaut der Sprache und Tadellosigkeit des Verses widmete man in der Regel
weniger Sorgfalt, ja manchmal, wie z. B. unter Br. Roh, wurde absichtlich einfache
Nüchternheit angestrebt; nur der Reim und Anpassung des Textes an den Gang der
Melodie wurde gefordert. Erst unter Blahoslavs Redaction, die im Jahre 1561 das
berühmte Samotuler Cancionale (wiedergedruckt 1564 in Eibenschütz und 1576 in
Kralitz) zuwegebrachte, wurde, soweit es thunlich war, die Aufmerksamkeit auch der
äußeren Form der Lieder zugewendet und dieser Standpunkt bei den späteren Ausgaben
gleichfalls festgehalten. Von einzelnen Verfassern, deren Lieder meist mit bedeutenden
95
Änderungen in die Gesangbücher der Brüdergemeinde eingereiht wurden, verdienen vor
Anderen ehrende Erwähnung Lukas von Prag (gestorben 1528), Martin Michalec
(gestorben 1547), Adam Sturm (gestorben 1565), Matthias Cervenka (gestorben 1569),
Johann Blahoslav (gestorben 1571), Johann Augusta (gestorben 1572) und Andere. Für-
deutsche Mitglieder veranstaltete man sehr früh eine eigene Bearbeitung, zuerst im Jahre
1581 zu Jungbunzlau, dann in verbesserter Weise im Jahre 1544 zu Nürnberg und am
vollkommensten im Jahre 1566
zu Kralitz in Mähren. Der
grvßte Theil dieser Lieder ging
in die Protestantischen Gesang -
bücher über, namentlich in das
Magdeburger (1542), Frank -
furter (1569), Wittenberger
(1578) nnd Dresdener (1589).
Für die Gläubigen in Polen
besorgte eine Übersetzung der
Priester Valentin von Brzozow
(Königsberg 1554).
Die Katholiken haben
lange Zeit nur wenig unter -
nommen, um den Mangel an
frommen Liedern zu beseitigen.
Ans älterer Zeit ist Clemens
Bosak, Franciscaner zu Nen-
hans, als Dichter bedeutend;
größere Sammlungen enthalten
Daniel Adam von Veleslavkn. OlANo N0V6 (Plag 1588),
und besonders das Cancionale,
welches Johann Rosenplut von Schwarzenbach, Propst zu Sternberg in Mähren,
im Jahre 1601 heransgab.
Neben dem eigentlichen Liede, ob es nun gottesdienstlichen oder überhaupt frommen
Zwecken diente, widmete man zu jeder Zeit den biblischen Psalmen die größte Sorgfalt.
Übersetzungen, Paraphrasen und Nachbildungen derselben wurden sowohl in Cancionalen
als auch einzeln geboten. Geschicklichkeit bewiesen in derlei Leistungen hauptsächlich
Johann Blahoslav im Cancionale von Samotul (1561), dann Georg Streyc (1587),
und Jakob Melissäus (1598). Antike Maße, aber nur nach Silbenzahl, wählten zu ihren
96
Paraphrasen Johann Vorlicny (1572) und David Crinitns (1581); genaue Anwendung
von Qnantitätsregeln, wie sie vordem (1558) Blahvslav angedeutet hatte, bemerkt man
erst bei Matthäus Philonomus Benesovsky (1577) und Laurentius Benedicti von
Nudozer (1606).
Die dramatische Dichtung, die im XIV. Jahrhundert gar oft in Derbheiten
ansartete, verlor in der Husitenzeit jedweden Boden, da sie mit den strengen Ansichten
religiöser Sittenrichter nicht vereinbar war. Erst unter König Georg und noch mehr-
unter der friedlichen Regierung der Jagellonen rief sie der aufblühende Humanismus
zu neuem Leben. Anzeichen davon treten theilweise in Überbleibseln von Übersetzungen
des Terentins, theilweise auch in einigen kirchlichen Stücken hervor, aber die eigentliche
Wiedergeburt stellte sich erst in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ein, als
nämlich der Einfluß lateinischer Schulen, insbesondere jener des Jesuitenordens seine
Wirksamkeit zu äußern begann. Die erhaltenen Stücke zerfallen in zwei Gruppen: in ernste
mit lustigen Zwischenseenen, meist biblischen oder religiösen Inhalts, und in heitere,
weltlichen, nicht selten ausgelassenen Charakters. Jene waren für die Gebildeteren, diese
für das gewöhnliche Volk bestimmt. Bei der ersten Gattung hielt man sich einigermaßen
an die äußeren technischen Regeln, auch der Inhalt pflegte ziemlich reich zu sein, aber statt
des dramatischen Lebens und folgerichtigen Zusammenhangs zeigt sich durchgängig decla-
matorische und moralisirende Breitspurigkeit. Bei der zweiten Gattung tritt diese rhetorische
Weitschweifigkeit etwas zurück, weil der scherzhafte Inhalt an sich etwas mehr Rührigkeit
und Mannigfaltigkeit ins Spiel brachte, aber dafür sehen wir meist wieder nur Scenen,
die der Lachlust dienen und jeder Harmonie der Theile und des Ganzen entbehren.
Namhaftere Bearbeiter beider Gattungen waren Nikolaus Konac von Hodistkov
(gestorben 1546), Paul Kyrmezer (gestorben 1589), Johann Zahrobsky (gestorben
circa 1590) und Georg Tesak (gestorben 1604).
Die erzählende Prosa richtet während der ganzen Periode ihr Augenmerk
nur auf die volksthümliche Lectüre. Das bedrückte Volk sucht und findet Trost und
Erholung in phantasiereichen Erzählungen, weil es dabei wenigstens zeitweilig sein Elend
vergißt und sich in andere Verhältnisse versetzt. Moralisirende Tendenz ist vorherrschend.
Originalität zeigt sich in keinerlei Richtung; Stoffe, die größtentheils schon längstund
wiederholt bearbeitet worden waren, treten durch Vermittlung des Buchdrucks neuerdings
ihre Wanderung durch verschiedene Gegenden an. In erneuerter Gestalt tauchen alle
geistliche Romane und verschiedene Weissagungen ans, aber an Zahl verschwinden sie in
der bunten Menge der Rittergeschichten und mannigfaltiger anderer weltlichen Erzählungen,
als da sind: Tristan, die sieben weisen Meister, Florius und Biancefora, Melusine,
Lncretia, Peryton, Magelvne, Guiscard und Sigismunde, Esops Leben und Thaten,
97
Markvlt und Salomon, Fortnnatns und viele andere. Die reinste und unstreitig auch
ergiebigste Quelle volksthümlicher Unterhaltung, das Märchen und die Sage, fanden nur
theilweise Berücksichtigung, und zwar in der bekannten Chrvnik des Wenzel Häjek
von Libocan, in welcher ein ganzer Schatz namentlich von Ortssagen der Vergessenheit ent -
rissen vorliegt.
Den eigentlichen Mittelpunkt der literarischen Thätigkcit bildet anch in dieser Zeit
die lehrhafte Prosa. Zwar gibt es hier, wie bereits erwähnt, weder durch absolute
Originalität hervorragende, noch streng wissenschaftliche Werke, aber dafür überrascht der
äußere Umfang der Literatur, der von einem früher nie dagewesenen Maße allgemeiner
Bildung zeugt; anch die formale stilistische Gewandtheit macht den besten Eindruck.
Die älteren Humanisten, namentlich Gregorius Hruby von Jelent und Vietorin Cornelius
von Vsehid, bahnten den Weg zum Fortschritt: ihnen folgt auf dem Fuße eine zahlreiche
Schaar, von welcher einzelne meist in der Theologie, dann in der Jurisprudenz und in
der Geschichte hervorragen; fast bei allen ist das Streben nach Universalität, welches aus
ln m Humanismus hervorgnoll, klar zu erkennen. Am deutlichsten und vollkommensten
zeigt sich dieses Streben zur Zeit Rudolfs II. in der polyhistorischen Thätigkeit Daniel
Adams von Veleslavin (1546 bis 1599), der zuerst als Universitätsprofessor, dann
als Verwalter und Eigenthümer einer großen Druckerei in Prag wirkte und mit Hilfe
einiger Freunde im Lause von etwa zwanzig Jahren die böhmische Literatur mit so vielen
Werken bereicherte, die Schriftsprache so hob und veredelte, daß man die Zeit seiner Wirk -
samkeit mit Recht die Veleslavinische Ära nennen kann.
An Zahl der einschlägigen Werke überragt alle übrigen Gruppen die Theologie.
Im Vordergrund stehen Bibelübersetzungen, die seit Wladislavs Zeiten mit großem
Aufwande gedruckt wurden: die Prager Bibel (1488), die Knttenberger (1489),
ebenso wie die nachfolgenden mit zahlreichen Holzschnitten ansgestattct, die Venediger
(1506), zwei Prager Ausgaben des Paul Severin (1529 und 1537), die Nürn -
berger von Leonhardt Milchthaler (1540) und fünf besonders zierliche Drucke des
berühmten Prager Typographen Georg Melantrich von Aventin (1549,1556,1560,
1570, 1577), sämmtlich nach der Vulgata hergestellt und im Wortlaut des Textes nicht
viel von einander abweichend. Den Höhepunkt erreichte diese verdienstliche Thätigkeit durch
die ausgezeichnete sechstheilige Kralitzer Bibel, deren Text in den Jahren 1579 bis
1593 von den hervorragendsten Theologen der Brüderunität in Mähren aus der hebräischen
und griechischen Sprache ins Böhmische übertragen wurde.
Außer der Hermeneutik und biblischen Exegese, auf welche sich der theologische
Scharfsinn concentrirte, sind in cultureller Hinsicht die dogmatisch-polemischen Schriften
äußerst wichtig, besonders jene, welche mit dem Ursprung und der Entwicklung der
Böhmen. 7
88
Brüdergemeinde Zusammenhängen. Als bewährte, nie ermüdende Vorkämpfer stehen da
vor Allem die Bischöfe der Unität, Lukas von Prag (gestorben 1528), der nach gleich -
zeitigen Zeugnissen als ein „geschliffenes Schwert" der Gemeinde waltete, der scharfsinnige
Johann Blahoslav (gestorben 1571) und zum Theilauch der heftige Johann Augusta
(gestorben 1572).
Die Reihe anderer Arbeiten, die mit dem Gebiete der Theologie Zusammenhängen
und unter denen die Postillen zu den umfangreichsten gehören, ist fast unübersehbar, da
beinahe die gesammte Schriftstellerwelt der damaligen Zeit an der Production sich
betheiligte; nicht selten greift ein reicher Edelmann — zum Beispiel Johann Popel von
Lobkowitz oder der bekannte Wenzel Budovec, der Verfasser des „Anti-Alkoran", eines
polemisch-mystischen Sammelwerkes — ebenso eifrig zur Feder wie der arme Private- ein
bewährter Schriftsteller - wie z. B. Daniel Adam von Veleslavin - ebenso gut wie
ein noch ungeübter Neuling. Überall sieht man das Streben, religiöse Probleme endgiltig
zu lösen, den moralischen Verfall aufzuhalten und durch die Rückkehr auf bessere Wege
das nach allgemeiner Überzeugung nahe Ende der Welt, welche wegen der menschlichen
Sündhaftigkeit dem unausweichlichen Verderben verfallen war, abzuwenden.
Die Rechtsprosa erreicht durch die Gunst der öffentlichen Verhältnisse ihre volle
Entfaltung, so daß sie schon frühzeitig in jeder Hinsicht fehlerfreie Prodncte aufweist.
Einen elastischen Cvmmentar des Rechtes und der Ordnung beim Landesgericht verfaßte
M. Victorin Cornelius von Vsehrd in seinem Werke: .0 prävioti romtz Üsskö knilix
clovator^ (Neun Bücher vom Recht des Landes Böhmen), während in Mähren etwas
früher ein ähnliches Werk der berühmte Edelmann Ctibor Tovacovsky von Cimburg
geschrieben hatte. Die Pflege des städtischen Rechtes erreichte den Höhepunkt in der Arbeit
des Prager Altstädter Kanzlers Paul Christian von Koldmr ä v a m tz s t s ic ä Ir r ä I o v s t v i
Oeskölio- (Die Stadtrechte des Königreiches Böhmen, 1579), welches Buch wegen seiner
Präcision, Klarheit und Bündigkeit in der Folge nicht nur in Böhmen, sondern auch in
Mähren gesetzliche Geltung erlangte.
Zur Pflege der Geschichte ermunterten nicht nur die ruhmreiche Vergangenheit
und die häufigen Zerwürfnisse der Gegenwart, sondern vor Allem auch die große Beliebt -
heit der Erzähluugsbücher und die Unterstützung, welche ebenso reichlich von den wohl -
habenden Städten, wie von den, patriotisch gesinnten Adel gewährt wurde. Werke von
großem Umfange sind hier an der Tagesordnung, ihr kritischer Werth pflegt jedoch
nicht unanfechtbar zu sein. Auf dem Gebiete der allgemeinen Geschichte war Carions
Weltchronik als Leitfaden beliebt. Im Jahre 1541 wurde sie vom Prager Altstüdter
Kanzler Burian Sobek von Körnitz, einem eifrigen Lutheraner, übersetzt und im Jahre
1584 von Daniel Adam von Veleslavin erweitert. Mehr Originalität hat Veleslavins
Aus der Handschrift des Vsehrd: ,0 prävick roms 668^6- (XVI. Jahrhundert).
100
.Xaleirckär liistorieüs- (Historischer Kalender, 1578, 1590), ein Sammelwerk und
Nepositorinm eines reichen, jedoch systemlos aneinander gereihten Materials. Bei weitem
zahlreicher sind die Arbeiten, welche die einheimische Geschichte bald zusammenhängend,
bald nur episodisch behandeln. Zn einem Werke der ersteren Art bahnte den Weg Nikolaus
Konae oon Hodlstkov durchseine zwar holperige, aber sonst verdienstliche Übersetzung
der Chronik des Aeneas Sylvins im Jahre 1510. Sein Nachfolger Martin Knthen von
-LpnnSberg bot in seiner Chronik von der Begründung des Landes Böhmens
(1539) schon ein vollkommeneres chronologisches Werk, vermochte jedoch nicht sich eine
lebhaftere Tarstellungsart anzueignen. Ein Historiker nach dem Geschmack der Lesewelt
erstand erst in Wenzel Hajek von Libocan (gestorben 1553), der seine „Kronilca
068Ü6" (Chronik des Landes Böhmens, 1541) ohne jedes tiefere Studium, über -
aus Grund zahlreicher, von allen Seiten ihm dargebotener Hilfsmittel.in verhültnißmäßig
kurzer Zelt verfaßte. Die redselige Ausführlichkeit, verbunden mit einer reinen, aus einer
einfachen, sozusagen altherkömmlichen Anschauung entspringenden Sprache, der Reichthum
und die Mannigfaltigkeit seiner Nachrichten, die neben historischen Thatsachen auch eine
große Menge von Volksüberlieferungen enthalten, seine lebhafte Theilnahme an den
nationalen Interessen und unbestreitbar auch die Mäßigung seiner religiösen Gesinnung
machten sein Werk zu einem ,vahrhaften Volksbuche, welchem selbst in unseren Tagen der
Forscher gern sein Augenmerk zuwendet, wenn er auch Häjeks unkritisches Verfahren ver-
urtheilen muß. Dreimal wurde es auch deutsch herausgegeben in der Übersetzung des
Johann Handel, Stadtschreibers von Knaben, im Jahre 1596, 1697 und 1718. Nach
Häjek versuchte nur noch Johann Dnbravius, Bischof von Olmütz (1552),ein Gesainmt-
bild der Geschichte von Böhmen zu geben, jedoch in lateinischer Sprache. In dem ebenfalls
lateinisch geschriebenen Kalendarium des Prokop Lnpac von Hlavacov ,1PIreE-i8
roi-um Lolromiekii-u.ii- (1584) ist der Stoff zersplittert.
Einzelne Abschnitte der böhmischen Geschichte wurden fast ausschließlich von Augen -
zeugen bearbeitet, selten jedoch in unparteilicher Weise oder in gebührender Vollständigkeit
Einen deutlichen Beleg hiefür bieten die „Lnil^ o po-ckviLerri soänöall proti
cki'nlrstiir v obci ?i-nL8Ü6« (Bücher von der Erhebung der einen wider die anderen in
der Prager Gemeinde) von Bartos Pisar (lMrtllolomaoim a 8t. ^ickio), einem
Prager Burger, welcher unter den noch frischen Eindrücken und in einer ungewöhnlich
g, läuterten Sprache in pragmatischer Folge die Ereignisse der Jahre 1524 bis 1530
schildert- ähnlich auch die ,^ota nsd Knills pnmatnö let 1546 n 1547« (Acta oder
Denkbücher der Jahre 1546 und 1547) von Sixtus von Ottersdorf, die gleichsam
eine Ergänzung und Erläuterung des amtlichen, über diese Jahre herausgegebenen
Berichtes bilden. Die Schriften des Markus Bydzovsky von Flore,itin, des Wenzel
Budovec von Budov, des Georg Zäveta von Zävetitz sind theils annalistische Auf -
zeichnungen, theils Sammlungen von Urkunden, welche entweder die laufenden Ereignisse
oder die politischen und religiösen Interessen betreffen. Von derselben Art sind auch die
,?ainöti" (Memoiren) des Nikolaus Dacicky von Heslov, die Erinnerungen aus
verschiedenen Zeiten enthalten und von patriotischem Unwillen über die schlechten Thaten
einiger hervorragenden Persönlichkeiten der damaligen Zeit erfüllt sind.
Unter Rudolf II. entstanden mit Unterstützung vornehmer Männer weltlichen und
geistlichen Standes die großen genealogisch-historischen Werke des polnischen Emigranten
Bartholomäus Paprocky, und zwar: ,7.rag,cklo marüiabslvi Uoravslröllo«
(Der Spiegel der Markgrafschaft Mähren, 1593), Diadochns (1602) und das
Schlesische Stammbuch (1609), werthvolle Denkmäler unermüdlichen Fleißes und
patriotischer Opserwilligkeit. Die Arbeiten des Wenzel Brezan, des berühmten Archivars
von Wittingan und Genealogisten der Herren von Rosenberg, Schwamberg und Sternberg,
kommen ihnen an Umfang nicht gleich, übertreffen sie aber weit durch scharfsinniges Urtheil
nnd ausgezeichnete Urkundenkenntniß.
In der Kirchengeschichte sind am werthvollsten die Arbeiten, welche die Schick -
sale der Brüdernnität betreffen, von Johann Blahoslav nnd Johann Jaffet
(gestorben 1614). Den Zustand des Urchristenthums brachte Johann Kocln von
Kocinet (gestorben 1610), ein vertrauter Freund und Gehilfe des Veleslavin, durch seine
Übersetzung der großen Werke von Eusebius und Cassiodorns zur allgemeinen Kenntniß.
Derselben Gruppe ist auch ,UIavia-lossln 0 vniee Lickovsüö Icnili^ seckmsr^ (Josephns
Flavins, sieben Bücher vom jüdischen Kriege, 1553) in der Übersetzung von Paul
Aqnilinas Vorlicnh nnd Wenzel Placels von Elbing ,Historie Lickovsüü« (Jüdische
Geschichte, 1590) beizuzühlen.
Willkommene Nachrichten über fremde Länder und Völker bot der Lesewelt in
reichster Fülle Münsters „Kosmographie" (1554), welche ans Ferdinands I. Anregung
von dem gelehrten Sigmund von Puchov böhmisch bearbeitet und in riesigem, die Original -
vorlage weit übertreffendem Umfange ausgeführt wurde. Gleichsam als Ergänzung reihten
sich daran verschiedene Türkenchroniken nnd Reisebeschreibungen, namentlich jene, die
Berichte über das gelobte Land enthielten. Den größten Werth in dieser Beziehung haben
die Pilgerschaften einheimischer Wallfahrer, wie des Martin Kabätnlk, eines Bürgers
aus Leitomischl, der im Jahre 1491 mit dem Bruder Lukas von Prag und mit zwei
anderen Gefährten von der Brüdernnität in die östlichen Länder entsendet wurde, um die
Überreste der ursprünglichen Christengemeinden zu suchen; ferner des Johann Hassenstein
von Lobkowitz (gestorben 1517), eines Bruders des berühmten Humanisten Bohuslav von
Lobkowitz, des Ulrich Prefat von Vlkanov (gestorben 1565), eines Prager Bürgers
102
und des Christoph Harant von Polzitz (gestorben 1621), eines gelehrten Edelmanns,
der nach der Schlacht am Weißen Berge seine politische Laufbahn mit dem Leben büßte.
Eines anderen Edelmanns, des Wenzel Vratislav von Mitrovitz (gestorben 1635)
Schilderung der Drangsale, die er in den Jahren 1592 bis 1595 in schrecklicher
türkischer Gefangenschaft erlitten hatte, ist dem Inhalt und der Form nach eines der
interessantesten Denkmale dieser Zeit.
Weniger intensiv als die Theologie, Rechtswissenschaft und Geschichte wurden andere
theoretische Zweige gepflegt, doch weisen auch sie manches interessante Werk auf. Die
Philosophie verfolgt wie früher die religiös-ethische Richtung; mit Vorliebe werden hier
Sammlungen kurzer Sentenzen und belehrender Tractate zusammengestellt. Von einem
wirklichen Fortschritt zeugen blos die Schriften des Bischofs der Brüderunität Matthäus
Konecny (gestorben 1622). Auf politischem und socialem Gebiete äußert sich große
staatsmännische Umsicht in den zahlreichen Briefen des böhmischen Magnaten Wilhelm
von Pernstein (gestorben 1527), des Urhebers des denkwürdigen St. Wenzelvertrages
(1517), und noch mehr in den Arbeiten Karl des Älteren von Zerotln (gestorben
1636), des Landeshauptmanns von Mähren, von dem auch wahrhafte Muster weltlicher
Rednerprosa herrühren. Einen allgemeinen theoretischen Charakter hat die umfassende
Uolitin llistorion (1584), die nach Georg Lauterbecks deutschem „Regentenbnche"
Daniel Adam von Veleslavln bearbeitete, und des Georg Zaveta von Zavetic ,8elloln
anliea" (1607), eine Sammlung von Belehrungen und Warnungen für Hoflente. Die
Naturwissenschaften wurden allgemein zu ärztlichen Zwecken gepflegt und concentrirten
sich demgemäß am häufigsten in Herbarien oder Kräuterbüchern. Ein umfangreicheres
Werk dieser Art aus der Feder des Arztes Johann Cerny erschien mit Holzschnitten im
Jahre 1517 in Nürnberg, aber unendlich wichtiger war das große Herbarium, das
Thaddäus Häjek von Häjek (gestorben 1600), Leibarzt Maximilians II., königlich
böhmischer Protomedicus und vertrauter Freund von Tycho de Brahe, mit Zugrunde -
legung des lateinischen Werkes von Petrus Andreas Mathioli, Hofarzt des Erzherzogs
Ferdinand von Tirol, verfaßte. Es wurde mit kostbaren Holzschnitten im Jahre 1562
(erweitert im Jahre 1596) herausgegeben und behielt auf lange Zeiten hin einen vor -
trefflichen Ruf.
Indem wir andere Fachschriften, namentlich medicinische, astronomische, mathe -
matische und ökonomische übergehen, wollen wir noch kurz die grammatikalischen
erwähnen. Darunter erschien im Jahre 1533 die erste „Ornininatiün e68Üä" von den
Priestern Benes Optat von Tele und Wenzel Philomathes von Neuhaus, ein zwar noch
unvollkommenes Buch, aber dadurch denkwürdig, daß es dem berühmten Brüderbischvf
Johann Blahvslav die Veranlassung gab, eine neue Bearbeitung (1571) mit scharfsinnigen
103
Zusätzen und Erläuterungen zu veranstalten. Zu Rudolfs Zeiten schrieb eine Grammatik
im wissenschaftlichen Sinne der Prager Professor Laurentius Benedicti von Nudozer
(gestorben 1615). Praktischen Bedürfnissen dienten zahlreiche vielsprachige Wörterbücher;
das gründlichste darunter ist die 8i1va quackriliirFnis (1598) von Daniel Adam von
Veleslavln mit böhmischen, lateinischen, griechischen und deutschen Vocabeln. Sonst wurde
es den Herausgebern überlassen, für Sprachrichtigkeit und stilistische Reinheit zu sorgen.
Unvergängliche Verdienste erwarb sich in dieser Beziehung Daniel Adam von Vele-
slavin. Auch die Gediegenheit der von den Brüdern herrührenden Schriften findet ihre
Erklärung darin, daß eigens bestellte Correctoren darauf zu sehen hatten, daß Alles, was
immer von der Unität ausging, ein tadelloses Gepräge habe.
Die dritte Periode beginnt mit der verhängnißvollen Schlacht am Weißen
Berge, welche einen völligen Umschwung der bisherigen Verhältnisse herbeiführte. Die
Bevölkerung war durch die Emigration kläglich gelichtet und infolge der endlosen Kriegs-
calamitäten materiell und geistig ganz herabgekommen. Von jener gelehrten Bürgerschaft
früherer Zeit erhielten sich nur kraft- und marklose Reste, der niedere Adel, sonst der
verläßlichste Verfechter der nationalen Interessen, war in den Stürmen fast völlig auf -
gerieben. Geistliche, die der böhmischen Sprache mächtig waren, gab es nur wenige und
der literarische Nachwuchs war nahezu verschwindend. Die Universität und die städtischen
Schulen gingen in die Hände der Jesuiten über, wiesen aber nur einen unbedeutenden
Erfolg auf, weil der Kampf gegen die Ketzer ihre Hauptthätigkeit bildete; die nationalen
Bestrebungen stimmten mit den kosmopolitischen Intentionen der Jesuiten nicht überein.
In böhmischen Büchern durfte man nicht Belehrung suchen, weil der religiöse Fanatismus
die ärgsten Stützen der Ketzerei in ihnen erblickte und ihre Ausrottung mit aller Macht
anstrebte; es wurden zahllose Schriften in den Flammen vernichtet. Eine Wendung konnte
unter solchen Umständen nur äußerst langsam und nach großen Verlusten in rationeller
Hinsicht herbeigeführt werden.
Die Schriftsprache gibt von alledem ein lebendiges Bild. Anfänglich, so lauge
mit der Vergangenheit ein gewisser Zusammenhang aufrechterhalten blieb, schlägt sie noch
in anmuthiger Frische unser Ohr, doch bald bemerken wir einen offenbaren Verfall:
Wahl fehlt es nicht an Versuchen dem abzuhelfen, aber statt wirklicher Kräftigung und
zweckmäßiger Erneuerung werden vielfach Fehlgriffe begangen, so daß von der einstigen
Formvollendung nur ein matter Schatten zurückbleibt.
Die literarischenDenkmüler dieserZeit zerfallen in auswärtige und einheimische.
Zu den ersteren, welche die früheren Bestrebungen als ein directes Erbstück fortsetzen und
vertreten, gehören die Schriften der Exulanten und überhaupt Akatholiken, die Betheiligung
der Slovakei, wo sich seit der Husitenzeit die böhmische Schriftsprache verbreitet hatte,
104
mit eingerechnet; die letzteren reprüsentircn beinahe ausnahmslos die Thätigkeit der
katholischen Partei. Eine wechselseitige Beeinflnßnng ließen die schroffen religiösen Gegen -
sätze nicht zu.
In der auswärtigen Gruppe ragen die Werke des berühmten Mährers Johann
Amov Komensky (Comenius 1592 bis 1670) glänzend heroor. Sie gehören verschiedenen
Fächern an und zeugen überall von einer seltenen geistigen Überlegenheit, welche die
Grundlagen dev menschlichen Wissens nicht nur völlig beherrscht, sondern auch wesentlich
erweitert, indem sie ueue Bahnen erschließt und glücklich auch selbst betritt. Ein reiner
Sinn für das poetisch Schöne spiegelt sich in seiner rhythmischen Übersetzung der Psalmen
scirea 1624) ab, ferner in den Lehren des weisen Cato (1662) und namentlich in der
kritischen Bearbeitung des Canzionals der Brüdergemeinde (1659); auch sein in Prosa
geschriebenes Werk ,Uod)-riirt svötn n rns srckeo" (Das Labyrinth der Welt und das
Paradles des Herzens, 1623) ist eine glänzende Bethätignng seines poetischen Gemüths,
das sich in den ärgsten Drangsalen zu überirdischen Höhen aufzuschwingen vermochte.
Unendliches Gottvertrauen ertönt aus der ,HIubiira be^peönosli" (Das Centrum oder
die Tiefe der Sicherheit, 1625); sonst erinnert wieder der Ausdruck grenzenlosen Schmerzes
an die altlestamentarischen Propheten, wie zum Beispiel in ,XSakt umlrnslei mnklex
.loänot^ dratrsks« (Vermächtniß der sterbenden Mutter der Brüderunität, 1650)
oder im „8mutri^ pläö ^npIaZonöllo llnövem doxtrn past^ro" (Wehklagen des
durch Gottes Zorn verscheuchten Hirten, 1660). Auf wissenschaftlichem Gebiete sind seine
böhmisch und lateinisch geschriebenen pädagogischen Werke, namentlich die Didaktik,
Innun UirZuarum, Notliockus linAuarum novis8iiirn, Ordio pietu8 und
andere Perlen der Erziehnngsliteratur; auch in seinen philosophischen Schriften bewährt
er sich als ein Meister. Sein Stil ist überall anmuthig, in den böhmischen Schriften geradezu
classisch.
Unter den übrigen auswärtigen Schriftstellern ist nach Komensky der bedeutendste
Paul -Ltäla von Zhor (gestorben nach 1640 in Freiberg in Sachsen), der Urheber
einer umfangreichen Kirchengeschichte (10 Foliobände), in welcher ans protestantischer
Grundlage die Ereignisse, die sich seit den Zeiten der Apostel bis zum Jahre 1623 in der
Welt überhaupt und in Böhmen insbesondere zugetragen haben, dargestellt sind. Die von
Paul Stränsky (gestorben 1657), einem Zeitgenossen des Skala, herrührende lateinische
»Uoopublioa Uo.joino," (1634) mit der Darstellung der politischen Zustände und
inneren Verhältnisse, wie sie sich in Böhmen in: Laufe der Zeit entwickelt haben, tangirt
das böhmische Schriftthum nur mit ihrem wichtigen Inhalt.
Was die einheimische Literatur anlangt, so sehen wir da beinahe das ganze
Jahrhundert hindurch die Thätigkeit des Jesuitenordens in hervorragender Weise vertreten;
105
allmälig fangen jedoch auch andere Kräfte an sich hier zu betheiligen, vorzugsweise aus
dem Stande der Weltpriester.
Die Dichtung wird fast nur auf geistlichem Gebiete, namentlich in den aus älteren
und neueren Liedern zusammengestelltcn Gesangbüchern berücksichtigt. Das größte Ver -
dienst erwarb sich in dieser Beziehung der patriotische Jesuit Matthias Wenzel Steyr
(gestorben 1692), in dessen mit Noten versehenem Cancionale (1683) ein ganzer Schatz
alter beliebter böhmischer Lieder für die Nachwelt erhalten ist. Sonst ist verhältnißmüßig
am gelungensten der idyllisch gefärbte „2ckorosIaviL6lr" (1665) von Felix Kadlinsky,
eine Bearbeitung der deutschen „Trntznachtigall" des Friedrich Spee von Langenfeld.
Die wissenschaftliche Literatur wird bis Mitte des XVIII. Jahrhunderts größten-
theils lateinisch gepflegt, daneben faßt die deutsche Sprache Wurzel und verbreitet sich,
durch die Zeitverhältnisse begünstigt, immer mehr und mehr. Der vernachlässigten
böhmischen Sprache bediente man sich endlich nur in Nothfällen, hauptsächlich zur
Belehrung des gemeinen Volkes.
Das theologische Gebiet, wo der religiöse Umschwung zu energischer Thätigkeit
antrieb, weist eine Unzahl der verschiedensten Werke auf. Im Vordergrund steht die drei-
theilige St. Wenzels-Bibel (1677 bis 1715) in der gelungenen Übersetzung der Jesuiten
Georg Konstant, Mathias Wenzel Steyr und Johann Barner. Zu den wichtigeren
Schriften gehören weiter Postillen, Heiligenleben, Sammlungen von Predigten und
ähnlichem; mitunter finden wir darunter Verdienstliches und edel Gemeintes, aber auch
viel Leeres, schreiend Tendenziöses und sprachlich Fehlerhaftes.
Historische Schriftsteller, namentlich solche, welche sich mit der vaterländischen
Geschichte befassen, treten in stattlicher Anzahl auf. Sie beschränken sich meistentheils
darauf, das Material zu sammeln, und sind eher tendenziös als kritisch vorsichtig und
unparteiisch. An der Spitze steht der Oberstkanzler des Königreiches Böhmen Wilhelm
Slavata von Chlum und Kosumberg (1572 bis 1652), Verfasser des Ilistorielrö
spisoväul (Historiographie); es enthält in 14 Foliobänden theils des Verfassers
Memoiren aus den Jahren 1604 bis 1619, theils chronologisch geordnete Aufzeichnungen
aus der Regierungszeit Ferdinands I., Maximilians II. und Rudolfs II. (bis 1592)
in katholischem Sinn. Für die Geschichte des dreißigjährigen Krieges bieten interessante
Nachrichten die gleichzeitigen Berichte des Wenzel Kosmanecius (gestorben 1679) und
Norbert Zatoeil (gestorben 1685), doch verschwinden ihre Leistungen im Vergleich mit
dem historischen Material, welches der größte böhmische Jesuit Bohuslaus Balbln
(1621 bis 1688) in zahlreichen lateinischen Schriften aufgespeichert hat. Hierher gehören
seine großartigen ,NisoeIIauoa Iiistoriea regui Lolromiae", eine Sammlung
detaillirter Aufschlüsse über Alles, was das Land Böhmen jemals Merkwürdiges besessen;
106
ferner die »Upitvins kislorien reruin Lollamieururu" und manches Andere,
worunter die berühmte Schutzschrift »visZsrtatio apoloFetien pro linAun
Slavoiriea" als ein Denkmal der edelsten Gesinnung dasteht. Auch die zahlreichen
Schriften von Balblns Zeitgenossen und Freund, dem Prager Canonikus Thomas
Pesina von Cechorod (1629 bis 1680), insbesondere sein ,Nurs Uoruvieus"
(1677), ,?liospüorri3 S6p1ieorn>8" (1673) und ^Urvckallüäee üloravopisn"
(Vorläufer einer Beschreibung Mährens, 1663) enthalten viel kostbares Material. Aus -
schließlich böhmisch schrieb der Kreuzherr Johann Franz Bcckovsky (1658 bis 1725),
Verfasser der umfangreichen »kosell^ne star^ell prlbsküv essic^cli" (Sendbotin
altböhmischer Begebenheiten, 1700), in welche er die bereits selten gewordene Chronik
Häjcks beinahe vollständig aufnahm.
Geographische und ethnographische Kenntnisse sind gewöhnlich in den
historischen Arbeiten enthalten; hauptsächlich gilt dies von der .kckuppu icatolielcü«
(1630) des Jesuiten Georg Ferus (gestorben 1659), wo die Bekehrung der fremden
Völker zum Christenthum beschrieben wird. Viel Interessantes bieten Heinrich Michael
Hieserle von Chodow (gestorben nach 1660) in seiner Biographie und Hermann
Cernin von Chndenitz (gestorben 1651) in seinem „DaniM osst^ äo Lcmslautmo-
pols« 1644 bis 1645 (Tagebuch der Reise nach Constantinopel), aber ihre Arbeiten
blieben ungedruckt.
Von den übrigen Zweigen berühren wir nur das grammatikalische Gebiet, das
besonders bezeichnende Erscheinungen bietet. Einerseits zeigt sich hier das Bestreben, die
Schriftsprache durch Aufstellung bestimmter Regeln und Beseitigung des Fremden, das
heißt durch Purismus vor weiterem Verfall zu schützen, während anderseits auf ihre
Bereicherung durch Aufnahme von Formen aus der Volkssprache hingearbeitet wird. Den
konservativen Standpunkt behaupten hauptsächlich Matthias Wenzel Steyr (gestorben
1692), Georg Konstantins (gestorben 1673) und der Slovake Paul Dolezal
(gestorben um 1764); in Neuerungen gefielen sich dagegen Wenzel Johann Rosa
(gestorben 1689) in seiner lateinischen .Ovelloreenost« (1672) und nach ihm Johann
Wenzel Pohl (gestorben 1790), dessen »Orammutieu liriFuae Lollainicmo« oder „die
böhmische Sprachkunst" (1756 und folgend) in abschreckender Weise zeigt, auf welche
Abwege muthwillige Unwissenheit gerathen kann; sie ist zugleich auch eine Probe des
kläglichsten Verfalls der böhmischen Schriftsprache. —
Mit den durchgreifenden Reformen, welche in den letzten Regierungsjahren Maria
Theresias in den politischen, culturelleu und socialen Verhältnissen vorgenommen wurden,
beginnt die Neuzeit des böhmischen Schriftthums, welche bis in die Gegenwart reicht.
Einen Grenzstein in ihrer Mitte bildet das Jahr 1848; bis zu diesem Jahre hat die
108
geistige Thätigkeit vor Allem die literarische Wiederbelebung als die Grundlage und Quelle
patriotischer Gesinnung im Auge; von da an ändert sich allmülig die Richtung, denn die
Literatur überläßt es anderen, hauptsächlich politischen Factoren, das Volk anfzuwecken:
sie selbst betritt eine breitere Basis des Kunst- und Bildungsstrebens.
Der traurige Zustand, in welchem sich die Literatur und mit ihr zugleich die böhmische
Nationalität nach dem dreißigjährigen Kriege befand, erreichte den Gipfelpunkt im
letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, nachdem die Reform der bestehenden Verhältnisse
das Losungswort der europäischen Intelligenz geworden lvar. Unter den deutschen
Landesgenossen, die mit Stolz auf den großartigen Aufschwung der geistigen Thätigkeit
m den Reichslündern blickten, machte sich schon lange eine erfreuliche Culturbewegung
bemerkbar und führte nicht unbedeutende Erfolge herbei, namentlich als mit der Aufhebung
des Jesuitenordens (1773) die wichtigste Stütze der internationalen lateinischen Sprache
gefallen war, und noch mehr, als (1774) die Volksschulen (Normal-, Haupt- und
Trivialschnlen) auf einer neuen Grundlage ins Leben gerufen und der deutschen Sprache
zngesprochen wurden; im böhmischen Volke dagegen sah man beinahe keine Spur von
irgend welchem Fortschritt, denn die Kraft beruhte da ausschließlich auf der unbeweglichen
Masse der Landbevölkerung, welche von den modernen Strömungen der Cultnr nur
äußerlich und unzulänglich berührt wurde. Die wohlhabenderen und überhaupt die
intelligenten Kreise ergaben sich bereitwillig der Eutuationalisirung, weil sie dadurch
materielle Vortheile und einen merklichen Vorrang in der Gesellschaft erlangten; es verblieb
schließlich nur die niedere Geistlichkeit, welche, soweit sie mit dem gemeinen Volke in
Berührung kam, noch augenscheinlich das böhmische Element ans dem Gebiete des höheren
Vorstellnugslebens direct förderte.
Dennoch kann man nicht sagen, daß die Intelligenz unter der böhmischen Bevölkerung
verschwunden wäre, nur äußerte sich dieselbe blos ihrem Charakter, ihrem patriotischen
Geist nach, nicht aber in der Volkssprache. Letzteres wäre auch fast unmöglich gewesen, da
die böhmische Sprache dermaßen vernachlässigt und durch unberufene Reformatoren nach
Art eines Rosa und Pohl so verunstaltet war, daß sie den Anforderungen der Zeit und
der Bildung nicht entsprach. Mau gebrauchte daher zum Theil das Latein, namentlich auf
wissenschaftlichem Gebiet, und am häufigsten die deutsche Sprache, welche schließlich das
Organ des öffentlichen Lebens und ebenso auch der wissenschaftlichen Forschung wurde.
Die Elite der damaligen Gelehrten hatte ihren Centralpunkt in der Prager
gelehrten Privatgesellschaft (Loukromü iräonä spoleänosk), welche im Jahre 1769
unter Mitwirkung der aufgeklärten Aristokraten Ignaz Born (gestorben 1791) und
^rauz Josef Graf Kinsky (gestorben 1805) begründet und im Jahre 1784 in die
königlich böhmische Gesellschaft der Wissenschaften (Lräl. äe-üü spoleänost narck)
109
umgewandelt wurde. Die hervorragendsten Mitglieder dieses, inÖsterreich ältesten Institutes
waren entweder gebürtige Böhmen, wie der unsterbliche Begründer der Slavistik Josef
Dobrovsky (gestorben 1829), der berühmte Piarist Gelasius Dobner (gestorben
Josef Dobrovsky.
1790), Verfasser vieler historischer Arbeiten und scharfsinniger Commentator der Häjek'schen
Chronik, der mit Recht der Vater der kritischen Geschichtsforschung in Böhmen genannt
wird, Franz Martin Pelzel (gestorben 1801), ein hervorragender Forscher auf dem
Gebiete der heimischen Geschichte, Fortunat Durich (gestorben 1802), ein bewährter
Sprach'cnkenner, Joh. Gottfried Dlabac (gestorben 1820), ein Literarhistoriker
Iw
und begeisterter Förderer patriotischer Bestrebungen, Johann Tesänek (gestorben 1788),
ein bedeutender Mathematiker und Physiker, Anton Strnad (gestorben 1799), ein
Astronom und Andere, oder doch wenigstens ansrichtige Freunde des böhmischen Volkes
und seiner Denkmäler, wie derPiarist Nik. Adankt. Voigt (gestorben 1787), der Erste,
der sich mit der böhmischen Numismatik abgab und auch die Culturgeschichte Pflegte, Karl
Rafael Ungar (gestorben 1807), fleißiger Bibliograph, der eigentliche Organisator
der Prager Universitätsbibliothek, Ignaz Cornova (gestorben 1822), ein Polyhistor,
sowohl durch seine Kenntnisse als auch durch seinen edlen Charakter eine der interessantesten
Persönlichkeiten des damaligen gelehrten Prag, und Andere; bei allen diesen Männern,
denen auch eine Reihe aufgeklärter Aristokraten zur Seite stand — neben dem schon
erwähnten Grafen Kinsky namentlich auch Fürst Karl Egon Fiirstenberg (gestorben 1787),
Graf Egon Wrbna (gestorben 1789), Ernst von Waldstein (gestorben 1789), Prokop
Lazansky (gestorben 1804), Joachim (gestorben 1802), Franz (gestorben 1830) und Kaspar
von Sternberg (gestorben 1838), Joh. Rudolf Chotek (gestorben 1824) — bildete Alles,
was zur Verherrlichung der Heimat diente, so zu sagen den Hauptpunkt des Programms.
Es ist natürlich, daß auch der Gedanke auftauchte, welches Geschick der böhmischen Sprache
harre und ob es nicht rathsam wäre, zu ihrer Belebung irgend welche Schritte zu thun, da
die Gefahr drohte, daß sie allmälig selbst aus dem gewöhnlichen Verkehr schwinden werde.
Eine eindringliche Stimme in dieser Hinsicht erscholl zum ersten Male im Jahre 1774
aus hohen militärischen Kreisen in der Schrift „Erinnerung über einen wichtigen
Gegenstand; von einem Böhmen", deren Autor Franz Josef Graf Kinsky,
damals Generalmajor, dann Feldmarschall-Lientenant und Platzcommandant der Militär -
akademie in Wiener-Neustadt war; den weise» pädagogischen Rath begleitet hier eine
warme Fürsprache zu Gunsten der Muttersprache, welche nach den Worten des Verfassers,
wie sie bei einem Deutschen deutsch, bei einem Franzosen französisch, bei einein Böhmen
auch nicht anders als böhmisch sein kann. Diese Publikation eröffnete gleichsam die Bahn
anderen Apologien, die dann von Seiten des unermüdlichen Franz Martin Pelzel (1775),
Karl Ignaz Thäm (1783), eines fleißigen Prager Literaten, Joh. Al. Hanke von Hanken -
stein (1783), Universitätsbibliothekars in Olmütz, und Anderer folgten, ja es kam sogar zu
ernstlichen öffentlichen Manifestationen, namentlich beim Regierungsantritt Leopolds U.
einerseits auf dem Landtage im Jahre 1790, wo die Stände unter anderen Forderungen
auch die Bitte Seiner Majestät vorbrachten, es möchte die böhmische Sprache an
Gymnasien einige Berücksichtigung finden, anderseits bei den späteren Krönungs -
festlichkeiten, wo man ebenfalls der Muttersprache gedachte.
So wurde allmälig der Umschwung zu Gunsten der vernachlässigten böhmischen
Sprache vorbereitet; sollte jedoch die zu diesem Zweck unternommene Arbeit nicht wiederum
111
fruchtlos verloren gehen, so mußte sie ein Organisator, der nicht blos mit Ausdauer,
sondern auch mit glänzenden geistigen Gaben ausgestattet war, in die Hand nehmen, und
einen solchen hatte das böhmische Volk in Josef Dobrovsky.
Dieser geniale Mann, Sprößling einer böhmischen militärischen Familie, ward im
Jahre 1753 zu Dermet bei Raab in Ungarn geboren, wuchs in Böhmen auf und lenkte
schon während seiner Studien die Aufmerksamkeit auf sich. Durch den Jesuitenorden für den
geistlichen Stand gewonnen,
leitete er einige Zeit hindurch
(1787 bis 1790) das General -
seminar zu Hradisch bei Olmütz,
unternahm dann eine Studien -
reise über Deutschland nach
Schweden und Rußland und
lebte nach seiner Rückkehr
als AM theils in Prag,
theils auf dem Lande bei
adeligen Gönnern, namentlich
bei den Grafen Nostitz, Stern -
berg und Cerm'n. Vom Jahre
1795 an wurde er von einer
Geisteskrankheit verfolgt, doch
erholte er sich immer wieder,
ohne daß die Folgen verhäng-
nißvoll für ihn wurden. Der
Tod ereilte ihn zu Brünn im
Jahre 1829. Seine wissenschaft-
licheThütigkeit charakterisirt ein
ungewöhnlicher Scharfsinn, der
auch bei den schwierigsten Problemen den rechten Weg zu finden wußte und die Massen
des Materials zu beherrschen verstand. Am erfolgreichsten wirkte er als Sprachforscher,
durch seine altslavische Grammatik „Institutionss lin^uno slnvieno äialoeti
votaris" (1822), ein Resultat vieljähriger umfassender Studien, ward er ein Gesetzgeber
auf dem Gebiete der Slavistik. Der böhmischen Sprache gab er eine feste Grundlage, auf
der sie bearbeitet werden müßte, falls sie einen praktischen Erfolg haben sollte; er analysirte
kritisch ihre Denkmäler, hob die Vorzüge und Schwächen hervor und verbreitete durch seine
Speeialforschungen, die er theils einzeln, theils in größeren Compendien („Geschichte der
Joses Jungmann.
112
böhmischen Sprache und Literatur" 1791, 1792, 1818 — „Lehrgebäude der böhmischen
Sprache" 1809, 1819 — „Deutsch-böhmisches Wörterbuch" 1802) publicirte, überall
neues Licht. Sein in der Gelehrteuwelt frühzeitig berühmter Name — selbst Goethe blickte
mit Verehrung zu ihm empor — gewann den böhmischen Bestrebungen weit und breit
Sympathien: es war ja über allen Zweifel erhaben, daß die Sache, deren sich der strenge
Dobrovsky annahm, unmöglich eine ungerechte sein könne. Er selbst trug kein Bedenken,
obzwar er fast ausschließlich deutsch schrieb, bei passender Gelegenheit seine Liebe zur
böhmischen Sprache zu manifestiren; so im Jahre 1791, als er in Gegenwart Seiner
Majestät des Kaisers Leopold II. in der feierlichen Sitzung der königlichen Gesellschaft der
Wissenschaften den Vortrag hielt: „Über die Ergebenheit und Anhänglichkeit der slavischen
Volker an das Erzhans Österreich," ja er fertigte leichtfertige Urtheile über die böhmische
Sprache nicht selten mit schneidiger Ironie ab. Dies war um so wichtiger, als Dobrovsky
nicht blos wegen seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit, sondern auch wegen der geistreichen
Art seines Verkehrs eine in hohen aristokratischen Kreisen überaus beliebte Person war.
Dobrovsky's Resultate bildeten den Leitfaden für eine ganze Generation patriotischer
Literaten und bewährten sich im praktischen Leben als sehr ersprießlich. Jetzt zuerst kam
man zur Einsicht, daß sich die neue literarische Thätigkeit aus Denkmäler ans den früheren
Jahrhunderten, denn in diesen war einzig der richtige Sprachgebrauch vertreten, und
dann besonders auf die Schichten des Volkes, dessen Existenz die humane Regierung
^osesto II. durch Herabminderung der Ilnterthanslasten bedeutend erleichtert hatte, stützen
müsse. Mit der böhmischen Bibel, die einst den: Volke den besten Trost gewährte und die
man jetzt namentlich unter der Geistlichkeit schwer vermißte, wurde der Anfang gemacht, und
zwar im Jahre 1778 bis 1780 in einer musterhaften Ausgabe, an welcher der Priester des
Panlaner-Ordens, Fortunat Dnrich (1735 bis 1802) den wichtigsten Antheil hatte;
Dobrovsky selbst nannte dieses Buch wegen seiner sprachlichen Gediegenheit elastisch. Gleich
darauf wurden emsige Vorkehrungen getroffen, daß die weiteren Schichten mit einer
passenden Lectüre bedacht und ans der geistigen Starrheit herausgerissen würden; in
dieser Richtung haben sich unvergängliche Verdienste erworben Franz Faustin
Prochäzka (1749 bis 1809), ein gelehrter Expaulaner, Direktor der Prager Gymnasien
und Universitätsbibliothekar, der eine Reihe älterer populär-wissenschaftlicher Werke
herausgab, und Wenzel Mathias Kramerius (1759 bis 1808), der Inhaber der
„Böhmischen Expedition" in Prag, ein glücklicher Bearbeiter überaus zahlreicher Volks -
bücher mit unterhaltendem und belehrendem Inhalt. Auch Franz Martin Pelzel (1734
bis 1801) war bei diesen Arbeiten ein tüchtiger Mithelfer; er versuchte es nämlich, die
historischen Erinnerungen durch ein umfangreicheres Werk ,Novü Icronika össkä-
(Neue böhmische Chronik, 3 Bände, 1791 bis 1796) anfznsrischen und erreichte in
113
vollem Maße seinen Zweck, weil er wissenschaftliche Genauigkeit mit dem volkstümlich
erzählenden Ton vortrefflich zu vereinen wußte.
Aber nicht blos in der Prosa, sondern auch in der Poesie brach die Morgenröthe an.
Eine überaus große Schwierigkeit verursachte hier der absolute Mangel an Vorarbeiten,
namentlich aber die Ungewißheit, nach welchem Prineip Verse verfaßt werden sollen. In
den älteren spärlichen Denkmälern war die Silbenzählung vorherrschend gewesen, daneben
kani in letzter Zeit auch die Quantität zur Geltung; die erste Art beleidigte durch ihre
Unfertigkeit und die
zweite war wieder zu
schwierig und paßtenur
für gewisse Dichtungs -
arten. Es fielen dem -
nach die ersten Ver -
suche (in den Samm -
lungen des Wenzel
Th am, 1785) überaus
kläglich ans, bis schließ -
lich Dobrovsky auch
hier mit seinem Rath
abzuhelfen wußte; ge -
legentlich zeigte er
nämlich, daß man zum
Prineip des modernen
Verses nur den Accent
nehmen könne, und gab
zugleich die Regeln
an, welche der richtige
Rhythmus in: Böhmischen erheische. Dieser Anleitung folgte der rege Dichterkreis, der sich
um den jungen Priester Anton Jaroslav Puchmayer (1769 bis 1820) vereinigt
hatte. Derselbe erreichte im Laufe einiger Jahre bis dahin nicht gesehene Erfolge; freilich
von einer Vollkommenheit kann man bei den Producten dieser Schule nicht sprechen, denn
es fehlte der Mehrzahl die wahre Begabung, aber diesen Mangel ersetzte das Verdienst,
daß so zu sagen auf einmal beinahe alle bis jetzt ungepflegten poetischen Formen in die
böhmische Poesie eingeführt wurden. Unter den mehr als 30 Schriftstellernamen, die in
einigen gemeinschaftlichen Sammlungen vor die Öffentlichkeit traten, erglänzte am meisten
Puchmayers Name in Fabeln nach Lafontaine'scher Art und in geistlichen Oden.
Böhmen. 8
Johann Kollar.
114
Diejenigen, die vornehmlich an diesen Erstlingsarbeiten betheiligt waren, erkannten
wohl selbst, daß ihre Beiträge nicht auf künstlerischer Höhe ständen, nnd suchten daher ihre
eigene Production durch Anlehnung an fremde Muster zu heben. Neben Puchmayer, der
in Versen Montesquieu's Dsmxls äs Oniäs — „Chram Gnidsky" (1805) bearbeitete,
betrat diese Bahn sehr frühzeitig Johann Nejedly (1776 bis 1834), Pelzels Nachfolger
in der Professur der böhmischen Sprache an der Universität, der einige Zeit hindurch das
Haupt der literarischen Thätigkeit war; seine Zeitgenossen schätzten besonders seine Probe
aus Homers Ilias (1801) sehr hoch, aber auch seiue anderen Übersetzungen, durchaus
idyllischen Charakters, aus Sal. Geßner, Florian und Anderen. Auch in der wissen -
schaftlichen Vierteljahrschrift -Ula-mlsl- (Der Verkündiger, 1806 sq.), seinem wichtigsten
literarischen Unternehmen, tritt dieses Streben hervor, nur daß der verdienstvolle Mann
mit dem nun nicht mehr hinreichenden Wortvorrathe aus der Zeit Veleslavlns arbeitete.
In dieser Hinsicht war Nejedly einseitig nnd was noch schlimmer, unnachgiebig; er wollte
nicht einmal in der Orthographie Abweichungen zulassen, wodurch er allmälig in eine
Collision niit den Anforderungen des modernen Geistes gerietst nnd eine Krisis hervorricf,
die nicht anders als mit dem vollständigen Siege der fortschrittlichen Partei enden konnte.
Das Haupt der letzteren war „der stille Genius" Josef Jungmann (geboren
1773 in Hudlitz bei Berann, gestorben 1847 als emeritirter Prüftet des k. k. akademischen
Gymnasiums in Prag). Ausgestattet mit umfassender Kenntniß sowohl der antiken als der
modernen Sprachen und Literaturen und auch auf anderen Gebieten Wohl bewandert,
erkannte er mit richtigem Blick, daß, um der sichtlichen Stagnation zu begegnen, ausgiebige
neue Hilfsquellen durch die Erweiterung des bisherigen Sprachschatzes eröffnet werden
müßten. Für die Verwirklichung dieser Idee setzte er sich mit aller Kraft seines ausge -
zeichneten Geistes ein.
Sein Schasfungstrieb wählte sich vor Allem die Poesie zum Ziele. Ein großes,
selbständiges Werk hat er zwar ans diesem Gebiete nicht zustande gebracht, aber dafür durch
Meisterübersetzungen aus dem Englischen (Miltons Verlorenes Paradies 1811, Pope's
Messias), aus dem Französischen (Chateaubriands Atala 1805) und aus dem Deutschen
(Goethes Hermann und Dorothea, Schillers Lied von der Glocke) eine neue poetische
Lprache voll frischer Kraft und Anmuth geschaffen. Ein ungewöhnlich feiner Schönheitssinn
und gründliche philologische Bildung unterstützten ihn bei der Wahl der Mittel, so oft er
entweder aus älteren Denkmälern passende Ansdrücke oder Phrasen heraussuchte oder zu
den verwandten slavischen Sprachen seine Zuflucht nahm oder schließlich ein neugebildetes
Wort in Umlauf zu bringen versuchte; daher kam es auch, daß alle seine Neuerungen in
vollem Umfang Eingang nnd frühzeitig auf dem verjüngten böhmischen Parnaß Geltung
fanden, so namentlich in den Gedichten des begeisterten Lyrikers Milvta Zdirad Polak
11b
(1758, gestorben 1856 als Generalmajor in Wiener-Neustadt) und Anton Marek (1785
bis 1877), des vertrautesten Freundes Jungmanns, eines gewandten Übersetzers der
Schiller'schen Balladen. Weniger glücklich war das Streben Jungmanns, mit Hilfe seiner
Freunde die Alleinherrschaft der Accentprosodie zu brechen und an ihre Stelle wiederum
das Princip des Zeitmaßes einzuführen. In dem darob entstandenen Kampfe erlitt zwar
die gegnerische Partei eine entschiedene Niederlage, aber der Triumph des Siegers war
F. L. LelakovSly.
doch nur ein theoretischer, denn in der Praxis blieb, abgesehen von einigen bedeutenderen
Ausnahmen, Alles beim Alten.
Noch ausgiebiger war Jungmanns Thätigkeit in der dem Unterricht und der
Wissenschaft dienenden Prosa. Hier lähmte der vollständige Mangel aller Hilfsmittel
jeglichen Fortschritt, zu dem die mit jedem Tage zunehmende Aufklärung immer nach -
drücklicher nöthigte. Auch hier hat Jungmann das Eis glücklich durchbrochen mit seiner
,81ovesrio8t" (Stilistik 1820), einem Handbuch für die Schulen, in welchem er eine
fertige wissenschaftliche Terminologie niederlegte und mit einem Male den Fortschritt auf
den verschiedenen Gebieten ermöglichte. Frühzeitig gesellten sich ihm gleichgesinnte Männer
bei, patriotische Freunde, darunter der hochbegabte und unermüdliche Universitätsprofessor
8*
116
Johann Svatopluk Presl (1791 bis 1819), ein zweiter Jungmann auf dem Gebiete
der Naturwissenschaften; durch ihr vereintes schweres Bemühen wurde der Grund zur
neuböhmischen wissenschaftlichen Literatur gelegt.
Eine wirksame Aufmunterung zu weiterem Schassen fanden diese ersten Pionniere,
nachdem bereits 1816 die böhmische Sprache auf den Gymnasien principiell zugelassen
worden war, in der Gründung des böhmischen Museums (Llnssnrn üralovstviÜsslröbo)
ini ^zahre 1818, bei welcher nach dem Beispiel des Grafen Kaspar von Sternberg,
eines aufgeklärten Mannes, der dann viele Jahre hindurch (1822 bis 1838) als Präsident
an der Spitze dieses Instituts stand, die Blüte des böhmischen Adels durch reichliche
Unterstützung eine ungewöhnliche Theilnahme an den Tag legte, und noch mehr in dem im
Jahre 1830 beim Museum gegründeten Verein zur wissenschaftlichen Pflege der böhmischen
Sprache und Literatur (,86or pro vsäooüö v^äolairi reei a litsratrrr^ ooslco") oder
sogenannten LI alias essleä, die für einen bestimmten Geldbeitrag ihren Mitgliedern
Bildungsschriften als Antheile verschaffte, wodurch auch die oft unüberwindlichen Verlags -
schwierigkeiten zum Theile behoben wurden.
Im Zusammenhang mit diesen Verhältnissen steht Jnngmanns bedeutendstes Werk,
das böhmisch-deutsche Wörterbuch (,8Iovnik essüonsmsclr^), ein großartiges und
bis jetzt unübertroffenes Denkmal mehr als dreißigjähriger Arbeit; es enthält nicht nur
den Wortvorrath aus neueren und älteren Schriften und Sammlungen, sondern auch ans
der Volkssprache, so weit dies damals erreichbar war, und wurde in fünf großen Bänden
von der Llaties öeslrä im Jahre 1835 bis 1839 herausgegeben. Ein anderes hierher
gehöriges großes Werk ist seine Geschichte der böhmischen Literatur „Umtoria litsralui^
eosIeoZ m welcher die böhmischen literarischen Products in möglichster Vollständigkeit
zusammengetragen und sowohl der Zeit als auch dem Inhalte nach gruppirt sind.
Jungmanns unermüdliche Thätigkeit brachte im wahren Sinne des Wortes gesegnete
Früchte. Sowie in Dobrovsky ein genialer Meister erstand, der vortreffliche Pläne für die
Zukunft entwarf, so erschien in Jnngmann ein musterhafter Architekt, der mit kundiger Hand
die Grundmauern zu legen wußte; die weitere architektonische Ausführung war schon leicht
und ging rasch vor sich.
Einen ziemlich klangvollen Namen hatte neben Jungmann längere Zeit hindurch
Wenzel Hanka (1791 bis 1861), Bibliothekar des böhmischen Museums, der Auffinder
der Koniginhofer Handschrift. Neben einer kleinen Sammlung lyrischer Gedichte gab er viele
altbohmische Denkmäler heraus und beschäftigte sich auch mit grammatikalischen Arbeiten,
aber er brachte es nie über die Mittelmäßigkeit hinaus. Dafür hat er sich durch seine
praktische Wirksamkeit bedeutende Verdienste um die literarische Wechselseitigkeit zwischen
den Böhmen und den verwandten slavischen Stämmen erworben.
117
Diese Idee der slavischen literarischen Wechselseitigkeit, in Böhmen schon am Ende
des vergangenen Jahrhunderts durch den Einfluß der Dobrovsky'schen Arbeiten geweckt,
erwies sich für das erwachende nationale Bewußtsein als ein überaus mächtig wirkender
Hebel. Sie erstarkte namentlich durch die politischen Ereignisse während der französischen
Kriege und fand schließlich auch einen flammenden Ausdruck in der Thätigkeit des ersten
großen neuböhmischen Dichters Johann Kollar (geboren 1793 zu Mosovetz in der
Slovakei, gestorben 1852 in Wien als Professor der slavischen Alterthümer an der
Universität). Dieser Phantasie -
reiche Mann übertrug, nach -
dem er in der Fremde
(während seiner Studien in
Jena) von den mächtigen
Eindrücken der ersten Liebe
berührt worden war, seine
ganze Innigkeit, die Freude
und das Leid eines von Sehn -
sucht ergriffenen Herzens auf
das ideale Bild des Slaven-
thums; er ruft sich die schreck -
lichen Geschicke, welche in ver -
gangenen Zeiten verschiedene
slavische Stämme ereilten, ins
Gedächtniß zurück, fordert zur
Eintracht und Wechselseitig -
keit auf, preist die ausdauernde
Paul Josef Lafattk. Arbeit, verherrlicht die Ver -
dienste und verdammt die
verrätherische Eigensucht. Das ist die Grundidee seines Hauptwerkes, des lyrisch-epischen
Gedichtes »8Iüv^ vesra" (Die Tochter der Slava, fünf Gesänge), das aus lauter Sonetten
besteht, und ähnliche Leitmotive — eine überschwängliche Liebe zum Slaventhum —
äußern sich auch in seinen anderen, größtentheils prosaischen Arbeiten.
Während die rege Phantasie Kollars kühne Ideale in ein Prachtgewand hüllte und
kostbare Lehren in die Herzen einprägte, erklang mit nicht minder glänzendem Erfolge die
Leier des anderen großen Dichters Franz Ladislav Celakovskh (geboren 1799 in
Strakonitz, gestorben 1852 in Prag als Universitätsprofessor). Auch bei ihm hat die slavische
Idee tiefe Wurzel gefaßt, aber sie nimmt frühzeitig durch den Anschluß an das Volkslied
118
eine mehr bestimmte und reale Gestalt an. Celakovsky sammelte zn diesem Zweck mehrere
Jahre hindurch einheimische Lieder, erforschte auch die der anderen Slaven, und aus allen
brachte er schließlich eine reiche Sammlung »Liovuiisüö nuroäni ptsno- (Slavische
Volkslieder, 1822 sq.) zustande. Dann erst entschloß er sich zur selbständigen Production
in diesem Genre und vollendete seine besten poetischen Werke »Odins plsnl rusü^elr"
(Nachhall der russischen Lieder, 1828) und »Odins pisiii eosd^od" (Nachhall der
böhmischen Lieder, 1839). Im ersten sind vorwiegend epische Lieder enthalten, vom
Geiste der russischen Poesie durchdrungen, während im zweiten lyrische Gedichte vor -
wiegen, die den Stempel des böhmischen Volksliedes an sich tragen. Auch in der Kunstpoesie
hat sich Celakovsky als echter Meister bewährt, und zwar in seiner »icküLe sloiistn«
(Centifolie 1840), einer Sammlung theils erotischer, theils paränetischer und spekulativer
Gedichte, dann in zahlreichen Epigrammen und in verschiedenen Übersetzungen aus slavischen
und anderen Sprachen. Alles, was er geschrieben hat, zeichnet sich durch elegante, muster-
giltige Form und durchdringenden kritischen Geist aus.
Wie Celakovsky und Kollar als Hauptrepräsentanten der gleichzeitigen Poesie
dastehen, so haben sich ans dem Gebiete der Prosa Paul Josef Safarlk (1795 bis
1861) und Franz Palacky (1798 bis 1876) den Namen der Classiker ohne Vorbehalt
erworben.
Der Erstere, durch die Größe seines Geistes und durch seine Schicksale Dobrovsky,
durch seinen begeisterten Sinn und musterhafte Ausdauer Jungmann ähnlich, ward in
Kobeljarovo in der Slovakei geboren und unterrichtete längere Zeit an dem serbischeil
Gymnasium zu Neusatz, worauf er sich nach Prag begab (1833) und hier lediglich wissen -
schaftlichen Arbeiten lebte. Er starb im Jahre 1861 als Director der Universitätsbibliothek
in Prag. Die schriftstellerische Bahn betrat er mit poetischen Versuchen, die theils
Originale (»Dutrunslcu iVlusu s I^rou slovansIcorO, die Tatra-Muse mit der
slavischen Leier, 1814), theils Übersetzungen waren, aber bald versenkte er sich mit
Begeisterung in slavische Studien und erzielte da epochemachende Resultate. Den Gipfel -
punkt seiner Thätigkeit bilden die »LluroLitnosli slovunsüö" (Slavische Alterthiimer,
1837) oder Nachrichten über die althistorische Zeit der Slaven seit Herodot (456 vor
Christus) bis zur Verbreitung des Christenthums bei den einzelnen slavischen Stämmen
(988 nach Christus), ein großartiges, an Form und Inhalt elastisches Werk, durch welches
das Alterthum eines bedeutenden Theiles der europäischen Bevölkerung von dem darauf
lagernden Gewölk befreit und eine Unzahl eingewurzelter Vorurtheile vollständig widerlegt
wurde. Seine übrigen Arbeiten sah Safarlk zum großen Theile als Vorbereitung zn
diesem Hauptwerk oder als seine theilweise Fortsetzung an; so vor Allem seine „Slavische
Ethnographie", 1842 (Slovunsk^ närockopis), seine „Geschichte der slavischen
119
Sprache und Literatur", 1826, die erste derartige znsammenfassende Übersicht, und eine
Reihe wichtiger philologischer Abhandlungen, in welchen er verwickelte wissenschaftliche
Probleme kritisch erörterte und scharfsinnig löste.
Ein engeres Wirkungsfeld wählte sich Safarlks Zeitgenosse und Busenfreund Franz
Palacky. Er stammte aus Hodslavitz bei Neutitschein in Mähren, war einige Jahre
hindurch Erzieher in adligen Familien und kam im Jahre 1823 nach Prag, wo ihm durch
Dobrovskh's Vermittlung Archivarbeiten im gräflichen Hause der Sternberge anvertraut
wurden. Wegen seiner ungewöhnlichen Energie und praktischen Gewandtheit und seines
bedeutenden Einflusses unter dem Adel fiel ihm bald die Führerschaft bei allen wichtigeren
patriotischen Unternehmungen zu; im Jahre 1829 ernannten ihn die böhmischen Stände zu
ihrem Historiographen, in welcher Stellung er bis an seinen Tod unermüdlich thätig war.
Seine glänzenden Verdienste um Vaterland und Reich machten ihn seiner Zeit zu der
berühmtesten Persönlichkeit in Böhmen.
Franz Palacky.
120
In seinen schriftstellerischen Anfängen beschäftigte sich Palacky wie auch Safarlk mit
schöner Literatur und Ästhetik, doch nach seiner Ankunft in Prag entsagte er dieser Richtung
und stellte sich zur wichtigsten Aufgabe seines Lebens, ein ausführliches und treues Bild
der Vergangenheit Böhmens zu geben. Zu diesem Zwecke unternahm er viele Forschungs -
leisen nach den einheimischen und auch ausländischen Archiven, würdigte und publicirte
wichtige historische Llnellen, und nach vielseitigen anstrengenden Vorbereitungen übergab er
der Öffentlichkeit seine imposanten »Dchin^ närocka Üesüülro v Oaellüeli a v iUoravü"
(Die Geschichte des böhmischen Volkes in Böhmen und Mähren, 1848 bis 1876,11 Bände),
von den Uranfängen bis zum Tode König Ludwigs im Jahre 1526. Strenge Objectivitüt
ist hier von tiefer philosophischer Anschauung begleitet, durch pragmatische Auseinander -
setzung beseelt und von künstlerischer Anmuth durchweht. Ähnliche Eigenschaften weisen auch
die anderen zahlreichen Schriften Palacky's, welche die Geschichte, Literatur und das
öffentliche Leben betreffen, auf; die Specialforschnng hat in ihnen größtentheils eine
unumstößliche Grundlage und das böhmische Schriftthum eine seltene Zierde.
Mit Palackh schließt die Reihe sener großen Männer ab, die dem gedemüthigten
böhmischen Namen zu neuem Glanze verhalfen. Die nationalen Anforderungen vergönnten
es beinahe keinem von ihnen, seine Kräfte auf ein Ziel zu concentriren und nach eigenem
Wunsch zu arbeiten, dennoch haben sie, obgleich sie beinahe unablässig mit ungünstigen
Verhältnissen zu kämpfen hatten, Werke von unvergänglichem Werthe vollführt und auf
diese Art den glänzendsten Beweis bewunderungswürdiger geistiger Fähigkeit erbracht.
Im Geiste dieser Männer arbeitete auch die gleichzeitige und nachfolgende Generation.
Wir können uns hier nicht in ausführliche Aufzählungen einlassen, was Verdienstliches ans
den einzelnen literarischen Gebieten aus uneigennützigem Patriotismus geleistet worden ist,
nur die hervorragenden und markanten Erscheinungen wollen wir kurz berühren.
In der Poesie, die anfänglich größtentheils dilettantisch gepflegt wurde, wiegt bis
in die Zwanziger-Jahre das idyllische Element vor; nur in Übersetzungen wurden ab und
zu auch andere Saiten angeschlagen. Einen Umschwung führten Kollar und Celakovsky
herbei; seit ihrem Auftreten nimmt der Dilettantismus rasch ab, der Horizont erweitert
sich, es entstehen neue Richtungen, ein wahrhafter Schwung und die Vollkommenheit der
Form werden zur unabweislichen Forderung. Das Volk zu erwecken und zu veredeln ist
zum gemeinsamen Losungsworte geworden.
In der Lyrik überragte die andern durch den Reichthum patriotischer Motive und
durch einen zarten Gefühlssinn Josef Krasoslav Chmelensky, durch künstliche Form
Karl Vinaricky (1803 bis 1869), durch volksthümlichen Ton Franz Jaroslav
Vacek-Kamenicky (1806 bis 1869), durch eindringliche anmuthsvolle Paränesis
Boleslav Jablonsky (1813 bis 1881) und Andere. Einen Übergang zur modernen
121
Reflexion bildet der elegante Johann Pravvslav Koubek (1805 bis 1854) und der
gefühlvolle Wenzel Bolemlr Nebesky (1818 bis 1882).
In der Epik forderten die heimatlichen Geschicke und Sagen häufig zur poetischen
Bearbeitung auf. Umfassende Versuche dieser Art aus der Zeit Puchmayers, wie „Otakar"
(20 Gesänge) und „Vratislav" (17 Gesänge) rc. von Adalbert Nejedly (1772 bis 1844)
und „Devin" von Se -
bastian Hnevkovsky
(1770 bis 1847) haben
nur eine bibliographische
Bedeutung. Die künstle -
rische Höhe erreichte hier
Johann Erazim
Vocel (1802 bis 1871),
ein berühmter Archüolog,
der in seinen jüngeren
Jahren einige denk -
würdigere Begebenheiten
aus der böhmischen
Vorzeit in den Cyklen
„ ?rem^8lovci" (Die
Premysliden, 1838) und
»iUoe n ünlioll" (Das
Schwert und der Kelch,
1843) besungen hatte; in
einem anderen großen
Epos „Unb^i'inl 8Iü-
vz?" (Das Labyrinth des
Karl Jaromkr Erben. Ruhmes, 1846) schlllg er
eine romantisch - philo -
sophische Richtung ein. Durch kleinere Balladen und Romanzen thaten sich Johann
Heinrich Marek (1803 bis 1853) und Josef Jaroslav Kalina (1816 bis 1847)
hervor, jedoch den größten Erfolg auf diesem Gebiete errang Karl Jaronnr Erben
(1811 bis 1870), der Hauptkenner der böhmischen Volkspoesie und Urheber der anmuthigen
„U)Uiee" (Sträußchen), einer Sammlung reizender Sagen aus der Volkstradition. Die
Fabel wurde mit Glück von Vincenz Zahradnlk (1790 bis 1836), die Idylle und
zugleich ihr Gegenstück, die Satire, von Josef Jaroslav Langer (1806 bis 1846) gepflegt.
122
Die Bahn des Byronismus betrat der reich begabte Karl Heinrich Mächa (1810 bis
1836), von welchem das lyrisch-epische Gedicht „Llchj« herrührt.
Auf dem dramatischen Gebiete ließ der Dilettantismus lange hindurch keine
ernstere Arbeit aufkommen. Man berücksichtigte mehr die Bedürfnisse des Theaterpubli-
knms als die Regeln der Ästhetik und die literarischen Anforderungen, wie die zahlreichen
Stücke des Wenzel Thäm (gestorben 1812) oder Joh. Nepom. Stepänek (1784 bis
1844) zur Genüge beweisen. Der Urheber einer mehr künstlerischen Production und dadurch
zugleich der Schöpfer der nenböhmischen dramatischen Literatur tauchte erst nach dem
Jahre 1820 in Wenzel Clemens Klicpera (1792 bis 1859), Humanitütsprofessor
in Königgrätz, auf. Beinahe mit 50 dramatischen Stücken, die sämmtlich für die damalige
Zeit gelungene Originalarbeiten waren, hat er die Bühne bereichert. Neben ihm wirkten
verdienstvoll Franz Turinsky (1797 bis 1852) und Simeon Karl Machäcek
(1799 bis 1846), beide Nachahmer des deutschen classischen Drama's, Josef Krasoslav
Chmeleusky, Verfasser gelungener Operntexte, Wenzel Alois Svoboda (gestorben
1849) und Andere. In den späteren Jahren that sich durch eine ungewöhnliche Fruchtbar -
keit auf dem dramatischen Felde Josef Cajetan Tyl (1808 bis 1856) hervor.
Die erzählen de Prosa gewann seit W. M. Kramerius immer größere Kreise ihrer
Leser und Bearbeiter; ziemlich lange begnügte man sich jedoch nur mit Übersetzungen und
Imitationen, namentlich deutscher Producte. Geßner, Clauren, Van der Velde boten
einen überaus gesuchten Genuß, viel seltener griff man zu Fenelon, Florian, Chateaubriand
oder Marmontel. Erst nach dem Jahre 1820 gewinnt die Original-Production mehr
Schwung, namentlich durch das Verdienst des I. H. Marek (Jan z Hvezdy) und W. Cl.
Klicpera, deren historisch-romantische Erzählungen ihre Motive aus der heimischen
Geschichte nehmen und in einem halbpoetischen Stil die patriotischen Saiten wirksam
berühren. Zur eigentlichen Blüte brachte die Belletristik Klicpera'sSchüler Josef Cajetan
Tyl, Redacteur der (Blüten), eines in den Dreißiger- und Vierziger-Jahren
vielgelesenen Wochenblattes, Verfasser einer großen Reihe socialer und historischer
Erzählungen, die von warmer Vaterlandsliebe durchdrungen sind; leider wird die reiche
Erfindung, die gewandte Scenerie und der anmuthige Stil nicht selten durch seichte
Anschauung und sentimentale Überspannung beeinträchtigt. Beinahe gleiche Vorzüge und
Mängel haben die zahlreichen historisch-romantischen Bilder des Prokop Chocholousek
(1819 bis 1864); sie sind malerisch, überaus lebendig, aber ziemlich häufig auch nach
einer oberflächlichen Schablone angefertigt. — In Erzählungen und Skizzen aus dem
Alltagsleben zeigten eine schöne Begabung der Humorist Franz Jaromlr Rubes
(1814 bis 1852), dann Josef Ehrenberger (1815 bis 1882) und Franz Pravda
(Adalbert Hlinka, geboren 1817), beide treue Schilderer des böhmischen Landlebens.
123
Auf dem Gebiete der wissenschaftlichen Prosa treten die anderen Arbeiten neben den
epochalen Werken eines Jungmann, Presl, Safarlk und Palacky in den Hintergrund;
dennoch ist manche davon eine Zierde der gleichzeitigen Production, wie zum Beispiel
die Abhandlungen des weltberühmten Physiologen I. E. Purkyne (1787 bis 1869) oder
die archäologischen Forschungen des I. E. Vocel, die in seinem berühmten ,?ravoü
26MÖ eoskö" (Böhmens Urzeit) niedergelegt sind.
Die großartige Bewegung, welche im Jahre 1848 in Österreich alle Schichten der
Gesellschaft erfaßte und ihr gegenseitiges Verhültniß von Grund aus umformte, hatte
auch im Schriftthum eine
radikale Veränderung zur
Folge. Die patriotischen
Ideale fingen allmälig an,
eine mehr reale Gestalt
anzunehmen: die Zahl
der böhmischen Schulen
mehrte sich, die Bildnngs-
quellen nahmen zu, das
nationale Bewußtsein
wurde allerseits mächtiger.
Die daraus entspringen -
den culturellen Bedürfnisse
und Anforderungen riefen
eine reiche Literatur her -
vor, die namentlich seit den
letzten zwanzig Jahren
rapid zunimmt.
In der Poesie
machte sich anfangs eine
auffallende Abspannung bemerkbar, da ihr früherer patriotischer Anstrich, nachdem er vom
Laufe der Ereignisse überholt wurde, an Wirkung verlor; man mußte sich daher nach
einem neuen Standpunkte, nach einer neuen Quelle, aus welcher eine erfrischende und
beständig wirkende Belebung käme, umsehen. Diese Erkenntniß führte bald, wie einst zur
Zeit Jungmanns und Celakovsky's, zum gründlichen Studium der modernen poetischen
Muster und zu einer allseitigen Vertiefung der Production. Ein entscheidender Sieg wurde
dieser neuen Strömung unter der Führung des Vltezslav Halek (1835 bis 1874) und
Johann Nernda (1834 bis 1891), welche wie ein leuchtendes Doppelgestirn in der
Vitezslav Hälek.
124
ersten Dichtergeneration erglänzte», errungen. Halek unterwarf durch seinen edlen, idealen
Schwung das ganze Gebiet der Poesie seinem Scepter, die Lyrik, Epik, das Drama und
die Novellistik; Nernda, der Schöpfer des Feuilletons im böhmischen Schriftthum, war
vortrefflich in der Reflexion, in der Lyrik und Epik und ein Meister der Charakteristik in
Genre-Erzählungen. Von ihren Zeitgenossen bewährte sich Adolf Heyduk (geboren
1835) als ausgezeichneter Lyriker, während Franz Jerabek (1836 bis 1893) und
Em. Bozdech (1841 bis 1889) um die Palme auf dem dramatischen Gebiete wetteiferten.
In unseren Tagen stehen Jaroslav Vrchlickh (geboren 1853) und Svatopluk
Cech (geboren 1846), zwei herrliche Talente, welche die poetische Production zu einer
ungeahnten Höhe erhoben, an der Spitze der ganzen Dichterschaar. Ihnen zur Seite steht
der Romancier Julius Zeyer (geboren 1841), dessen Arbeiten durch Poetischen Luxus
blenden, Josef Wenzel Sladek (geboren 1845), der besonders im modernen Liede glücklich
ist, und Eliska Kräsnohorska (geboren 1874), ausgezeichnet durch rührende Paränesis
und überhaupt durch reflexive Lyrik.
In der erzählenden Prosa hat sich derselbe Proceß wie in der Poesie abgespielt:
der frühere Hauptzweck, die Lust zur Lectüre zu wecken und das nationale Bewußtsein
zu fördern, trat vor den künstlerischen Interessen zurück. Die wichtige Frage, ob das
böhmische Volksleben in seinen mannigfachen Phasen hinlänglich Stoff für die moderne
Production bieten werde, wurde musterhaft von Bozena Nemcovä (1820 bis 1862)
gelöst. Sie zeigte, namentlich mit ihrer in viele Sprachen übersetzten „Babicka", welcher
Reichthum dankbarer Motive einem fleißigen Beobachter auch aus den scheinbar unan -
sehnlichen heimischen Verhältnissen, besonders in den ländlichen Schichten entspringt.
Auf derselben Bahn erreichte neben Vit. Halek die glänzendsten Erfolge Karoline
Svetlä (geboren 1830), die vortrefflich ausgeprägte Typen ans der Jeschkengegend
schildert und mit Begeisterung dem Fortschritt huldigt. In einer ähnlichen Atmosphäre,
jedoch im Ganzen auf einem mehr realistischen Boden begründete Alois Adalbert
<2inilovsky (1837 bis 1883) seine vortrefflichen Arbeiten aus dem Böhmerwalde und
Antal Stasek (geboren 1844) seine charakteristischen Bilder aus der Jsergegend. Das
großstädtische Genre fand seinen Meister in Johann Nernda.
Der gesellschaftliche Roman hatte zwar schon vor dem Jahre 1848 manche Vertreter,
aber zu bedeutenderen Leistungen brachte es erst Gustav Pfleger-Moravsky (1833
bis 1875); seitdem ist die Production in beständiger Entwicklung und erhält sich auf
künstlerischer Höhe namentlich durch die Thütigkeit der Sophie Podlipskä (geboren
1833), des Ferdinand Schulz (geboren 1835), Wenzel Vlcek (geboren 1839),
Svatopluk Cech, Eliska Kräsnohorska, Franz Herites (geboren 1851) und
vieler Anderen.
125
/
Eine besonders bedeutende Gruppe Hut die Belletristik in der historischen Er -
zählung. Die Vorliebe, welche für diese Gattung Thls und Chocholonseks Arbeiten
zu erhalten wußten, fachten am Ende der Sechziger-Jahre Gottlieb Janda (l831 bis
1875) und Wenzel Vlcek von neuem an; seitdem steigert sich das Interesse immer mehr,
hauptsächlich durch die Thätigkeit des Wenzel Bcnes Treblzsky (1849 bis 1884) und
Alois Jiräsek (geboren 1851), die in unseren Tagen der Production zu einem nie
dagewesenen Ruhme verhalfen. Der erstere, Kaplan auf einer bescheidenen Landpfarre,
wirkte vorzüglich durch ungewöhnlich tiefes Gefühl und patriotische Begeisterung; der
letztere ragt durch künstlerische Conccption, den Reichthum seiner Handlung, ein zutreffendes
Colorit und fesselnde Schilderung hervor.
Es kann nicht die Aufgabe einer kurzen Skizze sein, ausführlich die übrigen
angeseheneren Namen der Poeten und Belletristen anfzuzählen, nur soviel sei gesagt, daß
ihre Menge eine sehr bedeutende ist; sie zeugt von der in jeder Hinsicht glänzenden Ent -
faltung der schönen Literatur in der neuesten Zeit. Auch sind große Prachtpublikationen
keine Seltenheit mehr.
Auf wissenschaftlichem Gebiete erfreut sich nach dem Tode Franz Palackys
des größten Ruhmes unter den Böhmen Wenzel Bladivoj Tomek (geboren 1818),
ehemals Professor der österreichischen Geschichte und der erste Reetor der böhmischen
Universität, ein Historiker ersten Ranges, der schon mehr als ein halbes Jahrhundert
unermüdlich thätig ist. Um ihn und neben ihm grnppirt sich eine große Schaar von Gelehrten,
welche, wie Rybicka, Rauda, Joseph, Hermenegild und Konstantin Jirecek, Emler, Tieftrnnk,
Borovh, Brandt, Kalonsek, Winter, Sedläcek, Dvorsky, Nezek, Gvll, Hattala, Gebauer,
Bartos, Kott, Kwtcala, Dnrdlk, Ladislav und Jaromtr Celakovsky, Adalbert Safarlk,
Krejcl, Koristka, Studnicka, Eduard und Emil Wehr, Solln, Frie, Albert, Eiselt u. A., ihr
Leben der strengen Forschung auf mannigfachen Gebieten widmen.
Schon eine Reihe von Jahren erklingt frei das böhmische Wort an der technischen
Hochschule und seit kurzem auch in den Hallen der altehrwürdigen Karl Ferdinands-
Universität; eine wirksame Unterstützung bei Forschungen gewähren Institute und gelehrte
Vereine, unter ihnen besonders die verdiente königl. böhmische Gesellschaft der Wissen -
schaften und die stets prosperirende Nntieo öeskä; an zahlreichen Gymnasien, Real-
und Fachschulen wird die wissenschaftliche Bewegung rege erhalten. Vor unseren Augen
erhebt sich ein prächtiger Tempel der Aufklärung, au dem schon seit Jnngmanns Zeiten
fleißige Hände ohne Rast arbeiten: zu seiner glücklichen Vollendung wird gewiß im höchsten
Maße das großartige Institut, das erst jüngst begründet und von dem erhabenen Namen
Seiner Majestät umstrahlt ist, beitragen; es ist dies die böhmische Kaiser Franz
Joseph-Akademie der Wissenschaften, Literatur und Kunst in Prag.
IM
Die deutsche Literatur bis zum Lude des dreißigjährigen Krieges.
Cosmas, der ehrwürdige Geschichtschreiber Böhmens, berichtet von dem Einzüge
Dietmars, des ersten Bischofs von Prag, daß die Geistlichen das "beäsrnn anstimmten,
der Herzog aber und die Vornehmen den Gesang erhoben: Olirist ans ^snacko, Xxrio
eleison, nirck äie UeiilZsii alle Nelken uns, L^rie eleison, während die
Geringeren und Ungelehrten nur LMO eleison riefen. Das war im Jahre 973; es
ist die älteste Nachricht von deutschem Gesang in Böhmen.
Die Geistlichen haben im XI. und XII. Jahrhundert allenthalben in deutschen Landen
eine Fülle mannigfacher religiöser Dichtungen geschaffen, in Böhmen verlautet nichts von
solcher Thätigkeit, kaum geben ein paar kleine Bruchstücke von Handschriften in den Klöstern
davon Zeugniß, daß die Dichtungen dieser Zeit auch hier bekannt waren. Und doch
wurden namentlich im XU. Jahrhundert zahlreiche Klöster in Böhmen gegründet und
von deutschen Mönchen bewohnt. Mag sein, daß diese hier zu sehr mit anderen Dingen
beschäftigt waren, als daß sie sich der Pflege der Dichtkunst hätten widmen können, mag
sein auch, daß manches derartige Werk verloren ging. Die kostbarsten Schätze der
Büchereien der Klöster und meist auch die Klöster selbst sind in Böhmen in den Husiten-
stürmen und später im dreißigjährigen Kriege vernichtet worden, und es ist ein bloßer
Zufall, daß uns wenigstens die Dichtung eines Klostergeistlichen, freilich erst aus dem
XIV. Jahrhundert, erhalten ist: ein Lobgedicht ans die Jungfrau Maria von einem grauen
Mönch (das ist: von einem Cistercienser) aus Pomnk, der sein Gedicht selbst „das Blümel"
genannt hat.
Die geistliche Dichtung des XII. Jahrhunderts wurde in Schatten gestellt durch den
Glanz der neuen weltlichen, vorwiegend ritterlichen Poesie. Wandernde Sänger errangen
die größte Beliebtheit, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß der gefeiertste Spruchdichter
dieser Zeit, Spervogel, einem bürgerlichen Geschlecht in Eger entstammt.
Am königlichen Hofe der Premysliden kamen ritterliche Gebräuche und Sitten erst
im XIII. Jahrhundert auf. Es wird berichtet, daß König Wenzel I. zuerst das Turnier
einführte und an seinem Hofe finden wir auch zuerst einen deutschen Dichter in längerem
Aufenthalt: Reinmar von Zweter, den besten unter den Nachfolgern Walthers von
der Vogelweide auf dem Gebiete der Spruchdichtung. Ausdrücklich sagt uns Reinmar, er
sei am Rhein geboren und mehr des Königs als des Landes wegen nach Böhmen gekommen,
beide seien gut, das Land und der Herr, aber Niemand als dieser selbst wisse ihn zu
würdigen. Er blieb etwa sechs Jahre in Böhmen und zog um 1241 wieder weiter. Länger
noch scheint sich hier Meister Sigeher aufgehalten zu haben; er preist Wenzel I. wegen
seiner Freigebigkeit, er preist aber auch Ottokar II. Wiederholt vergleicht er ihn mit
128
Alexander den: Großen und wahrscheinlich hat er den Kreuzzug König Ottokars gegen die
Preußen (1267) nütgeinacht. Sicher hat diesen König auf seinem Zuge gegen Ungarn
(1271) der Dichter Friedrich von Sunnenburg begleitet, der es zustande brachte,
den ganzen Feldzug in einem Spruche nach den Hauptmomenten darzustellen. Auch andere
Dichter preisen diesen glänzenden, freigebigen König. Als er Herr von vier Landen war
(1261 bis 1269), wurde ihm ein großes episches Werk gewidmet: die Dichtung Ulrichs von
dem Türkin von der Gefangennahme und Befreiung des Wilhelm von Oranse, die die
Vorgeschichte bildet zum Willehalm Wolframs von Eschenbach.
Ein Nachahmer dieses großen Dichters ist auch Ulrich von Eschenbach. Er
war in Böhmen geboren und hat hier sein ganzes Leben zugebracht. Wir finden ihn zuerst
am Hofe Ottokars II., zu dessen Verherrlichung er seine Dichtung von Alexander
dem Großen begann. Er wollte darin Alles, was von diesem berichtet wird, znsammen-
fassen und benutzte dabei schriftliche und mündliche Berichte. Erstere waren durchweg
lateinisch, die vornehmste Stelle nimmt darunter das lateinische Epos des Gualtherus de
Castellione ein. Unter denen, die mündlich dem Dichter von Alexander erzählten, war
der König selbst, auf den sich Ulrich auch beruft als Gewähr für die Wahrheit. Der
König hatte ihm erzählt, wie Alexander zum Paradiese kam. Nach langem Marsch fand
er da eine große, ungeheuere Mauer und endlich nach langem Suchen in dieser ein
schmales Pförtlein. Der große Eroberer pochte und verlangte Tribut. Die Pförtner des
Paradieses, Elias und Enoch,, kamen und übergaben als Tribut einen wunderbaren Stein.
Alexander kehrte mit diesem zurück und hätte nun gern auch die Bedeutung des Steins
erfahren. Niemand als ein weiser Heide konnte sie ihm zeigen. Der aber verlangte eine
Wage. In die eine Wagschale legte er den Stein, in die andere die schwersten Gegenstände,
aber stets war der Stein schwerer als sie. Dann nahm er sie weg, bedeckte den Stein mit
etwas Erde und nun war er leicht wie eine Feder. Der Stein bedeutet eben den König
selbst: so lange er lebt, kann nichts ihm gleichkommen, nichts ihn übertreffen, nach dem
Tode aber wiegt er nicht einmal eine Feder auf.
Es ist merkwürdig, daß der stolze König Ottokar gerade diese Geschichte dem Dichter
erzählt hat. Wie bald lag auch er blutbedeckt, aller Abzeichen seiner Würde beraubt, fast
unkenntlich auf dem Schlachtfelde! — Er wurde vielfach beklagt von den deutschen
Dichtern. Am ergreifendsten ist die Klage eines unbekannten Sängers, der Wehe
ruft über den Tod des milden Königs, der ein Schild war in seinen Tagen über die
Christenheit, ein Schrecken der Heiden, ein Löwe an Muth, ein Edelaar an Güte.
Ulrich von Eschenbach nennt den König noch lange nachher „das beste Glied der
Christenheit". Er hatte auch persönlich viel durch den Tod des Königs verloren. Mit der
Dichtung des „Alexander" hatte er 1271 begonnen, im Jahre 1278, als der König fiel,
129
war er mit dem fünften Buche, der Hälfte des Werkes, fertig. Beendet wurde es erst
zwischen 1284 und 1287 und als Ganzes dann dem jungen König Wenzel II. gewidmet,
von dessen Freigebigkeit der Dichter seinen Lohn erwartete. Bald darauf dichtete er ein
kleineres episches Werk, das er selbst nur ein Büchlein nennt, den Wilhelm vonWenden
(zwischen 1287 und 1291). Dieses Werk ist der Gemalin Wenzels, der Königin Gnta
gewidmet. Der Stoff ist der Legende von Placidus-Eustachius ähnlich. Ulrich hat hier
noch viel deutlicher als im „Alexander" verschiedene Anspielungen auf den König und die
Königin angebracht. Der Name Wilhelm von Wenden (das heißt von Slavenland) gehört
schon dahin, da seine Vorlage von einem Wilhelm von England berichtete; ebenso daß die
Gemalin des Helden nach der Königin von Böhmen (Gnta) Bene genannt wird. Den
Schluß des Gedichtes bildet ein Gebet zur Himmelskönigin um Segen für das Königs -
paar. Die Königin starb aber schon 1297 und auch des Königs Gunst scheint dem Dichter
nicht bis an seinen Tod treu geblieben zu sein, denn wir finden ihn zuletzt bei Borso II.
von Riesenburg (dem Enkel des in der Geschichte Ottokars viel genannten Borso), für den
er eine Fortsetzung des „Alexander" begonnen, aber nicht beendet hat. Wahrscheinlich ist
er während dieser Arbeit gestorben.
Ans Wunsch des jungen Königs von Böhmen hat auch Heinrich der Klausner
eine Marienlegende gedichtet, die einigermaßen an den „Geiger von Gmünd" erinnert.
Der fromme Sinn des Königs zeigt sich in der Begünstigung solcher Dichtung. Wie aber
in den Werken Ulrichs von Eschenbach fromme Entsagung und kecke Sinnlichkeit, Welt -
flucht und Weltfreude merkwürdig vermischt sind, so berichten die Chronisten von zahllosen
Werken der Frömmigkeit des Königs, aber auch von seiner Hinneigung zu schönen Frauen.
Ja, König Wenzel II. dichtete selbst Minnelieder. Das eine fand so großen Beifall,
daß es sofort von dem Fürsten Wizlav von Rügen nachgeahmt wurde. Es zeigt auch in
der That große Formvollendung und ein eigenartiger Grundgedanke ist sinnig durchgeführt.
Das zweite nimmt ausdrücklich Bezug auf das erste, das dritte ist ein Wächterlied in der
Art, wie sie Wolfram zuerst gesungen. Auch im Ausdruck und in der Wahl der Bilder
erinnert manches an diesen oder seine Nachahmer, manches andere wieder an die späteren
Lyriker. Heinrich Frauenlob wurde ja auch von den damaligen Dichtern in Prag viel
bewundert und bei dem großen Feste im Jahre 1297 war er selbst in Prag, erfuhr die
Gunst des Königs und rühmte ihn noch nach dem Tode im Lied.
Damals war aber der König nicht mehr der einzige Gönner deutscher Dichter und
dentscherDichtkunst inBöhmen. In der „Kreuzfahrt des Landgrafen Ludwig des Frommen"
werden die böhmischen Könige gepriesen, der Dichter rühmt aber auch den Herrn Ulrich (II.)
von Neuhaus, dessen Freigebigkeit und Gastlichkeit er erfahren hatte, und dessen Mutter
Maria, geborne von Pleien-Hardegg. Diese überlebte ihren Genial lange und auf ihre
Böhmen. 0
130
Veranlassung brachte ein Unbekannter eine Legende van Christi Advent in Verse.
Für Ulrich von Nenhaus hat auch ein gewisser Friedrich eine Abschrift des „Alexander"
Ulrichs von Eschenbach angefertigt und dabei eine Reihe von eigenen Versen in die
Dichtung eingefügt. Borso von Riesenburg wurde schon erwähnt. Der kluge und mächtige
Raimund von Lichtenburg und der abenteuerfrohe Johann von Michelsberg erscheinen
als Gönner Heinrichs von Freiberg. In einer Zusatzstrophe zum Wartburgkrieg wird
Johann von Cernin als unübertrefflicher Ritter und als freigebiger Herr gepriesen und
in ähnlicher Weise wird in einem anderen Gedicht Johann von Klingenberg gefeiert.
Kaum ist etwas bezeichnender für den Aufschwung, den das Deutschthum in Böhmen im
XIII. Jahrhundert genommen hat, als diese Thatsache. Unter Wenzel I. ist Niemand deni
deutschen Dichter hold als der König — unter seinem Enkel begünstigen viele Adlige,
die nach neuerbauten Burgen auch zumeist deutsche Namen führen, die deutsche Dichtung;
der junge König selbst erscheint als deutscher Dichter, auch in den Söhnen der deutschen
Colonisten erstehen deutsche Dichter im Lande. Denn wie Ulrich von Eschenbach ist auch
Heinrich von Freiberg in Böhmen geboren und wohl auch der ungefähr gleichzeitige
Mülich von Prag, von dem uns ein Tanzlied erhalten ist.
Der bedeutendste im Kreise dieser Dichter ist Heinrich von Freiberg. Das
Geschlecht, dem er entstammt, ist aus Freiberg in Sachsen eingewandert und darnach
benannt. Auf den Besitzungen der Lichtenburger, die vor Allem dem Bergbau ihren
Reichthum verdankten, finden wir mehrere Freiberger. Heinrich mag etwa 20 Jahre
jünger sein als Ulrich von Eschenbach. Sein erstes Werk ist eine Legende, die Sage vom
heiligen Kreuz, nach lateinischer Vorlage erzählt. Dann verherrlichte er die Ritterfahrt des
Johann von Michelsberg nach Paris durch seine Verse. Diese Turnierfahrt fand im
letzten Jahrzehnt des XIII. Jahrhunderts (zwischen 1293 und 1297) statt und das Gedicht
ist noch zu Lebzeiten des Ritters (vor 1306) abgefaßt. Er erscheint in der Dichtung noch
als Nachahmer Wolframs. Dann wendete er sich aber ganz Gottfried von Straßbnrg zu
und sein Hauptwerk ist die Ergänzung von dessen „Tristan", die ihm nach überein -
stimmendem Urtheil der Kenner so gut gelang, daß keiner der späteren Dichter den großen
Meistern so nahe gekommen ist. Auch hat er ein lustiges Märchen von einem Schretel
(Kobold) und einem Wasserbären in schönen Versen erzählt.
So finden wir in Böhmen am Ende des XIII. und noch zu Beginn des XIV. Jahr -
hunderts eine nicht unbedeutende Nachblüte der mittelhochdeutschen Literatur. Aber auch
die Nachblüte war rasch verwelkt. Ganz andere Bestrebungen treten in den Vorder -
grund. Gerade hier in Böhmen erscheint der letzte volle Glanz der untergehenden Zeit,
hier das erste Morgengrauen der Neuzeit. Ilm 1310 mag der Tristan Heinrichs von Frei -
berg vollendet sein: um die Mitte des Jahrhunderts waltet hier Karl IV., der scharfe,
131
nüchterne Benrtheiler aller Dinge, wird hier die Universität begründet, mit der eine neue
Epoche in der Geschichte der Wissenschaften anhebt, dämmern hier zuerst diesseits der
Alpen einige Strahlen des neuerwachenden Humanismus. Die Rücksicht auf das Nützliche,
Praktische überwiegt, die Gelehrsamkeit erstickt die Poesie.
Heinrich von Mügeln ist der hervorragendste Dichter dieser Zeit. Er kam noch zu
Lebzeiten König Johanns nach Prag und lebte hier bis 1358 in hohem Ansehen, unterstützt
von Karl IV. Dann zog ihn Rudolf der Stifter nach Wien. Er „singt" in seinen kunst -
vollen Meisterliedern von der Herrschaft des Himmels und der Erde, von Träumen und
edlem Gestein, von der Kraft der Kometen und Anderem. Auch Geschichten und Fabeln
hat er zu lehrhaftem Zweck gereimt. Sein Hauptwerk aber ist „Der Maide Kranz", den
er Karl IV. gewidmet hat. Zwölf Wissenschaften sind da als Jungfrauen dargestellt, die um
den Vorrang streiten, der Kaiser soll entscheiden. Er möchte der Theologie den Vorrang
geben, schickt aber alle zur „Herrscherin Natur" in Begleitung des Ritters „Anstand" und
seiner Schwester „Zucht". Natur hat in ihrem Palast die Tugenden um sich versammelt,
sie krönen die Theologie. Diese muß aber jetzt einen Streit zwischen der Natur und
den Tugenden entscheiden und stellt fest, daß sie nicht von der Natur, sondern von
Gott stammen. — In der That: im Gewände der dichterischen Allegorie eine physikalisch-
philosophisch-theologische Abhandlung! Der Zeit gefiel das. Gelehrsamkeit stand
ungemein hoch.
Die Sprache der Gelehrten war freilich das Latein. Der Kaiser selbst tritt
in die Reihe der lateinischen Schriftsteller. Aber deutsch ist die Sprache des Verkehrs
und diese erobert sich rasch ganze Gebiete, wo noch im früheren Jahrhundert das Latein
ausschließlich gegolten. Deutsche Urkunden werden immer häufiger, deutsch abgefaßt sind
einige Rechtsdenkmäler. Ihre Sprache selbst ist sehr merkwürdig. Sie zeigt hier in
Böhmen unter den Luxemburgern zuerst jene bezeichnenden Eigenheiten, die unsere heutige
Schriftsprache aufweist: hier in Böhmen ist die Geburtsstätte unseres Neuhochdeutsch.
Dem immer mächtiger werdenden Drange der Laien nach höherer Bildung dienten
auch eine Reihe von Übersetzungen. Schon Heinrich von Mügeln war als Übersetzer thätig,
doch erst in einer Zeit, als er nicht mehr in Böhmen weilte. Aber noch zu Lebzeiten König
Johanns übersetzte ein Prager Geistlicher eine cechische Reimchronik von Böhmen, die
unter dem Namen des Dalimil geht. Er mildert dabei einigermaßen die Ausfälle gegen
die Deutschen, lobt den König Ottokar und setzt der Chronik einen annalistischen Abriß nach
lateinischer Quelle voraus: Alles in sehr schlechten Reimen und noch schlechteren Versen.
Kein Wunder, daß dieses Reimwcrk den Lesern nicht behagte, merkwürdig aber, daß man
diese cechische Chronik, die unterdessen mannigfache Veränderungen und Zusätze erfahren
hatte, nach dieser neuen Gestaltung nochmals ins Deutsche übersetzte, und zwar jetzt iuProsa.
132
Die Prosa hatte eben auf lange ein Übergewicht über alle Versformen erlangt. Auch die
Chronik des Pulkava, die auf Befehl Karls IV. entstanden war, wurde ins Deutsche übersetzt.
Selbst der Kanzler Kaiser Karls, Johann 0on Neumarkt, war als Übersetzer
thätig. Er stammte aus Neumarkt in Schlesien, wurde 1353 Bischof von Leitomischl, 1364
Bischof von Olmütz und starb 1380. Kanzler des Kaisers war er von 1353 bis 1374.
Er ist unzweifelhaft einer der bedeutendsten Männer in der Umgebung des Kaisers. Er
war ihm auf seinem Zuge nach Italien gefolgt, stand in Briefwechsel mit Petrarca,
dem „Vater des Humanismus" — man hat den Kanzler selbst den ersten Humanisten dies -
seits der Alpen genannt. Er schwelgte in den Schönheiten eines blumenreichen Stils, hat
vielerlei lateinische Schriften verfaßt, auch lateinische Lieder gedichtet, zeigt sich aber auch
vertraut mit der deutschen Dichtung, indem er z. B. einem Amtsbruder ein Gedicht Frauen -
lobs lateinisch erläutert. Er war auch als deutscher Schriftsteller thätig. Als Bischof von
Leitomischl (wahrscheinlich zwischen 1358 und 1363) übersetzte er im Auftrag Karls IV.
die Soliloqnia des heiligen Angustin unter dem Titel krmelr clor liodeliosirirA. Noch
umfangreicher ist seine Übersetzung des Lebens des heiligen Hieronymus, und zwar nach
Briefen, die den Heiligen Eusebius, Augustinus und Cyrillus unterschoben sind. Solchen
Beifall fand dieses Werk, das uns heute fast nur durch die Sprache interessant ist, daß cs
häufig abgeschrieben, ins Niederdeutsche übersetzt 1484 in Lübeck und in demselben Jahre
in einer holländischen Übersetzung gedruckt wurde. Aus der Einleitung erfahren wir, daß
das Weil verfallt wurde, als Johann Bischof von Olmütz und Kanzler des römischen
Kaisers war (1364 bis 1374), ans einem Briefe wissen wir, daß es in Prag vollendet
wurde. Es ist der Markgräfin Elisabeth, der Gemalin Josts von Mähren, gewidmet.
Wichtiger als die Übersetzung solcher historischer Schriften sind die Übersetzungen
der Bibel. Von Böhmen nahm ja die große religiöse Bewegung der folgenden Jahrhunderte
ihren Ausgangspunkt. Eine Übersetzung der Episteln des Apostels Paulus, die aus
Böhmen, und zwar aus der Zeit König Wenzels IV. stammt, bewahrt die k. k. Hofbibliothek.
Wahrscheinlich, obschon nicht sicher erwiesen, wurde auch die erste Übersetzung der ganzen
Bibel, die von 1466 an wiederholt (sechzehnmal), wenn auch mit verschiedenen Ver -
besserungen gedruckt wurde, in Böhmen um die Mitte des XIV. Jahrhunderts angefertigt.
Trotz vieler Vorzüge, die diese Übersetzung hat, hasten ihr doch auch viele Mängel an. Der
Übersetzer war weder des Lateinischen noch des Deutschen in besonders hervorragendem
Maße mächtig; er haftet zu oft noch streng am Lateinischen und verfällt in Eintönigkeit, da
sein deutscher Sprachschatz für ein solches Unternehmen nicht reich genug war. Der Schreiber
einer Handschrift der Übersetzung, die das Kloster Tepl bewahrt und die am Ende des
XIV. Jahrhunderts geschrieben wurde, hat wie auch schon der Schreiber seiner Vorlage
das Bedürfniß gefühlt, einzelne veraltete Ausdrücke durch neuere zu ersetzen oder zu erklären.
Miniatur aus der „WenzelsMel".
So darf es nicht zu sehr überraschen, wenn man noch eine zweite Übersetzung der Bibel
unternahm. Einer der reichsten Prager Bürger, Martin Rotlvw (gestorben 1392), hat den
Plan zu einer solchen Arbeit gefaßt und nach seiner Veranstaltung ist das alte Testament
übersetzt worden. Möglich, daß der Tod des „Stifters" die Vollendung der Arbeit hinderte,
möglich auch, daß andere Gründe maßgebend waren. Die Originalhandschrift ist auch hier
verloren, wir haben aber von dieser Übersetzung mehrere Handschriften, worunter
die berühmteste und bekannteste die sogenannte Wenzelsbibel der k. k. Hofbibliothek ist,
die auch den ursprünglichen Text trotz vieler Schreibfehler am besten bewahrt. Die
Handschrift ist mit besonderer Pracht für König Wenzel hergestellt worden und ist
namentlich berühmt durch ihre Bilder, die freilich für unseren Geschmack höchst sonderbar
sind, denn das am häufigsten wiederkehrcnde Motiv in diesen Bildern ist die Bademagd,
134
welche den badenden König bedient. Wenzel liebte solche Bilder, n. a. zeigt auch eine für ihn
1387 hergestellte Handschrift des Wilhelm von Oranse (gegenwärtig im kunsthistorischen
Mnsenm zu Wien) eine ähnlich prächtige Ausstattung. An der „Wenzelsbibel" haben mehrere
Schreiber und mehrere Maler gearbeitet. Die Maler sind mit ihrer Arbeit nicht fertig
geworden, schon im zweiten Buch Chronika hören die Bilder auf, um bei Esdras wieder zu
beginnen; der Text endet mit Ezechiel, dafür ist Jsaias und Jeremias zweimal geschrieben.
Das Buch Tobias zeigt andere Sprachformen als das Übrige, auch die Übersetzung dieses
Buche» ist nicht die Arbeit des Übersetzers aller anderen Stucke. Wer der Übersetzer war,
wissen wir nicht. Seine Übersetzung gehört zu den besten des Mittelalters. Er ist voll -
ständig vertraut mit der lateinischen Sprache und verfugt über einen ungemein reichen
Wortschatz. <;n gutem wohlklingendem Deutsch zu übersetzen, war seine Absicht und mit
großem Geschick hat er dieses Ziel meist erreicht. Ein hochbegabter, sprachgewandter Mann
hat er nur leider nicht gleichmäßige Sorgfalt auf alle Theile seiner Arbeit verwendet.
Die vollkommenste Beherrschung der Sprache zeigt uns nach solchen Übersetzungen
ein kleine» Originalwerk, das ganz am Ende des Jahrhunderts entstanden ist, nach
Gervinns „das vollkommenste Stück Prosa in unserer älteren Literatur", der Acker -
mann von Böhmen. Es ist ein Streitgespräch zwischen einem Witwer und dem Tod.
Der Witwer (der Ackermann) hat seine geliebte junge Frau, die Mutter seiner Kinder,
durch den Tod verloren und klagt den Tod an. Dieser antwortet. Neuerdings greift der
Witwer den Tod an und dieser vertheidigt sich: so Kapitel für Kapitel. Betrübniß,
Schmerz, Zorn und Groll bei jenem, überlegene Ruhe und Besonnenheit, eine Über -
redungskunst, die alle menschliche Weisheit zu Hilfe ruft, bittere Ironie und derbe Grobheit
bei diesem. Sie können sich nicht einigen und Gott muß den Streit entscheiden. Er gibt
dem Tod recht, aber auch dieser wird ermahnt zu bedenken, daß er seine Macht nur von
Gott habe. Der Witwer fleht nun im Gebet: Herr Jesu, nimm gnädig auf die Seele
meiner geliebten Frau! Die ewige Ruhe gib ihr - laß sie, Herr, wohnen in Deinem
Reich bei den überseligen Geistern!
So endet milde der herbe Streit, wie nach dem Grollen des Donners der sanfte
Regenbogen sich spannt. Nur ist gerade in dem Schlußgebet nach unserem Gefühl
zu große Pracht entfaltet. Literarische Überlieferung macht sich da geltend, denn der
Verfasser ist vertraut mit deutscher Dichtung älterer Zeit. Er ist auch ein Gelehrter, der
eine Reihe elastischer Schriftsteller citirt. Auch sein Stil verrätst elastische Studien und ist
doch weit entfernt von unbeholfener Nachbildung des Lateins. Kein Wunder, daß das
Werk solchen Beifall fand! Es ist 1399 entstanden und bis 1547 elfmal gedruckt worden,
einmal auch in niederdeutscher Sprache. Schade, daß wir von dem Verfasser so wenig
wissen. Er hieß Johann Ackermann und lebte in Saaz. Seine Frau hieß Margaretha.
135
Anknüpfend an den Namen Ackermann sagt er, sein Pflng sei von dem Kleide der Vögel,
das heißt er arbeitete mit der Feder.
In der Durchführung des Streites, in der Entscheidung desselben durch Gott
nähert sich das Werk dem Drama. Es begegnen uns in der Zeit öfter Gespräche mit dem
Tod (man denke nur an die Todtentünze), auch Gerichtsscenen sind in den Fastnacht -
spielen nicht selten dargestellt worden. Wir wissen freilich nicht, ob solche auch in den
Städten Böhmens anfgeführt wurden, aber wir wissen, daß ernste Spiele, die sich an die
heilige Geschichte und die Feste des Jahres anschließen, auch hier vielfach gepflegt worden
sind. Aus dem XV. Jahrhundert ist uns ein Osterspiel erhalten und das große Egerer
Frohnleichnamsspiel ist uns in der Handschrift eines Ordners der Ausführungen (etwa
aus der Zeit von 1480) überliefert. Das Spiel dauerte drei Tage. Es beginnt mit der
Erschaffung der Welt und führt die Handlung am ersten Tage bis zum ersten Auftreten
Christi im Tempel. Der zweite Tag stellt vorzüglich das Leiden Christi und die Klagen
Maria's vor Angen, am dritten Tag folgt erst dasOsterspiel: Christi Tod und Auferstehung.
Solche Schauspiele wurden im XIV. und XV. Jahrhundert an vielen Orten aufgeführt.
Sie zeigen unter einander große Ähnlichkeit, ein einmal vorhandenes Stück in der einen
Stadt fand Nachahmung in einer anderen: so sind uns auch keine Verfasseruamen über -
liefert, ebensowenig wie beim Volkslied.
Auch dieses haben die Stürme der Husitenzeit nicht ganz zurückdrängen können, sie
ließen aber andere Dichtungen im XV. Jahrhundert nicht aufkommen. Staunen muß mau,
wie schon im XVI. Jahrhundert wieder die deutsche Dichtung in Böhmen sich entfaltete.
Zuerst ist da der äußerste Osten des Landes in der Dichtung hervorragend thütig.
An die „böhmischen Brüder" hatten sich viele Deutsche augeschlossen und eigene Brüder -
gemeinden gegründet, so besonders zu Landskron und in Fulnek in Mähren. Für
diese Gemeinden erwuchs das Bedürfniß, deutsche Kirchenlieder zu erhalten oder die
schon vorhandenen in einem „rechtgläubigen" Gesangbuch vereinigt zu haben. Michael
Weiße half diesem Bedürfniß ab. Er stammte aus Neiße in Schlesien, war in Böhmen
eingewandert und hatte die Brüdergemeinde in Landskron ins Leben gerufen. Er war
einer der Gesandten der Brüder an Luther im Jahre 1522 und hat auch Luthers und
Anderer Kirchenlieder gekannt und benutzt. Der Ausgangspunkt seiner Liederdichtung liegt
aber in den cechischen Liedern der Brüder und den lateinischen Hymnen. Nur geht er fast
immer, auch wo er fremde Vorlagen benützt, allein darauf aus, den Sinn entsprechend
wiederzugeben: er liefert mehr Nachdichtungen als Übersetzungen. Falsch ist, was man
von ihm behauptet, er habe Alles aus dein Cechischen übersetzt. Thatsächlich sind von
seinen vielen Liedern nur wenige von cechischen Gesäugen abhängig und nur zwei sind
Übersetzungen. Die meisten seiner Lieder sind ganz sein Eigenthum; sie strömen hervor aus
136
den liefen des Gemüthes eines gottesfürchtigen Mannes. Er nimmt eine hervorragende
Stelle unter den zahlreichen Dichtern von Kirchenliedern in diesem Jahrhundert ein
und mit Recht hat ihn schon Luther einen vortrefflichen deutschen Poeten genannt.
Luther hat 1545 einige Lieder Weißes in sein Gesangbuch ausgenommen und fast alle
protestantischen Gesangbücher enthalten Lieder von Weiße, mindestens das eine: „Nu laßt
uns den Leib begraben."
Weißes Liederbuch wurde zuerst 1531 zu Jungbunzlan gedruckt uud ist seitdem oft
aufgelegt und nachgedruckt worden. Es mußte sich dabei allerlei Änderungen gefallen
lassen. Bald wurden mit Weißes Liedern auch die seiner Nachahmer und Nachfolger
abgedruckt, so die von Johannes Geletzky (s- 1568), Michael Tham (f 1571), Petrus
Herbert (7 1571), Johannes Girk, Paulus Klantendorffer, Georg Vetter und Anderer.
Sie alle waren Mitglieder, die meisten Vorsteher oder Priester der Brüdergemeinde.
Viel reicher und mannigfaltiger noch erblühte die Dichtung im Westen des Landes.
Das Erzgebirge hat im XVI. Jahrhundert seinen reichsten Bergsegen gespendet, allenthalben
entstanden da neue Ortschaften (Joachimsthal 1516), blühende Gemeinden, bewohnt von
Deutschen. Der Protestantismus hatte hier rasch Eingang gefunden und so haben wir auch
hier wieder eine Reihe von Dichtern von Kirchenliedern zu erwähnen. An der Spitze steht
der „alte Cantor" von Joachimsthal, Nikolaus Herman. Er muß bald nach der
Gründung der -Ltadt dorthin gekommen sein, wir wissen nicht, wann und wo er geboren
ist. Gestorben iff er in Joachimsthal am 3. Mai 1561. Er war ein eifriger Protestant.
1v>24 erschien von ihm „Ain Mandat Jesu Christi an alle seine getrewen Christen", das
man als Aufruf zum Kampfe gegen Rom bezeichnet hat. Es wurde im Jahre des Erscheinens
achtmal und später noch oft gedruckt. In seinen Liedern, die größtentheils erst in seinem
Alter gedichtet sind, schließt er sich an das Volkslied an und sie zeichnen sich daher durch
Einfachheit, aber auch durch Innigkeit aus. Viele waren für die Jugend bestimmt, wie er
denn selbst eine Sammlung seiner Gesänge als „Kinder- und Hauslieder" (im Gegensatz
zu den eigentlichen Kirchenliedern) bezeichnet. Dem Inhalt nach schließen sie sich vielfach
an die Sonntags-Evangelien und die Historien des alten Testaments an. Die Anregung
zur Dichtung gaben öfter die Predigten des Mathesius.
Johann Mathesius ist geboren den 24. Juni 1504 in Nochlitz, gestorben am
8. Oetober 1565 im Joachimsthal. Er studirte in Ingolstadt, reiste 1529 nach Wittenberg,
hörte dort die Reformatoren und nennt sich daher selbst „ein Glied dieser Schule und
Bürger der Wittenbergischen Kirche". 1532 wurde er nach Joachimsthal berufen, um der
dortigen Schule vorzustehen. Er ging aber, unterstützt von guten Freunden in Joachims -
thal, 1540 nochmals nach Wittenberg und verkehrte dort mit Luther. 1541 holten ihn die
Jvachimsthaler durch eigene Abgesandte zurück und er blieb nun dort zuerst als Diacon,
137
seit 1545 als Pastor bis zu seinem Tode. Er ist in erster Linie Prediger und seine
Predigten gehören zu den besten der Zeit. Eine „bewunderungswürdige und beinahe gött -
liche Beredsamkeit" wird ihm nachgerühmt. Mehrere Sammlungen von Predigten von
ihm sind in Druck erschienen und ost gedruckt worden. Am berühmtesten ist darunter seine
„Sarepta oder Bergpostill, darin von allerley Bergwerk und Metallen, was ihr Eigen -
schaft und Natur und wie sie zu nutz und gut gemacht, guter bericht gegeben" (1562). Als
Anhang zu den 16 Predigten, die da vereinigt sind, ist eine Chronik von Joachimsthal
beigegeben. Weniger gelehrt als diese „Bergpredigten" — er selbst nennt sich einen geist -
lichen Bergmann —, aber noch trefflicher sind wohl seine „Leichpredigten" (1559), deren
dritter Theil seinen Kindern gewidmet ist, die die Mutter durch den Tod verloren hatten.
Er predigte auch über das Leben Luthers und dichtete einzelne schöne geistliche Lieder.
Am bekanntesten ist sein Morgenlied: „Aus meines Herzens Grunde sag ich Dir Lob und
Dank", das Gustav Adolf so wohl gefiel, daß er es alle Morgen betete.
Der Nachfolger von Mathesius als Pfarrer in Joachimsthal, Kaspar Franck,
dichtete ebenfalls geistliche Lieder, ebenso Christof Hosman in Elbogen, Georg Spindler,
Pfarrer in Schlackenwerth; von Martin Berthold ist wenigstens ein „Hausliedlein"
erhalten. Auch eine Dichterin, Katharina Juncker, wäre zu nennen, und ein katholischer
Liederdichter trat gleich mit einer ganzen Sammlung hervor: Christoph Hecyrus, sonst
Schw eher, dessen „Christliche Gebet und Gesang auf die heilige Zeit und Feiertage über
das ganze Jahr" 1581 erschienen. Hecyrus nennt sich „Pastor der katholischen Pfarrkirchen
der königlichen Stadt Kaaden", vorher war er mehr als 30 Jahre in Budweis, zuerst als
Vorsteher der lateinischen Schule, dann als Stadtschreiber, zuletzt als Priester. — Jörg
Brentel von Elbogen kann am füglichsten als Meistersinger bezeichnet werden. Unter
anderem sind von ihm 1547 zwei Gedichte in „Frauenlobs spätem Ton" gedruckt worden.
Nikolaus Herman hat zu einigen seiner Lieder auch die Melodien gesetzt, wie
denn Mathesius von ihm rühmt, er sei „ein guter Musikus" gewesen, „der viel gute
Choral und deutsche Lieder gemacht". Auch in solcher Kunst war er nicht allein thätig.
Auch andere Männer wären zu nennen, die die Lieder in Musik setzten oder vier- oder
mehrstimmig einrichteten und Sammlungen derselben veranstalteten, wie Jobst von Brand,
Jakob Regnart, Clemens Stephani von Buchau u. A. Letzterer war vielseitig literarisch
thätig. So hat er auch die „erschreckliche Wassernoth" von 1582 in Reimen besungen.
Es mag damit auf diese im XVI. Jahrhundert auch in Böhmen vielfach verwendete Form
der Berichte über allerlei merkwürdige Vorkommnisse wenigstens hingewiesen sein. Das
werthvollste unter den erzählenden Gedichten ist die scherzhafte mythologisch-allegorische
Verherrlichung des Podagra's durch „Herrn Georgen Fleißner, Schönbergischen
Hauptmann zu Schlackenwerth" (1594).
138
Clemens Stephani von Buchau, der sich gerue „Inwohner von Eger" nennt,
war auch ein fruchtbarer Dramatiker. Er übersetzte die Andria und den Eunuchus des
Terentius (1554), verarbeitete die „Historia von einer Königin aus Lamparden" zu
einer „Tragödia" (1551), dichtete die „Comödia": „Wie mau des Teufels Listen ent -
fliehen soll" (1o68) und eine „Satyra oder Baurenspil von einer Mnlnerin und ihren
Pfarrherrn" (1568).
Am reichsten vertreten sind unter den dramatischen Dichtungen auch in Böhmen die
Bearbeitungen biblischer Stoffe. Benedikt Edelbeck, wohnhaft in Budweis, Trabant, später
Pritschmeister des Erzherzogs Ferdinand von Tirol, schrieb 1568 eine „Comedia" von der
freudenreichen Geburt Jesu Christi; Schweher (Hecyrus) stellte „Die tröstliche Geschichte
von Maria Magdalena" dar. Einen alttestameutlichen Stoff wühlte Dr. Balthasar Klein
(f 1560) aus Joachimsthal mit der „Büßpredigt Jone des Propheten zu Ninive" und
Mathias Meißner mit der „Historia Tragödia: Ein neu Biblisches Spil von dem
erschröcklichen Untergang Sodom und Gomorra". Das Stück erschien 1580. Meißner war
1543 in Gabel geboren, Schulrector in Komotau, später (seit 1591 oder 1592) in Brüx.
Auch er war Protestant. Seine Tragödie wurde sogar ins Cechische übersetzt. — Ein
Drama vom „ägyptischen Joseph" hat sich bruchstückweise handschriftlich in Sonnenberg
erhalten; der Verfasser ist unbekannt.
Auch das historische Drama ist vertreten, und zwar durch „Ein wunderseltzame
tragödia Von zweyen böhmischen Landherren, als der von Commethaw und der von dem
Brixer Schloß' re. Xmao 1594. Diese „Tragödia" behandelt ein Stück Zeitgeschichte.
Herr Georg Popel von Lobkowitz war plötzlich von Kaiser Rudolf II. aller Würden
entsetzt und ins Gefängniß geworfen worden. Man erzählte sich, er habe dem Kaiser nach
dem Leben gestrebt und habe selbst König von Böhmen werden wollen, nur dann alle
Deutschen aus dem Lande zu jagen, sein Anschlag sei aber mißlungen. Der sehr naive
Dramatiker, der ganz Gegner Georgs ist, stellt nach solchen Gerüchten die Anschläge und
ihre Enthüllung dar.
Zur rechten Zeit verweist uns dieses Drama auf die Geschichte: die Regierung
Rudolfs II., die Empörung gegen den Kaiser, die stark gespannten nationalen Gegensätze,
wozu noch die religiösen Streitigkeiten kamen. Sie führten zu einer beispiellosen Verwüstung
des Landes in einem dreißigjährigen Kriege. Dadurch ist abermals die Entwicklung der
Cultur jäh unterbrochen, ja die Schöpfungen früherer Zeiten sind so weit als möglich
vernichtet worden. Auch von der Literatur gilt dies wieder. Diese war im XVI. Jahr -
hundert überwiegend protestantisch: bei der Durchführung der Gegenreformation wurden
unzählige Bücher, die akatholisch waren oder schienen, wo man ihrer nur habhaft werden
konnte, verbrannt. Die Träger der Literatur waren im XVI. Jahrhundert meist die
139
protestantischen Schul- und Pfarrherren gewesen: diese wurden jetzt aus dem Lande ver -
trieben. Eine ganze Anzahl von Dichtern des XVII. Jahrhunderts, die in Böhmen
geboren waren, wirkten im Ausland, ein Sigmund von Birken (Betulins) und sein
Bruder Christian aus Wildstein, Erasmus Winter aus Joachimsthal, Christian Keimann
aus Pankraz u. A.
Aus der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts wüßte ich neben dem gelehrten Dom -
propst Georg Barthold Pontanus von Breitenberg (f 1616) nur zwei deutsche Dichter
in Böhmen namhaft zu machen. Theobald Höck, seit 1601 Secretür des letzten Rosen -
bergers, ließ ein „Schönes Blnmenfeld" recht schwerfälliger zum Lesen bestimmter „Lieder"
drucken und Joh. Bretislav Mislick Freiherr von Hirschhof zeigt sich in einigen an Rist
gerichteten Gelegenheitsgedichten als gewandter Schäferdichter. Immerhin lassen auch
diese beiden die veränderte Art der Literatur des neuen Jahrhunderts erkennen.
Dis deutsche Literatur seit dem dreißigjährigen Krieg.
Kein Gebiet des heiligen römischen Reiches hat durch den großen Religionskrieg
in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts mehr gelitten als Böhmen. In Böhmen
war der verheerende Brand ausgebrochen, loderte stärker oder schwächer die vollen drei
Jahrzehnte des Krieges hindurch, ließ auf lange, lange Jahre hinaus seine Trümmer-
stütten zurück. War fast das ganze Gebiet deutscher Zunge einer Erschöpfung anheimgefallen,
aus der sich erst gegen Ende des Jahrhunderts der Muth zu geistigem Schaffen allmälig
emporrang, so lag vollends ans Böhmen das große Schweigen eines Kirchhofs. Die einzige
Macht, in deren Bereiche es ein geistiges Leben gab, war um jene Zeit die herrschende
Kirche. Ihr waren alle Schulen des Landes unterworfen und in ihrem Bereiche
fanden bildende Kunst und Musik den Raum zu einer Entwicklung innerhalb bestimmter
Schranken. Die deutsche Dichtung aber lag in Böhmen fast ein volles Jahrhundert
darnieder. Kein Hauch der geistigen Bewegung, die um die Wende des Jahrhunderts sich
in Sachsen und Schlesien erhob, drang über die böhmischen Gebirge herüber. Vergebens
lauscht der Geschichtsschreiber in Böhmen,auf ein Echo der deutschen Poesie, die sich in
den Tagen des Leibnitz und Thomasius philosophischer Gedanken bemächtigt oder in den
frommen Klängen des Kirchenliedes schwelgt oder in vereinzelten Weckrufen den neuen
Mnth der individuellen Empfindung verkündet. Der Piarist Jaroslaus Schalter erzählt uns
ausführlich von den zahlreichen Erlässen und Verordnungen, welche die „Bücherseuche"
von Böhmen ganz fernhalten sollten. Allein die fortwährende Wiederholung und häufige
Verschärfung dieser Verbote und Einschränkungen, die erst in der Josephinischen Periode
außer Kraft traten, beweist zur Genüge, daß das Bedürfniß nach einem lebhafteren Zuge
140
des ge,,tigen Lebens nicht vollständig zum Stillschweigen gebracht war. Und andere
Erscheinungen sprechen noch lebhafter dafür, daß selbst in der Zeit, in der die traurige
Erbschaft des großen Krieges auf Böhmen lastete, in der die Wissenschaft dem Leben und
der Volkssprache fremd gegenüberstand und in der eine künstliche Absperrung den
befruchtenden Wechselvcrkehr der Geister hemmte, die Sehnsucht nach Erhöhung des
Daseins durch Kunst und Poesie im Volksgemüthe nicht erstorben und die geschichtliche
Überlieferung des Landes, an der sich die neuerwachende Dichtung zuerst emporranken
sollte, dem Gedächtniß nicht entschwunden war. Das Volkslied verstummte in den von
altersher deutschen Gegenden Böhmens auch in den traurigsten Zeiten nicht. In der
Hauptstadt des Landes bildete sich trotz alledem und alledem etwa nm die Mitte des
vorigen Jahrhunderts ein Verlagswesen heraus, das mit den ersten ernsteren Versuchen ver -
deutschen Bühne innig zusammenhing, und in Prag wirkte schon um jene Zeit eine
Romanschriftstellerin, Marie Sa gar mit Namen, die aus erster oder zweiter Hand die
Anregung zu rührenden Erzählungen empfing und die empfindsamen Seelen mit Tage -
büchern versorgte.
Als unter Joseph der Aufschwung der Geister und die Pflege der Literatur von
obenher begünstigt, ja gefordert wurden, fand diese Bewegung in Böhmen ein, wenn nicht
vorbereitetes, so doch empfängliches Geschlecht. Verspätet vollzog sich auf diesem Boden
eine ähnliche Entwicklung der Literatur, wie sie für das große Gebiet deutscher Zunge fast
ein halbes Jahrhundert früher vorangegangen war. Das Selbständigkeitsgefühl, das
„Sich fühlen", in dem die ersten Naturlaute einer volksthünilichen und individuellen
Poesie wurzeln, mußte erst geweckt, der Muth, sich auszusprechen, erst entflammt werden.
Die Theorie ging der Praxis, die planmäßige Anleitung dem Schaffen, philosophische
Kunstbetrachtung den Regungen des poetischen Geistes voran.
Zwanglos ergeben sich dem überschauenden Blick zwei Perioden, in denen die
deutsche Poesie in Böhmen zu neuem blühenden Leben gelangt, die des Pflanzerbemühens
und die des üppigen Wuchses. In der ersteren, die bis in den Beginn unseres Jahrhunderts
hinein währte, gewahrt man die regelrechte Gärtnerarbeit, die Aussaat, die Übersetzung
einiger Zierpflanzen, die Auswühlung des Bodens, die Abgrenzung der Beete, die plan -
mäßige Anlage der Wege und die sorgliche Umzäunung des ganzen Gebietes; in dieser
Zeit wagen sich die edleren poetischen Keime nur schüchtern aus dem Boden hervor,
wahrend mannigfaches Unkraut für die neuerwachte Triebkraft des Bodens doch schon
Zeugniß ablegt. Dann aber steigt aus der Tiefe eine Lebenskraft empor, welche die
Pflanzer m Staunen setzt und Gestaltungen, die ihren lehrhaften Vorstellungen ferne
lagen, in raschem, dichtem Wachsthilm erstehen läßt. In diesen beiden Perioden sehen wir
die Einflüsse, die kraft der geographischen Lage des Landes auf Böhmens deutsche Literatur
141
bestimmend einwirkten, verschiedenartig vertheilt. Die erste Periode können wir getrost
die Josephinische nennen; alles Anregende, Bedeutende und Befruchtende fließt für das
allgemeine geistige Leben in Böhmen aus den Quellen der Aufklärung, deren Erschließung
vom Throne her gewünscht wird. Die Bestrebungen eines Sonnenfels, die Dichtungen
eines Denis finden lauten Wiederhall in Prag. Der bewußte Formencultus lehnt sich in
den poetischen Versuchen an den Kunstgeschmack von Wien an, während freilich die dort
im Stillen erblühende Volkspoesie nur gelegentlich von der Bühne her ihren farbigen
Zauber wirken läßt. In der zweiten Periode, in den Jahren zwischen den deutschen
Befreiungskriegen und dem Stnrm-
jahr Achtundvierzig, dringen die Ein -
flüsse vom deutschen Norden und
Westen stärker herein. Die Josephi -
nische Zeit hob das Verständniß, die
Bildung, das Selbstvertrauen, aber
ihre Literatur hat wesentlich nur
einen lehrhaften Gehalt und war
nur vorbereitend für das geistige
Einverstündniß mit der inzwischen
stolz emporgediehenen Literatur der
Deutschen. Die geistigen Bewegungen
unseres Jahrhunderts aber lebte
Böhmen unmittelbar mit, immer
heftiger, stürmischer und selbständiger
— der Goethecultus, der Freiheits -
gesang, die Romantik, die deutsche
Renaissance, wie sie durch Uhland
und seine schwäbischen Genossen am
lautesten und verständlichsten auf die Gemüther wirkte — alles dies fand in Böhmen nicht
nur ein anfgespanntes Ohr und ein weitgeöffnetes Herz, sondern auch Wiederhall, Nach -
klang und den selbständigen ergänzenden Ton, der aus bewegten Gemüthern emporquoll.
Karl Heinrich Seibt.
Jetzt mischte sich der Einfluß von Wien her, der immer noch ein starker blieb, niit den
mächtigen Anregungen, die aus ganz Deutschland heranfluteten. Die übernommenen
Formen aber füllten sich mit neuem Gehalt, die Anregungen wirkten auf bedeutende
dichterische Charaktere, die sich selbständig entwickelten, ein gemeinsamer Grnndton und
verwandte Klangfarben gaben den deutschböhmischeu Gesäugen ihren besonderen
Charakter. Die geschichtlichen Erinnerungen der Heimat lebten in verklärendem Liede auf,
142
Reiz und Stimmung der böhmischen Landschaft spiegelten sich in liebevollen Bildern, der
Blick der Poeten versenkte sich in die Tiefen des Volkscharakters. Und über diesem ganzen
Lenz der Poesie lag ein Hauch der Schwermnth wie auf jungem Grün, das zwischen altem,
grauem Gemäuer emporschießt. Mit den persönlichen und volksthümlichen Erregungen,
die sich kühner vernehmen ließen, mit dem Weltschmerz, der von Englands nebligen Küsten
her sich über ganz Europa verbreitete, fluteten die schmerzlichen Erinnerungen an Böhmens
Geschichte zusammen, an deren stummberedten Zeugen das alte hundertthürmige Prag so
reich ist. Der schwere Wellenschlag des Heldengedichtes entsprach am besten der inneren
Melodie der Herzen. Das Drama, das selbst die Vergangenheit in taghelle Gegenwart
wandelt, hatte wenig glückliche Jünger in der Poetenschaar dieser Zeit; im Epos, das
am Hellen Tage von der Vergangenheit träumt, sammelte sich das beste Theil ihrer
gestaltenden Kraft.
Die Strahlen der Josephinischen Zeit fanden ihre Brennpunkte in der Universität
und im Theater. Lichtfrenndliche Männer stiegen zu den Lehrkanzeln der altehrwürdigen
Carola-Ferdinandea empor, suchten die Herzen der Jugend für die neue Zeit zu erwärmen
und durchbrachen den Bannkreis der alten, klösterlich angehauchten Gelehrsamkeit. Die
Aristokratie, welche vorher die italienische Oper und die plumpen Hanswurstscherze eines
Bernardon vorwiegend begünstigt hatte, folgte dem Beispiel des Thrones und brachte
Opfer für die Erweckung und Erhaltung einer deutschen Bühne in Prag. Noch vor
Begründung des deutschen Nationaltheaters durch den Grafen Nostitz hatte die darstellende
Kunst bald da, bald dort ihre Zelte anfgeschlagen und zwischen Burlesken, hölzernen Lust -
spielen im Stile der vorclassischen Zeit, Rührstücken und seichten Ritterkomödien fanden
schon die Werke Lessings, mit dessen „Emilia Galotti" 1783 das neue Haus eröffnet
wurde, einen bescheidenen Raum. Der lebendige Eindruck der Scene, mehr noch das Tages-
bedürfniß der Bühne lockten zu dramatischen Versuchen. Schauspieler, die in Prag längere
oder kürzere Zeit wirkten, bildeten den Mittelpunkt dieses Antorenkreises, dem sich Beamte
und Professoren anschlossen. Eine große Anzahl von Theaterstücken, die in den Siebziger-
und Achtziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts entstanden, um bald wieder vergessen zu
werden, trägt das Prager Verlagszeichen gleichsam als Fabriksstempel an der Stirne.
Moses Dobruschka brachte Schäferspiele, Victoria von Rupp, Johann Friede!, der
mit der Feder für seinen engeren schauspielerischen Bedarf sorgte, Heinrich Neinike, der
nach Lessing einen „deutschen Nathan" dichtete, I. A. Rothe, I. I. Gnad und Andere
wetteiferten in rührenden und grotesken Lustspielen und stoffreichen Historien. Am frucht -
barsten waren Ritter von Steinsberg und Johann Komarek, beide Böhmen von
Geburt und durch ihren Beruf mit der Literatur verbunden. SteinSberg, Direetor und
Unternehmer der Theater zu Prag und Regensbnrg, versuchte sich in allen bekannten
143
Tonarten des Drama's, setzte dem bürgerlichen Trauerspiel Lessings eine „Miß Nelly
Randolph" an die Seite und huldigte den heimischen Erinnerungen durch ein Schauspiel
„Libussa". Komarek, Buchhändler seines Zeichens, brachte es zu einigen Bühnen -
erfolgen, die bis in unser Jahrhundert hinein vorhielten. Seine „Maria von Montalbau"
war das Ergötzen unserer Urgroßväter. In seinem „Albrecht von Waldstein, Herzog von
Friedland", einem Trauerspiel, das er gleichzeitig mit Schiller und unabhängig von diesem
genug zu. Viele Züge des polternden Stückes zeigen,
daß der Autor dieselben Quellen benützt
hat wie unser großer Nationalpoet.
Diesem Getriebe der Schaffenden
und Versuchenden stand die Universität in
Prag ungemein nahe. Ein schöngeistiger
Drang war über die gelehrten Herren
gekommen. Von den vier Professoren,
welche nach und neben einander die
Geschichte und die Regeln der schönen
Künste lehrten, unterließ es keiner, der
Theorie das Beispiel hinzuzufügen und
sich dichterisch zu versuchen, obgleich nur
Einer aus dieser Gruppe poetisch ver -
anlagt war. Selbst der urtheilsscharfe
Seibt, dessen ganzes Wesen auf reflecti-
rende Klugheit gestellt war, trat mit der
Tragödie „Gabriele Montaldo" als Be -
werber um den Lorbeer auf. Unter den
Schülern, deren stilistische Arbeiten —
Dialoge und Erzählungen — der an -
regende Mann 1784 in einem starken
Bande als „Akademische Blumenlese" veröffentlichte, befand sich einer, Anton Breicha,
der vom Hörsaal schnurstraks zur Schanspielertrnppe überging und schon ein Jahr später
mit einer Tragödie hervortrat.
Züge der Gewaltsamkeit und der Selbstüberschätzung, die an die Periode Gottscheds
erinnern, waren unverkennbar an der übereifrigen Kathederpoetik jener Tage. Überwiegend
aber war das Verdienst der anregenden Kraft, welche zwar keine Dichter erzog, aber den
Sinn für Dichtung hob und für die Tage der schaffenden Geister den Boden bereitete.
Der Universitätsprvfessor Karl Heinrich Seibt, ein Landsmann Lessings, ist der Zeit nach
144
""7 I 7 "ingab, «"""" B"uf- »°ch Lehrer der Kirchen.
g-,ch,ch,- md Phstnsnph, l-g,- -- das höchst, G-wich, g-s,-b-udjg,„ „ud ^
ftn>- H°r°r,n fl-,st,gen Ubungn, zur Klarheit und Selbständig,-st d-rAnsdruchsw-is-
S-.n- »lnghestsl-hrestzum Th-il. «hist zum The», -in Buch peu,lisch» L-bensw-7 st
-'-Ml stch zu- G-iich--,i„-i.ssthi,usuphl- und gib. „ns, uns -lademeschen B°-,°,u„7
hervorgegangen- eine Vorstellung von seiner Art- die Gedanken im Hörsaal zu entwickeln
Den meisten Lebensregeln folgen Dialoge- welche nicht etwa blos die kahle Anwendung
des Satzes enthalten sondern offenbar mit schriftstellerischem Ehrgeiz ausge^chmnckt- hnmo-
En 7 t S Rt" ^ sind. Ans einer gewissen pedantischen Gravität und
^ her ausgetreten- so sehr er die frischeren und urwüchsigeren
Regungen dingend ermunterte und anerkannte. Ein unlösbarer Rest von Pedanterie bleibt
Schr M ll 7" ^rück- wo er mit den Formen spielt und den leicht gestaltenden
Schriftsteller hervorkehren möchte. Anders der Mann- der sich ihm im Jahre 1785 als
P.«°r der «sthe.il m dl- Sei.. st», durch -mu 7 7
sierMa"st 7' 77' bu'°—„wirst- «ud bi- zum I-Hr-1805-iu- lilerarischer
Hn-sch-st,u P,°g b.hauplele, «ugust Golllieb M-sß„--, »,, H-imalsg-n-est- S-ib,s -
, »stk P-°l-sta„st d-r an die Prager Uniuerstlät b-rust» wurde - war zugleich der erst-
Md-7'°d» "stch b"7 «ehrlanzel, «"bl der ch-lich wirlende
7 7 ^ 7" b"°' """"ließ, s- gab stch M-istn.r schuu
g »i -l- bei a-prel, d-r vor »st,u, g-su„,„ will, Rich, ul-i Uiehr ulz Durch,chniltslhpus
de. bed-estenderen L„.r°,°n der «chtziger.Iahre war m» Meißner nach Prag ge,ummen
l der lu, dm g-,st,g- Leben der S,ad, war d-r uiel,eilig- Mann, d-r -rstaunlich rasch las'
u »eiarbestele, stch s-d-u Stst ,„il der grast,-„ Leich,igk-i, au-igu-l- in d-r Wissen-
Rch °7ch777'' 77""" -.liste, dun hnherB-den.nug.
schte Lusturramane, -,-ug,- »ach dem s-,chmack d-r Z-i, in s-in-u, , Alkibiades- der
ch-Hausttwer, g-l. und in mehrere fremde Sprachen übersetz, wurde, di- lngendh.ste
spw » ch -I! , «M- »°st- °"d Schau.
-n 7-77 7" 7 ' "" "°^ "»"" b-r äst-r-n Jl-li-u-r «zShlungen
d,st L , " ""7'"" """ """ S--»- seiner Rddeste» daran
Sch, , 7 l-b>- »ad auf dem «aldstein-schen'
Sch,affe Dur um, seine- Wanderungen „ud Irrsahrl.n ansruh.e, dem 77
,n r« 7, anch k"«""' »'* °--uf.rne "md- Deutlich
° ! 777 u'77" ""77 " " --WM b-'..°n7 P.-uderei °7
-ue-seru such,, und Burger ,st das „„per,-mbar- Muster seiner -alks,heimlichen Balladen,
145
Böhmen.
10
Wie Klopstock zu Wieland — immer den großen Abstand nach beiden Seiten hin vor
Augen — verhielt sich Cornova zu Meißner. Geistlichen Standes, hoch gestimmt und
von einem redlichen Idealismus erfüllt, dem es freilich in der Dichtung an der Kraft der
Anschaulichkeit gebrach, fühlte sich Cornova — ein geborener Prager — als der Denis von
Böhmen. Geschichtsprofessor an der Universität, Bearbeiter der Stransky'schen Landcs-
geschichte, welche in dem neuen bauschigen Gewände viel dazu beitrug, schlummernde
Erinnerungen zu erwecken, wandte er sich in odenartigen Kriegsliedern, welche die Helden
Österreichs der Reihe nach
verherrlichten, und in
einem langen didaktischen
Gedichte „An die jungen
Bürger Böhmens", um
ihren Patriotismus an-
znfeuern und sie für die
neue Zeit, die Maria The -
resia und ihr großer Sohn
heraufgeführt hatten, zu
erwärmen. An den Lehrern
Meißner, Seibt und
Cornova bildete sich
D ambeck, der später —
bis an das Jahr 1820
heran — Ästhetik und die
schönen Künste an der
Prager Hochschule lehrte,
die Jugend in geistvollen
Kaspar Maria Gras Srernberg. Vorträgen für Schiller
und Goethe erwärmte und
durch seine gewandte Übersetzung Popes und anderer Autoren auf den Formensinn der
literarischen Genossen bedeutsam einwirkte. Neben diesen Professoren vom Fach wirkte
ein stillerer Mann, dem die schöngeistige Richtung fernlag und der nichtsdestoweniger
den Gehalt der werdenden Literatur stärker bestimmte als die Ästhetiker von Beruf: der
Mathematiker und Religionsphilosoph Bolzano, der die Sicherheit des mathematischen
Denkens auf andere Gebiete übertrug, die Grenzen des Glaubens und des Wissens
schärfer zog als seine Vorgänger und mit hoher ethischer Weihe des Wesens den
Freimuth der Wahrhaftigkeit verband. Die Zeit, der seine Gedanken vorauseilten,
146
schnitt ihm das Wort ab; 1820 vom Lehramt suspendirt, zog er sich in ein abgeschlossenes
Denkerleben zurück.
Der Anstoß, den die Josephinische Zeit gegeben hatte, und die Anregung, die von
den Lehrstühlen ausging, wirkte auf immer weitere Kreise hinaus. Das Bedürfniß nach
regerer Verbindung mit dem gesummten deutschen Geistesleben, der Drang, sich mitschaffend
zu bethätigen und die Berufenen zu gemeinsamem Wirken zu sammeln, fanden zunächst in
publizistischen Versuchen ihre Befriedigung. Die Tagespreffe war um die Wende des
Jahrhunderts freilich noch weit von der Aufgabe entfernt, der sie heute dient. Die
„Prager Oberpostamtszeitung", die sich später in die offizielle „Prager Zeitung"
verwandelte, war ein Blatt voll dürftiger Notizen, und wenn sie des großen Zeitgenossen
Goethe gedachte, so geschah es mit Vorliebe gelegentlich der Nachricht von einem Selbst -
mord, um festzustellen, daß der „Weither" wieder einmal ein Unheil angerichtet habe.
In den Monats- und Wochenschriften aber gelangte der schöngeistige Zug immer stärker
zum Durchbruch. Der lehrhaft angelegte Seibt hatte sich mit der Veröffentlichung
von Stilproben, von Schülerarbeiten begnügt. Meißner, der mitten im literarischen
Leben stand, rief 1793 die erste belletristische Zeitschrift, den „Apollo", ins Leben, für
den er in der Nähe und in der Ferne geschickte Mitarbeiter warb. Der feingeistige
Meinert — ein Schüler Meißners, später für kurze Zeit sein Nachfolger ans der
Lehrkanzel — trat hier an die Öffentlichkeit. Dambeck gründete 1819 die Wochenschrift
„Hyllos", in deren ersten Nummern er und Cornova im Klopstock'schen Odenstile wett -
eiferten, und die mit der Zeit durch die Pflege der Landeskunde einen positiven Inhalt
gewann. Die hochgebildete Schriftstellerin Karoline von Woltmann, die ihre glücklichsten
Jahre in Prag verlebte und für Böhmens Landschaften und Sagen schwärmte, suchte
um 1823 in der Zeitschrift „Der Kranz, oder Erholungen für Geist und Herz" einen
Kreis von schönen Seelen um sich zu versammeln. Ihr gesellte sich Gerle als Mit-
redacteur hinzu, und 1828 brachte Schießler seine „Monatsrosen" auf den literarischen
Markt. Gerle und Schießler galten in dieser schwächlichen Zeit, in den Zwanziger- und
Dreißiger-Jahren, für die literarischen Machthaber von Prag. Sie waren Vertreter der
Modeschriftstellerei. Beide versuchten sich in jeder Dichtungsart, zumeist in Theaterstücken,
in denen sie über den Geschmack der Kotzebue und Jffland nicht hinauskamen. Gerles
Hanptverdienst war sein romantisches Bemühen um die Wiedererweckung der böhmischen
Sagen, in der Karoline von Woltmann ihm rühmlich vorangegangen war. Sein Tod ist
literarisch denkwürdiger als sein Leben, tragischer als irgend eine Scene seiner Dichtung.
Als er um die Mitte der Vierziger-Jahre seinen Einfluß gebrochen, seine Schriften
vernachlässigt und seine Richtung überwunden sah, gab er sich in den Wellen der Moldau
den Tod ....
In allen diesen Mvnats- nnd Wochenschriften war die Absicht stärker als das
geistige Vermögen. Je weiter sie sich von dem Einfluß ihrer Gründer entfernten, desto
mehr verseichteten sie; den Versuchen in schwierigen poetischen Formen, an denen der
Schweiß der Anstrengung klebte, fehlte der starke gegenständliche Gehalt. Noch war der
öffentliche Geist nicht erstarkt, noch war der Moment nicht gekommen, in den: das
Volksthum sich ans sich selbst besann und muthig seine Kräfte regte, noch bedurfte jedes
Bestreben auf dem Gebiete der schönen Literatur der Stützen, welche die Wissenschaft und
die vom Glücke begünstigten Gesellschaftskreise bieten konnten. Es gab noch keine pul-
sirende, treibende und spornende Gegenwart im Sinne unserer Tage, aber man war doch
reif genug, um diesen Zustand der Ruhe als einen ungesunden zu fühlen, nnd rief die
Vergangenheit heran, um eine bessere Zukunft vorzubereiten. Deutsch und slavisch war
damals im Bewußtsein der überwiegenden Mehrheit noch nicht getrennt; heimatlich,
vaterländisch war die allgemeine Losung, und ans der großen deutschen Bildungsguelle
schöpften alle miteinander die Kraft, welche vorwärts kommen wollten. Die königlich
böhmische Gesellschaft der Wissenschaften, welche 1784 entstanden war, bebaute
insbesondere das Feld der heimischen Geschichte. Dobner, Dobrovsky, Pubitschka und
Pelzel thaten sich als Historiker hervor, die Professoren Anton Müller und Wenzel
Swoboda setzten Geschichte in Verse um. In der Aristokratie, dem einzigen Theile der
Gesellschaft, der weder den Druck des kleinbürgerlichen Lebens, noch den der staatlichen
Zustände empfand, war die Anregung der Josephinischen Zeit nicht erstorben, traten immer
wieder Männer auf, welche die Pflichten ihres Standes fühlten und Vorrechte durch
Vorzüge wettzumachen versuchten. Auf Nostitz, den Begründer des deutschen Theaters,
folgte im Grafen Franz Hartig ein eifriger Förderer der Künste und Wissenschaften.
Das Hans des Oberstburggrafen Kolowrat-Liebsteinsky zog Künstler und Schriftsteller
von nah und fern heran. Hier war es, wo Heinrich von Kleist im Jahre 1809 ein neues
Drama, vermnthlich den „Prinzen von Homburg", vorlas und wo er den Plan zu seiner
Zeitschrift „Germania" entwickelte, in der er alle deutschen Männer gegen den Corsen in
Wehr nnd Waffen rufen wollte. Der bedeutendste Mann, der aus diesem Kreise hervorging
nnd auf ganz Böhmen bestimmend einwirkte, war Graf Kaspar Sternberg, den ein
berufener Mund den Altmeister der deutschen Natnrforschung genannt hat. Ihm war die
Förderung der Literatur in Böhmen nicht nur die Erfüllung einer Standespflicht, sondern
innerstes Herzensbedürfniß. Er hatte die Weihe Italiens empfangen und die Bildung
Deutschlands eingesogen, ein Priester Gottes und der Natur in Regensburg gewirkt, als
er im Jahre 1806 seine Domherrnstelle niederlegte, um fortan ganz den Wissenschaften
zu leben. Der Befehl, ein Tedeum für Napoleons Siege abzuhalten, gab den Ansschlag für
die Demission. Als Sternberg im Jahre 1810 in seine Vaterstadt Prag zurückkehrte,
148
trat er in die vorderste Reihe der wissenschaftlich strebenden Männer und übertrug die
seltene Kraft, zu einigen und zu gliedern, auf den vaterländischen Boden. Es war die
Zeit, in der Goethes weltumspannender Geist sich liebevoll mit Menschen und Natur in
Böhmen befaßte, und in der auserlesene Männer des Landes wie Rath Grüner in Eger
und Professor Zanper in Pilsen das Glück genossen, mit dem herrlichen Mann persönlich
oder brieflich zu verkehren. Näher als alle Anderen trat Sternberg an Goethe heran;
das Streben zum Ganzen, die liebevolle Sorge um alles Keimende und Werdende, die
hochgestimmte und dabei doch arbeitsame Neigung zu allem Natürlichen, die Beschäftigung
mit den höchsten wissenschaftlichen Problemen verband die beiden starken und doch nicht
lärmenden Geister, den Autor der „Farbenlehre" und den Verfasser der „Pflanzenkunde
von Böhmen".
„In Böhmen" — schrieb Goethe im Jahre 1813 an Meher — „ist das Wunder -
same, daß unter Personen, die sich mit einerlei Wissenschaft abgeben, kein Zusammenhang
stattfindet, ja nicht einmal eine Bekanntschaft. Dieses Land als wahrhaft mittelländisch
von Bergen umgeben, in sich abgeschlossen, führt durchaus den Charakter der Unmit-
theilnng in sich selbst und nach außen." Sternberg war einer der Ersten, die diesen Bann
durchbrachen. Er sammelte die Tüchtigen um sich und feuerte sie zu gemeinsamem
Wirken an. Aus seiner Anregung ging im Jahre 1823 die böhmische Museumsgesellschaft
hervor, zu deren Präsidenten er gewählt wurde, und vier Jahre später war in der Monats -
schrift des Museums ein geistiger Mittelpunkt von hoher Bedeutung geschaffen. Der
Geschichtsforscher Palacky war der erste Redacteur dieser Blätter, die eine Reihe von
Jahren hindurch in deutscher und in cechischer Sprache erschienen. Der Ernst des Unter -
nehmens läßt Alles, was sich bisher publizistisch geregt hatte, weit hinter sich zurück. Die
wissenschaftliche Kritik ist erwacht, die literarische erstarkt; ein männlicher, positiver Geist
spricht ans diesen Blättern, die alles Heimische überschauen, aber niemals dem Dilettanten-
lobe und der Pflege des Kleinlichen verfallen. Aus dem Programm vernehmen wir die
Gedanken Sternbergs, den Goethe verwandten Geist der Natnrerforschung, der stillum -
fassenden Sammlung, der thätigen Heimatsliebe. Auf der ersten Seite dieser Blätter aber
steht ein Gedicht, das die böhmische Sage verherrlicht, und der Name des Dichters lautet
Karl Egon Ebert. Ein Name nur und zugleich der Beginn einer höher gestimmten deutsch -
böhmischen Dichtung.
So recht ein stimmender und vermittelnder Geist war in Karl Egon Ebert an der
Schwelle des Jahrhunderts erschienen. Die Professorenpoetik wirkte durch Dambeck auf
ihn ein, der einige Gedichte des achtzehnjährigen Lieblingsschülers im „Hyllos" veröffent -
lichte. Mit der kunstfreundlichen Aristokratie des Landes war er durch den Fürsten Karl
Egon Fürstenberg verbunden, dessen treue Gunst er genoß und dem er in feierlich schönen
149
Sonetten ein Denkmal gesetzt hat. Die Fittige des Goethe'schen Genius streiften seine
träumerische Jugend. Gern erzählte Juliane, Eberts Schwester, in ihren Greisenjahren
von der denkwürdigen Karlsbader Begegnung ihres Vaters mit Goethe, der mit freund -
lichem Gruße an den alten Herrn herantrat, um ihn zu den ersten dichterischen Erfolgen
des Sohnes zu beglückwünschen. Hoch erglühend, mit gesenktem Blicke stand die halbwüchsige
Juliane daneben; Stolz und Ehrfurcht mischten sich in ihrem kindlichen Herzen, und ihr
begabter Geist empfing die Keime zu ernstem Schaffen. Goethes Dichtungen, zumal
„Wilhelm Meister" und „Götz" wurden schon von dem Knaben Ebert verschlungen.
Neue Klänge kamen hinzu und
weckten die innere Melodie. Die
Nibelungen hatten eine Renais -
sance des deutschen Helden -
gesanges erweckt, und von
Schwaben klangen die ersten
Gesänge herüber, welche die
Vorzeit der Heimat in ihrem
eigenen Tone verherrlichten.
Das Beste that die Natur von
innen, das große Auge des
Poeten, das schon im Kinde auf -
leuchtete, die Lust am Schauen
und Gestalten, die während ein -
samer Wanderungen des Jüng -
lings die Umgebungen der Vater-
Karl Egon Ebert. stadt, die Thäler der Scharka
bei Prag mit den Helden der
Sage bevölkerte. Bald erfüllte sich in und durch Ebert, was die dichtenden Gelehrten
gefordert und vergeblich versucht hatten: der Glanz deutscher Poesie fiel auf Böhmens
alte Überlieferungen.
Fast sechzig Jahre hindurch wurde Karl Egon Ebert als Haupt der deutschböhmischen
Dichter geehrt. Im Jahre 1824 erschienen seine ersten Gedichte, die bereits Perlen der
Poesie, wie die urkräftige Ballade „Schwerting, der Sachsenherzog" in sich faßten und die
Aufmerksamkeit der besten Männer in Deutschland erweckten, und bis an sein Todesjahr,
bis 1882, blickten die Jüngeren dankbar zu ihm empor. Die poetische Großthat seines
Lebens war das Heldengedicht „Wlasta", das in rauschenden Nibelungenstrophen die
Sage vom Mägdekriege aufleben ließ und gegen Ende der Zwanziger-Jahre einen wahren
150
Sturm von Beifall und Theilnahme hervorrief. Es war freilich zugleich ein gereimter
Culturroman, der die Psychologie des überfeinerten Weibes mit den großen Zügen des
alten Mythos in Einklang zu bringen versuchte. Aber darüber hinaus war es ein Sieg
anschaulicher Poesie und eine stolze Befriedigung des Heimatsgefühls. Goethe ließ sich
von Weimar aus vernehmen: „Das Landschaftliche könnte nicht besser gemacht sein." Der
Meister fühlte heraus, was ans der ersten Hand der Natur empfangen war. Alle seine
Lieblingsplätze, die Wälder und Thäler in der Nähe von Prag hatte Ebert in der „Wlasta"
dargestellt. Hier lag und liegt in der That die Stärke des Gedichtes, und wenn uns heute
die in allgemeinen Umrissen gehaltenen Gestalten der Wlasta und des Primislaus
schattenhaft erscheinen, so treten die Naturbilder, über die ein schwermüthiger Reiz aus -
gegossen ist, kräftig und herzbewegend an uns heran. In der ruhig und sicher gestaltenden
Anschaulichkeit lag Eberts bestes poetisches Können. In der Reflexion, die er liebte, erlahmte
mitunter sein Schwung und der lehrhafte Zug einer überwundenen Periode mengt sich
mitunter in die „frommen Gedanken eines weltlichen Mannes", in denen er viele köstliche
Früchte einer milden Weisheit dargeboten hat. Seiner Lyrik fehlen die starken Register
des Gefnhlssturmes. So ist ihm auch kein Drama voll gelungen, trotzdem sein erstes
„Bretislav und Jutta", das einen geschichtlichen Stoff mit ausgesprochener Versöhnnngs-
tendenz behandelte, in Wien und Prag lauten Beifall fand, und obgleich sein letztes
„Brnnoy", eine interessante Timontragödie aus der Zeit vor der großen französischen
Revolution, mehr Beachtung der Bühnen verdient hätte, als es thatsüchlich gefunden
hat. Glücklich und stark war er im Epischen, in der ruhigen Bildkraft des Wortes, im
breiten Tone der poetischen Malerei, die Menschen und Landschaften in großen Zügen
vergegenwärtigt. In seiner Idylle „Das Kloster", in der die Eindrücke des einsamen
Franciscanerheims Hajek nachklingen, in dem er seine „Wlasta" gedichtet hat, in seinem
Heldengedicht „Die Magyarenfran", in dessen frischen Rhythmen das kecke Abenteuer treibt
und drängt, in seinen Meisterballaden und Romanzen, wie „Schelm vom Berge", „Frau
Hitt", „Der Königstochter Laune", „Zwei Meister" liegt die Blüte seines Talentes.
Hier war er der würdige Genosse Uhlands und eigenartig in der Energie des Gestaltens,
im festen Aufbau der Darstellung, die sich in Quadern emporthürmt. Auch die sanfteren
Empfindungen der Liebe, der Klage, des Naturgenusses fanden in ihm einen Sänger, der
sich in stillen Stunden vertraulich dem Herzen nähert. Geklärtheit war ein Bedürfniß seiner
Natur. Als an seinem achtzigsten Geburtstage die Grüße fast aller deutschen Dichter ihn
umranschten, verglich ein Berufener seine Poesie mit den stillen Seen des böhmischen
Hochwalds, auf denen die Schatten der ragenden Bäume ruhen.
Der weihevolle Friede, der von Eberts Gesängen ausging, war für die deutsch-
böhmische Literatur die Ruhe vor dem Sturm. Eine bewegte Zeit brach herein, das junge
151
Deutschland brachte eine zweite Sturm- und Drangperiode der deutschen Poesie. Die
Dichter des Weltschmerzes und die Freiheitssänger verkündeten ein neues Evangelium
des Lebens. Die deutsche Jugend Böhmens gab sich mit Begeisterung dieser Bewegung
hin. Das Leben selbst, nicht nur die Geschichte, stellte große Forderungen auf und Alles
schwelgte in der Zuversicht des Kampfes für eine bessere Zeit. Aus diesem großen Freiheits -
drange, in dem heftige Klagen und Wünsche, die kräftigen Ansprüche der Einzelnen und
der Völker, der Weltschmerz und
der Schmerz des sich empor -
ringenden Bürgerthums zu einem
Gefühl verschmolzen, erwuchs die
blühende deutschböhmische Poesie
der Dreißiger- und der Vierziger-
Jahre. DerKathederpoetikbedurfte
das Heer der werdenden Dichter
nicht mehr, die Aristokratie gab
nicht mehr den literarischen Ton
an, ans den Tiefen des Volks -
thums tauchten die lange ersehnten
Talente empor.
Den Sänger der „Wlasta"
verehrte dieses junge Poeten -
geschlecht als den Altmeister und
den Erwecker der heimischen Poesie.
In gewissem Sinne wurde auch
Eberts Programm erfüllt, man
nährte die Begeisterung für den
Alfred Meißner. heimischen Boden, man verherr -
lichte Böhmens Geschichte, ohne
den Unterschied zwischen deutsch und slavisch hervorzukehren. Aber man griff nicht mehr
in die graue Vergangenheit und in die Welt der Sage zurück, sondern versenkte sich in die
Kämpfe der Hnsitenzeit und des dreißigjährigen Krieges und die Zeichen und Gestalten
jener kriegerischen Tage wurden symbolisch für die Begehren der Gegenwart. War in
den Tagen, da die Museumszeitschrift begann, das Wort „Nation" noch für den Begriff
des ganzen Volkes von Böhmen geläufig, so begann man jetzt bereits deutsch und slavisch
auseinanderznhalten, aber nicht zu sondern. Der Keim spaltete sich, aber die Zwillings -
blüte, die hervorkam, saß an einem Schaft. Gemeinsame Wünsche und Hoffnungen,
152
gleiche Leiden und Kämpfe verbanden die geistig Emporstrebenden. Mit Bewußtsein sucht
man die Vermittlung zwischen deutscher und slavischer Welt und „Ost und West" nennt
sich bezeichnender Weise die Zeitschrift, welche das Werden und Wachsen dieser literarischen
Bewegung wiederspiegelt. Rudolf Glaser, der gelehrte und feinsinnige Scriptor der
Universitätsbibliothek, rief die bedeutsame Wochenschrift 1837 ins Leben, seine Gattin
Juliane, Eberts congeniale Schwester, der manches sinnige Gedicht gelungen, unterstützte
ihn in der Leitung, von Jahr zu Jahr wuchs die Bedeutung und der innere Reichthum
der denkwürdigen Blätter. Echte Talente treten muthig hervor. Das Seichte, vormärzlich
Spielende wird allgemach zurückgedrängt, das Heimische begrüßt, aber auch der Umblick
über alles Bedeutende gepflegt. Der Schaar der jungen deutschen Poeten gesellen sich die
eechischen hinzu, I. Kollar, Celakowsky, Jablonsky, Vocel, Macha u. A. werden gewürdigt
und kommen in trefflichen Übersetzungen zu Worte. Der Einfluß Byrons und Lenaus
äußert sich in bewegten Nachklüngen, in kühneren Gedanken und Tönen. In Wien und
Deutschland wird man aufmerksam auf den neuen Dichterlenz. Männer, wie Friedrich von
Sallet, Leopold Schefer, Karl Jmmermann, de la Motte Fouque, Robert Prutz, Julius
Hammer, Moriz Carriere stellen sich als Mitarbeiter ein, Betty Paoli, I. G. Seidl,
Johann Nepomuk Vogl, W. Constant (Constantin von Wurzbach), Tschabuschnigg u. s. w.
bezeugen die Theilnahme in ganz Österreich. Bis an das Jahr 1848 heran währt der
Bestand und die Blüte des Unternehmens. Ende Juni 1848 verstummt die Zeitschrift für
immer, nachdem sie noch an ihrer Spitze den merkwürdigen Vorschlag empfohlen hat, den
Sitz des deutschen Bundes nach Prag zu verlegen. Das Sturmjahr, in dem sich die
Gedanken in Thaten verwandeln, sprengt „Ost und West" auseinander.
Erst Jünger, dann Führer erheben sich aus dem Kreise, dessen Mittelpunkt „Ost
und West" bildet, zwei in der Zeit ihres Aufstieges eng miteinander verbundene Geister:
Alfred Meißner und Moriz Hartmann. Meißner, der Enkel des schöngeistigen Pro -
fessors, Sohn eines angesehenen Badearztes, stammt aus Teplitz, Hartmann aus Duschnik
bei Pribram, wo sein Vater Ökonomie und Handel trieb. Die Prager Studentenjahre
verbinden den Sohn der Badestadt, dessen Erziehung in die Bahnen eines hochgeistigen
Lebens gelenkt wurde, und das Dorfkind, das mit früherwachter Selbständigkeit alles
Bedeutende an sich heranzieht, und der Idealismus schmiedet einen Jugendbund, der die
Freunde bis zu den Tagen des Frankfurter Parlaments fest zusammenhält. Beide wählen
zunächst Stoffe aus der böhmischen Geschichte und bauen aus Trümmern, die sie mit
jugendlicher Wehmuth betrachten, eine große Vergangenheit auf. Die Husitenzeit wird ihrem
kosmopolitischen Freiheitsdrang typisch für alle Erhebung der Geister und der Völker.
Meißners „Zizka", Lenau verwandt in der freien Folge farbeusatter Gedichte, die nur das
Band der Historie zusammenhält, verherrlicht den größten Kriegshelden der Husiten
153
und Hartmann setzt seiner ersten Sammlung von Gedichten, welche neben den herrlichen
böhmischen Elegien die Klagen aller leidenden Völker in sich schließt, die Symbole „Kelch
und Schwert" an die Stirne. Beide feiern zugleich in ihren Gedichten die Freiheits -
kämpfer in Polen und Italien, die Märtyrer der jüngsten Zeit, besingen die Leiden der
Elenden und Gedrückten und rütteln an den Fesseln der Gedanken- und Gewissens -
freiheit. So sehr ihnen in der Zeit ihres Werdens und Wachsens die gleiche Umgebung
und das gleiche Bestreben das Gepräge der Verwandtschaft aufdrücken, behaupten sie sich
doch nebeneinander als selb -
ständige poetische Individuali -
täten. Von Lenau und Grün
wurden beide in der Form -
gebung beeinflußt, in der Stim -
mung huldigt Meißner mehr
dem Byronismus, dem himmel -
stürmenden Weltschmerz, Hart -
mann jenem wehmüthigen
Humor, jener Mischung von
Sentimentalität und Satire, die
durch Heine in die Literatur
eingeführt wurde. Meißner ist
kühner in der Phantasie dieser
Jngendgedichte, Hartmann von
Haus ans weicher und tiefer
in der Empfindung. Wenn an
Meißners Geschichtsbildern,
wie an seinem „Ende der
Gironde", die Glut und Pracht
Moriz Harlmann.
der Farbe überrascht, so wirken Hartmanns bleiche Leidenshelden und schwermüthige
Klagelieder in die Tiefen der Gemüther. Auf der Höhe des jungen Ruhmes nehmen die
beiden Jugendfreunde Abschied von Böhmen und von einander. Das Jahr 1848, das
beide in seine Wirbel zieht, trennt ihre Wege für immer. Meißner kehrt nach einer
Reihe von Jahren nach Prag zurück, wo er dem stilleren literarischen Schaffen lebt,
und gründet sich zu Ende der Sechziger-Jahre ein Heim in Bregenz. Hartmann wird
eine Art literarischer Weltumsegler und beschließt nach langen Fahrten feine Tage in
Wien, in der unterdessen durch eine freiheitliche Verfassung verjüngten österreichischen
Heimat.
1ö>4
Der Dichter des Zizka bewährte noch einmal seine volle lyrische Kraft, als er die
deutschen Siege des Jahres 1870 begrüßte nnd sein ungeschwächtes Gestaltungsvermögen
in der poetischen Erzählung „Werinher", in der er Scheffel verwandte Klänge anschlügt.
Als Dramatiker, zumal als Dichter der tiefgreifenden Tragödie „Das Weib des llrias"
fand er das Lob der Kenner, aber nicht den anhaltenden Beifall des Publikums. In der
anmnthig erzählten Geschichte seines Lebens bot er wichtige Aufschlüsse über die Trieb -
kräfte einer bewegten Zeit. Über seinen Romanen, die interessante Schilderungen ent -
halten und von denen namentlich „Schwarzgelb" ein großes Publikum gefunden hat,
schwebt ein dunkles Geschick. Franz H edrich, ein Prager Jugendgenosse, den die Stürme
des Jahres 1848 um den Vater und um die Heimat brachten und der nach langen
Wanderungen in Schottland seinen dauernden Aufenthalt nahm, trat als hochbetagter
Mann mit dem Anspruch auf die Autorschaft der meisten Romane auf, die unter
Meißners Namen erschienen waren. Daß er bei mehreren derselben heimlicher Mitarbeiter
gewesen, ist durch Meißners hinterlassene Aufzeichnungen sichergestellt. Der Streit über
das Maß dieser Mitarbeiterschaft, der über das Grab Meißners hintobte, ist bis heute
nicht beendet. Der unselige Zwist verdüsterte den Lebensabend des Einen, den die zähe
Forderung des alten Genossen bis in den Tod verfolgte, nnd die Gestalt des Andern, der
nach langem heimlichen Einverständniß mit so schonungsloser Härte auftrat. Daß auch
Hedrich zu den stärkeren Talenten gehört, die Böhmen dem deutschen Schriftthum ge -
schenkt hat, beweisen seine Nachtbilder aus dem Hochgebirge und seine Erzählung
„Brigitta", Werke, in denen die Kraft einer scharfen Charakterzeichnung und einer düsteren
Farbengebung sich bethätigt. Meißners Dichterruhm ist durch den tragischen Confliet
seines Lebens nicht verdunkelt worden. Jene hochgestimmten Gesänge, die ihm einen
Ehrenplatz in der Literatur sichern, sind sein unbestrittenes Eigenthum und die Hand, die
ihn persönlich bedrängte, konnte nicht an seinen Lorbeer heran. Glücklicher gestalteten sich
in Hartmanns Leben der blütenreiche Sommer und der ergiebige Herbst. Der Dichter,
dessen Bedeutung noch lange nicht voll gewürdigt ist, hatte die seltene Gabe, unter dem
Eindrücke wildbewegter Erlebnisse die volle poetische Sammlung zu bewahren. Fast gleich -
zeitig mit seinen bittersten politischen Satiren entstanden 1849 seine stimmungsvollen
poetischen Erzählungen „Schatten", die zu den Perlen unserer epischen Poesie gehören,
und sein anmuthiges Idyll „Adam und Eva". In einer Fülle von Novellen, die zum
großen Theile Meisterstücke der feinsinnigen psychologischen Darstellung sind, verwertet
er die Eindrücke eines reichen Lebens. Sein Tagebuch aus Lauguedoc und Provence ist
ein Muster culturgeschichtlicher Mittheilung in vollendeter Kunstform. Seinen mensch -
lichen und künstlerischen Idealen ist er bis zum letzten Athemzuge treu geblieben und ans
allen seinen Werken leuchtet sein männlich schöner Charakterkopf hervor. Der Zug der
155
böhmischen Elegien geht wie ein rother Faden dnrch die Dichtungen seines ganzen Lebens.
Heimweh ist eine der ergreifendsten Tonarten in seinem reichen Gesang. In seiner
Erzählung „Der Krieg um den Wald" spiegelt sich das böhmische Landleben in seiner
Urwüchsigkeit ab, in seinem Epos „Sackville" umwebt er die Landschaft bei Prag mit
dämmerigem Zauber. Wiederholt erscheint in seinen Gedichten und Novellen die Gestalt
der sorgenden Mutter, die in der Heimat vergeblich ihres fernen Sohnes harrt.
Meißner und Hartmann waren die berufenen Dichter des Völkerfrühlings in
Böhmen, aber sie standen nicht allein mit ihrem Sehnen und Dichten. Von den jungen
Poeten, die sich ihnen innig zugesellten, war der Leitmeritzer Friedrich Bach, ein stiller
schwärmerischer Genosse der lauten Stürmer, am eigenthümlichsten begabt. Seinen
„Sensitiven", den Erstlingen seiner Muse, folgten im Jahre 1848 „Neuere Gedichte",
dann verstummte für immer der Liedermnnd des jungen Arztes, der sich zu Orawitza in
Serbien ansiedelte und dort, fern von allen literarischen Strömungen, zu Beginn der
Sechziger-Jahre sein Leben beschloß. Ein Dichter des ewigen Menschheitsleids, gemahnt
er bald an Hölty, bald an Lenau, aber er hat seine eigene Klangfarbe, und die seltene
Vereinigung melancholischer Weichheit mit krystallheller Klarheit des Gedankenausdrncks
gibt seinen Liedern einen unverwelklichen Reiz. Einem anderen Leitmeritzer Poeten konnten
die Genossen von „Ost und West" den Kranz der Anerkennung nur auf das frische Grab
legen. Joseph Emanuel Hilscher, dessen Schicksal und Werth Ludwig August Frankl ans
Licht zog, war, ein einsamer Wanderer, der Poetenschaar vorangezogen. Er war Soldat,
arbeitete sich vom Gemeinen znm Lehrer an der Militürschule empor und erst, nachdem
er in jungen Jahren zu Mailand verschieden war, gelangte sein tapferes Ringen nach
geistiger Erhebung zu verdienten Ehren. In seiner Patrontasche trug er zwar nicht den
Marschallstab, aber den Byron, den er meisterhaft übersetzte, und nach ermüdenden
Märschen auf der staubigen Straße besang er in stillen Nächten die Welt im Blonde, die
Idealwelt, die in sein hartes Leben hineinleuchtete. Von der Gunst des Tages getragen
war Uffo Horn, dessen Wiege in Trautenau stand, ein Mann, der seine große rhetorische
Begabung in Liedern, Dramen und öffentlichen Reden glänzen ließ und dem manches
schwunghafte Lied gelungen ist. Impulsiv in Leben und Dichtung, führte er als Freiwilliger
im Kriege um Schleswig-Holstein das Schwert für die Sache, der seine Begeisterung
gehörte. Er war nicht tief angelegt, aber energisch und kühn. In seinem Drama „Ottokar"
legt er dem vielgereisten Zawisch Worte glühender Weltfreudigkeit in den Mund, die sein
eigenes Wesen charakterisiren. Ein berufener Vermittler zwischen „Ost und West" war
Siegfried Kapper, neben der Talvj der beste Übersetzer südslavischer Volkslieder und ein
Lyriker von feinstem Fvrmgefühl. Auch Ludwig August Frankl wurzelt in der böhmischen
Heimat. Sein Jugendepvs „Der Primator" verklärt in prächtigen Strophen das alte Prag,
156
und manche schwermüthige Klage um vergangene Herrlichkeit mahnt an die bestimmenden
Eindrücke seiner Jugend. Aus derselben Quelle schöpfte Herloßsohn, der sich aus düsteren
Verhältnissen emporgearbeitet hatte, Motive, Züge und Gestalten für seine vielgelesenen
phantastischen Romane, in denen die Taboriten eine bedeutende Rolle spielen. Der Drama -
tiker I. Lederer, der mit scharfem Witz begabt war, entnahm seine Gestalten aus der
Gesellschaft; seine Lustspiele „Geistige Liebe" und „Kranke Doctoren" gehören zu den ersten
gelungenen Versuchen auf dem Gebiete der fein gestimmten Charakterkomödie. Über die
Jugend war ein Rausch des Singens und Sagens gekommen und Manche, die freudig mit
einstimmten, sind der Poesie treu geblieben, wie Freiherr von Marsand, Victor von
Hansgirg, Karl von Margelik, v. Proschko, Tandler u. a. An die Poeten schlossen
sich die Männer an, denen die Kunstphilosophie, die publizistische Kritik und journalistische
Belebung des deutschen Schriftthums zum Beruf werden sollte. Robert Zimmermann
— heute als Philosoph weithin gekannt — trat mit frischen Weisen von volksthümlicher
Färbung, Josef Bayer, der die Bestimmung zum feinsinnigen Ästhetiker und Kunstforscher
in sich trug, mit gedankenschweren Gedichten hervor. Auch die geistvollen Parlamentarier
Löhner und Kuranda, welche die Feder meisterhaft führten, der kenntnißreiche und
gewissenhafte Franz Klntschak, der das Ansehen der „Bohemia" begründete und dem der
scharfsinnige Kunstkenner Bernhard Gutt zur Seite stand, der talentvolle, feurige David
Kuh, der den Ton politischen Ernstes für die Publizistik angab, der rührige Ferdinand
Stamm, der sich erst in Dramen und Novellen versuchte und dann in Wort und Schrift
erfolgreich für die Volksbildung wirkte, gingen ans der geistigen Bewegung hervor, die in
„Ost und West" ihren ersten bedeutenden Ausdruck fand.
Während die meisten der Genannten sich in der Centrale zusammenschaarten,
gingen andere schaffenskräftige Geister seitab von dem geräuschvollen Treiben ihren Weg
zur stillen Höhe. In den dunklen Wäldern Südböhmens, in den Stadtvierteln der
Gedrückten, in den rauhen Thülern des Adlergebirges wuchsen die Männer heran, welche
die leiseren Athemzüge der Heimat belauschten und „die Einkehr in das Volksthnm", die
im ganzen Gebiete deutscher Zunge ungeahnte Schätze ans Licht zog, für Böhmen
verwirklichten. Ein Name von sanftem, rührendem Glanze ist dieser volksthümlichen
Renaissance an die Stirne geschrieben: der Name Adalbert Stifter. Der Leinweberssohn
aus Oberplan hat sich in das goldene Buch der deutschen Literatur eingetragen und die
Verborgenheit des Böhmerwaldes, ans dem er stammte, ist durch ihn zu einem Paradies
geworden, an dem sich unzählige Herzen erhoben und erquickten. Die dreiundsechzig
Jahre seines Lebens — 1805 bis 1868 — flössen ohne starke äußere Bewegung dahin,
wie die Wellen eines Waldbachs, der die reinsten Quellen dem großen Strome entgegen -
führt. Von den Tagen, da er in seinem weltentlegenen Geburtsstädtchen zur Schule ging,
158
bis zu der Zeit, in der er — dem Zuge des Herzeus folgend — die Volksschulen in Ober -
österreich überwachte, blieb er dem lauten Gewühl und heftigen Kämpfen fern. Desto
größer war der innere Reichthum seines Lebens. Ihm haben die heimischen Forste ihr
Geheimstes anvertrant, und was er davon mittheilte, wurde zu einer feierlichen Offenbarung
de» beglückten Daseins in und mit der Natur. Wie Jean Paul hat er in seinem Leben nur
selten einen Vers geschrieben. Dennoch war er ein Dichter von der innersten Empfindung
bis in den zartesten Hauch des Wortes hinein. Als in den Vierziger- und Fünfziger-Jahren
die ersten seiner Meisterskizzen und Novellen in Zeitschriften erschienen, genoß mau mit
Andacht und Staunen den Einblick in eine neue Welt, die scheinbar aus der Alltäglichkeit
emporstieg.
Die Überraschung war jener ähnlich, die Stifter in seinem „Abdias" so herrlich
darstellt: den Empfindungen der von Blindheit Geheilten, in deren Auge das Licht
eiuströmt. Wenige Poeten haben so gesehen, so sehen gelehrt, wie der Sohn des böhmischen
Hochwaldes. Die Natnrpoesie der zeitgenössischen Romantiker hatte umflorte Augen und
wob einen märchenhaften Schleier um die alltäglichen Wunder. Stifter betrachtete mit
Hellem, klarem Blick das alltägliche wundervolle Werden und Vergehen. Er war weit
entfernt davon, eine zweite Welt willkürlich-phantastisch aus der vorhandenen hervor-
zulockeu, er versenkte sich mit hehrer Einfalt in die bestehende, in das ausgeschlagene Buch
der Natur, und über Allem, was er darin gelesen, liegt der Geist der Sammlung, der
erhebenden „Andacht zum Kleinen". In dieser liebevollen Gegenständlichkeit, die das
zarteste Blühen und das leiseste Rauschen wahrnimmt und die Alles, was in der Stille
wird und wächst, vertraulich beim rechten Namen nennt, wurde der naturfromme Idealist
zum Meister aller Landschafter unter den modernen Realisten der Novelle. Die Gestalten,
die er in seine mit der "Natur wetteifernden Landschaften versetzt, sind freilich mehr in ihren
zai ten Empfindungen, als, wie es heute üblich geworden, in den Schärfen der Physiognomie
und in den sinnlichen Impulsen charakterisirt; sie haben alle, ob sie der Gegenwart oder
der Vorzeit angehören, einen Zug von seinem eigenen feierlich aufhorchenden Wesen,
von seiner milden Beschaulichkeit, aber es beglückt, mit ihnen zu verkehren und aus der
Nüchternheit der treibenden Interessen in ihre Welt der stillen Erbauung zu flüchten. In
den ragenden Plöckenstein hat der dankbare Böhmerwald den Namen seines Dichters ein -
gegraben und über den böhmischen Grenzwall leuchtet er weit in die deutschen Lande hinaus.
Feinfühlig und scharfsichtig für die Reize der heimischen Natur ist auch Josef
Rank, der zweite Dichter des Böhnrerwaldes, der aus der Berührung mit dem vater -
ländischen Boden seine besten Kräfte schöpfte. Aber ihm war die Landschaft doch mehr
Hintergrund für die Gestalten und sein Hauptaugenmerk war ans Sitte und Sprache,
ans Denk- und Gefühlswcise des Landvolkes gerichtet. Mit Auerbach hat er den Sinn für
159
die Reflexion der Naturmenschen, mit Gotthelf die Farbe für kräftige Volksthümlichkeit
gemein, und in seinen zahlreichen Dorfgeschichten, wie zumal in seinem lebensvollen
Volksroman „Achtspännig" wurde er den Jüngeren, die in die Tiefen des Volkslebens
hinableuchteten, Pfadfinder und Vorbild. Sein Leben, das von dem Torfe Friedrichsthal
den Ausgang nahm, führte ihn in die bewegten Kreise der Politik und der Literatur
hinein, aber sein ganzes Wirken und Schaffen hing mit dem mütterlichen Boden zusammen.
Die Heimat sandte ihn
in das Frankfurter
Parlament, wo er, den
Freunden Moriz Hart -
mann und Karl Vogt
hinzugesellt, der Linken
angehörte, sie theiltc
den Dichtungen, die
während seiner publi -
zistischen und amtlichen
Wirksamkeit in Wien
entstanden, das farbigste
Leben mit. Gleich dem
Böhmerwalde hatte die
deutsche Sprachinsel an
der böhmisch-preußi -
schen Grenze, die ranhe,
ärmliche Gegend des
Adlergebirges, ihren
Dichter, der freilich nur
Lo°v°ld K°mper.. wie ein Jünger neben
den Meistern steht, dem
aber die nachwirkende Kraft des volksthümlichen Gestaltens nicht versagt war. In Moriz
Reich, dem Sohne der Stadt Rokitnitz, den Noch und Krankheit in jungen Jahren zu
Boden drückten, ist ein echtes Talent beklagenswerth früh verstummt. Seine lebensvollen
Skizzen und Novellen „An der Grenze", in denen er mit dem scharfen Griffel des
Charakteristikers Land und Leute abschildert, bilden eine dauernde Errungenschaft seines
kurzen Lebens, dem er freiwillig ein Ende machte.
Ans ganz anderen Lebenskreisen als die Meister der Dvrsnovelle, ans den winkligen
Straßen und dumpfen Häusern der böhmischen Ghettos schöpfte Leopold Kompcrt die
160
entscheidende Anregung für sein ganzes Leben. Kompert, der in seiner Vaterstadt München-
grätz und in Prag eine harte Jugend verlebte und unter Entbehrungen studirte, war
wie Jean Paul der Dichter der Armen und Bedrückten. Vor ihm hatte nur der Berliner
Bernstein in das Dunkel des Ghetto's hineingeleuchtet. Unbekannt mit diesem Vorgänger,
ein Bahnbrecher auf einem Gebiete, das seither vielfach bebaut worden ist, stellte Kompert
in seinen Ghettonovellen das Leben seiner jüdischen Landsleute dar. Die böhmischen Inden,
die Kompert in die Literatur eingeführt hat, bildeten seit jeher einen besonderen Schlag.
Früher und inniger als ihre Glaubensgenossen in anderen Ländern von starker slavischer
Bevölkerung, schlossen sie sich der modernen Bildung an, die ihnen durch die Josephinischen
Reformen eröffnet war, und nahmen, wie eine lange Reihe von Namen bezeugt, einen
rühmenswerthen Antheil an der deutschen Culturarbeit in Böhmen. Anderseits blieb
ihnen in ihrer Abschließung noch lange ein starker volksthümlicher Zug erhalten, und
der Druck, der bis zu den Tagen des Verfassungslebens — wenn auch gemildert
ans ihnen lastete, verstärkte und verschärfte die eigenthümlichen Züge ihrer Gemeinschaft.
Liebevoll und mit plastischer Kraft hat Kompert wie kein Zweiter ihre Leiden und
Freuden, ihr Ringen mit schroffen Hindernissen und die Harmonie ihres engeren Daseins
herausgestaltet. Seine Ghettonovellen sind culturgeschichtlich und poetisch bedeutsam;
jede einzelne ist anziehend durch die Treue der Farbe, den Ausdruck der Charakterköpfe
und den gemüthvollen Ton, und folgt man ihrem Zuge bis an die Erzählung „Zwischen
Ruinen" heran, so lebt man die stillen Thaten eines Volksthums mit, das sich aus Druck
und Dunkel zu Licht und innerer Freiheit emporhebt. Mancher talentvolle Nachfolger
ging auf Komperts Wegen, mit besonderem Glück S. Kohn, der in seine Ghettogeschichten
starke geschichtliche Züge verwob und dessen fesselnde' Erzählung „Gabriel" in viele
Sprachen übersetzt ist.
In der neueren und neuesten Zeit haben sich die Bedingungen für das deutsche
Literaturleben in Böhmen mannigfach verändert. In den Fünfziger-Jahren lebt die vor-
mürzliche Richtung, die an der geistigen Einheit von ganz Böhmen festzuhalten versucht,
noch in vereinzelten Erscheinungen fort, wie in den von Paul Alois Klar begründeten
Jahrbüchern „Libussa", welche manchen werthvollen Beitrag brachten und das Verdienst
hatten, die Überlieferung des Zusammenhalts zu wahren. Das ganze Literaturleben aber
hat in dem Jahrzehnt, welches auf das Sturmjahr 1848 folgt, einen matteren Pulsschlag.
Josef Bayer und A. W. Ambros sind als die anregenden Vertreter eines edleren
Literatur- und Knnstgesch,nacks in dieser Zeit zu nennen; neben ihnen wirkte in jungen
Jahren der feinsinnige Publizist und Kunsthistoriker Eduard Hans lick, der in seiner Vater -
stadt Prag zuerst hervortrat. Die Entwicklung einiger dentschböhmischer Schriftsteller von
Belang, deren Leben bereits abgeschlossen vor uns liegt, füllt in diese Übergangsperiode.
161
^vsef von Weilen, der aus dem Dorfe Tetin bei Prag stammt, wurde früh der Heimat
entfremdet; Böhmens Sage und Geschichte klingen in seinem Drama „Drahomira" an.
Selrgmann Heller, ein Sohn der Stadt Raudnitz, der als Schanspielkritiker in Prag
bedeutsam wirkte, erweckte durch seinen „Ahasver", ein tiefsinniges Epos in formvollendeten
Terzinen, die Aufmerksamkeit der ernsten Literaturfreunde. Josef Mauthner, ein ans
Prag stammender Lyriker von gluthvollem Ausdruck der Empfindung, wurde als Dichter
erst nach seinem Tode, im Jahre 1891, bekannt. Julius Gundling (Lucian Herbert)
griff als Journalist und fleißiger Romanschriftsteller nach vielen Seiten aus. In engeren
Kreisen fand der Humorist Eduard Pokorny. der ein scharfes Auge für die Eigen-
thümlichkeiten böhmischer Verhältnisse hatte und dessen breiter Productionsstrom manches
Goldkörnchen gemüthvoller Laune mit sich führt, viele Freunde und Verehrer. Karl
Thomas (der Nationalökonom Professor Karl Thomas Richter) bekundete in Novellen,
wie m seiner Tragödie „Samson" den Zug einer starken Begabung. Auch Michael
Klapp, der in seinen ersten Versuchen von Kompert angeregt erscheint und später mit
seinem Lustspiel „Rosenkranz und Güldenstem" einen glücklichen Wurf that, und Julius
Rosen (Duffek), der eine Zeit lang als witziger Lustspielstenograph die deutschen
Bühnen beherrschte, sind Prager von Geburt. Sie gehören zu den wenigen Vertretern
der gefällig leichten, rasch zündenden Dichtung, die aus Böhmens Deutschthum hervor -
gegangen sind.
>;n den letzten drei Jahrzehnten, in denen die territoriale Begeisterung gegen die
nationale zurücktrat, haben sich deutsche und slavische Literatur in Böhmen scharf von
einander gesondert. Die deutsche flutete naturgemäß stärker mit der Gesammtliteratur
in Österreich und Deutschland zusammen, doch verlor sie nicht ihre ernst gestimmte Eigen -
art und schuf sich ihre besonderen Organe für die Wirksamkeit im Lande. Der „Verein
für Geschichte der Deutschen in Böhmen", für den der Geschichtsschreiber Ludwig
Schlesinger in hervorragender Weise thätig ist, pflegt in seinen werthvollen Mit -
theilungen auch die Geschichte der Landesliteratur. Der „Verein zur Verbreitung gemein -
nütziger Kenntnisse" begründete eine ganze Bibliothek volksthümlicher Schriften, zu deren
gediegensten die Werke von Julius Lippert gehören. Deutsche Poeten haben sich mit
Malern, Bildhauern und Musikern 1871 am Tage der Grillparzer-Feier zu fruchtbarem
Wirken im deutschen Schriftsteller- und Künstlerverein „Concordia" vereinigt. Der
cechischen Akademie hält die vor kurzem von Philipp Knoll begründete „Gesellschaft zur
Förderung deutscher Wissenschaft, Literatur und Kunst in Böhmen", die mit der Universität
innig znsammenhängt, das Gleichgewicht. Toischer in Prag, Gradl und John
in Eger, Paudler in Leipa, Wolkan in Cernowitz, Peters in Leitmeritz und Anton
August Naaff in Wien beschäftigen sich liebevoll mit der Erforschung der Volkslieder,
Böhmen.
162
Mundarten und Bräuche im deutschen Sprachgebiete Böhmens. Die Erinnerung an
gleiches Verdienst knüpft sich an den Namen des früh verstorbenen Knieschek. Die
mundartliche Dichtung und der Volkshumor trieben auch in den letzten Jahrzehnten neue
Blüten. Graf Clemens Zedtwitz stimmte in seinen Egerer Dialectgedichten einen frischen,
munteren Ton an. Nittels nordböhmische Eulenspiegel-Geschichten vom Hockewanzl hatten
einen vollen volksthümlichen Erfolg. In seiner Schrift über das Adlergebirge hat Eduard
Langer jüngst einen heiteren Naturdichter ans Licht gezogen, den Bauer Hieronymus
Brinke, einen humorvollen Nachfolger des ernst gestimmten Egerländers Fürnstein,
an dessen elegischen volksthümlichen Gedichten einst Goethe warmen Antheil genommen hat.
Eine stattliche Reihe deutschböhmischer Schriftsteller befindet sich in der Strömung
des Werdens und Wirkens. Fritz Mauthner, der durch Geburt und Bildungsgang zu
den Pragern zählt, ist als Satiriker und Romanschriftsteller weithin bekannt geworden.
Ossip Schubin, mit ihrem wahren Namen Lola Kirschner, seine Heimatsgenossin, die
in der Nähe von Prag lebt, hat die empfängliche Aufmerksamkeit des ganzen deutschen
Publikums für ihre Novellen und Romane aus der österreichischen Adelswelt gewonnen.
Bertha von Suttner, zu Prag als Gräfin Kinsky geboren, hat durch ihren Tendenz -
roman „Die Waffen nieder!" in den weitesten Kreisen den tiefsten Eindruck gemacht.
Auch Auguste Hauschner, Pragerin durch Geburt und Erziehung, Franziska von Kapff-
Essenther, die aus Leitomischl stammt, und P. Hann, ein Horitzer von Geburt, der
als Publicist in New-Aork lebt, sind mit Beruf auf dem Gebiete der Novelle thätig.
Richard von Kralik, der seine Jugend in der Böhmerwaldheimat verlebte, wirkt als
Ästhetiker, Epiker und Dramatiker, Anton Ohorn, der in vielen Gedichten die deutsch -
böhmische Heimat feiert, hält ihr auch im Roman das Spiegelbild entgegen. Josef Bendel
schrieb ein Trauerspiel „Firdusi" und „Sagen und Märchen" in gebundener Form. Als
Lyriker sind Friedrich Adler, Franz Herold und P. Philipp mit Erfolg hervor -
getreten, als Humorist, der viele Formen beherrscht, Josef Willomitzer, der Nachfolger
Klutschaks und Walters in der Leitung der „Bohemia". Oskar Teuber, der Historiker
des Prager Theaters, huldigt in seinen Skizzen aus dem militärischen und klösterlichen
Leben der Kunstform. Der lebendigen Bühne haben sich Gräfin Christiane Thun-
Hohenstein, die auch als Märchenerzählerin hervortrat,Heinrich Teweles, Peter Riedl,
Karl Skranp und Heinrich Swoboda genähert. Ein Kreis von Jüngeren schließt sich
den Genannten an. Die deutsche Literatur in Böhmen zu einem besonderen, abgeschlossenen
Ganzen zu prägen, kann weder Aufgabe noch Wunsch der Werdenden und Wirkenden sein.
Wohl aber herrscht die begründete Zuversicht, daß das deutsche Geistesleben in Böhmen
den Zug ernster Überlieferung bewahren und daß Böhmens deutsche Dichtung sich als
eine kräftige eigenartige Stimme im großen Chor der deutschen Poesie behaupten wird.
163
11*
Die Theater j)raas.
Wenige Städte Österreich-Ungarns dürfen ans eine so reiche, eigenartige und
wechselvolle Entwicklung ihres Theaterwesens zurückblicken als die Mozartstadt Prag,
die vielhundertjührige Stätte begeisterter und verstündnißvoller Kunstpflege. Mit der
Entwicklungsgeschichte der deutschen Schauspielkunst und der deutschen Musik innig ver -
woben, in dieser Geschichte oft mit einer vornehmen, ja leitenden Rolle bedacht, hat das
„Prager Theater" vermöge der eigenthümlichen nationalen Verhältnisse in der Landes -
hauptstadt Böhmens allmälig eine besondere Gestaltung angenommen, welche seinen
Geschichtsschreiber zur Beobachtung eines doppelten Standpunktes nöthigt. Er hat den
rein literarischen, den rein künstlerischen Standpunkt mit dem nationalen zu vereinbaren.
Und diese Vereinbarung ist nicht allznschwierig: der nationale Friede war auf keinem
Gebiete in Böhmen länger ausrechtzuerhalten als auf dem künstlerischen, und noch heute
herrscht trotz der räumlichen und materiellen Trennung der nationalen Kunstinstitute eine
gewisse friedliche Verständigung zwischen ihnen vor, welche sogar ein erhebendes
Zusammenwirken zu wahren künstlerischen Zielen gestattet. Auch für die historische
Betrachtung ist Jahrhunderte lang in der Entwicklung des Theaterwesens eine nationale
Trennung überhaupt nicht zu entdecken, — wir haben nur gemeinsame Schicksale und
Erfolge zu verzeichnen.
Die ersten Anfänge des Theaterwesens in Prag sind wie überall in den Mysterien
und Moralitäten, den geistlichen Spielen mit heiteren Öuacksalber-Jntermezzi, zu
erblicken. Das böhmische Museum bewahrt den handschriftlichen Text einer solchen Ouack-
salber-Scene (nrrrgtiäk.äi') in böhmischer Sprache, welche eine natürliche Ähnlichkeit
mit deutschen Spielen dieses Charakters hat. Der Quacksalber war mit der Passions -
geschichte Christi gewaltsam und kunstvoll dadurch oergnickt worden, daß man ihm den
-Lalbenverkaus an die frommen Frauen übertrug und damit die Gelegenheit zur Production
seiner derben Späße gab — er war der Hanswurst des frommen Spiels.
Die Schulcomödie bedeutete wie anderswo auch in Prag die zweite Stufe der
Entwicklung des Theaterwesens,- sie entfaltete einen besonderen Glanz in dein mächtigen
Heim, dcw sich die Gesellschaft Jesu in dem Collegium Clementinum erbaut hatte.
Allegorische Spiele mit frommer Tendenz und prunkvoller Ausstattung versammelten im
Hofe dieser kleinen Klosterstadt mitunter 10.000 Menschen, und diese Bewunderer
mehrten den Ruhm und die Popularität des Ordens, der im Lande Böhmen auch eine
große politische Mission zu erfüllen hatte. Am 12. October 1567 gaben die Jesuiten und
Jesuitenschiller, welche bis dahin zumeist in lateinischer Sprache von der Bühne herab
zum Volke gesprochen hatten, ein vom Magister Nikolaus Salins in slavischen Versen
164
verfaßtes „böhmisches Trauerspiel von St. Wenzeslaus dem Märtyrer". Diese nationale
That zündete, sogar protestantische Jesnitengegner fanden nunmehr, daß sich die schwarzen
Väter endlich „ihr Brot zu verdienen anfangen". Andere cechoslavische Dramen, in denen
biblische Handlungen mit derben Fastnachtsspäßen kühn vermischt waren, verfaßten Paul
Kirmesser, Rector in Mährisch-Straznitz, und Simon Lomnicky (geboren 1552). Die
Tragicomödie vom König Achab, welche die Jesuiten im Prager Clementinum aufführten,
dauerte volle zwölf Stunden, von Mittag bis in die Nacht; zur Erhöhung der Festlichkeit
läuteten die Glocken auf den Thürmen und „Mnsikchöre spielten anmuthige Weisen".
Dagegen kehrten die Professoren und Magistri der Carolinischen Universität, als
sich die Stürme und Ungewitter des dreißigjährigen Krieges bereits unheimlich ankündigten,
in ihren Spielen dieselbe derb-antipapistische Richtung hervor, welche die dramatische
Literatur im protestantischen Deutschland zu derselben Zeit deutlich genug ausprägte.
Ein Drama des fruchtbaren Poeten Campanus Wodnanus: „Die Entführung der
Prinzessin Judith durch Bretislav, den böhmischen Achilles", das 1604 im Carolinum
vorbereitet wurde, durfte als eine „Darstellung von Kirchenschändung, eine Verhöhnung
des Kaisers, ein Schandfleck der böhmischen Regenten und eine Verteidigung ungesetz -
licher Handlungen" nicht auf die Bühne kommen; das Manuscript wurde den Flammen
übergeben.
Als dann die Stürme des dreißigjährigen Krieges verheerend über Böhmen dahin-
braustcn, verhüllten die Musen trauernd das Haupt; nur die Jesuiten, welche nach der
Schlacht am Weißen Berge wieder in die verlassenen Ordenshäuser eingezogen waren,
und die höfischen Poeten oder Compositoren ergriffen die Gelegenheit festlicher Ereignisse
zu einem kräftigen Griff in die Leyer, zu einer Erneuerung prunkvoller Spiele. Am
6. December 1627 führten die Jesuiten in Prag die „triumphirliche Tragoedy vom
Kaiser Constantino Magno sambt seinen zween von ihm gekrönten Söhnen" zur Feier
der Königskrönung Ferdinands III. mit unerhörtem Prunke auf. Am 29. September 1644
gab man eine aus unbekannter Jesuitenfeder stammende „Maria Stuart". Bis in die
zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts erhielten sich in den Jesuitenhäusern diese Schul-
comödien; ihre Bedeutung hatten sie längst eingebüßt, sie hatten ihren Zusammenhang
mit der Entwicklung der Volksliteratur verloren.
Die erste nachhaltige Coucnrrenz bereitete den Jesuitenanfführungen die italienische
Oper, welche zunächst an den Höfen freudige Aufnahme und zärtliche Pflege fand. In
Italien hatten die Mysterien einen immer schärfer ausgeprägten musikalischen Charakter
angenommen; die unter dem Namen „Oratorien" bekannten allegorischen Spiele und die
musikalischen Pastoral-Tragödien und Comödien (Schäferspiele)' bedeuteten den Anfang
der Oper. Konnte Prag, wo Kaiser Rudolf II. schon zu Ende des XVI. Jahrhunderts
166
einen imposanten und kostspieligen musikalischen Hofstaat hielt, dieser neuen Kunstgattung
verschlossen bleiben? Die Vocal- und Jnstrumentalaufführnngen seiner aus den besten
Kräften Europas zusammengesetzten Hoskapelle belebten die Hoffeste im Prager Königs -
schlosse; unter Ferdinand II. zählte die Hofkapelle bereits 80 hervorragende Musiker. Als
man im November 1624 auf dem Hradschin die Krönung Eleonorens von Mantua, der
kunstsinnigen Gemalin Ferdinands II., zur Königin und Ferdinands III. zum König von
Böhmen feierte, gab man von 5 bis 9 Uhr abends „im großen Hofsaale eine schöne
Pastoral-Comoedia mit sehr lieblichen und hellklingenden Stimmen und Alles singend,
neben eingeschlagenen Instrumenten und anmuthigen Saitenspielen, nach dem ordentlichen
Mnsikaltact in toscanischer Sprach... mit Manns- und Weibspersonen als Actores".
Mit Leopold I. kam 1677 der berühmte Hofkapellmeister Antonio Draghi, einer der
fruchtbarsten Operncomponisten seiner Zeit, nach Prag und führte dort mehrere seiner
Werke auf. Aber auch außerhalb der Hofburg fand allmälig die Oper in Prag eine
Unterkunft; wälsche Opernprinzipale machten Ausflüge dahin und die glänzende Dresdener
Oper unter dem berühmten Hofkapellmeister Antonio Lotti mit dessen Frau, der unver -
gleichlichen „Santa Stella", welche zusammen die horrende Gage von 10.500 Thalern
bezogen, ließ sich in Prag bewundern.
Das großartigste Prager Opernereigniß höfischen Charakters, welches für die
allgemeine Musikgeschichte bleibende Bedeutung behalten hat, war die Aufführung der
Krönungsoper „Uu eostun^u e lort62?g? von Johann Josef Fux, einem geborenen
Steirer, der in Böhmen seine musikalische Ausbildung erhalten haben soll. Fux stand an
der Spitze der imposanten Hofkapelle Kaiser Karls VI. und leitete jene kolossalen Opern -
aufführungen in der Burg und Favorita zu Wien, welche mitunter 100.000 Reichsthaler
verschlangen und durch unerhörte Pracht verblüfften. Noch großartiger war aber die
Opernanfführung, welche am Geburtstage der Kaiserin zur Krönungsfeier 1723 in einem
von dem berühmten Architekten Ferdinand Galli-Bibiena aus Bologna im Hradschiner
Schloßgarten erbauten Amphitheater vor 4000 Zuschauern in Scene ging. Joseph Bibiena
(geboren 1696 in Parma), der beste Decorationsmaler seiner Zeit, fertigte die Decorationen
zu der von P. Pariati gedichteten Oper an, welche den Wahlsprnch des Kaisers („Bestän -
digkeit und Tapferkeit") zum Titel und den Kampf des Porsenna gegen Rom mit den
Episoden des Mutius Scaevola, Horatius Cocles und der Cloelia zum Thema gewählt
hatte. Die besten Musiker (200) und Sänger (100) der Zeit führten die Musik aus, Vice-
hofkapellmeister Antonio Caldara, der zweite Componist des Werkes, dirigirte an Stelle
des leidenden Meisters Fux, der in einer Sänfte von Wien nach Prag getragen worden
war und von seinem Ehrenplätze in der Nähe des Kaisers aus Zeuge des merkwürdigen
Ereignisses war. Der dänische Kapellmeister Joh. Ad. Scheibe schwärmt von der Musik
167
und betont, daß Fux, obwohl der tiefsinnigste Contrapunktist, doch die Geschicklichkeit,
leicht, lieblich und natürlich zu setzen, Caldara aber „in seinen theatralischen Stücken die
schönste Melodie und Harmonie und eine auserlesene Wahl und Ordnung des Vortrages
und der Gedanken besessen habe". Das Orchester war in zwei Chöre getheilt, die Chöre
selbst hatten als einander gegenüberstehende Doppelchöre Ruf und Antwort schwunghaft
zu bringen und den Arien eine kräftige Unterlage zu bieten. Von 8 Uhr abends bis 1 Uhr
morgens währte die Aufführung. Alle Theilnehmer waren begeistert, die Großartigkeit
der scenischen Effecte war überwältigend. „Die Geschichte hat keine glänzendere Begeben -
heit für die Musik aufzuweisen als diese Feyerlichkeit" — berichtet Qnantz, der berühmte
preußische Kammermusiker, welcher sich, nur um dabei zu sein, hatte ins Orchester stecken
lassen und dort Oboe spielte — „noch kennt die Geschichte ein ähnliches Bayspiel, da
so viele große Meister irgend einer Kunst auf einmal an einem Orte versammlet gewesen.
Unter den vornehmsten Sängern war keiner, der mittelmäßig gewesen wäre. Die Compo-
sition war mehr kirchenmäßig als theatralisch, aber sehr prächtig. Die Chöre dienten nach
französischer Art zugleich zu Balleten..."
Diese Krönungsoper und ihre glanzvolle Aufführung in Prag wirkte begeisternd
und befruchtend auf die weitere Entfaltung und Pflege der Oper in Prag. Welchen Reich -
thum an Kräften diese Stadt in sich barg, hatte man bei jener Aufführung gesehen. Viele
der Jnstrumentalisten waren musikkundige Studenten und Mitglieder der zahlreichen
gräflichen und fürstlichen Kapellen, welche von dem Kunstsinn der damaligen Aristokratie
Zeugniß gaben. Den Chören der Opern gehörten Kirchensänger und Schüler der Stadt
an, und das Stimmmaterial wie die musikalische Ausbildung bewiesen, wie Großes mit
diesen heimischen Kräften zu wagen und zu leisten war.
Epochemachend griff in die Schicksale des Prager Theaters und speciell der Prager
Oper der edle und unermeßlich reiche Graf Franz Anton von Spork ein, ein Mann, der
den größten Theil seines Vermögens zur Bethätigung einer flammenden und edlen Kunst -
begeisterung nützte. Graf Spork, ein Sohn des berühmten Kriegshelden Johann Spork, der
Begründer des Jagdordens vom heiligen Hubertus, der Stifter mehrerer Klöster und
Hospitale, war ein wahrer Reformator der Kunst, ein großmüthiger Protector der Musik
und Oper in Böhmen. Das von ihm am Porte 1724 errichtete Haus wurde der Schauplatz
glänzender Opernaufführungen durch die besten italienischen Gesellschaften, und schon nach
einem Jahre erhob sich an Stelle des ersten Baues ein neuer, noch schönerer, in welchem der
Impresario Denzi mit einer erlesenen Künstlerschaar die besten Werke seiner Zeit, Opern
von Bioni, Vivaldi, Albinoni, Constantini u. s. w. zur Aufführung brachte. In den
Dreißiger-Jahren des vorigen Jahrhunderts endete diese Glanzzeit der Oper; das gräflich
Spork'sche Theater ist ebenso verschollen und verschwunden wie das prunkvolle Amphitheater,
168
welches die Wunder der Fux'schen Krönungsoper gesehen hatte; das letztere ging bei der
Belagerung Prags durch die Preußen 1753 in Flammen auf und an das Spork'sche
Opernhaus erinnert auch kein Stein mehr in dem gegenwärtigen Prag.
Das Kotzentheater in Prag. Auch auf das deutsche Schauspiel suchte Graf
Spork reinigend zu wirken. Wandertruppen mannigfachen Kalibers hatten seit den ersten
Zügen der englischen Comvdianten im XVII. Jahrhundert Prag heimgesncht. Die
künstlerischen Genüsse der nahen sächsischen Hauptstadt Dresden wurden zumeist auch den
Pragern zutheil und die wüste Herrschaft der extemporirten Comödie dauerte fort, auch
als der Altstädter Magistrat von Prag in dem sogenannten „Kotzengebünde" (böhmisch
Xoleo) neben dem Kloster der beschuhten Carmeliter zu Sauet Gallns den Musen ein
festes Heim errichtet hatte. Dieses im Jahre 1738 erbaute „Kotzcntheater", der unmittelbare
Vorläufer des Prager Stamm- und Haupttheaters auf dem Obstmarkt, bot der italienischen
Oper und der deutschen Comödie gleichmäßig Unterkunft; dort spielten die Opernprincipale
Santo Lapis, Angelo Mingotti, Giovanni Battista Locatelli, Giuseppe Bustelli
ebenso wie der berühmte Pantalon Leinhaas, der Hanswurst Felix Kurz und sein
berühmter Schüler Josef von Knrtz, der „große Wienerische Bernardon", dessen Blütezeit
als Dichter und Schauspieler in seine Prager Direction füllt. In diesem Kotzentheater
erlebten die dramatisch-musikalischen Werke von Hasse und Gluck ebenso wie die tollen
„Bernardoniaden" des Hanswurst-Cavaliers Knrtz glänzende Aufführungen. Glucks
„Ezio" und „Hypermnestra" gingen 1750, erstere den „Damen-Proteetricen der Prager
Oper", letztere dem Adel Böhmens gewidmet, mit größtem Prunk in Scene.
Die tolle Wirthschaft Bernardons erreichte 1764 unter der persönlichen Intervention
der Kaiserin Maria Theresia ihr Ende, welche den maßgebenden Persönlichkeiten
Prags andcnten ließ, man möge sich „dieses Menschen" entledigen. Der Italiener
Bustelli, der ihn im Prager Theaterpacht ablöste, brachte die „wälsche Opera" in der
böhmischen Landeshauptstadt abermals zu einer Blüte, von der man in Europa rühmend
sprach. Unter ihm sangen Domenico Gnardasoni und Pasquale Bondini, deren
Namen einst mit dem unsterblichen Namen Mozart in innige Verbindung gebracht werden
sollten. Die Prager und die Dresdener Oper waren in den Sechziger-Jahren des
XVIII. Jahrhunderts vereinigt worden und köstliche Früchte zeitigte diese Verbindung
unter der fördernden Theilnahme mächtiger Kunstgönner.
Auch eine glanzvolle Ära für das bisher so stiefmütterlich behandelte „deutsche
Spectakel" brach in jenen Tagen an, als der einstige Bernardvn-Schüler Johann Joseph
(Graf) von Brunian, ein seinen Eltern entlaufener und unter das Banner der
extemporirten Comödie geflohener Cavalier, als Schauspiel-Principal im Kotzentheater
wirkte. Unter ihm vollzog sich die „Reinigung der deutschen Bühne" von dem Unrath der
169
Hanswurst-Zoten, wie sie bereits in Wien durch die Aufrichtung eines regelmäßigen
Nationalschauspiels erfolgreich angebahnt worden war. Der Gubernial-Administrator
Baron Marcell Heu net, Chef der Theatraleensur in Prag, der treffliche Ästhetiker
Professor Heinrich Karl Seibt, Brunian und dessen Oberregisseur, der auch in Wien
vielgenannte, am Burgtheater berühmt gewordene Schauspieler Bergopzoom waren die
Reformatoren des deutschen Schauspiels in Prag. Am 29. September 1771 nahmen
Bernardon, Steffel und Columbine feierlich Abschied von der Prager Bühne und am
21. April 1772 wurde das „regel -
mäßige" Schauspiel durch eine mit
werkthütiger Unterstützung von
Seite des Hochadels organisirte
neue Gesellschaft ebenso feierlich
mit dem „Hausvater" eröffnet.
Der Fürst von Fürstenberg und
Graf Prokop Czernin wurden
die finanziellen Wohlthüter des
reformirten Schauspiels, das noch
schwer zu kämpfen hatte, ehe es
den Geschmack des Publikums
völlig für sich gewann. Der Adel
Böhmens setzte seinen ganzen Ein -
fluß ein für den Sieg des guten
Prineips in der Kunst.
Und aus dem Hvchadel
Böhmens ist auch der Mann hervor -
gegangen, welcher der böhmischen
Landeshauptstadt ihr vornehmstes,
noch heute blühendes Musenheim geschenkt hat: der edle Graf Franz Anton von Nostitz-
Rhicneck. Schon vor ihm (1782) hatte ein anderer Cavalier, Graf Thun-Hohenstein,
sein Palais am Fünfkirchenplatz (Kleinseite) der Dresden-Leipziger Opern- und Schanspiel-
gesellschaft Pasquale Bondinis, dem der geniale Schauspieler Reinecke als deutscher
Regisseur zur Seite stand, eingeräumt und Mustervorstellungen waren es, welche die
Prager in jenem Kleinseitner Theater bewunderten. Die Unzulänglichkeit des Kotzen -
theaters, des eigentlichen Prager Stadttheaters, war längst erwiesen, aber die Stadt -
gemeinde hatte weder Geld noch Lust, es durch ein neues, kostspieliges Hans zu ersetzen.
Da trat Franz Anton Nostitz in die Bresche und erbot sich zum Ban eines neuen,
Franz Anton Graf Nostitz.
170
prächtigen Theaters, und Kaiser Josef 10 selbst stellte dem Unternehmen das günstigste
Prognostikon, indem er auf das Concessionsgesuch des hochherzigen Cavaliers folgende
eigenhändige Zeilen schrieb: „Graf Blümegen! Die Uneigennützigkeit des Grafen Nostitz
machet alles gute für das Prager Publikum von diesem seinen Anträge hoffen." Als
Oberstburggraf von Böhmen, also erster Würdenträger des Landes, vermochte Nostitz
(geboren 17. Mai 1725) leicht alle dem Werke entgegenstehenden Schwierigkeiten zu
beseitigen, am Ostermontag des Jahres 1783 wurde das nach den Plänen des gelehrten
Grafen Künigl mit einem Kostenaufwand von 60.000 Gulden erbaute, „Unti-ins at
mnsisZ dem Vaterland und den Musen, geweihte Haus mit Lessings „Emilia Galotti"
festlich eröffnet.
Große künstlerische Ereignisse hat diesesTheater während seines nunmehr 111jährigen
Daseins erlebt; die Weltgeschichte und die nicht immer friedliche und erfreuliche Local -
geschichte Prags hat ihre Schatten auf das ehrwürdige Haus geworfen. Das (deutsche)
hochgräflich Nostitz'sche „Nationaltheater" hieß es zum Unterschied von den anderen
Theatern, welche neben ihm bestanden und vergingen, „Nationaltheater" in jenem Sinne,
in welchem Josef U. das Burgtheater als Nationalschaubühne organisirt wissen wollte,
als ein ständiges Heim der gereinigten, edlen deutschen Dichtung und Kunst. Hier gingen
Lessings Dramen und Lustspiele in Scene, hier gab man dem großen Briten und den
Classikern der Franzosen das Wort, und als Graf Nostitz dem Impresario Pasqnale
Bondini den Pacht seines Musenheims übertrug, wurde darin eine für die ganze Musik-
und Theaterwelt mnstergiltige italienische Oper installirt, welche Wolfgang Amadeus
Mozart als die beste Interpretin seiner unsterblichen Werke erklärt hat. Schon 1782
hatte die Wahr'sche Gesellschaft im Kotzentheater „Die Entführung aus dem Serail" vor
einem enthusiasmirten Publikum aufgeführt. Als man nun 1786 Mozarts „Figaro" aus
dem Wiener Repertoire hinausintriguirte, bemühten sich die Prager Verehrer des Meisters,
namentlich die geniale Sängerin Josefa Dnschek und deren Gemal den Wiener Freund
durch einen wahren Mozart-Cultus in Prag zu entschädigen. „Figaros Hochzeit" errang
im Nostitz'schen Nationaltheater einen noch nie dagewesenen Erfolg; im Januar 1787
wurde der Meister selbst dessen Zeuge und am 29. October 1787 ging unter seiner
Leitung im Nostitz'schen Nationaltheater zu Prag sein herrlichstes Werk „Don Giovanni",
die Oper aller Opern, zum ersten Male in Scene. Impresario Bondini hatte um den
Preis von 100 Dncaten dieses Werk bei dem Liebling des musikalischen Prag bestellt,
und in Prag selbst, zumeist in der dem Paare Dnschek gehörigen Villa „Bertramka"
bei Smichov, entstanden einige Perlen seiner Musik. Großartig war der Jubel und Erfolg
dieses denkwürdigen Mozart-Abends, welcher Prags Oper, in den Mittelpunkt der
musikalischen Welt stellte. ,von Oiovunni c>88in II 0i83olntc> pnirito" hieß die Oper auf dem
171
ersten Prager Don Juan-Theaterzettel — „Don Juan oder die bestrafte Ausschweifung",
aber auch unter dem Titel „Das steinerne Gastmahl" wurde sie gehört und bewundert.
Der berühmte Bassi als Don Juan, Teresa Saporiti als Donna Anna, Felice Ponziani
als Leporello, Tcresina Bondini als Zerline, Giuseppe Lolli als Commendatore, Catarina
Miceli als Elvira, Baglioni als Ottavio zählten zu den glänzendsten Sternen auf dem
damals hellstrahlenden italienischen Opernhimmel. Und das einheimische Prager Orchester,
welches die schwierigsten Mozart'schen Sätze ohne Probe prima vista zu spielen vermochte,
Das alte königliche Landestheater in Prag.
bedeckte sich mit nicht geringerem Ruhme als diese reichbezahlten und vielgefeierten
Künstler und Künstlerinnen: sie fühlten sich durch ein lobendes Scherzwort ihres ange-
beteten „Meisters Mozart" fürstlich belohnt.
Noch ein zweites Werk hat Mozart der Prager Bühne geweiht: seinen „Titus",
welcher als bestellte Festoper zur Krönung Kaiser Leopolds II. zum böhmischen König unter
der Direction des Neapolitaners Domenico Gnardasoni am 6. September 1791 im
Prager Nationaltheater in Scene ging, ohne den mächtigen Eindruck des „Don Juan"
zu erreichen. Es war einer der letzten Ehrenabende, welche Mozart erlebte, wenige Monate
später, am 5. December 1791, schloß er seine Augen für immer.
172
Das Theater, welches der Schauplatz der unvergeßlichen Mvzarttage war, hörte
im Jahre 1799 auf, eine Privat-Unteruehmung zu sein. Am 28. März dieses Jahres
übergab der Eigenthümer Graf Friedrich von Nostitz-Rhieneck das von seinem Vater-
ererbte Haus den Ständen Böhmens in deren volles Eigenthnm gegen die bescheidene
Kaufsumme von 60.000 Gulden, welche aber nicht vom Lande, sondern von sechs Mit -
gliedern des böhmischen Hochadels erlegt wurde. Es war ein in seiner Art einziges
Abkommen, welches da getroffen wurde. Jeder der Mücenaten erwarb durch seine
Theilnahme am Ankäufe des Theaters für die Stände den Besitz einer sogenannten
Erbloge, der Verkäufer Graf Nostitz selbst verzichtete auf 10.000 Gulden des ursprünglich
stipnlirten Kaufschillings unter Vorbehalt einer Familien-Erbloge. So besaß und besitzt
das alte Prager ständische, das heutige deutsche Landestheater, außer seinem eigentlichen
Eigenthümer, dem Lande Böhmen, noch sieben „Eigenthümer", deren Rechte mit einer ihnen
erblich gehörigen Loge verknüpft sind und auch bei gewissen Gelegenheiten, zum Beispiel
den Direetionsverleihungen, durch ein besonderes Votum geltend gemacht werden können.
Der Logencigenthümer kann mit seiner Loge schalten und walten, wie es ihm beliebt, sie
vererben, verkaufen und (jedoch nur auf ein halbes Jahr) verpachten — ein Verhältnis;,
wie es kaum anderswo bestehen dürfte. Das von den Ständen Böhmens erkaufte Hans
führte von nun an den Titel „ständisches Nationaltheater in Prag". Eine von den
Stünden eingesetzte Behörde — Jahrzehnte hindurch die sogenannte „ständische Theater-
aufsichts-Commission", später eine von den Ständen, respective dem Landesausschuß ein -
gesetzte Intendanz — waltete als administrative, aber auch artistische Oberbehörde und
controlirte das Gebühren der im Pachtverhältnis; zum Lande stehenden Direetion.
Dadurch war das Prager Haupttheater in den Rang der Hoftheater gerückt, dem leeren
Eigennutz, dem unkünstlerischen Treiben einzelner Unternehmer vorgebaut, und mochte
sich auch die Oberaufsicht mitunter in kleinlichen Hemmnissen, in empfindlicher Bevor -
mundung äußern, sie hat doch wesentlich dazu beigetragen, dem Prager Theater seinen
hohen Rang in der Bühnenwelt, den ersten nach den Wiener Hofbühnen in Österreich zu
bewahren. Der erste „ständische Unternehmer und Director" war der Italiener Domenieo
Gnardasoni.
War das deutsche Schauspiel durch die Vorliebe des Italieners für „seine Oper"
einige Jahre in den Hintergrund gedrängt, so erhob es sich dafür unter seinem Schauspiel -
regisseur und Nachfolger Karl Liebich zu einer außerordentlichen Höhe. Die Directionszeit
Liebichs (1806 bis Ende 1816) wird als das goldene Zeitalter der Prager Bühne
gepriesen. Noch in der letzten Zeit des Guardasoni'schen Regimes war das gesammte
Theaterwesen Prags in den Händen des „ständischen Directors" concentrirt worden.
Die Nebentheater waren verschwunden oder mit dem Haupttheater vereinigt worden.
173
Das einst so blühende „Theater im gräflich Thun'schcn Hause auf der Klein -
seite", auf der Stelle des heutigen Landhauses und Landtagsgebäudes, in welchem zuletzt
die ausgezeichnete „chursüchsische Hofschauspielgesellschaft des Herrn Franz Seconda" mit
Karl Liebich.
Sophie Albrecht, einer Freundin Schillers, und anderen hervorragenden Kräften gespielt
und unter anderen Schillers „Don Carlos" in würdiger Weise vorgeführt hatte, war am
27. August 1794 ein Raub der Flammen geworden und nicht mehr erstanden.
Ein neues Theater war 1789 in der zum gräflich Sweerts-Spork'schen Palais (heute
Finanzlandesdircctions-Gebäude) gehörigen ehemaligen Klosterbibliothek der irländischen
174
Franciscaner („Hiberner") eingerichtet worden; wir werden es wegen seines innigen
Zusammenhanges mit der Entwicklung des cechischen Theaters noch zu betrachten haben.
Es führte den Titel „Vaterländisches Theater" (vlnstsneetro äivaäto), hatte ein
deutsches und slavisches Repertoire und machte dem Haupt- und Nationaltheater mitunter
gefährliche Coneurrenz; auch Mozarts „Zauberflöte" kam dort am 25. October 1792
zur ersten (deutschen) Aufführung in Prag. Als die deutsche Schauspielgesellschaft des
Ritter von Steinsberg dort spielte (1798), besetzte das „Vaterländische Theater" auch
die Sommerbühnen von Karlsbad und Teplitz mit seinen Kräften, bald darauf aber
machte ein Besitzwechsel in jenem Palais das „Vaterländische Theater" obdachlos. Wohl
siedelte sich ein neuer Unternehmer mit dem alten Privilegium im Refectorium des
aufgehobenen Dominicanerklosters zu St. Maria Magdalena auf der Kleinseite (dem
heutigen Gendarmeriegebäude) an, aber dieses Theater verschmolz 1803 mit dem ständischen
Theater als Filiale mit dentsch-slavischem Repertoire.
So fand Karl Liebich die Verhältnisse, als er am 10. August 1806 die Direction
antrat. Seit 1796 schon einer der beliebtesten Darsteller Prags, unvergleichlich im Fach
der fein-komischen Väter, dann als Regisseur und Seele des deutschen Schauspiels, wurde
er nun ein energischer, rastlos thätiger, humaner und künstlerisch denkender Director.
Durch die endliche Auflassung der als stabile Institution nicht mehr haltbaren italienischen
Oper und die Gründung eines Pensionsinstitutes hoffte er seinem Unternehmen eine
neue starke Basis zu geben. Die kolossalen Summen, welche die italienische Oper ver -
schlungen hatte, kamen dem nothleidenden deutschen Schauspiel und der Begründung einer
achtbaren deutschen Oper zugute, durch das Pensionsinstitut aber, welches von seinen
Nachfolgern fortentwickelt und zu einer in Deutschland und Österreich einzigen Blüte
gebracht worden ist, sicherte er der Prager Bühne die Erhaltung trefflicher Kräfte, Pflanzte
Beständigkeit und den Geist treuer Anhänglichkeit, aufopfernder Pflichterfüllung in das
Personal, machte seine Bühne den hervorragendsten deutschen Bühnen ebenbürtig. Seine
Personallisten repräsentiren eine Künstlergallerie, in welcher die markantesten Charakterköpfe
jener Zeit vertreten sind: unter ihm erblühte das Talent Eßlairs in Prag, unter ihm
wirkten das Ehepaar Reinecke, der berühmte Heldenspieler Rudolph Bayer und
Polawsky, der feinste Chevalierspieler seiner Zeit, Jahrzehnte hindurch eine Säule und
Zierde des Prager Theaters und des deutschen Schauspiels überhaupt, die Damen
Brunetti, Johanna Liebich, Philippine und Henriette Bessel; später kamen aus
Hamburg die berühmte Sophie Schröder, deren Name in Prag Weltruf erreichte, die
imposante Auguste Brede, Julie Loewe, die von Liebich entdeckten Ludwig Löwe und
Wilhelmi, nachmals Sterne des Burgtheaters. Hier sangen die berühmte Caravoglia-
Sandrini, Therese Müller und ihr Gemal, der Tenor Joh. Christ. Grünbaum,
175
ebenfalls Sterne der Wiener Bühne, der Bassist Hansen und Andere, deren Namen mit
goldenen Lettern in der Theatergeschichte eingetragen sind. Als die politischen Verhältnisse
in den Jahren 1810 bis 1814 Prag gewissermaßen zu einem Stelldichein der politischen
Welt machten, stand sein Theater im Mittelpunkt der künstlerischen Ereignisse. Varnhagen
von Ense, Gentz und seine Freundin Rahel, Zacharias Werner, Clemens Brentano,
Ludwig Robert und Ludwig Tieck waren häufige Gäste in Liebichs Hause, wo der Aristokrat
und Diplomat zwanglos mit dem Schriftsteller und Künstler verkehrte. Ludwig Tieck
stand der Prager Bühne als begeisterter Kritiker zur Seite und rühmte sie offen als
„das beste deutsche Theater". Die Leitung der Oper legte Liebich nach dem Abgang
des Kapellmeisters und fruchtbaren Komponisten Wenzel Müller (1813) in die Hände
keines Geringeren als Karl Maria von Weber, welcher am 1. April 1813 die
Reorganisation der Prager Oper in Angriff nahm und ein eigenes strenges Reglement
für alle Mitglieder derselben entwarf. Die von dem „Operndirector und ständischen
Kapellmeister C. M. von Weber" geleiteten Prager Aufführungen von „Don Juan",
„Titus", „Fidelio" waren mustergiltig; Meyerbeer führte er ein und seine Gemalin, die
Sängerin Karoline Brandt, entdeckte er in seinem Prager Engagement. Am 7. October
1816 schied Weber nach nicht mehr als dreijähriger, aber erfolgreicher Thätigkeit von
Prag, am 4. December 1816 starb Liebich, mit ihm endete das goldene Zeitalter des
Prager Theaters.
Auf ansehnlicher künstlerischer Höhe hielt sich übrigens die Prager Bühne trotz
mancher Schwankungen auch unter den folgenden Bühnenleitern bis ans die heutige Zeit.
Wir sehen nach einigen Jahren des Frauenregiments der Witwe Liebich einen nachmals
in Wien bewährten Director, Franz von Holbein, an der Spitze des Prager Theaters
(1820 bis 1824), unter welchem Karl Seydelmanns (geboren 1793) Genie sich zuerst
entfaltete und der Stern der großen Sängerin Henriette Sontag ebenfalls in Prag, wo
sie schon als Theaterkind entdeckt worden war, herrlich erstrahlte.
Auch Katharina Comet-Podhorsky, Therese Peche (nachmals eine Zierde der
Wiener Burg), Fortunata Franchetti, der berühmte Tenor Sebastian Binder und der
Bassist Franz Hauser, später durch viele Jahre Director des Münchener Conservatoriums,
sind von der Prager Oper Holbeins ausgegangen, dessen Direktion 1824 endete. Unter
seinen Nachfolgern, den Directions-Triumvirn Kainz, Polawsky und Stepanek,
wurde in Prag die geniale Jenny Lutzer (geboren 4. März 1816 zu Prag, erstes -Vebut
in Prag 12. Mai 1832) flügge; 1837 ging auch sie in das Kunst-Eldorado Wien ein,
wo sie als Gemalin Dingelstedts am 3. October 1877 ihr Leben beschloß. Ein Bühnen -
leiter von Liebich'scher Popularität, Johann August Stöger, rocts Althaller, dessen
Name auch von der Wiener Theatergeschichte unzertrennlich ist, belebte in vieljähngein
176
Wirken (1834 bis 1846, 1852 bis 1858) den Glanz der noch immer ungetheiltcn Prager
Bühne anfs neue, so daß die bestfnndirten deutschen Theater neidvoll nach der böhmischen
Landeshauptstadt schauten. Durch hervorragende Kräfte kamen Grillparzer, Grabbe,
Jmmermann, Friedrich Halm, Heinrich Laube, Gutzkow, Bauernfeld zur vollen Geltung;
in Karl Dolt besaß man einen der besten deutschen Komiker, Karl Friedrich Baudins,
der Vater von Auguste Wilbrandt-Bandius, wirkte als Charakterspieler und Charakter -
komiker und erwarb sich als dramatischer Lehrer der bekannten Fanny Janauschck
(geboren 20. Juli 1830 zu Prag), welche 1845 in Prag ihr Bnhnendebut feierte, ein
besonderes Verdienst. Die Tochter Rudolph Bayers, Marie Bayer-Bürk, nachmals die
hervorragendste Zierde der Dresdener Hofbühne (geboren 31. October 1820 in Prag,
erstes Debüt 1835), wurde ebenfalls in diesen fruchtbaren Jahren des Prager Theaters
bühnenreif.
Noch großer als der Glanz des Schauspiels war jener der Stöger'schen Oper. Der
Heldentenor Demmer, die Baritonisten Pöck und Kunz, die Bassisten Strakaty und
Schütky (in Stuttgart ein Menschenalter hindurch thätig), die Sängerinnen Podhorsky,
Grosser, Berganer, die Kapellmeister Stegmayer, Franz und Johann Nepomuk Skraup und
Orchesterdirector Pixis bedeuteten Kräfte ersten Ranges, mit denen die Werke Meyerbeers,
Halevys, Marschners, Lortzings, Ftotows, Spohrs, Anders, Donizettis in vollendeter
Weise zur Aufführung kamen.
Im Jahre 1846 trat ein neuer, ebenfalls mit der Wiener Theatergeschichte innig
verbundener Bühnenleiter, Johann Hofsmann (geboren 1805 in Wien) an die Spitze
der Prager Bühne, der erste Director, welcher unter der neugeschaffenen Intendanz und
mit der 1846 systemisirten ständischen (später Landes-) Subvention waltete. Graf Albert
Nostitz, ein kunstsinniger und edler Cavalier, war der erste Intendant der Prager Bühne,
welche die Stnrmjahre 1848 bis 1849 ohne ernste Gefährdung überstand. Wohl pochten
die Wortführer der „neuen Zeit" auch ungestüm an die Pforten des Theaters und
rüttelten an den „Fesseln", welche das Prager Theater mit den ständischen Behörden ver -
banden; auch nationale Fragen störten zum ersten Mal das Prager Theateridyll; die
Aufführung der vom Prager Conservatoriums-Director Johann Friedrich Ki ttl (geboren
1806, gestorben 1868) zu einem Text seines innigen Freundes Richard Wagner
componirten Oper „Die Franzosen vor Nizza" im Februar 1848 hatte auch ihre politische
Bedeutung. Der „Franzosen-Marsch" wurde zum Freiheits- und Revolutionsmarsch, die
Constitution kündete im Theater Graf Stadion aus seiner Loge dem Volke an. Man gab
„censnrfreie" Stücke, forderte die Errichtung zweier unabhängiger, freier Nationaltheater
in beiden Landessprachen, das „freie Theater im freien Staate". Aber die Wogen glätteten
sich wieder und es blieb bei einem Theater unter Landesaufsicht und Jntendanzcontrole.
177
Auch die von Hoffmann errichtete Arena im Pstroß'schen Garten, in welcher ursprünglich
die Vorstellungen in cecho-slavischer Sprache überwogen, erhielt bald wieder ein vorwiegend
deutsches Repertoire. Das deutsche Schauspiel brachte in dieser Zeit das Talent Friedrich
Haase's zur Entfaltung. In der Oper war es die jugendliche Jenny Ney (nachmals
Bürde-Ney), welche in dieser Ära ihre glänzende Laufbahn eröffnete.
Hoffmanns Nachfolger wurde derselbe Mann, der sein Vorgänger gewesen war:
Johann August Stöger; er regierte von 1852 bis 1858 mit alter Thatkraftin Prag und
erhielt die von ihm geleitete Bühne in inniger Berührung mit seiner Zeit. Die Oper
erlebte wieder Ehren- und Glückstage. Der mit blendenden Mitteln ausgerüstete Tenor
Steger (reota Stazic), welcher in Wien als Apothekerpraktikant seine Stimme dem
Regisseur des Theaters an der Wien offenbart hatte, die Sängerinnen Behrendt-
Brandt, Luise Tipka-Weinlich, Luise Dustmann-Meyer, der Bassist Dr. Karl
Schmid waren Opernkräfte, deren Namen in der ganzen Bühnenwelt vollen Klang hatten
und hohen Ruhm erwarben. Die Werke Richard Wagners wurden in Prag musterhaft
interpretirt. Der Dichter-Cvmponist bezeichnte selbst die Freuden, welche ihm in Prag
bereitet wurden, als „die einzigen, welche ihm noch Lust zu weiteren Arbeiten erhalten
könnten". Im Schauspiel wurden damals Auguste Rudloff (nachmals Lady Maxse),
Wilhelm Knaack und der nachmalige Meininger Hofschauspieler Weilenbeck entdeckt.
Trotz dieser fruchtbaren Thätigkeit endete mit dem Pachtverträge die Direction Stöger
und nur in stiller Compagnie mit seinem Nachfolger Franz Thome wirkte der greise
Theaterprincipal noch zwei Jahre am Landestheater fort.
Franz Thome war der letzte Director der nngetheilten Prager Bühne; unter ihm
vollzog sich das von national-gesinnten slavischen Männern längst vorbereitete und
geförderte Ereigniß der nationalen Spaltung des Prager Theaters, der Errichtung
eines zweiten, böhmischen oder cechischen Landestheaters. Das alte, idyllisch-gemüthliche,
friedlich-utraquistische Prag, das Vorwalten des deutschen Elements war in der böhmischen
Landeshauptstadt wie auf dem Theater zu Ende — scharfe Gegensätze trennten die beiden
Volksstämme, welche Prag seit Jahrhunderten gemeinsam, vielfach untermischt und ver -
schmolzen bewohnten. Anfangs herrschte Thome noch nach altem Herkommen im alten
Landestheater. Schauspiel und Oper blühten. Hebbel, Gutzkow, Laube, Halm, Freytag,
Meißner, Weilen, Bauernfeld, Benedix und der in Prag vom Polizeibeamten zum Dichter
umgewandelte Julius Rosen belebten die Bühne mit ihren Werken. Heinrich Oberländer
und Edmund Sauer, beide nachmals am Berliner Hoftheater, und Hedwig Raabe (als
Niemann-Raabe eine der genialsten „Naiven" der deutschen Bühne) eröffneten in diesen
Jahren ihre glänzende Bühnen-Carriere in Prag. Die Thome'sche Oper bewies ebenso,
daß das freundliche Geschick Prag noch immer die Entdeckung und Entfaltung der größten
Böhim'il. 12
178
Künstlertalente vergönnte. Am 26. April 1859 debütirte Wilhelm Jahn, der gegen -
wärtige Director des Wiener Hofoperntheaters, in dem von ThomL neu errichteten großen
Holzbau des Neustädter Theaters und begründete hier den Glanz seines künstlerischen
Namens. Sein Weg führte von Prag über Wiesbaden nach Wien, wo er 1881 an die
Spitze der Hofoper trat. Und Wilhelm Jahn selbst begründete in Prag den Ruhm der
kleinen und nachmals so groß gewordenen Pauline Lucca, welche dort am 12. April
1860 als Valentine in den „Hugenotten" Aufsehen machte und sofort als phänomenales
Talent gefeiert wurde. Hier „entdeckte" sie der Berliner Generalintendant von Hülsen, und
ihre Zukunft war gemacht. Am 14. Mai 1860 begann der Tenor Franz Nachbaur als
Nachfolger Eduard Bachmanns seine Laufbahn in Prag, die ihn zu hohem Künstlerruhm
emporheben sollte, zwei Jahre später nahm die Laufbahn des Bassisten Hans Rokitansky
ihren Ausgang von Prag. Das war im alten deutschen Theater.
Am 18. November 1862 öffnete das neuerbaute cechische Landes-Jnterimstheater
am Franzens-Quai seine Pforten, aber noch zwei Jahre blieb die Direction der losgetrennten
cechoslavischen Bühne mit dem Mutterinstitut, dem nunmehrigen deutschen königlichen
Landestheater, vereinigt. Am 24. April 1863 erst beschloß der böhmische Landes -
ausschuß, daß die Directionen des deutschen und des böhmischen (cechischen) Theaters in
Zukunft vollkommen getrennt und daher für jede ein separater Concurs bei einer Jahres -
subvention des Landes von 10.500 Gulden auszuschreiben sei.
Der erste Director des separirten'deutschen Landestheaters, Rudolph Wirsing,
eröffnete am 28. März 1864 mit Goethe's „Faust" das Theater. Er hatte allmälig eine
Künstlerschaar versammelt, wie sie an den ersten deutschen Hoftheatern kaum besser zu
finden war: die Namen Konrad Hallenstein, Heinrich Oberländer, VolkmarKühns,
Edmund Sauer (in Berlin 1892 verschieden), Hassel, als Veteran in Prag gestorben,
Marie Keßler, nachmals ein hervorragendes Mitglied der Berliner Hofbühne, Marie
Frey, Karl Arnau, heute am Burgtheater, die Heroine Anna Versing-Hauptmann,
die Naive Karoline Seitler, Emil und Hermine Claar (Delia), ersterer Oberregisseur,
gegenwärtig Intendant des Frankfurter Stadttheaters, Olga Precheisen (Lewinsky) als
Heroine, Arthur Vollmer, jetzt in Berlin Komiker, Wilhelm Eichenwald (Komiker),
bezeichnten markante Figuren dieser Schauspielgesellschaft, mit welcher das deutsche
Landestheater in Prag in den heißen Wettkampf mit anderen deutschen Bühnen und mit
dem eigenen slavischen Tochterinstitut eintreten konnte, über welches es noch lange eine
unleugbare Superioritüt behauptete. Rudolph Wirsing selbst war ein feinfühliger, vornehm
gebildeter Mann, der in seinem Buche „Das deutsche Theater" seine Stellung zu den
brennenden Theaterfragen theoretisch gekennzeichnet hatte und sie praktisch mit tat -
sächlichen Erfolgen sestzuhalten verstand. Die Pflege des elastischen deutschen und des
Shakespeare'schen Drama's, die geschmackvolle Verwerthung der neueren deutschen und
namentlich der fruchtbaren französischen Production waren unverrückbare Programm -
punkte des künstlerischen Wirkens in dieser Zeit. Gustav Freytag, Otto Ludwig, Mosenthal,
Putlitz, Brachvogel, Gottschall, Paul Lindau, Adolph Wilbrandt, Spielhagen, Paul Heyse,
Albert Lindner, Rudolf Genee, Robert Byr, Schauffert und Wichert, Gustav v. Moser,
Girndt, Kneisel und endlich Anzengruber fanden unter ihm den Weg auf die Prager
Bühne; Dumas, Sardou, Feuillet, Augier und andere Collegen der modern-französischen
Schule, die Halbfranzosen Erckmann-Chatrian, der Norweger Björnsou und Andere
nahmen ihre berechtigte Stellung neben den deutschen Hausdichtern ein. Auf dem
musikalischen Gebiete bildeten sich ähnliche günstige Verhältnisse heraus; ihre Consolidirung
war umso leichter möglich, als die Regierungszeit Wirsings mit zwölf Jahren bemessen
war und daher die volle Ausgestaltung reiflich erwogener und zielbewußt entworfener
Pläne gestattete. In diesen zwölf Jahren wirkten als Operndirigenten Richard Genee,
12*
180
Rappoldi, Ludwig Slansky (dessen Dirigentenstab Jahrzehnte hindurch in Prag gewaltet
hat), Sitt und Johann Skraup; als Sterne erglänzten am Opernhimmel Vincenz Vecko,
ein a.enor von phänomenalem Glanze, der aber bald wieder unterging, die Baritonisten
Robinson und Schebesta, die Primadonnen Kainz-Prause, Adele Loewe und Marie von
Steinitz-Moser (Gattin des Oberst-Brigadiers Eduard Ritter von Steinitz), welche
bis vor wenigen Jahren eine Zierde der Prager Oper, eine Meisterin des Mozart- und
Wagner-Gesangs, die beste Senta der deutschen Bühne war. Bekannt in der deutschen
Bühnenwelt wurden die jugendlichen Sängerinnen Bertha von Dillner-Schütz, Jda
vwger (nachmals Fürstin Sulkowski), Lili Lehmann, die Soubretten Josephine Pagay,
Irma Nittinger und Minna Schenk-Ullmeyer. Und diese günstigen Personalverhältnisse
blieben auch unter dem 1876 von Graz nach Prag übersiedelten Director Eduard
Kreidig, einem geborenen Prager und in Österreich-Ungarn vielerprobten Bühnen -
leiter, aufrecht. Zn den von Wirsing übernommenen Schauspielkräften gesellten sich nun
unter Anderen der Helden- und Charakterspieler Anton Roll, jetzt Oberregisseur des
Frankfurter Stadttheaters, der Meister in der Anzengruber-Darstellung Ludwig
Martinelli, heute Regisseur am Wiener Deutschen Volkstheater, die Heroinen Rosa
Keller-Frauenthal, Marie Swoboda, die Schauspielerinen Adele Wienrich, von
Bünau, Minna Bichler, Dora von Wurzbach-Fiedler, Tochter des Lexikographen
von Wurzbach, Emmy Rigol; in der Oper entfalteten sich glänzend Marie Lehmann,
August Stoll, Fritz Schrödter, nachmals Zierden der Wiener Hofoper. Gleichwohl
hatte sich Eduard Kreibig am 1. September 1879 durch finanzielle Bedrängnisse, welche
auch die Stellung der Bühne empfindlich schädigten, veranlaßt gesehen, die Direction nieder -
zulegen und auf die fernere Dauer seines Vertrages seinem Sohne Edmund Kreibig
als Director-Stellvertreter zu übertragen, und bis 1885 blieb die Leitung des Prager
deutschen Theaters in dessen durch Controlbehörden stark gebundenen Händen.
Edmund Kreibig (gegenwärtig Opernregisseur in Frankfurt am Main) legte das
Schwergewicht auf die Oper, und daß er auf diesem Gebiete tüchtige Kräfte heranzuzichen
wußte, sagen die Namen Marie Renard, Fritz Schrödter, Karl Grengg und Karl
Streitmann; die drei ersteren zählen heute zu den Lieblingen des Wiener Opernpublikums,
«treitmann wurde der Held der Wiener Operette, der erste „Zigeunerbaron" und nachmals
sogar ein gefeierter englisch-amerikanischer Tenor in Nordamerika. Im Schauspiel wurden
Ferdinand Dessoir, einer der besten feinkomischen Väter, Julie Schamberg, die gefeierte
Heroine und Salondame des cechischen Nationaltheaters, Friederike Bognar, ehemals eine
Perle der Wiener Burg, diese allerdings nur als Saisongast, dem Ensemble eingefügt, aber
allerlei ungünstige Umstände erschütterten das deutsche Landestheater derart, daß schon 1884
eine Katastrophe unvermeidlich schien. Die Verhältnisse hatten sich gründlich geändert;
181
schon die nationale Spaltung der Bevölkerung, die Zurückdrängung des deutschen
Elements in Prag hatten dem deutschen Theater jene große Theilnahme des Publikums
geschmälert, welche es einst dem Unternehmer als Goldquelle erscheinen ließ. Die
Spaltung des Theaterwesens hatte das deutsche Institut auf eine wesentlich schwächere
Basis gestellt, aber die gesteigerten künstlerischen Anforderungen unserer vorgeschrittenen
Zeit duldeten keine Einschränkung des künstlerischen Apparats. Nur ein Bühnenleiter mit
starker finanzieller Kraft und künstlerischer Energie konnte in so veränderter Zeit aufrecht
bleiben, und beides war dem emsigen, rastlos thätigen Kreidig versagt. Daher brach im
Sommer 1885, als alle Sanirungsversuche gescheitert waren, seine Direction zusammen,
der bisherige Leiter des Stadttheaters in Bremen, Angelo Neumann, trat mit der
Energie eines Mannes von zielbewußtem Wollen und Können in die Bresche. Neumann
zählt zu den bekanntesten und erprobtesten deutschen Bühnenleitern: er hat als Opernsänger
an der Wiener Hofoper und an anderen hervorragenden Instituten gewirkt, das Leipziger
Stadttheater mit seltenen Erfolgen geleitet und die Werke Richard Wagners durch Europa
bis nach England, Rußland und Spanien getragen. Diese energische, umfassende Thätigkeit
entfaltet er seit 1885 auch in Prag; die deutsche Bühne dieser Stadt wird von keiner
zweiten an Güte und Reichhaltigkeit des Schaffens übertroffen, viele Werke von Bedeutung
haben seither zuerst in Prag das Licht der Lampen erblickt, große Talente sind hier
erkannt und entfaltet worden. Die Prager Oper ist auch nach Berlin gewandert und hat
sich dort Ehre und Ruhm errungen. Das hundertjährige Don Juan-Jubiläum wurde in
dieser Ära reger und künstlerischer Arbeit durch einen glänzenden Mozart-Cyklus
begangen und kein literarisch oder künstlerisch bedeutsamer Moment versäumt, welcher
Gelegenheit zur Bethätigung des Leistungsvermögens bieten konnte. Dieses Können aber
war auf eine mächtige Probe gestellt, seit ein neues deutsches Theater in Prag empor -
gewachsen war, das dem alten Stammtheater die freiere zeitgemäße Entfaltung ermöglichen
sollte. Bis zur Erbauung des imposanten böhmischen (cechischen) Nationaltheaters war
das alte deutsche Landestheater im unangetasteten und ungeschmälerten Besitz der
künstlerischen Herrschaft in Prag. Die Nebentheater, welche allmälig neben ihm entstanden
und wieder verschwunden waren — außer den schon erwähnten waren dies das cechische
Dilettantentheater im (nunmehrigen Redemptoristen-) Kloster zu St. Cajetan auf der
Kleinseite, das Übungstheater zu St. Niklas auf der Altstadt, das Stöger'sche Theater
in der Rosengasse, die Arena im Pstroß'schen Garten, endlich das Neustädter Theater —
schlossen entweder selbst den leisesten Versuch einer Concurrenz mit dem Haupttheater aus
oder standen mit diesem in innigster Berührung. Umso fühlbarer wurde die Schädigung des
deutschen Landestheaters durch das in einem imposanten, mit allem Comfort der Neuzeit
erbauten, von dem Opfermuth einer ganzen Nation getragene cechische Nationaltheater.
182
War die slavische Bühne gewachsen, so war die deutsche geradezu eingeschränkt in ihrer
Thätigkeit, als das baufällige Gebäude des Kotzentheaters nicht mehr für Malersaal
und Magazine zur Verfügung stand und dem Holzbau des Neustädter Theaters der
Untergang drohte. Der von deutscher Seite im böhmischen Landtage eingebrachte Antrag
auf Gewährung von 800.000 Gulden zum Ankauf des Neustädter Theaters und zur
Erbauung eines das alte Landestheater ergänzenden neuen deutschen Theaters scheiterte
an den politischen Verhältnissen; nun aber nahm der im Januar 1883 gebildete
deutsche Theaterverein die Sammlung von Geldmitteln zur Durchführung des jenem
Anträge zu Grunde gelegten Planes in die Hand. Eine Petition um Bewilligung von
500.000 Gulden für die Zwecke dieses Theaterbaues wurde gleichzeitig mit einer von
cechoslavisch er Seite eingebrachten Forderung von 800.000 Gulden für ein neues cechisches
Sommertheater am 8. August 1883 vom böhmischen Landtage abgewiesen, aber die von
Seiner Majestät dem Kaiser mit 10.000 Gulden geförderten Sammlungen für das
deutscheTheaterunternehmen nahmen einen gedeihlichen Aufschwung und am 5. Januar 1888
konnte unter großartigen Festlichkeiten, unter zahlreicher Betheiligung der deutschen und
österreichischen Kunstwelt und des deutsch-böhmischen Volkes das „neue deutsche
Theater", errichtet auf dem Grunde des käuflich erworbenen und demolirten Neustädter
Theaters, eröffnet werden.
Die Hauptfa^ade des zierlichen, durchaus modernen Baues, den die Architekten Fellner
und Hellmer, mustergiltig für moderne Theaterbauten überhaupt, hergestellt haben, ist der
Bredauer Gasse zugekehrt und schließt den Straßenzug, der vom Graben zum Franz Josephs-
Bahnhof läuft, effectvoll ab. Äußerlich gefällig und vornehm, überrascht das Theater im
Innern durch glanzvolle künstlerische Ausstattung. 2000 Personen finden in dem, Deutsch -
lands modernsten Theatern ebenbürtigen Hause Raum. Die Künstlerhand des Malers
Eduard Veith hat das Haus mit prächtigen Gemälden geziert; auch der große Bühnen -
vorhang, „das Gesicht des Dichters", Leidenschaften und Triebe versinubildend, welche das
Menschenleben bewegen und von des Dichters Griffel dargestellt werden, stammt von diesen,
Meister. Für Beleuchtung und Betrieb ist die Elektricität nutzbar gemacht worden. Dieses
zierliche und stattliche neue Heim ermöglicht es dem deutschen Landestheater, gleichen Schritt
zu halten mit der rastlos fortschreitenden Zeit. Während in den Wintermonaten in den beiden
der deutschen Kunst geweihten Musenhäusern abwechselnd oder gleichzeitig gespielt wird —
Werke mit großen scenischen Effecten und voraussichtlich großer Theilnahme des Publikums
sind grundsätzlich in das neue Haus verlegt — bietet dieses Heim auch der Muse einen
luftigen Sommeraufenthalt, den man schmerzlich entbehrte. Das durch sein Schwester -
institut, das aus eigener Volkskraft emporgewachsene neue deutsche Theater unterstützte
deutsche Landestheater kann nicht hoffen, seine einstige mächtige künstlerische Stellung,
184
seinen einstigen materiellen Wohlstand wieder zu gewinnen, aber es wird allezeit eine durch
seine große Vergangenheit, durch herrliche Thaten geheiligte Stätte deutscher Kunst im
böhmischen Lande bleiben.
Das cechoslavische Theater in Prag. Die Geschichte des Prager Theaters
hatte sich, wie wir gesehen haben, bis zum Jahre 1862 vorwiegend mit deutscher Kunst und
Literatur zu befassen, denn das Haupttheater der böhmischen Landeshauptstadt war bis
zu jenem Jahre das alte ständische und gegenwärtige deutsche Landestheater, das Mutter -
institut des von ihm abgezweigten böhmischen (cechischen) National- und Landestheaters.
Schon im XVIII. Jahrhundert jedoch fehlte es nicht an schwachen Versuchen, die dramatische
Kunst auch in der slavischen Landessprache zu pflegen, ihr ein eigenes Heim zu bereiten.
Aber der Charakter der Kunst und Gesellschaft Prags war in den letzten Jahrzehnten des
vorigen und den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts deutsch; gleichwohl brachten
gerade die deutsch sprechenden Mitglieder der Gesellschaft den Bestrebungen jenes kleinen
Literatenkreises, welcher das slavische Idiom auch auf der Bühne zur Geltung zu bringen
suchte, wohlwollende Theilnahme entgegen.
Schon in den letzten Jahren der Brunian'schen Unternehmung im Kvtzenthcater
suchte die sinkende Direction durch die Übersetzung eines von dem Regisseur und
Dramaturgen Karl Krüger verfaßten cinactigen Volksstückes „Herzog Michel" in die
„böhmische Sprache" unter dem Titel Z<niLe Honrik" ihre wankende Popularität zu
retten. Aber das Stück war wahrhaft fürchterlich übersetzt; einige Spaßvögel hatten den
Schauspielern, welche des slavischen Idioms nicht mächtig waren, die bedenklichsten
Extempores einstudirt und unter Hohngelüchter, Pfeifen und Zischen ging die Vorstellung
zu Ende. Regelmäßige Vorstellungen in cechoslavischer Sprache wurden erst im „National -
theater" (dem heutigen deutschen Landestheater) eingeführt, als ein Prager Namens Bulla
(geboren 1754) als Regisseur oder „Director" des Impresario Bondini die deutschen
Schauspiele leitete. Bulla, der Vater der nachmals berühmten Hofschauspielerin Sophie
Koberwein, hatte in sein Personal mehrere geborene Böhmen ausgenommen und führte
mit diesen unter Zuhilfenahme deutscher Kräfte im Winter des Jahres 1785 deutsche
Stücke in cechoslavischer Sprache auf. Die nachweisbar erste cechische Vorstellung datirt
vom 20. Januar 1785 und brachte den „Deserteur aus Kindesliebe" von Stephanie dem
Jüngeren in einer Übersetzung von Karl Bulla, dem Bruder des Directors. Das Häuflein
von Literaten und nationalgesinnten Männern — man nannte sie „vlnstonei" —, denen
die Wiederbelebung und Pflege ihrer Volkssprache am Herzen lag, und die breiteren
Schichten der Bevölkerung, denen die eigentliche Gesellschaftssprache, das Deutsche, nur
wenig geläufig war, unterstützten das Experiment und noch mehrere Übersetzungen
(z. B. das Singspiel „Der Bettelstudent", das Trauerspiel „Stefan Fadinger",
185
der Einacter „Der dankbare Sohn") gingen am Nationaltheater oder im Kleinseitner
Theater in Scene. Im Januar 1786 machte ein von Wenzel Tham der böhmischen
Geschichte entnommenes Originaldrama „Bretislaw und Jutta", „in einer körnigen
böhmischen Rittersprache geschrieben", Aufsehen.
Die vornehmen Kreise belächelten gntmüthig die „böhmische Volksspielerei", aber
diese gewann eine gewisse selbständige Bedeutung, als Bondini seine aus Deutschen und
Lechen zusammengesetzte Schauspielgesellschaft entließ. Vier der „Prager Nationalschau -
spieler", Höppler und Antony aus Prag, Anton Zappe und (Balletmeister) Sewe,
unterbreiteten der Behörde ein Gesuch um ein Privilegium, „die Städte Pilsen, Eger,
Budweis, Königgrätz, Leitmeritz und die Prager Neustadt bereisen und allda sowohl in
Teutsch als böhmischer Sprach Vorstellungen von Stücken, Operetten und Pantomimen
geben zu dürfen". Sie wollten als „Utraquisten" — so ließen sich beider Landessprachen
kundige Bewohner Böhmens nennen — zur Vollkommenheit und Ausbreitung der
böhmischen Sprache etwas beitragen und das, was andere Nationen längst besäßen, ihren
eigenen Landsleuten schassen: ein nationales Theater. Das Gesuch wurde abgewiesen,
aber nachträglich durste die Gesellschaft doch eine mit kaiserlichem Privilegium ansgestattete
Bretterbude auf dem Roßmarkt errichten, welche am 8. Juli 1780 als sogenanntes
„vaterländisches Theater" mit einer streng utraquistischen Vorstellung (deutsches
Lustspiel, cechische Übersetzung eines Jffland'schen Schauspiels und Pantomime) eröffnet
wurde. Das war das erste selbständige Heim des cechoslavischen Theaters in Prag,
das allerdings nur mit gemischtsprachigem Programm betrieben werden konnte. Am
19. September 1786 besuchte Kaiser Joseph II. mit seinen Paladinen London, Laey
und Hadik diese „Bude" und bezahlte mit 30 Ducaten sein Entree. Ein von demWodnaner
Amtskanzellisten Stuna verfaßtes Drama „Der Bauernaufstand", Musik von Träva,
galt als das Glanz- und Zugstück jener Tage. Karl Tham übersetzte Shakespeare's
„Macbeth" und Schillers „Räuber" ins Cechische, und mit großer Befriedigung ver -
zeichnten die deutschen Zeitungen diese redlichen Bemühungen, „der Abnahme der
böhmischen Literatur und Sprache" zu steuern, diese „zweyte Landessprache, die National -
sprache der Böhmen", in welcher bisher so wenig geleistet worden sei, zu heben. Der
Prager Bürger Wenzel Jirik, welcher auch Lessings „Emilia Galotti" übersetzt haben
soll, errichtete sogar ein neues „vaterländisches Theater" vor dem Spittel- (Poricer) L.hme
im Rosenthal mit utraquistischem Repertoire; auf dem Roßmarkt gab man die Original
dramen „Zizka" von Tandler und „Vlasta" von Tham, das Volk strömte der „Bude
zu, wo nach Berichten zeitgenössischer Kritiker ziemlich „elend" gespielt wurde.
Das Rosenthaler Theater ging 1789 zu Grunde, das vaterländische ^.heatec am
Roßmarkt aber fand im Bibliotheksaal des Hibcrner Klosters ein neues, besseres Heim,
186
wo man bereits 1790 unter Leitung eines gewissen Mihnle in beiden Landessprachen
spielte. Die nationalen Dichter schaarten sich um dieses Theater und binnen kurzer Zeit
hatte man bereits gegen 1000 Originalstücke oder Übersetzungen mannigfacher Qualität
fertig. Wenzel Tham allein lieferte 8 eigene Arbeiten und 15 Übersetzungen nach Jffland,
Schröder, Kleist und Moliere. Prokop Sedivy übersetzte Goethe's „Clavigo", Kanzellist
Stuna, Polizeicommissär Heimbacher und Majober (ein gebildeter Literat und vor -
züglicher Schauspieldilettant) waren unermüdlich, und wo die dichterische Phantasie versagte,
stellten zur rechten Zeit sich die Sewe'schen Kinderballette ein. Der deutsch-cechische Komiker
Wenzel Svoboda, Ahnherr der weitverzweigten Schauspielerfamilie Swoboda, sorgte
für den deutschen und slavischen Humor in Prag. Einer Ära der Vereinigung dieses
Theaters mit der Hauptbühne verdankten die cechischen Nachmittagsvorstellungen im
Haupttheater ihre Einführung; später pflegte man die cechische Muse in dem ans die
Kleinseite in das ehemalige Dominicanerkloster und nunmehrige Gendarmeriegebäude
übersetzten vaterländischen Theater, bis 1811 die Vorstellungen in cechischer Sprache
überhaupt eingestellt und nur ans die Normatage beschränkt wurden.
Ein eigener nationaler Patrioten- und Schauspielerverein, dessen Seele der Theater-
secretär und Cassier Johann Nepomuk Step anek (geboren 19. Mai 1783 zu Chrudim,
gestorben 12. Februar 1844 in Prag) war, widmete sich diesen Vorstellungen und
Stepänek mit seiner fruchtbaren Feder war allein im Stande, die ganze dramatische
Literatur für das Normatags-Theater zu schaffen. Er übersetzte zahllose Dramen, Lust -
spiele, Possen und Operntexte ans dem Deutschen und Italienischen; von seinen eigenen
Werken wurde am populärsten das Lustspiel ,Oeoll a Mmoe" (Der Ceche und der
Deutsche), eiue liebenswürdige Darstellung des alten gemüthlichen Nebeneinanderlebens
der beiden Volksstämme in Böhmen. Als dieser rastlose Mann, die Verkörperung des
alten, guten „Utraquismus" in Böhmen, 1824 als Mitdirector des ständischen Theaters
eine leitende Persönlichkeit wurde, brachte er einen neuen Schwung in die mittlerweile
gänzlich eingestellten cechischen Vorstellungen, nicht weniger als 34 Opern und Sing -
spiele, 89 Trauer-, Schau- und Lustspiele, zusammen 123 Stücke von 22 Autoren nebst
1>i Quodlibets, gingen in den Sonn- und Feiertags-Nachmittagsvorstellungen der
Jahre 1824 bis 1834 in Scene. Die Oper war geradezu glänzend vertreten, da aus -
gezeichnete Kräfte der deutschen Oper, selbst wenn sie nicht slavischer Nationalität waren,
in den Nachmittagsvorstellungen mitwirkten, sei es auch nur, um ihrem Director zu
gefallen. Die Primadonna Comet-Podhorskä war eine würdige Rivalin der Lutzer.
Noch bessere Zeiten schienen der cechoslavischen Bühne zu blühen, als 1842 das
von Director Stöger anfänglich als Redoutengebäude gedachte „Theater in der
Rosengasse" eröffnet wurde, mit der ausgesprochenen Bestimmung, der bisher auf die
187
Nachmittagsstunden beschränkten cechischen Bühne und der deutschen Posse ein gemeinsames
Heim zu bieten. Am St. Wenzelstage 1842 weihte das cechische Originallustspiel „Der
Maler Skreta" von Professor W. A. Swoboda mit dem talentvollen Schauspieler Josef
Georg Kolär (dem heutigen Nestor des cechischen Schauspiels) in der Titelrolle das von
den Freunden der cechischen Literatur mit sanguinischen Hoffnungen begrüßte Theater ein.
I. G. Kolär (geboren 9. Februar 1812 zu Prag) war als Schauspieler und Dichter von
grundlegender Bedeutung für die cechische Nation. Seiner rastlosen und eleganten Feder
Cajetan Tyl.
dankte die Bühne derselben den eigentlichen vollwerthigen Grnndstamm ihres Repertoires,
er übersetzte die Meisterwerke Shakespeare's, Goethe's, Schillers, aber auch jüngerer
deutscher Autoren in ein classisches Cechisch, war ihr bester schauspielerischer Interpret in
seiner eigenen Muttersprache und ein tüchtiger Schauspieler in deutscher Sprache. Seine
Originaldramen (wie „Magellvna", „Zizka's Tod"), sowie die Werke seines doppelten
Collegen Josef Cajetan Tyl (geboren 9. Februar 1808 in Kuttcnberg), welche eine Summe
von Bänden füllten, brachten einen höheren literarischen Schwung in die dramatische
Production, veredelten Sprache und Geschmack des Publikums und die cechoslavische
Bühne. Es war ein kurzer Wonnetraum, den diese Bühne im Rosengasse-Theater erlebte;
188
bald minderte sich die Zahl der Besucher, die treuesten Freunde wurden ungeduldig, weil
die deutsche Bühnenleitung ihre Ideale zu langsam verwirklichte und namentlich der
Erziehung gediegener Kräfte für das nationale Schauspiel so wenig Aufmerksamkeit
zuwendete. Der Bühnenleiter seinerseits zog, verbittert durch solche Umstände, seine Hand
ganz von dem national-cechischen Unternehmen ab, das sich „durchaus unerfreulich und
schadeubriugend" gestaltet habe. Der einzelnen Individuen innewohnende Eifer sei den
Massen fremdgeblieben, deßhalb opfere er sich nicht länger jenen sprachlichen Tendenzen
und beschränke sich wieder auf cechische Nachmittagsvorstellungen.
Der rege Wandel des Glücks, den die cechische Bühne in der Rosengasse erfahren,
schien zwar den lebendigen Beweis für die Unhaltbarkeit eines cechoslavischen Theaters
in Prag überhaupt erbracht zu haben, aber die Männer, welche dafür strebten und stritten,
blreben von der Zukunft ihrer Idee überzeugt und säumten nicht, nach neuen Mitteln zu
ihrer Realisirung zu suchen. Im Jahre 1845 richtete ein Consortium cechisch-nationaler
Bürger Prags, vor Allen Palacky, Rieger, Trojan, Dr. Fric, Strobach, eine Eingabe an
die Stände Böhmens, worin sie um die Überlassung eines der vacanten ständischen Theater -
privilegien zur Errichtung einer selbständigen cechischen Bühne ansuchten. Aber das
Project begegnete mannigfachen Schwierigkeiten und scheiterte endlich ganz. Wohl schien
die Volksbewegung im Sturmjahre 1848 auch die nationale Theaterfrage wieder anfzu-
regen. Lebhafter denn je empfand man die „Schmach", die cechische Muse auf die Nach-
nnttagsstnnden des Landestheaters verbannt zu sehen, und freier äußerte man die
Forderungen nach einem vom deutschen Musterinstitute loszulösenden selbständigen
slavischen Nationaltheater. 1849 schien auch die wenige Jahre vorher als Utopie belächelte
Idee der Realisirung nahe. Director Hoffmann stellte seine im Pstroß'schen Garten neu -
erbaute Arena für ein Repertoire zur Verfügung, das zu zwei Dritteln cechisch und nur
zu einem Drittel deutsch war; im Winter wurde den cechischen Schauspielen oder Opern
auch ein Wochentags-Abend eingeräumt. Trojan wurde der erste Intendant dieser derart
gehobenen cechischen „Bühne" und — 1851 war auch diese kurze Periode des Aufschwungs
wieder zu Ende. Der schwache Besuch der Vorstellungen in der zweiten (slavischen) Landes -
sprache schreckte den Bühnenleiter ab, die Arena nahm einen vorwiegend deutschen
Charakter an, und die Nachmittage der Sonn- und Feiertage wurden abermals die einzige
Zuflucht des cechischen Theaters.
Trotz alledem war die Zeit des Umschwungs in diesen wie in allen anderen Ver -
hältnissen Böhmens nicht mehr fern. Mit immer stärkeren Schritten kamen die Vorkämpfer
des cechoslamschen Volksstamms in Böhmen vorwärts; die Deutschen verloren immer
sichtbarer das seit nahezu zwei Jahrhunderten behauptete Terrain, mächtig schwellten die
slavischen Minoritäten an, von der deutschen Gesellschaft Prags bröckelten immer deutlicher
189
wesentliche Elemente ab. Noch in den Fünfziger-Jahren ließ das schon vorerwähnte
Consortium zur Realisirung einer cechischen Volksbühne, das zu dem Auskunftsmittel einer
Sammlung gelangt war, seine Aufrufe zu einem großen Theile in deutscher Sprache
drucken, und kaum 7000 fl. waren das Ergebniß dreijährigen Sammelns. Noch 1857
bezeichnet? der böhmische Landesausschuß das Gesuch einer Gruppe cechisch-nationaler
Bürger um regere Pflege der Vorstellungen in ihrer Sprache als dem Charakter des
gründungsgemäß deutschen Prager Theaters widersprechend, die Pflege „dualistischer
Tendenzen in Wort und Schrift auf Einem Theater" unmöglich, aber diese Gesuche
wiederholten sich und wurden immer dringender, je stärker das slavische Element im Lande
wurde. Eine Zeitlang plante man die Gründung eines großen Theaters für deutsche und
cechische Opern neben dem deutschen Haupttheater als Schauspielhaus, dann die Gründung
eines provisorischen, aber selbständigen cechischen Landestheaters, dem die Erbauung eines
würdigen großen Nationaltheaters folgen sollte. Das Jnterimstheater am Quai wurde
denn auch, vorläufig noch in Personal-Union, unter derselben Direction mit dem deutschen
Landestheater verbunden, aber sonst als gleichberechtigtes, unter Landescontrole und einem
eigenen Intendanten geführtes Landesinstitut am 18. November 1862 eröffnet. Es
wurde die Erziehungsanstalt für seinen mächtigen Nachfolger. Die bisher dem deutschen
Theater angehörigen cechischen Schauspiel- und Opernkräfte, denen die Übung ihrer Kunst
in der Muttersprache bisher nur Nebenbeschäftigung gewesen war, bildeten den Stamm
für die neue selbständige Gesellschaft, welcher bald vorzügliche Talente entsprossen. Für
die Oper sorgte der musikalische Sinn und die musikalische Tüchtigkeit des Volkes selbst.
Am 28. März 1864 trat der erste selbständige Director der cechischen Bühne, der
Deutsche Liegert sein Amt an, und während das junge Institut unter mancherlei
Schwierigkeiten emporwuchs, waren unermüdliche nationale Vorkämpfer, wie Franz
Palacky, Karl Fürst Schwarzenberg, Ferdinand Urbänek, Karl Sladkovskh
und Andere für die Schaffung des großen Nationaltheaters thätig.
Die Grundsteinlegung zu diesen: Bau, der sich am Eck der Ferdinandstraße und
des Quai erheben sollte, ging am 16. Mai 1868 unter außerordentlichen Festlichkeiten
vor sich, aber erst 13 Jahre später stand das Haus zur Aufnahme der nationalen Muse
bereit. 1,800.000 fl. hatte es gekostet, der größte Theil dieser gewaltigen Summe
war von dem Volksstamm selbst in umfassenden Sammlungen aufgebracht worden. Am
1. Januar 1881 übernahm das „Consortium des Nationaltheaters" unter dem Präsidium
des damaligen Prager Bürgermeisters Emilian Ritter v. Skramlik die Leitung des
Theaters, am 12. Juni desselben Jahres weihte eine Festvorstellung zu Ehren des nach
Prag übersiedelten durchlauchtigsten Kronprinzenpaares das vom Architekten Professor
Joseph Zitek künstlerisch vornehm geschaffene monumentale Heim der cechischnationalen
190
Kunst ein. Man gab die Nationaloper „Libusa" von dem Altmeister der cechischen Musik,
Friedrich Smetana, welcher — obwohl ein tauber Mann — diesen Triumph seines
Werkes noch im Hause selbst erlebte. Noch elf Vorstellungen fanden in dem provisorisch
eröffneten Nationaltheater statt, dann schlossen sich wieder seine Pforten, um den Arbeitern
Zeit zur gänzlichen Vollendung des Innern zu bieten. Und in dieser Zeit der Vorbereitung
zerstörte ein verheerender Brand am 12. August 1881 das stolze Gebäude, die Freude
eines Volkes, die Erfüllung vieljähriger Hoffnung.
Aufs neue galt es zu ringen, zu streben, zu sammeln und wieder aufzubanen, was
zu Grunde gegangen war. Binnen wenigen Wochen war mit freiwilligen Beiträgen die
Summe von einer Million erreicht; das Allerhöchste Kaiserhaus und das Land, auch
Angehörige des deutsch-böhmischen Volksstammes steuerten bei, und bald erhob sich, nach
neuen Plänen des Professors I. Schulz, das noch erweiterte Haus, in welchem auch das
Jnterimstheater aufging. Die Eisenconstruction der Bühne und die elektrische Installation
kennzeichneten das Theater als eines der modernsten Theatergebäude Europa's. Am
25. März 1883 trat der vom Consortium zum artistischen Leiter erwählte Schriftsteller
und vielbewährte Theaterfachmann F. A. Subert sein bedeutungsvolles Amt an,
diesem Manne dankt das junge Institut mehr als ein Decennium des künstlerischen
Aufschwungs, der Blüte und Entfaltung. Mit Beihilfe des Landes wurde die Aus -
stattung des Hauses mit Decorationen und Costümen vervollkommnet, das Künstler -
personal aller Zweige zu einem imposanten Körper verstärkt. So trat das neue Theater,
noch verschönt, noch stattlicher, am 18. November 1883 ins volle Leben. Die ersten Künstler
der Nation, die Bildhauer Myslbek, Schnirch und Wagner, die Maler Brozlk, Hynais,
Liebscher, Zenisek, Ales, Tulka und Andere hatten mitgewirkt, dem Gebäude kostbaren
künstlerischen Schmuck zu geben; die kaiserlichen Appartements der Hofloge übertrafen an
Prunk und Pracht alles bisher Dagewesene. Die Summe von 1,500.000 fl. hatte der
Wiederaufbau in Anspruch genommen, 3,300.000 fl. aber waren — das abgebrannte Haus
mit berücksichtigt — der Verwirklichung einer Idee geopfert worden, welche noch dreißig
Jahre vorher als Utopie betrachtet worden war. An dem Eröffnungstage fand mittags
eine Festakademie, abends Festoper („Libusa") statt. Der ganze cechoslavische Volksstamm
nahm Theil an der Festesfreude; die von Director Subert angeregten Theaterzüge brachten
nachgerade das ganze Volk nach Prag und der Huldigungen für die nationale Muse in
ihrem so reichen und glänzenden Tempel war kein Ende. Am 25. November begrüßte
das jubelnde Volk Ihre kaiserlichen und königlichen Hoheiten den Kronprinzen Erzherzog
Rudolf und die Kronprinzessin Erzherzogin Stephanie in diesem Hause.
Groß waren die Anforderungen an die künstlerische Leistnngskraft des Volks -
stammes, um das glanzvolle Hans auch mit würdigen Productionen zu beleben, aber die
191
allgemeine Volkstheilnahme ermöglichte deren Erfüllung. Die Damen Sklenar-Maly,
Bittner und Pospisil, die Herren Kolär, Seifert, Frankovsky, Simanovsky,
Mosna, Bittner, Smaha und Andere repräsentirten die Blüte des Schauspiels, die
Sängerinnen Ehrenberg, Reich, Sitt, Kalous, die Sänger Vavra, Lev, Raverta
die Blüte der Oper. Und diese Lage der nationalen Schauspielkunst wirkte auch hebend
und belebend auf die dramatische Production. Eine lange Reihe starker Talente erwuchs der
dramatischen Literatur auf dem fruchtbaren Boden. An anderer Stelle dieses Werkes finden
wir jene schaffensfrohen Männer verzeichnet, welche ihrem Volke seit den Tagen der
beginnenden national-literarischen Bewegung eine Bühnenliteratur gegeben haben; einzelne
von ihnen haben sich auch einen Platz in der Weltliteratur errungen.
Auf dem Gebiete der Oper muß ein solcher Platz vor Allen Smetana und Dvorak
zugesprochen werden. Die mit dem Volkscharakter innig verwobene Musik Smetana's,
dessen Meisterwerk „Die verkaufte Braut" im Wiener Ausstellungstheater ihren längst -
verdienten internationalen Rang erobert hat, brach der modernen cechischen Oper Bahn;
Dvoraks Ruf ist verhältnißmäßig rascher in die große Welt gedrungen. Außer der in solcher
Weise erblühten eigenen Literatur fanden die besten der fremden Literaturen in würdigen
Übersetzungen Aufnahme an der cechischen Bühne; in musikalischer Hinsicht durfte sie sich
an die schwierigsten Werke der modernen Oper wagen, deutsche Meister sind reich und
gediegen im Spielplane vertreten, welchen berühmte Gäste fremder Nationen beleben.
Auf den Schienenwegen des Landes strömt die Bevölkerung cechischer Nationalität
massenhaft der Metropole zu, welche durch diesen innigen Zusammenhang mit dem ganzen
Volke auch eine breitere, festere materielle Grundlage gewinnt, als sie Prag allein einem
kostspieligen modernen Theaterunternehmen bieten kann. Am 23. October 1886 erinnerte
man sich pietätvoll der ersten cechischen Vorstellungen in Prag. Wie bescheiden waren sie,
mit welch mächtigem Apparat arbeitet man heute! Das Nationaltheater hatte seit seiner
Eröffnung gegen 400 Personen im festen Engagement, darunter 33 Solisten des Schau -
spiels, 21 der Oper, 64 Orchestermitglieder unter 3 Kapellmeistern, 70 Chor-, 51 Ballet -
mitglieder. Die Damen Parsch-Zikesch, Petzold-Sitt, Foerster-Lauterer, Klän-Panzner,
Vesely, Kavalar, die Herren Florjansky, Hynek, Hesch, Vesely, Benoni, Konrad zählten zu
den Besten des Opern-Ensembles, welches, ebenso wie Chor und Orchester vor dem
internationalen Wiener Ausstellungspnblikum seine Feuerprobe glänzend bestanden hat.
lind trotz seines großen Apparats bedarf das Nationaltheater jährlich nur 420.000 fl.
zur Bestreitung aller Regiekosten. Man spielt täglich, an Sonn- und Feiertagen, oft auch
an Wochentagen zweimal.
So arbeitet das junge Theater mit Riesenkräften an seiner Vervollkommnung: es ist
ein beredter Zeuge der überraschenden, gewaltigen Entwicklung des ganzen Volksstamm»,
192
dem es Centrum des künstlerischen Lebens, ein beständiger Ansporn zu regem literarischem
und künstlerischem Schaffen ist. Schon zählt Böhmen über 30 provinzielle Theatergesell -
schaften, welche sich gern an dem großen Haupttheater spiegeln, und der Stand der
dramatischen Literatur entspricht dem blühenden Charakter dieser Bühne. Von dem
Consvrtium administrirt, von einem vornehm denkenden, umsichtig und kenntnißreich
waltenden Director geleitet, von dem Landesausschuß subventionirt und in gewisser
Hinsicht controlirt, hat es seine Aufgabe bisher redlich erfüllt; es entspricht dem Ideal,
das einem rastlosen, zielbewußt vorwärts schreitenden Volke vorgeschwebt hat, und zwingt
zur Bewunderung unermüdlicher Arbeit. Prag ist auf diese Weise wieder eine Theaterstadt
von ungewöhnlicher Bedeutung geworden; auf dem künstlerischen Boden ist ein edler
Wettstreit zweier Nationalitäten entbrannt; schwer und heldenmüthig ringt die deutsche
Bühne unter ungünstigen Verhältnissen mit ihrer vom Glück getragenen slavischen
Tochter. — Aber dieser Kampf bleibt nicht ohne erfreuliche und erhebende Momente
harmonischer Verständigung. Nichts ist denn auch natürlicher als die innige Harmonie
zweier Bühnen mit gemeinsamer großer Vergangenheit, nichts natürlicher als die Pflege
verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen der mächtig entwickelten slavischen Tochter und
der ehrwürdigen deutschen Mutter in der Theaterstadt Prag.
Romanische Architektur,
as denkwürdige Jahr 874, in welchem der heilige Method zu Velehrad
den Herzog Borivoj taufte, ist zugleich das Geburtsjahr der Architektur
Böhmens, deren Geschichte das erste Jahrtausend bereits überschritten
hat. Die heidnischen Götter flohen vor den goldenen Sonnenstrahlen
des Evangeliums aus den dunklen Hainen, in denen sie wohnten, und
der neugetaufte Christ baute seinem Heiland einen Steintempel. Das Gotteshaus ist die
Wiege der monumentalen Baukunst. Die Kirche, die Trägerin alter Cultur, hat für ihre
monnmentalen Schöpfungen ihren eigenen Stil erfunden. Die romanische Baukunst, die mit
der Annahme des Christenthums wie überall, so auch in Böhmen ihren Einzug hielt, ist
ein Kind der katholischen Kirche. Die alten romanischen Kirchen Böhmens sind demnach die
an der Heerstraße der Civilisation stehenden Marksteine, sie sind monumentale Geschichts -
urkunden, welche Herrscher und Große des Landes, Prager Bischöfe und ihre Geistlichkeit,
Klöster und Äbte, Pfarrgemeinden und edle Männer und Frauen in ihrer religiösen
Begeisterung geschrieben haben. Wenn auch die kargen Geschichtsquellen verhältnißmäßig
nur wenige derselben namentlich anführen, bilden diese verbürgten historischen Berichte
über datirte Kirchen dennoch feste Contouren des Rahmens, in welchen die weit über -
wiegende Zahl der nicht datirten Denkmale dem Gesetz der architektonischen Verwandtschaft
Böhme,,. ^
194
gemäß mit voller Sicherheit eingereiht werden kann. Wie jeder Baustil hat auch die
romanische Baukunst ihre einfach strenge Frühepoche, welche in Böhmen mit dem
XI. Jahrhundert schließt, und ihre Blütezeit, welche die ersten drei Viertel des
X II. Jahrhunderts umfaßt. Vor dem Verfall dagegen ist die romanische Baukunst verschont
geblieben durch das Erscheinen eines neuen Stils, dessen theilweise Verwendung und
Vermischung mit dem bestehenden Bausystem in Böhmen den sogenannten Übergangsstil
ins Leben rief.
Der Vater der böhmischen Geschichtsforschung, Cosmas (geboren 1045, gestorben
den 21. October 1125), war daran, einen Bericht über die ältesten Kirchengründungen in
seine Chronik aufzunehmen; da aber schon andere Schriften hierüber ausreichende Auskunft
gaben, als das „Privilegium der mährischen Kirche", der sogenannte Epilog der Länder
Mähren und Böhmen, und das Leben des heiligen Venceslav, so begnügte er sich auf diese
Quellen hinzuweisen. Von diesen Quellen ist nur die erste unbekannt, während die zweite
und dritte in böhmischer Übersetzung aus dem XIV. Jahrhundert als „Leben der Heiligen
Cyrillus, Methodius und der heiligen Ludmila" und als „Leben des heiligen Venceslav"
vorliegen. Auch die Dalemil'sche Chronik aus dem zweiten Decennium des XIV. Jahr -
hunderts hat diese Quellen gekannt und bezeichnet als die ersten, von Borivoj gegründeten
Kirchen jene des heiligen Clemens auf der nicht weit von Prag am linken Moldau-Ufer
gelegenen kleinen Burg Levy Hradec und die der Muttergottes auf der Prager Burg.
St. Clemenskirchen gab es in Böhmen seit altersher mehrere: auf der Burg Leitomischl,
auf der Burg Hradec (Königgrätz), in Dobrenitz, Sadska, auf der Burg Vysehrad, unter -
halb der Burg Prag am sogenannten Opys, in der Burg Alt-Bunzlau, in Mirovitz,
ans der Burg Prachen und in fünf Dörfern nordwärts von Prag.
Das erste Gotteshaus Böhmens ist sonach die St. Clemenskirche in Levy Hradec.
Dem Beispiel des Vaters folgte sein Sohn Spytihnev, der auf der Burg Budec eine dem
heiligen Petrus geweihte Kirche errichtete. Von dem heiligen Wenzel erzählt die altslavische
Legende, er habe Kirchen in allen Burgen erbaut; namentlich sind aber nur zwei angeführt,
die Kirche der Heiligen Cosmas und Damian auf der Burg Boleslav (Alt-Bunzlau) und
die St. Veitskirche auf der Prager Burg. Die Burg Libitz, der Geburtsort des heiligen
Adalbert, zählte zwei Kirchen, eine Marien- und eine dem heiligen Georg geweihte Kirche.
Als Bischof consecrirte Adalbert die St. Johanneskirche auf der Burg Vysehrad.
Im Jahre 1004 wird die Kirche auf der Burg Saaz (Zatec) erwähnt. — Außer den
genannten Burgkirchen werden in den Geschichtsquellen einige Gotteshäuser besonders
als Votivkirchen angeführt. So gründeten die Herzoge Jaromir (1004 bis 1012) und
Udalrich (Oldrich 1012 bis 1033) ans Dankbarkeit für ihre Errettung aus Lebensgefahr
zwei dem heiligen Johannes dem Täufer geweihte Kirchen, jener auf dem Berge Veliz,
195
15»
dieser auf seiner Burg Oldrts, und Bretislav I. erbaute zum Dank für den über
Heinrich III. im Jahre 1040 errungenen Sieg gleichfalls eine Votivkirche, als welche die
St. Wenzelskirche bei Brvdek im Böhmerwald gilt. — Endlich werden neben Burg -
und Votivkirchen seit der
ältesten Zeit auch Land -
kirchen genannt. In einer
Schenkungsurkunde des
Brevnover Klosters aus
dem Jahre 993 werden
die Kirchen „na Vrarwm"
und in Chcebuz, sodann
Liboe, wo die Mönche
frühzeitig einedenHeiligcn
Fabian und Sebastian
geweihte Kirche erbauten,
Porte! und Rybnik bei
Prag angeführt, wo eben -
falls uralte Kirchen be -
standen. Der aus Rom
zurückkehrende heilige
Bischof Adalbert erbaute
nächst Pilsen eine Kirche,
welche er Kostelec be -
nannte und den zwölf
aus Rom mitgebrachten
Benediktinermönchen zur
zeitweiligen Benützung
anwies. Der Geschichts -
schreiber Cosmas hat in
dem „Privilegium der
Hradschtner St. Georgskirche" ausgezeichnet gefunden, daß Herzog Boleslav II. (967 bis
999) 20 Kirchen errichtet und mit allem Nothwendigen ausgestattet habe. Desgleichen hat
der Burggraf Mstts in der Biliner Vorbnrg eine dem heiligen Petrus gewidmete
Kirche aufgeführt, welche in Gegenwart des Herzogs Vratislav II. Bischof Severns im
Die Rotunde in der Postgasse zu Prag.
Jahre 1061 conseerirte, wie auch Bischof Jarvmtr die durch ihn auf seinem Landgnte
Zereineves erbaute Kirche im Jahre 1070 weihte.
196
Alle eben angeführten Gotteshäuser sind, soweit sie heute noch existiren, ein -
schiffig, der architektonischen Anlage nach auf mannigfaltige Art construirt, theils als
Rundbaue, theils als rechteckige Gebäude, welche entweder mit einer halbrunden
Apsis oder mit einem gleichfalls rechteckigen, bisweilen auch mit einem polygonalen
Chor schließen.
Die böhmische Architektur hat ihre tausendjährige Pilgerfahrt mit einem charakte -
ristischen, selbständig construirten Bauwerke angetreten. Die am Schluß des IX. und im
Beginn des X. Jahrhunderts durch die ersten christlichen Prcmyslidenfürsten auf ihren
Burgen Levy Hradec, Budec, Prag und Vysehrad erbauten Kirchen sind typische Muster
der ältesten Bandenkmale Böhmens geworden. Wie beliebt und zahlreich dieselben waren,
beweisen die bisher erhaltenen Rundbauten in Budec, Prag, Vysehrad, Hradeschin,
Rlp, Kopanina, Liboun, Teinitz, Pilsenec, Kostelec u Krizkü, Karlik, Praoonin, Triiban,
Holnbitz und Zelkovitz. Der Grundriß dieser Kirchen besteht aus einem kreisrunden
Schiff, an welches sich eine halbrunde Apsis anschließt; das elftere ist mit einer ganzen,
die letztere mit einer halben Kuppel überwölbt. Bei sonst geringen Dimensionen —
der Durchmesser der kleinsten Rotunde beträgt fünf, jener der größten nenn Meter —
bietet der Jnnenraum des bedeutend hohen Schiffes mit dem daranstoßenden niedrigeren
und triumphbogenartig sich erweiternden Altarraum einen überraschend günstigen,
eines Gotteshauses durchaus würdigen Gesammteindruck. Als Erweiterung hat man
an die Westseite des Schiffes bei der Rlper Kirche einen runden, in Liboun, Kopanina
und Pravonin, etwas später auch in Budec einen viereckigen Thurm vorgelegt. Sieben
von den angeführten Rundbauten haben außerdem noch eine schlanke, durch eine Reihe
von Doppelfenstern anmuthig belebte Laterne, welche das Dach der Rotunde überragt,
wodurch auch der äußere Anblick an Zierlichkeit gewinnt. Die halbrunde, durch kleine
Fenster belebte Apsis, das höher aufsteigende Schiff und der beide überragende Thurm
gewähren in ihrer schönen Gruppirung ein freundlich anmuthiges Bild, das durch
die solide Bauart noch bedeutend gesteigert wird. Das über 1 Meter mächtige Mauer -
werk ist aus schichtenförmig übereinander gelagertem, mit Hammer und Meißel gut
bearbeitetem Plänergestein errichtet, ohne architektonische Gliederung, welche blos in
zwei Fällen zur Geltung gelangt. Gleich an der Schwelle der Kunstgeschichte kam
demnach der Volksgeist der böhmischen Nation an einem ebenso originellen als schönen
Kunstwerke zum Ausdruck, und zwar in einer Mannigfaltigkeit, die nicht blos diese,
sondern auch alle nachfolgenden Entwicklungsstufen des romanischen Stils in Böhmen
charakterisirt.
Wenn auch die Pietät für die durch die Herrscher Böhmens erbauten Rundkirchen
zur Verbreitung derselben im ganzen Lande nicht wenig beigetragen hat, blieb diese
197
typische Bauform doch nicht ausschließliches Vorbild der Kirchenanlagen. Es entstand
vielmehr neben derselben gleichzeitig eine andere, in doppelter Art gelöste normal -
mäßige Bauform für Landkirchcn. An ein rechteckiges Schiff schloß sich nämlich
Die Kirche im Dorfe St. Jakob bei Kuttenberg.
gegen Osten der Altarraum entweder in der Form einer halbrunden Apsis oder
eines quadratischen Chores an. Beide Bauarten sind gleich stark vertreten und läßt
sich ihre Entwicklung genau verfolgen.
Klein und einfach, wie überhaupt die Verhältnisse der ersten Christen Böhmens,
waren auch diese Kirchen, von denen einige, z. B. in Dobrichov, Vysoka und Cäslan,
198
nunmehr als Sacristeien geräumigerer, später errichteter Gotteshäuser dienen. Dieselben
bilden ein Rechteck von kaum fünf Meter Länge und drei Meter Breite, an welches
sich eine halbrunde Apsis anschließt, sind gewölbt und bilden die erste Stufe einer
neuen Baugruppe, welche mit dem Wachsthum des Christenthums an Räumlichkeit
znnahm, wie z. B. die Kirchen in Butovitz, Hostivar, Chabry, Bnnzlau und andere
deutlich zeigen, wobei das geräumigere Schiff nicht mehr gewölbt, sondern mit einem
Holzplafond überdeckt wurde. Durch Hinzufügung eines Westthurmes war die in der
katholischen Kirche traditionelle Dreitheilung in eine gewölbte Vorhalle mit der darüber
angebrachten Einpore, das flachgedeckte Schiff und die halbkuppelartig gewölbte niedrigere
Apsis und dadurch der normalmäßige Typus einer böhmischen Landkirche vollendet,
wie es an den Kirchen zu Malln, Repy, Budetitz, Tozitz, Skvrnov, Neustupov,
Poritsch, Hoch-Aujezd und einer bedeutenden Zahl von ähnlich disponirten, über
das ganze Land zerstreuten Kirchen verfolgt werden kann. Die äußerst glücklichen
Verhältnisse des breiten und hohen Schiffes und der anmuthig angefügten kleineren
Apsis wurden trotz der einfachsten architektonischen Gliederung wesentlich gehoben theils
durch die Farbenpracht des die gesammten Wände bedeckenden Bildercyklus, theils
durch die reiche Ausstattung des zwar kleinen, aber kostbar nüt Silber, Email und
Krystall geschmückten Altars, welcher in dem für ihn geschaffenen halbrunden Altar -
raum eine würdige Stätte fand. — Dem weihevoll ernsten Jnnenraum entsprach ein
ebenbürtig schönes Anßenbild durch die stufenartig aufsteigende Gradation der aus dem
Gebäude schwungvoll hervortretenden Apsis, des höheren, mit einem steilen Dach versehenen
Schiffes und des beide Theile hoch überragenden Thnrmes. Die Kirchenwände entbehren
in dieser Epoche meist jeglichen architektonischen Schmuckes, mit Ausnahme der Apsis,
welche gegen Ende dieses Zeitraums durch Lisenen nebst einfachem Rundbogenfries
geziert erscheint. Dagegen blickt der Thurm mit seinen ringsum häufig in zwei bis drei
Stockwerken durch Säulchen getrennten Doppelfenstern zierlich auf den Pfarrort herab.
Die strenge Einhaltung der Baunorm hat aber die Phantasie der Baumeister nicht lahm -
gelegt, sondern zu immer neuen Combinationen angespornt, so daß bei der großen Anzahl
der bis jetzt erhaltenen Kirchen dieser Gattung doch jede von ihnen ihre eigene Individualität
erhielt. Diese mannigfaltige Behandlung des einheitlichen Grundgedankens stempelt die
böhmischen Baumeister zu echten Künstlern, die auch mit geringen Mitteln Kunstwerke zu
schaffen verstanden.
Der eben beschriebenen Baugruppe steht als Seitenstück eine andere gegenüber,
welche sich von der ersteren nur dadurch unterscheidet, daß an Stelle der halbrunden Apsis
ein quadratischer, mit einem Kreuzgewölbe überspannter Chor trat, dessen Ausführung
ohne Beeinträchtigung des Innen- und Außenorganismus leichter durchführbar und mit
199
geringeren Mitteln erreichbar war. Diese vereinfachte Vauform fand naturgemäß eine große
Verbreitung, umsomehr als die von der heiligen Ludmila auf der Burg Tetin errichtete
St. Katharinenkirche als Urtypus galt. Kirchen dieser Abart theils mit, theils ohne Thurm,
z. B. Bubna, Podol, Brezt, Trhovä Zahrädka und viele andere, theils mit
demselben z. B. Krten, Hovorovitz, Kositz, Kunitz und andere sind sehr zahlreich
über das ganze Land vertheilt.
Die frühromanische Architektur begnügte sich aber auch mit diesen beiden normal-
mäßigen Stilarten nicht, sondern führte außer der Apsis und dem quadratischen Altarraumc
noch den polygonalen Chor ein, welchen unter anderen die Kirchen in Brüdek, Psäre,
Chrenovitz und Svärov zeigen.
Neben den in so reicher Mannigfaltigkeit gestalteten einschiffigen Burg- und Land -
kirchen erscheint aber gleich an der Schwelle der böhmischen Kunstgeschichte auch die
dreischiffige Basiliea als ein Herold der Architektur im großen Stil. Der Vater des
heiligen Wenzel, Herzog Vratislav, gründete nämlich gleich im Beginn des X. Jahr -
hunderts, um das Jahr913, auf der Prager Burg ein dem heiligen Georg geweihtes
Gotteshaus, welches als eine der Hauptkirchen des Landes in den böhmischen Geschichts -
quellen ausdrücklich Basiliea genannt wird. In der zweiten Hälfte desselben Jahrhunderts
errichtete Boleslav II. im Jahre 970 in unmittelbarer Nähe Prags eine zweite, klein
angelegte Basiliea, die St. Wenzelskirche in Pro stk.
Seit der Taufe Borivvjs sind demnach kaum hundert Jahre verflossen, und daS
Land war schon vor der Errichtung des Bischofsstuhls von Prag mit Gottes -
häusern übersäet. Die zahlreichen Kirchen sind die Siegeszeichen des Christenthnms über
das Heidenthum, monumentale Denkmale des Glaubenseifers, womit das böhmische
Volk das durch die Schüler der Slavenapostel in der Muttersprache verkündete Evan -
gelium annahm. Bei dieser großen Verbreitung des christlichen Glaubens bedurfte die
neue Herde dringend eines eigenen Hirten, der ihr auch durch die Fürsorge Boleslavs des
Frommen vom päpstlichen Stuhle gegeben wurde. Das Prager Bisthum ist im Jahre 973
errichtet worden. Die Vermittlerin und Überbringerin der päpstlichen Bulle, Mlada, die
Schwester des Herzogs, welche in Rom den Schleier genommen hatte, kehrte mit
Genehmigung des Papstes als Äbtissin zurück und gründete in demselben Jahre an
der ihr zugewiesenen St. Georgskirche mit Hilfe des fürstlichen Bruders das erste
Nonnenkloster Böhmens nach der Regel des heiligen Benedikt, dem 20 Jahre später
das erste Kloster der Benediktinermönche nachfolgte, welche der zweite Bischof von Prag,
der heilige Adalbert, aus Rom mitgebracht hatte und für die er unter der Mitwirkung
desselben Herzogs das Kloster Brevnov stiftete, dessen anfangs aller Wahrscheinlichkeit
nach klein angelegte Kirche einer größeren, zu Ehren des heiligen Stifters im Jahre 1045
200
erbaut?» Basilica weichen wußte. Sv hatten Prag und Rom dem Laude den Benediktiner-
vrdeu geschenkt, der noch in den letzten Lebcnstagen Boleslav des Frommen durch die
Gründung des Klosters Ostrov ans einer an der Mündung der Sazava gelegenen
Moldau-Insel einen neuen Sitz erwarb. Die Benediktiner des lateinischen Ritus wurden
bald darauf durch eine weitere, im Sinne der Tradition des heiligen Method gestiftete
Mönchscolonie vermehrt. Der in der cyrillischen Schrift vollkommen unterrichtete heilige
Prokop gründete unter Beihilfe des Herzogs Udalrich und dessen Sohnes Bretislav I. um
das Jahr 1032 das reizend gelegene Sazavakloster mit einer herrlichen, der heiligen
Jungfrau Maria und dem heiligen Johannes dem Täufer geweihten Basilica. Die seit
dem IX. Jahrhundert in Böhmen eingeführte slavische Liturgie, welche neben dem
lateinischen Ritus weiter bestand, fand hier ihre Pflegestätte und die ältesten Geschichts -
quellen rühmen das Kloster als Sitz der bildenden Künste, welche zur besonderen Blüte
unter dem genialen Abt Bozetech gelangten, der selbst als ausübender Künstler anziehend
zu malen, den Stein und das Holz plastisch zu bearbeiten und in Bein zu drechseln verstand.
Als berühmter Architekt hat derselbe zu Ende dieses Jahrhunderts unter Beihilfe des
Königs Bratislav I. sein Kloster mit allem Schmuck versehen, auch unternahm er einen
großartigen Erweiterungsbau der Kirche, welche er mit Glocken, Kreuzen und Paramenten
glänzend ausstattete. Zu der Aureole der Heiligkeit, welche den Stifter und ersten Abt
Prokop bald nach seinem Tode zu Theil ward, gesellte sich nun infolge der Knnstthätigkeit
Bozetechs der Strahlenkranz des Ruhmes, dessen Glanz das dem heimatlichen Boden
entsprossene Slavenkloster umgab und dem für die Cultnrentwicklung so bedeutsamen
Benediktinerorden zwei weitere Pflanzstätten znführte, das vom König Bratislav I. im
Jahre 1085 zu Ehren des heiligen Laurentius gestiftete und von Mönchen aus Alante
Cassino bezogene Kloster Opatovitz und das unter Bretislav II. gegründete Benediktiner -
stift zu Leitomischl.
Derselbe Gedanke, der die Mönche zu Klosterfamilien zusammenführte, veranlaßte
auch die Weltgeistlichkeit zur gemeinsamen Lebensweise in Cvllegiatkapiteln, welche
gleichzeitig mit den Klosterstistungen in Böhmen entstanden. Bretislav I. gründete als
Sühne für die in Polen begangenen Unzukömmlichkeiten das Cvllegiatstist in der Burg
Alt-Bunzlau und die dazu gehörige St. Wenzelskirche, welche Bischof Severus im
Jahre 1045 consecrirte, Spytihnev II. die Propstei mit der St. Stefanskirche in
Leitmeritz um das Jahr 1057, sowie die neue Bischofskathedrale in der Prager-
Burg im Jahre 1060, welche sein Nachfolger vollendete, der auch die Collegiatkirche
zu Peter und Paul ans der Burg Vysehrad um das Jahr 1070 erbaute.
Da die rituellen Bedürfnisse bezüglich des Chordienstes bei Klöstern und Collegiat-
kapiteln ähnlich lagen, gestaltete sich die Planbildnng der Kirchen und Wohnungsanlagen
201
in gleicher Weise hier wie dort. Die Grundrißbildung der dreischiffigen Basiliken
war in ganz einfacher Art angelegt worden. Schmucklose quadratische Pfeiler theilten das
Gebäude in zwei niedrige, mit einfachen Kreuzgewölben überspannte Seitenschiffe und ein
mit einer flachen Decke versehenes Hochschiff mit einer gegen Osten gelegenen Krypta,
deren halbkreisförmiger Schluß als Apsis emporstieg. In der Regel waren auch die
beiden Seitenschiffe durch kleinere Apsiden geschlossen. Die St. Veitsbasilica wurde dagegen
als Kathedralkirche durch eine zw eich orige Anlage ausgezeichnet. Einige von den
Die St. Nikolauskapelle in Vinec bei Jungbunzlau.
angeführten Kirchen hatten zweithürmige Fanden an der Westfronte, bei anderen waren
aber die Glockenthürme seitwärts angebracht. An eine der Langseiten des Gotteshauses
lehnte sich der Kreuzgang mit den nothwendigen Räumlichkeiten der Clausur an, weiterhin
standen die Wirtschaftsgebäude und andere Baulichkeiten.
Überblickt man den Entwicklungsgang der romanischen Architektur seit der Erbauung
der ersten Kirche Böhmens auf der Burg Levy Hradec bis zu der zweichorigen, großartig
angelegten St. Veitskathedrale, so gewinnt man die Überzeugung, daß der Entwickluugs-
proceß dieses monumentalen und bedeutendsten Knnstzweiges naturgemäß in aufsteigender
Reihe vom Kleinen zum Großen aus sich selbst, das heißt aus den jedesmaligen besonderen
202
künstlerischen und technischen Verhältnissen als eigentliche Schöpfung des böhmischen
Volkes herausgebildet wurde. Die ungewöhnlich reiche Mannigfaltigkeit der verschiedenen
Bauanlagcn erlaubt den Schluß, daß auch die zweite Periode des dnrchgebildeten
romanischen Stils der ersten nichts nachgeben werde.
Wenn die zwar sauber und solid durch geführte, des architektonischen Schmuckes
aber beinahe völlig bare Bauart die kleineren romanischen Denkmale der ersten Periode
charakterisirt, so schmücken die Kirchen des XIl. Jahrhunderts ihr Gewand in gesteigerter
Decorationslust mit der schön und edel gegliederten Pracht des zur vollen Blüte gelangten
Stils, dessen klare und deutliche Sprache den theilweisen Mangel an historischen Zeug -
nissen ersetzt. In den böhmischen Geschichtsquellen findet man nämlich auch in diesem
Zeiträume nur vereinzelte und blos gelegentliche Nachrichten, daß z. B. der Edle Mladota
bereits vor dem Jahre 1137 die Kirche in Slaph, der Priester Zbyhnev die Kirche von
Ünetitz, Abt Silvester von Säzava die St. Michaelskirche in Mnichovitz, Friedrichs Gemalin
Elisabeth ex voto die St. Johauneskirche ,ira HosiSti« zwischen Prag und Vysehrad
erbauten. Bei der weit überwiegenden Mehrzahl von Landkirchen sind wir aber in Bezug
auf ihre Gründungszeit blos auf die Sprache der Architektur angewiesen. Von unschätz -
barem Werthe für die Zeitbestimmung und Reihenfolge der in diese Periode fallenden
Bandenkmale sind demnach vier Consecrations-Authentiken, sowie eine neulich entdeckte,
an einem Capitäl der Kirche von Vinec eingemeißelte Jahreszahl. Die älteste von den
genannten Consecrations-Urkunden stammt aus dem Jahre 1158, die übrigen drei aus
dem Jahre 1165, denen zufolge der Prager Bischof Daniel in Gegenwart des Königs
Vladislav und dessen Gemalin, der Königin Judita, den 30. Mai 1158 die von Gervasius,
Kanzler und Propst von Vysehrad, erbaute Kirche in Bohnitz, den 11. Oetober 1165
die von Petrus, Abt in Ostrov, errichtete St. Andreaskirche auf der Altstadt
Prags, den 14. und 19. November desselben Jahres die Kirchen in Recany und dem
Dorfe St. ^akob einweihte, als deren Stifter Maria mit ihren Söhnen Slavibor
und Paul urkundlich angeführt erscheinen. Nachdem dieselbe Jahreszahl 1165 auf
einem der Capitäle der mit dem reichsten architektonischen Schmucke gezierten Kirche zu
Vinec vor kurzer Zeit aufgedeckt wurde, die beiden Kirchen aber, zu St. Jakob und
Vinec, den architektonischen Reichthnm in der höchsten Entwicklung zeigen, ist hiermit
der Gipfel der Blütezeit des romanischen Stils in Böhmen fixirt und kann demnach die
chronologische Reihenfolge der böhmischen Landkirchen des XII. Jahrhunderts mit voller
Sicherheit festgesetzt werden. Die Kirchen in Kyje, Rovny, Kondrac, Poritsch
(St. Galluskirche), Mühlhausen (Milevsko — St. Ägidiuskirche), Recan, Planan,
Müglitz, Liebshausen, Potvorov, Rudig, Vinec und Söberle bilden eine auf -
steigende -ronlciter, deren Töne die schönste Harmonie eines echten Kunstwerkes erzeugen.
203
Die einzelnen Töne der architektonischen Seala: der Sockel, die Säulen mit ihren Basen
und Kapitalen, die durch Rnndbogenfries verbundenen Lisenen samint dem darüber
angebrachten keilförmigen Zahnschnitt und dem Gesimse, die Fenster und die Portale
entfalten sich von den einfachsten zu den reichsten und mannigfaltigsten Formen, aus
denen der gesammte Entwicklungsgang der böhmischen Architektur als eine versteinerte
Symphonie entgegentönt. Die geistreiche Phantasie der romanischen Baumeister des
XII. Jahrhunderts ist insbesondere an den Portalen von ganz kleinen Kirchen ausgeprägt.
Das einfache, durch ein bloßes Tympanonkreuz bezeichnte Portal in Muglitz und jenes
mit verschwenderischer Pracht und staunenswerther Technik geschmückte Portal in Söberte,
sie sind die beiden Pole dieser interessanten Kette. Eine gleich reiche Entwicklung ist an
den Säulen sammt ihren Basen und Capitälen wahrzunehmen. Die anfangs plumpen
Eckknollen der meist attischen Basis verwandeln sich im Laufe der Zeit in feingeformte
Blätter, Muscheln und Frösche; der Schaft ist rund und polygonal, cannelirt und gewunden,
glatt und ornamentirt, aus mehreren Stäben zusammengesetzt und geflochten; das älteste
Würfelcapitäl ist entweder glatt oder nur mit einer halbkreisförmigen Füllung umschlossen,
später aber mit stilisirtem Blattwerk mannigfaltigst bedeckt, auch durch scnlpirte, der
Thicrwelt entlehnte Decorationen verziert. Die früher nur einfach abgeschrägten Fenster -
leibungen wurden nun durch Rundstübe und Hohlkehlen reich profilirt. Die schmucklosen
Außenwände des Schiffs und der Apsis wurden durch Lisenen, zu Ende der Periode sogar
durch Blendarkadcn gegliedert und belebt. Ein frischer Geist voller Anmuth pulsirt durch
den gesammten Organismus der Gebäude, deren Grundrißbildung mit Ausschluß der
Rotunde sich in den Hauptfvrmen der ersten Periode bewegt. Die Kirchen sind durchwegs
einschiffige, in geringen Dimensionen angelegte, gegen Osten mit einer halbrunden Apsis
oder einem quadratischen, zuweilen auch mit einem polygonalen Chore schließende
Gebäude, denen an der Westfa^ade ein rechteckiger Thurm vorgelegt ist, der sich ent -
weder über die ganze Schiffsbreite, wie in Kyje und an der nur theilweise erhaltenen
St. Ägidiuskirche in Mühlhausen erstreckt, oder aber auf einem engeren quadratisch
angelegten Grundriß, wie bei den Kirchen in Planan, Müglitz, Liebshausen und Rudig,
an das Schiff angeschlossen ist. Die durch reiche Architektur ausgestatteten Kirchen zu
Potvorov und Rudig entbehren aber einer Thurmanlage. Bei der meisterhaft disponirten
Kirche zu Söberle dagegen steigt der auf vier freistehenden Säulen ruhende Thurm aus
der Mitte des quadratischen Schiffraumes empor. Die St. Gallnskirche in Porlei
und die St. Bartholomüuskirche in Kondrac sind aber bei einschiffiger Anlage durch
je zwei Thürme ausgezeichnet; bei jener mit einer zierlichen Krypta ausgestatteten
Kirche flankiren die beiden quadratischen Thürme die Schiffseiten, bei dieser ist die
Westfronte durch zwei runde Thürme geziert, welche mit ihren ringsum in zwei
204
Stockwerken übereinander angebrachten Doppelfenstern aus dem einfachen Unterbau
zierlich und luftig emporsteigen.
Als Gegenstück der Proslkcr Miniaturbasilica der vorigen Epoche ragt unter den
Landkirchen dieser zweiten Periode als ihre Königin die kleine, mit drei Apsiden und zwei
Facadenthürmcn ausgestattete, in drei Schiffe gegliederte Dorfbasilica in Tismitz hervor,
als deren Arkadenträger — das einzige Beispiel dieser Art in Böhmen — abwechselnd
Pfeiler und Säulen dienen.
Der Reiz der zierlichen Architektur wird durch das zum Bau verwendete Materiale
noch gesteigert, indem das Mauerwerk durchwegs aus gut bearbeiteten Quadersteinen
besteht, wie dieselben die nächsten Steinbrüche geliefert haben. Wenn schon die natürliche
Farbe des Plänergesteins, des Sandsteins oder Granits dem Gebäude das Aussehen
eines soliden Baues verliehen hat, wird der malerische Eindruck durch einen regelmäßigen
Wechsel von zwei verschiedenfarbigen Steinarten noch bedeutend gehoben, wie es der
Baumeister an den Kirchen zu Planan und Rudig sehr glücklich zu Stande brachte. Der
zum Ban verwendete Mörtel hat eine bewunderungswürdige Festigkeit und hat zu der
guten Erhaltung so zahlreicher Denkmale nicht wenig beigetragen.
Der für das Aufblühen des romanischen Stils so fruchtbare Boden des XI >. Jahr -
hunderts wurde aber durch die eben angeführten reich geschmückten Landkirchen keineswegs
erschöpft. Außer der durch den Herzog Borivvj II. aus Dankbarkeit für seine Errettung
im Jahre 1115 gestifteten Cvllegiatkirchc zu Sadska entstand nämlich in demselben
Zeiträume eine ganze Reihe von großartig angelegten Klosterkirchen mit den dazu
gehörigen Stiftsgebüuden. Wohin das Auge in Böhmen blicken mag, überall begegnet
es monnmentalen Klosterstiftnngen, welche böhmische Herrscher, Magnaten des Landes
und ihre Gemalinnen als bleibendes Andenken ihrer religiösen Begeisterung bauen ließen.
Der in der ersten Periode eingeführte Ben ediktin er orden wurde durch neue Stiftungen
bedeutend vermehrt. Herzog Svatopluk gründete im Jahre 1108 das Kloster Kladrnb,
welches von Vladislav I. in: Jahre 1115 vollendet und zu seiner Grabstätte erwählt
wurde; die beiden Brüder Wilhelm und Hermann von Snlzpach erbauten im Jahre 1120
das Bencdiktincrstift Vilemov; ähnliche Klöster wurden in Postelberg und Seelau
(Zelivo) errichtet; endlich ist die Brevnover Propstei in Podlazitz durch den König
Vladislav I. im Jahre l 159 zu einer Abtei erhoben worden, während dessen Gemalin
Judita ein Nonnenkloster desselben Ordens in Teplitz erbaute. Zu den „schwarzen
Mönchen" gesellten sich um die Mitte des Jahrhunderts „weiße" Regularcanoniker des
neugestifteten Prämonstratenserordens, welchen unter Vermittlung des berühmten
Olmützer Bischofs Zdik der Bischof von Prag Johann 1. in Böhmen einführte. König
Vladislav I. stiftete im Jahre 1141 das erste Prämonstratenserkloster Strahvv in Prag,
dem seine erste Gemalin Gertrud das durch sie im Jahre 1144 erbaute Jungfrauenstift
Doksan desselben Ordens beiordncte. Der neue Orden erfreute sich bald einer solchen
Beliebtheit, daß ihm zwei Benediktinerklöster eingeräumt wurden, im Jahre 1145 jenes
zu Leitomischl und im Jahre 1148 das Stift Seelau, dessen Ordenscanoniker Heinrich
das Nonnenkloster Lünovitz gründete. Das edle Beispiel der Herrscherfamilie fand bei
den Magnaten des Landes freudige Nachahmung. Georg von Mühlhausen stiftete im
Jahre 1184 das nach seinem Stammsitz benannte Kloster Mühlhausen, der selige Hroznata
im Jahre 1193 das Stift Tepl und das von demselben abhängige Jungfrauenkloster
Chotesov, dem als Patronesse dessen Schwester Bojslava Vorstand, wogegen der in den
Orden eingetretene Stifter das Amt eines Procurators im erstgenannten Kloster bekleidete.
Die großartige Mnnificenz Vladislavs und der Großen des Landes bereitete neben den
Benediktinern und Prämonstratensern zu gleicher Zeit auch dem Cistercienserorden
herrliche Sitze in unserem schönen Vaterlande. Der Edle Miroslav stiftete im Jahre 1143
das berühmte Kloster zu Sedlec, der eben erwähnte Herrscher im Jahre 1146 jenes zu
Plaß, von wo das Kloster Hradiste begründet wurde; im Jahre 1153 entstand das
Kloster Nepomuk, im Jahre 1157 jenes zu Svate Pole, zu Ende des Jahrhunderts
endlich berief Milgost die Cisterciensermönche nach Mastov, von wo dieselben jedoch bald
nach Osseg übersiedelten.
Die in der glorreichen Zeit der religiösen Begeisterung erbauten Monumente der
romanischen Architektur sind theils von den nachfolgenden Stürmen hinweggefegt, theils
durch die moderne Restaurationsmanie entstellt worden, so daß nur ein Bruchtheit derselben
über das System der im großen Basilikenstile erbauten Kirchen Aufschluß gibt. Die
Klosterkirchen des XIl. Jahrhunderts sind durchwegs durch mächtige Pfeiler in drei Schiffe
gegliederte Basilicabanten von bedeutenden Dimensionen, an denen größtentheils die
Krenzform betont wird. Das Querschiff befindet sich entweder an der Ostseite, wie in
Mühlhausen und Plaß, hier schon im Grundriß, dort nur im Aufriß wahrnehmbar, oder
mehr gegen Westen unmittelbar vor dem Chor, wie in Dostan, wo die Kreuzarme, sowie
auch die über das Querhaus verlängerten Seitenschiffe durch halbrunde Apsiden abgeschlossen
sind, und in der großartig angelegten Kladraner Stiftskirche, deren räumliche Schönheit und
edles Ebenmaß nicht einmal die verzopfte Gothisirnng zu vernichten im Stande war. Das
Hochschiff war größtentheils flach gedeckt, die Doksaner und Kladraner Kirche ausgenommen,
wie es bisher die mit ihren Diensten besetzten Pfeiler anzeigcn, von denen in der Doksaner
Krypta blos zwei Paare, in der Kladraner Stiftskirche dagegen mit Ausschluß jener im
Chore alle erhalten sind. Die Seitenschiffe waren insgesammt mit einfachen Kreuzgewölben
überspannt. Die Thürme stehen entweder an der Westfront, wie in Mühlhausen und Doksan,
oder flankiren die beiden Seitenschiffe, indem sie nach außen die Kreuzgestalt andenten,
206
wie bei der Strahover Abteikirche und der Hradschlner St. Georgskirche zu sehen ist.
Architektonisches Detail ist an der in diesem Zeiträume umgebauten St. Georgskirche zu
Prag, an den beiden mit je zwei Reihen von Doppelfenstern geschmückten Fa^adenthürmen
der Stiftskirche in Mühlhausen und an der prächtig ausgestatteten Krypta zu Doksan bis
auf unsere Tage in einem guten Zustande erhalten geblieben. Die Kirchenbauten zu Tepl,
Nepomuk, Hradiste und Osseg gehören bereits dem nachfolgenden Übergangsstil an.
Ans einem kleinen Samenkörnlein ist im Laufe der Jahre ein Riesenbaum empor -
gewachsen, dessen weitverzweigte Äste unzähligen Vögeln sichere Wohnung bieten. Das
kleine Kirchlein des IX. Jahrhunderts, dessen Durchmesser nur einige Meter zählte, ist
im Verlaufe von drei Jahrhunderten zu einem Riesengebäude emporgewachsen, in dessen
majestätischen Hallen Tausende und Tausende ihr Vaterhaus fanden. Die Werke der
romanischen Baukunst sind ein treues Bild der Geschichte Böhmens. Mit der Zunahme
der Macht des Premyslidenhauses von der Herzogswürde bis zur Königskrone wächst
auch die kleine Landkirche zur mächtigen Kathedrale empor. In allen Phasen aber, sowohl
der ersten als auch der zweiten Periode, entwickelt sich die Architektur aus den jedes -
maligen Verhältnissen dem Volksgeist gemäß zum echten Kunstwerk heraus, und sind die
monumentalen Schöpfungen der romanischen Baukunst der älteste und demzufolge der
kostbarste Schatz, eine aus Quadersteinen erbaute Culturgeschichte des böhmischen Volkes,
dessen lebendiger, den idealen Kunstbestrebungen zugänglicher Charakter in den Werken
seiner Phantasie und seiner Hand sich wiederspiegelt.
Gothische Architektur.
Der Umschwung der Stilanschanungen, welcher sich seit der Mitte des XII. Jahr -
hunderts in den architektonischen Leistungen Frankreichs zu vollziehen und langsam auch
auf alle übrigen Gebiete der Kunst zu erstrecken begann, zog allmälig immer weitere Kreise.
Je weiter die einzelnen Länder Europa's von dem Ausgangspunkt der Bewegung entfernt
waren, je mehr sie an die Peripherie des damaligen mitteleuropäischen Cülturkreises
hinausgerückt erscheinen, um so später erreichte die Flut der neuen Ideen ihre Grenzen.
So bedang schon die Lage Böhmens, das von Frankreich durch einen weiten und breiten
Zug deutschen Lündergebietes getrennt war, naturgemäß, daß es später als das letzt -
genannte in die neue Bewegung eintrat und dazu zweifellos auch durch den geänderten
Kunstbetrieb der deutschen Nachbarländer hingeleitet wurde. Denn wie eine wellenförmige
Bewegung einer Flüssigkeitsmenge sich vom Erregungspunkte aus unter normalen Ver -
hältnissen von einem Atom der Oberfläche zum anderen fortpflanzt und keines überspringt,
sondern erst das nüherliegende berühren muß, ehe das entferntere getroffen werden kann,
wie der elektrische Strom die seinem Ausgangsorte näheren Theile früher als die weiter
abliegenden durchläuft und das jedem Erregungscentrum unmittelbar Benachbarte sich als
Fortpflanzer und Überträger der Bewegung auf das Entferntere erweist, so kann auch
die Gothik nur über deutsches Gebiet nach Böhmen gedrungen sein.
Seit der Regierung Wenzels I. gewann hier der neue constructive Gedanke des
gothischen Systems, welcher mit der consequenten Anwendung des Spitzbogens, sowie des
Rippengewölbes und mit der Entwicklung des ausgebildeten Strebesystems auch Grundriß
und Aufbau umgestalten mußte, immer mehr an Boden. Einige tüchtige Bauten der Über -
gangszeit, denen manch interessanter und beachtenswertster Zug eigen ist, arbeiteten seiner
immer.entschiedener zu Tage tretenden Herrschaft fördernd vor, wenn auch ungemein edel
entwickelte Formen feinster romanischer Auffassung sich bis um die Mitte des XIII. Jahr -
hunderts mit Erfolg und Nachdruck bei knnstgeschichtlich besonders wichtigen Objecten zu
behaupten wußten. So steht das Prager Agneskloster, dessen eigenthümliche Anlage
neben dem Kreuzgang und dem mit der Maria Magdalena-Kapelle verbundenen Convent -
saale die getrennt nacheinander entstandenen Laurentius- und Franciscuskirche mit der
Marienkapelle und die Barbarakirche bietet, mit seiner architektonischen Construction voll -
ständig an der Schwelle des für Böhmen besonders wichtigen gothischen Stils, indeß
das decorative Beiwerk sich als die schönste Offenbarung der ausgereiften romanischen
Zierformen erweist. Es bleibt von höchster Wichtigkeit, daß dieser Gebäudecomplex, dessen
Hauptbestandtheile in der Zeit des Übergangsstils ausgefnhrt und höchst wahrscheinlich
unter Wenzel I. vollendet wurden, bereits das Vorwalten der gothischen Constructions-
weise bietet und gewissermaßen den Eintritt derselben in die Banthätigkeit der Landes -
hauptstadt selbst markirt. In ähnlicher Weise wie bei dem Prager Agneskloster behaupteten
in dem Kapitelsaal des Cistercienserstiftes Ossegg, der nicht viel früher als die genannte
Prager Anlage vollendet wurde, spätromanische Decorationsgesetze neben gothischen
Constructionsprincipien ihre Geltung. Letztere wurden zweifellos, wie zum Beispiel die
Anordnung der Strebepfeiler an der Chorpartie der Cistercienserkirche zu Hradiste und
einige Details in den Trümmern des von den Husiten zerstörten Klosters Nepomuk
schließen lassen, in Böhmen durch die Cistercienser ungemein gefördert, welche die in
Frankreich — der Heimat ihres Ordens — ausgebildeten neuen Stilgesetze zunächst
wesentlich auf das constructive Gerüst ihrer Anlagen beschränkten, aber nahezu in allen
Gebieten, in welche ihre Berufung damals erfolgte, für die Verbreitung der Gothik
eintraten. Da die böhmischen Cisterciensermederlassnngen Filiationen fränkischer und
österreichischer Klöster waren und selbst, wie dies in Saar geschah, bei Anssendnng einer
neuen Kolonie einen bauverstündigen Mönch zur Leitung der Herstellung einer vollkommen
ordensmäßigen Anlage beigaben, so erwarben sich die aus deutschen Mutterhäusern nach
Böhmen entsandten „grauen Mönche" nm die Einführung der Gothik im Lande unstreitig
große Verdienste.
Unter den Schöpfungen der Frühgothik sind zwei heute noch an erster Stelle
zu nennen, nämlich das in allen wesentlichen Bestandtheilen eines Cistercienserklosters
wohlerhaltene Stift Hohenfurt, von dessen alterthümlichem Bilde die Hand eines
modernen Restaurators glücklicherweise nur die feinen Lasuren genommen hat, und das
fast gleichzeitig gegründete Goldenkron. Auf einer mäßigen Anhöhe des Moldauthals
hatte Peter Wok I. von Rosenberg, der beim Durchreiten des hochangeschwollenen
Moldauflusses von der heiligen Maria aus Lebensgefahr gerettet worden sein soll,
das erstgenannte Kloster gegründet, welches 1259 Mönche ans Wilhering in^)ber-
österreich bezogen. Noch heute grüßt die hochragende Stiftskirche, deren Bau sich bis
gegen die Mitte des XIV. Jahrhunderts hinzog, weithin über die später hinzugekommenen
Gebäude ins Thal hinaus; nur der Chor mit den Kapellenvorlagen, der auf den für
die Anlage deutscher Cistercienserklöster so beliebten Grundriß von Fontenay znrückgeht,
das Querhaus, die offenbar ursprünglich als Jnterimskirche verwendete Sacristei, der
Kapitelsaal mit dem prächtig decorirten Säulenbündel als Wölbungsträger und dem
schönen Rundfenster, sowie der nördliche Kreuzgangsflügel gehören in die Zeit der
Frühgothik. Die übrigen Theile der Kirche zeigen, wie besonders das Maßwerk der
Langhausfenster und des reichgezierten sechstheiligen Prachtfensters über dem Westportal
schließen läßt, bereits entwickeltere gothische Formen, die auch in den anderen drei Kreuz -
gangsflügeln vorherrschen; die Idee der Brunnenhausanlage geht in die erste Bauperiode
zurück. Ebenso beachtenswerth wie der aus zwei Seiten des Dreiecks gezogene Schluß der
beiden äußeren Kapellen der Chorpartie, welcher ein Unicum nicht nur unter den öster -
reichischen, sondern auch unter den deutschen Cistercienserbauten ist, sind die romanischen
Nachklänge an den beiden Sacristei-Eingüngen. Von diesen besitzt der zum südlichen
Ouerhausflügel führende Eingang, dessen mit Knospencapitälen ausgestattete, angeblendete
Säulen noch das Eckblatt festhalten und gleich dem Rundstabe des spitzbogigen Abschlusses
in der dem romanischen Stil so geläufigen Art glatt behandelt sind, die schöne Tympanon-
sculptur, nach welcher der Segen des Herrn den traubenreichen Weinstock der Kirche gegen
die Angriffe des in Fnchsgestalt nahenden Feindes in Schutz nimmt. Mit der Hohenfurter
Stiftskirche setzte das Princip des Hallenbaues ziemlich früh in einem großen Bauwerke
Böhmens ein, denn sie präsentirt sich als dreischiffige Hallenanlage mit fünf schlanken
Pfeilerpaaren und legt an beide Flügel des Querhauses neben dem Presbyterium je zwei
Kapellen vor, mit welch letzterer Anordnung sie genau die Cisterciensertradition wahrt.
Ein minder günstiges Schicksal als der noch nach jahrhundertelangem Bestand
wohl erhaltenen Rvsenberg'schen Stiftung in ihrem dem Weltgetriebe mehr fernen Winkel
209
war dem einige Stunden nördlich von Hohenfurt gleichfalls im Mvldauthal gelegenen
Cistercienserkloster Goldenkron beschieden, das Premhsl Ottokar II. gegründet hatte und
1263 auch Mönche aus Heiligenkreuz bezogen. So schwere Tage dasselbe auch nach dem
tragischen Ende des königlichen Stifters und während der Husitenstürme trafen, hat sich
doch in der Basiliea-Anlagc mit mäßig ausladendem Querhause, an dessen Armen östlich
gleichsam als Fortsetzung der gleichbreitcn Seitenschiffe je eine geradlinig schließende
Der Kapitelfaal in Hohenfurt.
Kapelle vortritt, sowie in dem Krenzgang und Kapitelsaal manch frühgothischer Überrest
erhalten. Die Strebepfeileranordnung der Fa^adc markirt die Eintheilung des Kirchen-
innern, dessen rechtes Seitenschiff noch die alten, ans Consolen sitzenden Krenzwölbungen
besitzt; die an der Westseite bestandene Vorhalle deutet auf Einwirkung süddeutscher
Muster. Das mit reichem Stabwerk gezierte Rundfenster des Querhauses zeigt feinere
Anordnung und Durchbildung als jenes im Hohcnfurter Kapitelsaal. Die Behandlung
der Lanbwerkcapitäle an den beiden die Wölbung des Goldenkroner Kapitelsaals tragenden
Böhmen. "
210
Säulen und jenen des vermauerten Kapitelsaalportals ist ebenso edel, wie die Ausstattung
der Fensterleibungen mit gothischen Laubwerkverzierungen in Terracotta originell.
Die in ihrer ganzen ursprünglichen Ausdehnung noch bestehende gvthische Kreuzgangs -
aulage, deren Kreuzgewölbe im östlichen Flügel die im rechten Kirchenschiff begegnende,
mithin wohl gleichzeitige Anordnung ausweisen, besitzt sorgfältig gearbeitete Wandsäulen
und in den vermauerten Spitzbogenfenstern srühgothische einfache Maßwerkmotive; die
verhältnißmäßig geringen Überreste, welche der in den Kreuzgangsrüumen heute waltende
Fabriksbetrieb nicht zur Benützung heranzog und adaptirte, zählen zu den schönsten
Leistungen der Frühgothik in Böhmen, welcher auch die Privatkapelle des Abtes angehört.
Das Freibleiben der Goldenkroner Bauten von romanischen Reminiscenzcn erklärt sich
gegenüber dem Auftauchen letzterer in dem benachbarten Hohenfurt dadurch, daß die
eigentliche Bauzeit in Goldenkron, wo schon die Gothik allein zur Sprache kam, etwas
später begann und über das erste Viertel des XIV. Jahrhunderts nicht hinausreichte.
Hielten Hohenfurt und Goldenkron die meist bei deutschen Cistercienserbauten auf -
tretende Basilicaform des Typus von Fontenay fest, so führten die im Innern des Landes
liegenden Cistercienserklöster, deren Kirchen am Ende des XIII. und in der ersten Hälfte
des XIV. Jahrhunderts erbaut wurden, eine andere Grundform ein, welche einen noch
großartigeren Aufbau ermöglichte und die Entwicklung der Gothik in Böhmen ungemein
förderte. Die bis 1320 vollendete Stiftskirche von Sedlec, deren Mauerwerk auch
die schweren Beschädigungen der Husitenkriege überdauerte, griff auf das französische
Kathedralensystem zurück, das bei den Cisterciensern nach dem Vorbild des hochwichtigen
Clairvaux in Aufnahme kam. Jenseits des dreischiffigen Querhauses, das nur mäßig über
das fünfschiffige Langhaus vortritt, setzen sich um den aus dem Achteck gezogenen Chor
auf jeder Seite beide Seitenschiffe als Chorumgang fort, den sieben polygonal schließende
Kapellen umziehen. Sedlec lehnte sich mit der Fünfschiffigkeit des Langhauses an das
System berühmter französischer Kathedralen an und blieb auch dadurch, daß das Mittelschiff
im Verhältniß zu seiner Breite ungewöhnlich hoch ist, in gleicher Höhe mit Querhaus
und Chor die Grundform des Kreuzes über den niedrigen Seitenschiffen betont und das
Querhaus nur um ein Joch vortritt, auf dem Boden des französischen Kathedralenbaues,
dessen Schöpfungen der um den Kirchenbau hochverdiente Abt Heidenreich offenbar bei
seinen Reisen zum Generalkapitel aus eigener Anschauung kennen gelernt hatte. Da das
Innere seine ursprüngliche Ausstattung und Wölbung, das Stab- und Maßwerk der
Fenster verlor und das Äußere bei der unter Abt Heinrich Snopek durchgeführten
Restauration den Rest seiner charakteristischen Details einbüßte, so ergeben sich außer dem
Typus der Anlage keine weiteren wichtigen Aufschlüsse. Dem Beispiel der Mutter folgte
die Tochter; denn die Kirche des von Wenzel II. gestifteten, von Sedlecer Mönchen
211
besetzten Cistercienserklosters Königsaal, zu welcher 1297 der Grundstein gelegt wurde,
hielt sich, soweit sich aus den Nachrichten über den durch die Husiten vernichteten Bau
feststellen läßt, wahrscheinlich direct an Clairvaux, wurde aber wie das 1327 vollendete
Refectorium und das 1333 fertiggestellte, mit einer großartigen Wasserleitung verbundene
Brunnenhaus erst unter König Johann zu Ende gebracht.
Porträtbüste des Peter Parier.
So trat in den Cistercienserbauten während der zweiten Hälfte des XIII. und
der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts die Gothik mit Anlehnung an die in deutschen
und französischen Orvensniederlassungen gepflegten Kunstanschaunngen auf eine wahrhaft
monumentale Weise in die Bauthätigkeit Böhmens ein. Die Beschäftigung zahlreicher
Arbeiter bei den in verhältnißmäßig großem Umfange sich bewegenden Baubetrieben
mußte auch zur Schulung einheimischer Werkleute in den Formen der neuen Stilrichtung
führen. Außerhalb der berührten Cistercienscrtypcn blieb die Kirche des 1265 gegründeten
>4»
212
Cistcreienscrinnenklosters Fraucnthal bei Deutschbrvd, deren Chorpartie mit den fein
deeorirten Wandsänlen als Rippenträgern frühgothisch ist, während die Netzwölbnng des
einschiffigen Langhauses und das demselben 1494 vorgelegte Westthürmchen den Charakter
der Bauart aus der Zeit Wladislaws 14 besitzen.
Nicht minder als die Cistercienser förderten auch die gerade zur Zeit der Einführung
der Gothik in Böhmen erfolgten zahlreichen Niederlassungen der Bettelmönche, der
Franciscaner und Dominicaner, die Verbreitung des neuen Stils. Da die Klöster derselben
meist hart an der Stadtmauer, entweder noch innerhalb derselben oder auch knapp vor
ihr, angelegt wurden, also unter den Augen der Bürger entstanden, so mußten durch die
dabei zu Tage tretenden Banformcn die in der städtischen Bevölkerung lebenden Arbeiter
offenbar noch mehr angeregt werden als durch die vorwiegend in abgeschiedenen Wald-
thälern aufgeführtcn Cistereienserhäuscr.
Die Bettelmönchskirchen liebten, soweit sie sich in den Grenzen einer regelmäßigen
dreischiffigen Anlage hielten, ein ziemlich ausgedehntes, ziemlich stark vortretendes
Presbyterium, wie es z. B. beim Franciscanerkloster in Pilsen, bei dem Minoriten-
kloster St. Jakob in Prag und jenem in Eger, bei dem Dominicanerkloster in Budweis
nachweisbar ist. In dem lctzgenanntcn, in dem noch erhaltenen Theile der Nimburgcr
Dominicancrkirche und in der Prager Jakobskirche trat die fortschreitende Tendenz der
Hochräumigkeit gothischer Bauten immer entschiedener hervor. Bei den vier zuerst erwähnten
Bettclmönchsniederlassnngen erhielten sich die im Princip der Anlage unverändert
gebliebenen, bald an die Süd-, bald an die Nordseite der Klosterkirche angelchnten Kreuz -
gänge, im Ostflügel mit einer Kapelle ansgestattet, die in Pilsen als der älteste noch unter
Wenzel II. vollendete Bautheil sich erweist. Die Hinneigung zur Drcischiffigkeit des Lang -
hauses mit langgestrecktem Presbyterium, welche die zum Franciscancrorden im weiteren
Sinne gehörenden Klöster besaßen, läßt sich auch in den Überresten des Clarissinnenklosters
zu Jungfer-Teinitz und der Beneschauer Minoritenkirche erweisen, indeß die Minoriten -
kirche in Bechin, welche 1281 gegründet und nach den Husitenkriegen auf Grund des
alten Manerwerkes restaurirt wurde, die den Baugewohnheiten deutscher Franciscaner
nicht unbekannte Zweischiffigkeit festhielt. Bewegten sich die Bettelmönche auch mehr in
einfachen Verhältnissen, die zunächst die Befriedigung praktischer Bedürfnisse, insbesondere
eines auch für die Predigt gut angeordneten Gotteshauses ins Auge faßten, so ließen sie
doch auch den künstlerischen Schmuck nicht ganz beiseite, wie namentlich die sorgfältige
Durchbildung des Decorativen in der Budweiser Dominicanerkirche, das strenge, aber
naturwahre Blattwerk der schlanken Kelchcapitäle der Egerer Minoritenkirche bezeugen,
deren Weihe 1285 in Gegenwart Rudolfs von Habsburg sowie zahlreicher weltlicher und
geistlicher Fürsten erfolgte. Innerhalb der Grenzen des Aufbaues der Bettelmönchskirchen
213
blieben auch die Augustinereremiten, deren Hauptkirche zu St. Thomas in Prag noch die
alte langgestreckte und hohe Presbyteriumsanlage des 1315 und 1379 geweihten, später
allerdings stark umgestalteten Baues erkennen läßt.
Während die erhaltenen Denkmale des Bettelmönchsbaues die ausschließliche Ver -
wendung der immer fortschreitenden Gothik darthun, in welcher bei der steten innigen
Beziehung dieser Orden zu Laienkreisen ein für die Geltendmachung des neuen Stil -
gedankens ungemein förderliches Moment lag, drängten sich bei der Propsteikirche zu Pölitz
an der Mettau, einem Benedictinerbaue, an die ganz im gothischen Geiste gehaltene Con-
strnction noch Nachklünge der Übergangszeit. Der Spitzbogen wurde in den Langhans-
arkaden und im Portal allein verwendet, die Kreuzwölbung der Seitenschiffe wie in
Goldenkron ans Consvlen gestellt, während die Rippenansätze im Presbyterium durch
Blendschilde auf den einfachen Capitälen der Wandsäulen maskirt sind. Die Profilirung
der Rippen hielt sich noch an die Übergangsformen und kennt nicht die der Birnform zu -
strebende Gestaltung des Rundstabes, deren Herausbildung in den Bettelmönchsbauten
sehr gut zu verfolgen ist. Das Laubwerk der Portalsüulencapitäle durchdrang glücklich die
der Frühgothik eigene Neigung zu naturtreuer Behandlung heimischer Pslanzenformen.
Inwieweit die Steinmetzmeister Peter und Nikolaus, denen Abt Bawor 1306 die Auf -
führung der Mauern um die Politzer Niederlassung für 70 Mark Groschen vertragsmäßig
überließ, auf die heutige Gestalt der damals auch theilweise umgeänderten, wohl schon
unter Premysl Ottokar II. ansgeführten Kirche Einfluß nahmen, ist nicht mehr sicher zu
erweisen.
Eine ungemein hervorragende Leistung der Frühgothik ist die seit 1789 gesperrte,
heute nach Einziehung hölzerner Fußböden in mehrere Stockwerke getheilte und als
Getreidespeicher, Wagenremise und Rumpelkammer verwendete Katharinakirche auf
dem Marktplatz in Komotau. Schon als vollständiger Hausteinbau sich bautechnisch von
anderen gleichzeitigen Werken abhebend, besitzt dieses von den deutschen Ordensrittern
aufgeführte Denkmal in seinen prächtig sculpirten Schlußsteinen und trefflich gearbeiteten
Capitälen, in der sorgfältigen Profilirung der straffgezogenen Rippen, in dem Besetzen
der Fensterleibungen mit den durch schöne Arbeit des Capitäls fesselnden Säulchen, in
dem nachweisbaren Kreuzblumenaufsatz der zierlich gedeckten Strebepfeiler an deni aus
fünf Seiten des Achtecks gezogenen Chorschluß Details von hoher Schönheit und Voll -
endung, die dem im Prager Agueskloster Gebotenen zweifellos an die Seite gestellt werden
dürfen, ja dasselbe in der Folgerichtigkeit der die äußere Erscheinung beeinflussenden
Entwicklung des gothischen Gedankens übertreffen. Weniger zahlreiche und zugleich
wichtige Aufschlüsse vermittelnde Einzelheiten zeigt der frühgothische Kreuzgang in
Strakonitz, dessen Kreuzgewölbe sich von Consvlen entwickeln, während an den Ecken
214
Säulenbündel mit gut behandeltem Laubwerk augeordnet sind. Derselbe wurde von den
Johannitern, denen Bavor von Strakonitz 1243 die Strakonitzer Burg mit der damals
schon bestehenden Prokopskirche zur Errichtung einer kommende geschenkt hatte, nebst dem
Langhause der genannten Kirche um die Mitte oder in der zweiten Halste des XIII. Jahr -
hunderts errichtet. Die uns hier begegnende Schlichtheit wurde auch in den wenigen als
frühgothisch erweisbaren Überresten der Prager Marienkirche festgehalten, welche 1253
mit Wall, Graben und Vorwerken befestigt wurde. Bei Prämonstratenserbanten gewann
die Frühgothik in dem zwischen 1230 und 1250 ausgeführten Chore der Stiftskirche
zu Mühlhausen (Milevsko) und in dem unter den Äbten Hermann und Ambrosius
betriebenen Umbau der Kirche des Klosters Seelau (Zelivo) nachweisbaren Einfluß,
dessen Umfang für die Restauration des Stiftes Strahov nach dem Brande vom
19. October 1258 oder für die Instandsetzung von Tepl, Chotieschau und Doksan nach
den unruhigen Tagen von 1278 nicht mehr genau abgegrenzt werden kann. Von den
frühgothischen Klosteranlagen der Prager Kreuzherren, sowie der am Zderas ange -
siedelten Kreuzbrüder des heiligen Grabes, deren in großartigem Maßstabe betriebenen
Chorbau Bischof Johann III. 1276 weihte, hat sich nichts mehr erhalten. Mit ihrer Aus -
führung, sowie mit der Herstellung der gerade unter den letzten Premysliden in allen
Theilen des Landes rasch erblühenden Bettelmönchsniederlassungen, deren Spuren
zumeist der Sturmeshauch der husitischen Bewegung vom Erdboden vertilgte, bot sich dem
frühgothischen Gedanken ein ungemein weites und fruchtbares Feld der Bethätignng.
Letzteres war auch in den mächtig emporblühenden Städten der Fall, in welchen seit
Premysl Ottokar II. das deutsche Bevölkerungselement, das geistliche und weltliche Herren
zur Colonisatiou herbeizogeu, vorherrschte und außerordentlich erstarkte. Denn mit der
Anlage und Befestigung der Stadt, die nach gewissen gemeinsamen Grundsätzen ansgeführt
wurden und für welche die Mauerwerke des schon vor 1261 nach Magdeburger Recht
lebenden Kolin als Muster galten, ging auch die Aufführung eines gemeinsamen Gottes -
hauses, für dessen reiche Ausstattung wohlhabende Bürger fromme Gaben beisteuerten,
Hand in Hand.
Mehr als in der dreischifsigen Hallenanlage des gut erhaltenen Koliner Langhauses,
in welchem romanische Stilgedanken mit gothischen ringen und den durch Jahrhunderte
beherrschten Boden mit Energie zu behaupten suchen, gelangt die Frühgothik in der drei-
schiffigen Decanalkirche zu Pisek, obzwar dieselbe das gebundene romanische System der
Wölbung festhält, zur Herrschaft. Der stumpfe Spitzbogen kommt in den Schiffsarkadcn, in
der Führung der Wölbung, in den schmalen Chor- und Langhausfenstcrn, sowie im Haupt-
portal durchaus zur Geltung, während die Basis- und Cäpitülsbehandlung der Säulen am
nördlichen Seitenschisfsportal zu den Formen der abschließenden Übergangszeit Hinneigen.
216
Im südlichen und südwestlichen Böhmen scheint man es geliebt zn haben, das Mittelschiff
zur doppelten Seitenschiffshöhe emporzuführen. Dies zeigen sowohl Pisek als auch Horaz-
diowitz und Bergreichenstein. Die auf Veranlassung der Herren von Strakonitz erbaute
Peters- und Paulskirche in Horazdiowitz und die Nikolauskirche in Bergreichenstein,
welche einen aus fünf Seiten des Achtecks gezogenen Schluß und außerdem zwei Kreuz -
gewölbejoche des Presbyteriums haben, die Chorwölbung von schlanken, auf Consolen
stehenden Wandsäulen ansteigen lassen, für die Eintheilung des Langhauses vier Pfeiler -
paare anordnen, stimmen auch bezüglich des an der Nordseite angeordneten Thurmes
und der in der südlichen Chorschlnßmaner ausgesparten, im gebrochenen Spitzbogen
gedeckten Sedia überein, deren Einstellung an die reiche Nischenanordnung im Chor
der so interessanten Rund- und Spitzbogenconstruction nebeneinander verwerthenden
Pfarrkirche zu Konrim erinnert. Das Bergreichensteiner Denkmal ist trotz ziemlich starker
Verwahrlosung instructiver als die Horazdiowitzer Kirche; in den Seitenschiffen wie im
Lichtgaden des Mittelschiffes ist die alte schmale Bildung der einfachen, stark abgeschrägten
Spitzbogenfenster, an der Westseite das spitzbogige Portal mit dem über geradem Thür -
sturze leer gebliebenen Tympanonfelde und die ursprüngliche Anordnung eines jetzt ver -
mauerten Rundfensters zwischen den die Eintheilung des Innern markirenden Strebe -
pfeilern nachweisbar. Eine ähnliche Deckung der Nischen wie in Horazdiowitz und Berg -
reichenstein findet sich auch an den drei mittleren Seiten des Chorpolygons der Stadtkirche
in Aussig, deren Presbyterium die Formen der Frühgothik in beachtenswerther Reinheit
bewahrt hat und gegenüber der Eintheilung der zuletztgenannten Denkmale noch ein
oblonges Kreuzgewölbejoch mehr besitzt. In der Ausdehnung und Eintheilung der
Presbyteriumsanlage stimmen mit der Aussiger Kirche auch die Saazer Decanal- und die
Hohenmauther Lanrentiuskirche überein, welch letztere übrigens nicht minder in die
Winkel des Chorschlusses schlanke Säulen mit schönen Capitälen einstellt und das Mittel -
schiff wie in Horazdiowitz und Bergreichenstein über die Seitenschiffe emporragen läßt.
Bald zwei-, bald dreiseldrig, bieten die hohen Spitzbogenfenster dieser Bauten vereinzelt noch
die alten einfachen Maßwerkbildungen der Frühgothik; die der letzteren geläufige Profilirung
des Horizontalsimses kommt besonders in Aussig und Hohenmauth schön zur Geltung.
Die bei den bisher genannten Stadtkirchen vertretenen Eintheilungsgedanken blieben, wie
sich an der Bartholomäuskirche in Pilsen und Rakonitz, an der Kirche in Caslau, an
der Jakobskirche in Kuttenberg, am Presbyterium in Kaplitz, an der Decanalkirche in
Chrudim und der Prachatitzer Jakobskirche und anderen Nachweisen läßt, durch
lange Zeit in ganz Böhmen in Geltung. Ausgedehnter wurde dagegen die Presbyteriums -
anlage der von der Königin Elisabeth gegründeten und in den beiden ersten Jahrzehnten
der Negierung Johanns von Luxemburg vollendeten Heiligengeistkirche in König grätz.
218
Die Thurmstellung der Stadtkirchen war eine verschiedene, indem der eine Thurm bald
an die Nord-, bald an die Westseite gerückt oder an letzterer eine von zwei Thürmen
flankirte Fa^ade angeordnet wurde, während in Königgrätz die beiden Thürme neben dem
ersten Kreuzgewölbejoch des Presbyteriums am Abschluß der beiden Seitenschiffe ansteigen.
Eine ähnliche Thurmstellung ordnete man neben dem Chore der einschiffigen Pfarr -
kirche in Nachod an, deren von sorgfältig gearbeiteten Consolen ansteigende Presbyteriums -
wölbungen in der Profilirung ebenso wie die schmalen, ohne Pfosten und Maßwerk
gebliebenen Spitzbogenfenster an dem frühgothischen Canon festhiclten. Nicht minder
begegnet sie uns bei der Pfarrkirche zu Priethal, deren zweitheilige Chorfenster wie die
schmalen Fenster im Erdgeschoß beider Thürme die Form des gedrückten Spitzbogens
ausweisen. Die Wölbungen des polygonalen Chorschlusses dieses schon 1259 dem eben
gegründeten Stift Hohenfurt zugewiesenen Gotteshauses ruhen auf Ecksäulen, die von
Consolen ansteigen. Dies erinnert an die Pfarrkirche des Marktes Hohenfurt, die
gleichfalls 1259 dem Stift zufiel, im Chore noch das einfache Kreuzgewölbe und den alten
Triumphbogen besitzt und die flachen Rippen auf die bis zur Hälfte der Wand hinab -
reichenden Dienste mit plumpen Capitälen aufsetzt. In welch bescheidenen Grenzen man
sich im südlichen Böhmen beim Beginn des UV. Jahrhunderts hielt, wenn es sich um
die Anlage beschränkter gottesdienstlicher Räume handelte, zeigen Lagau und Tisch. Der
geradlinige Chorabschluß der Selcaner Kirche hält eine der romanischen Bauweise
Böhmens nicht unbekannte und uns zum Beispiel auch bei der Kirche in Key oder Neudorf
begegnende Anordnung fest, steht aber mit Fensterbildung und Strebenbehandlung auf
dem Boden der Gothik. Der ähnlich schließende Chor der Peters- und Paulskirche in
Sobeslau zeigt neben Knospencapitälen die schon mit recht natürlich gearbeitetem Blatt -
werke gezierte Kelchform. Daß diese Art des Chorschlusses bei Kirchen des südlichen
Böhmens nicht unbeliebt war, beweist auch das mit einfachem Kreuzgewölbe und spitzbogigen
Fenstern ausgestattete gothische Presbyterium der Nikolauskirche in Poletitz, jenes der
Martinskirche in Stein und der Friedhofskapelle in Winterberg oder der Chor der Kirche
in Groß-Blanitz, der auch durch Anordnung einer Sedia an den Brauch des südwestlichen
Böhmens mahnt. Im Innern des Landes wahrte man diese Eigenthümlichkeit bei der
Allerheiligenkapelle auf dem Friedhofe des Klosters Sedlec, an deren Westseite zwei
zierliche sechseckige Thürme ansteigen.
Daß die mächtigen Könige Böhmens immer mehr Gewicht darauf legten, ihre
Burgen in einer allen Anforderungen der Zeit entsprechenden Weise aufznbauen und aus -
zustatten, ist angesichts der im Xlll. Jahrhundert steigenden Pracht der Hofhaltung
eigentlich nur selbstverständlich. Für die Geschichte der Architektur haben unter den Über -
resten solcher Anlagen, auf deren verschiedene Systeme hier nicht weiter eingegangen
219
zu werde» braucht, diejenige» Bautheile, deren Herstellung man eine ganz besondere
Sorgfalt zuwandte, nämlich die Burgkapellen, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Am
besten erhalten ist die wohl unter Wenzel I. begonnene Burgkapelle in Klingenberg,
ein rechteckiger, von zwei Gewölbejochen überspannter Raum, an dessen Wänden die spitzen
Kleeblattbogen der Nischen auf zierlichen, mit feinen Kelch- und Knospencapitälen ans -
gestatteten Säulen ruhen. Dreipässe bilden das Maßwerk der zweifeldrigen, mit zierlichen
Sänlchen besetzten Spitzbogenfenster, unter denen ein im Wasserschlagsprofil gehaltenes
Gesimse hinläuft. Die sechskappigen Gewölbejoche erscheinen als eine reichere, von dem
Gewöhnlichen abweichende Bildung, deren rechtwinklige Rippenprofilirung noch die Über -
gangsform festhält. Hier wie in einigen anderen Theilen der Klingenberger Burg verdient
die tüchtige Ausführung der Rippen, Schlußsteine, Consolen, Capitäle und dergleichen
besonders auch deshalb alleBeachtung,weil das sehrharteGranitmaterial mancheSchwierig-
keit der Bearbeitung bot. In der heute zu den schönsten und besuchtesten Ruinen Böhmens
zahlenden Kapelle der Burg Bösig verweist der Nischenschmuck an den fünf Seiten des
Achtecks, das Horizontalgesims, die Zweifeldrigkeit der einst vorwiegend mit Dreipaß -
maßwerk ausgestatteten Fenster, die Einstellung der Sänlchen an den Fensterleibungen
und die sorgsame Arbeit der Capitäle an den als Gewölbetrüger angeordneten Säulen
auf denselben Bandrauch und eine nicht viel spätere Ballführung, der schon eine reichere,
durch Auskehlungen belebte Prvfilirung der spitzbogig ansteigenden Rippen bekannt
war. Polygonalen Chorschluß und Nischen mit Deckung spitzer Klecblattbogen, zwischen
welchen in Kreisen noch Vierpässe eingestellt wurden, ordnete man auch für die Kapelle
der königlichen Burg in Pisek an, deren heute als Militärmagazin dienender Rittersaal
zweifeldrige, mit Dreipaß gezierte Spitzbogensenster, sowie die Rippenbehandlung und der
Consolenschmnck Beziehungen zu Klingenberg zeigen. Die Fertigstellung der genannten
Anlagen dürfte unter Premysl Ottokar II. erfolgt sein. Der Negierungszeit Wenzels II.
gehört die Inangriffnahme der schönen Erkerkapelle des Wül scheu Hofes in Kutten-
bcrg an, deren aus fünf Seiten des Achtecks gezogener Chor eine ungemein malerische
Wirkung erzielt, aber gleich dem Innern in spätgothischer Zeit, die gerade in Knttenberg
mit einer Reihe vortrefflicher Denkmale einsetzt, stark überarbeitet wurde. Künstlerisch
hervorragende und umfangreiche frühgothische Überreste des Profanbanes haben sich
weder in Burgen noch in Befestigungswerken einzelner Städte erhalten.
Der Kirchenban der Frühgvthik, welcher bei den Cisterciensern deutsche und franzö -
sische Einflüsse hervortreten ließ, hielt bei größeren Bauten an der Dreischiffigkeit des mit
niedrigen Abseiten oder als Hallenanlage aufgeführtcn Langhauses fest und bevorzugte
bei Bettelmönchsniederlassungen langgestreckte Presbyterien. Zweischifsige Anlagen wie
in Sobeslau oder bei der Bechiner Minoritenkirche gehören zu den Seltenheiten,
220
einschiffige blieben für gewöhnliche Landkirchen die Regel. Bei letzteren hielt man offenbar
in einzelnen Gegenden länger am geradlinigen Chorschlusse fest, der jedoch schon stark hinter
dem fast ausschließlich zur Herrschaft kommenden polygonalen znrücktrat. Die Eintheilung
des Kirchen-Innern und die Gewölbe-Anordnung wurden durch die an die Außen -
wände antretenden Strebepfeiler ersichtlich, welche bei der Änderung des constructiven
Gedankens vor Allem eine statische Function zu erfüllen hatten, derb und massig gebildet,
im Pultdache abgetreppt und manchmal mit Fialenaufsätzen des obersten Giebels geziert
wurden. Die Fa^ade größerer Bauten zierte ein über dem spitzbogigen Haupteingang
angeordnetes Rund- oder mehrtheiliges Maßwerkfenster. Die Portale blieben bei wirkungs -
voller Gliederung der Leibungen zumeist ohne besonderen Schmuck. Eine vorn recht -
winkelig abgeschnittene Schräge mit darunter tief einschneidender Kehle bürgerte sich für
bestimmte Gesimsarten ein. Ordnete man zwei- oder mehrfeldrige Spitzbogenfenster an,
so besetzte man Pfosten und Wandungen mit oft zierlichen Säulchen und wählte als Maß -
werk nur Drei- und Vierpässe, während die Rundfenster wie in Goldenkron und Hohen-
fnrt sehr geschmackvoll durchgebildetes und fein componirtes Stabwerk erhielten. Die
Wölbung spannte sich nunmehr seltener über qnadratem, sondern überwiegend über
oblongem Grundriß, womit die constructive Verwendung des Spitzbogens sich festigte,
der in Arkadenbogen, Fensterbildung und Portalen allmälig zur ausschließlichen Herrschaft
kam. Im Presbyterium wurden mit Vorliebe Wandsäulen, seltener bloße Consolen als
Wölbungsträger angeordnet, während man letztere in den Seitenschiffen sogar offenbar
bevorzugte. Säulenbündel fanden höchstens in Kapitelsälen, Kreuzgängen und Burg -
kapellen Verwendung. Die Schiffspfeiler entbehrten meist einer reicheren Gliederung.
Das Streben nach birnförmiger Profilirung der Rippen verdrängte gegen das Ende
des XIII. Jahrhunderts immer stärker die romanisirenden Nachklänge der Übergangs -
bildungen. Der Nachdruck, welchen einige chronikalische Nachrichten auf die Fertigstellung
der Wölbung bestimmter unter Wenzel I. ausgeführter Werke legen, scheint darauf
hinzndeuten, daß in dieser Zeit eine neue Phase der Wölbungstechnik, die ja mit dem
Vordringen der Gothik sich gewissermaßen von selbst ergab, in Böhmen eingetreten war
und die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihre Werke lenkte, deren Vollendungszeit den
Geschichtschreibern aufzeichnungswerth däuchte. Die decorativen Details erhielten einen
stets reicher werdenden Schmuck, der in den Knospen oder kelchförmigen Laubcapitälen
meist bei der Wiedergabe heimischer, nicht überladener Laubwerkmotive blieb, hier und
da aber auch ikonische Bildungen zuließ. Beide Arten fanden auch für die manchmal reicher
behandelten Schlußsteine und die consolenartigen Wölbungsträger, deren Capitäl und
Zapfen anfangs geschieden blieben, später aber zusammengezogen wurden, entsprechende
Verwendung.
222
Auch die Behandlung des Materiales machte erhebliche Fortschritte. Durchschnittlich
blieb man selbst bei größeren Bauten, die wie das Prager Agneskloster mit reichen Mitteln
und unter Heranziehung tüchtig geschulter Arbeiter ausgeführt wurden, dem in unregcl
müßigen Formen gehaltenen, mit dem Hammer etwas bearbeiteten Bruchsteine treu und
bildete nur Eckvcrbände, Gesimse, Strebepfeiler, Fenster und Thnren aus sorgfältig
behauenen Quadern. Mcrgelsandstein und der besonders in Südböhmen gebrauchte Granit
wurden fast mit derselben Geschicklichkeit bearbeitet, die sich namentlich auch in den zarten
Pfeiler- und Dienstcapitälen, sowie bei der Sculptur des Hauptschlußsteines der ehemaligen
Prager Cyriakenkirche zum heil. Kreuze offenbarte. Dem Ziegelbau wandte man sich bei
der Nimburger Dominicaner- und bei der Königgrätzer Heiligengeistkirche zu und bediente
sich des bei mittelalterlichen Backsteinbauten oft auftretenden wendischen Verbandes.
Zerstreute urkundliche und chronikalische Zeugnisse ermöglichen auch einzelne Ein -
blicke in den Baubetrieb des XIII. und beginnenden XIV. Jahrhunderts, die allerdings
vorwiegend auf Kirchenbantcn sich beschränken. War für einen Neu- oder Restaurationsball
die Erlaubniß der kirchlichen Behörde herabgelangt und durch Ablaßertheilung ein zug -
kräftiger Fördcrungsbehelf zur Erreichung der erforderlichen Mittel gefunden, so wurde
mit einem Baumeister verhandelt und ihm die Ausführung des Werkes um eine bestimmte
Summe überlassen. Für die Beschaffung des erforderlichen Materiales hatte derselbe nicht
zu sorgen. Die gesonderte Bezahlung für die Steinbrecher fiel offenbar meist dem Bau -
herrn zu, der auch das Material auf dem Land- oder Wasserwege hcrbeizubringen ver -
pflichtet war. Die Grundsteinlegung wurde feierlich begangen und durch einen dazu
besonders entsandten kirchlichen Würdenträger nicht selten in Gegenwart geistlicher und
weltlicher Machthaber vorgenommen; bei hervorragenden Anlagen, wie bei der Königsaaler
Stiftskirche, war der Grundstein durch besondere Bearbeitung ausgezeichnet. Das Material
wurde auf dem Bauplätze selbst in der zu diesem Zweck errichteten Bauhütte und neben
derselben zweckentsprechend hergerichtet und schwierigere Bewältigung desselben von einem
fürsorglichen Bauherrn besonders entlohnt. Die Art der Ausführung eines Baues ver -
anschaulicht aufs deutlichste die Darstellung des Thurmbaues zu Babel in der Velislav-
schen Bildcrbibel (Prag, Bibliothek des Fürsten Lobkowitz). Die Lasten erscheinen durch
den Krahn, in dessen Trittrade ein Mann geht, gehoben, Handlanger bringen auf einer
Leiter in muldenförmigem Troge den Mörtel hinaus, der in kleineren Mengen zum
Gerüst emporgereicht wird. Die Bretter des letzteren ruhen auf starken, aus den Gerüst-
lvchern hervorragenden Balken. Auf dem Gerüst selbst sind zwei Werkleute eben mit der
Ausmauerung beschäftigt, indem der eine durch Hammerschläge dem Stein eine genau
entsprechende Form zu geben sucht und der andere mit der Kelle den Mörtel aus einem
vor ihm stehenden Gefäße auf den Stein aufträgt. Der Umstand, daß der Stein noch an
223
der Versetzstelle mit dem Hammer zugerichtet wird, also nicht schon in einem für ein
bestimmtes Gefüge genau berechneten Zustand auf das Gerüst kam, deutet darauf hin,
daß der Buchmaler einen nach dem Brauche der Zeit vorwiegend aus Bruchsteinen auf -
zuführenden Bau im Auge hatte, worauf auch die unregelmäßigen Formen der Steine Hin -
weisen, welche den durch Gottes unmittelbares Eingreifen beim Baue gehinderten Arbeitern
entfallen; doch war die Lagerung der Schichten schon eine ziemlich regelmäßige, an den
reinen Quaderbau erinnernde. Die Ausführung hatte offenbar noch mit manchen Schwierig -
keiten zu kämpfen und entbehrte manchmal der wünschenswertsten Genauigkeit und Solidität.
Denn der Zusammensturz der Wölbungen im Prager Domkapitelhaus, des Mittelschiffes
von Kirchen, der durch Sturm und Regengüsse mitgenommenen Privatbauten und der nur
wenige Jahrzehnte stehenden Prager Befestigungsthürme trat angesichts der Thatsache,
daß andere gleichzeitige, von denselben Elementarereignissen betroffene Bauten diese
kritischen Zeiten ungefährdet überstanden, offenbar infolge gewisser Constructionsmängcl
und flüchtiger Ausführung ein, die man mit der fortschreitenden Erkenntniß aller Erforder -
nisse der neuen Bauweise langsam ablegte. Bei wichtigeren Bauten ließ man auch die
Herstellung einer dauerhaften, widerstandsfähigen Dachung nicht außeracht und sorgte,
wie dies Bischof Johann III. 1276 beim Prager Dom that, für eine solche an Stelle der
alten schadhaften oder feuergefährlichen. Die schmalen Spitzbogenfenster gewöhnlicher
Bauten, welche stark abgeschrägte Leibungen und oft steil abfallende Sohlbänke haben,
waren wahrscheinlich, wie dies heute noch bei kleinen Landkirchen, Kapellen und Sacristei-
räumen sich Nachweisen läßt, nicht durchaus verglast. Nach Analogie der feierlichen Weihe
des vollendeten kirchlichen Baues beging man zweifellos auch die Fertigstellung eines
Profanwerkes oder wichtiger Theile desselben wie in späterer Zeit schon im XIII. Jahr -
hundert mit einer kleinen Festlichkeit, an welcher natürlich auch die Arbeiter ihren
Antheil hatten.
Während die Gothik in Böhmen ihren Einzug hielt und an alle größeren und
wichtigeren Bauunternehmungen sich herandrängte, trat auch eine wichtige Änderung
hinsichtlich der Künstler und der von ihnen beschäftigten Arbeiter ein. Wie in anderen
Ländern, so hatte auch in Böhmen seit der Einführung des Christenthnms und mit der
Verbreitung der geistlichen Orden die Geistlichkeit lange Zeit hindurch nicht nur eine
kunstfördernde, sondern auch eine kunstübende Stellung eingenommen. Denn da die
Erfordernisse für die Ausübung des neuen Cultus und zweckentsprechende Vorkehrungen
für die Befriedigung aller Bedürfnisse eines Ordenshauses den Laien des Landes unbekannt
waren, so mußte hier länger andauernd nicht nur die Belehrung und Anleitung durch
das Wort, sondern auch die praktische Anleitung durch die That von Seite der neuen
Culturträger platzgreifen. Je mehr die also vermittelte Anregung durch die bei der
224
Ausführung der Arbeit beschäftigten Kräfte, die bei umfangreicheren Unternehmungen sich
in der unmittelbaren Umgebung kaum in hinlänglicher Menge fanden, sondern auch der
Laienbevölkernng entnommen werden mußten, in immer weitere Kreise drang, um so
rascher konnte das Laienelement seine selbständige Fortbildung in der Kunstübung und die
Vollziehung bestimmter, seiner Arbeitssphäre angepaßter Aufträge übernehmen. Setzte
dasselbe schon in der Mitte des XII. Jahrhunderts mit der Berufung des ans der Ferne
gekommenen, den Bau der Prager Georgskirche führenden Steinmetzmeisters Wernher ei»,
die allein vollauf verbürgt, daß man bereits damals in der Heranziehung eines Laien'
banmeisters selbst für ein Nonnenkloster nichts Anstößiges, sondern wahrscheinlich etwas
schon in Übung Stehendes und somit Unauffälliges sah, so mußte es bei der reichen Ban-
thätigkeit des XIU. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen. Wenzel U. rühmte dem Meister-
Robert, einem Bürger der Prager Kleinseite, nach, daß er an praktischer Erfahrung in der
Baukunst alle anderen in Böhmen überträfe; die in Prag bereits zu Beginn des XIV. Jahr -
hunderts nachweisbare Beschäftigung des Maurers Rudolf, der Meister Alblin und
Pillnng, der 1255 rn Neuhaus beschäftigte Steinmetz Heinrich, der im Dienst Woks von
Rosenberg stehende Berthold, die vom Brevnover Abt Bavor aufgenommenen Meister
Peter und Nikolaus bezeugen unbestreitbar, daß alle Bevölkernngsschichten des Landes
den überall anftretenden und sich bewährenden Laienkünstlern ausreichende Beschäftigung
und damit zugleich auch Gelegenheit zu weiterer Vervollkommnung boten. Da aber gleich -
zeitig, wie die Goldschmiede Gottfried und Konrad in Prag, Meister Siegfried oder die
m verschiedenen Städten auftanchenden Schreiber Hermann in Brüx, Nikolaus in Kolin,
Heinrich und Otto in Prag, Konrad in Pribislau und andere bestätigen, die Laienkunst
sich an verschiedenen Orten auch ans anderen Gebieten mit Erfolg bcthätigte, so war
offenbar während des Eindringens der Frühgothik in Böhmen die Knnstübnng'aus den
Händen der Geistlichen nahezn ganz in die der Laien übergegangen, neben welchen jene
immer seltener als ausübende Künstler auftraten, wenn sie auch noch hier und da sich als
solche versuchten.
, , Katastrophe auf dem Marchfelde und der Tod des Prachtliebenden, kunst-
freundlichen Königs im Verein mit der unmittelbar darauf nicht besonders günstigen
allgemeinen Lage des Landes eine vorübergehende Störung in die gleichmäßige Fort -
entwicklung des Kunstbetriebes brachten, die sich unter Wenzel II. überraschend schnell
wieder behob, so trat eine solche auch nach dem tragischen Tode Wenzels III. ein da die
daraustolgenden nächsten Jahre mit ihren mannigfachen Unruhen und Kämpfen das
ereste an Knnstschopfungen zurückdrängten, ja die Ausführung mancher bereits
begonnener hintanhielten. Nachdem aber die Frage der Herrschaft über das Land
chre Losung gesunden hatte und allmälig ruhigere Verhältnisse sich eingestellt hatten,
Aus der Karlshofer Kirche.
226
lenkte man in die früher gewandelten Bahnen zurück. Unter den drei ersten Herrschern des
luxemburgischen Hauses durchmaß die Gothik in Böhmen ihr zw eit es Entwicklungsstadinm,
dessen Phasen sich in einer gewissen Hinsicht auch nach den Regenten selbst scheiden lassen,
da die Anfänge der erneuerten Kunstthätigkeit der Regierungszeit Johanns, die wunderbare
Blüte derselben jener seines berühmten Sohnes Karls IV. und der rasch eintretende
Verfall den Tagen Wenzels IV. angehören. In diesen verschiedenen Entwicklungsperivden
traten auch verschiedene tonangebende Einflüsse zu Tage, da in der ersten die Knnstanschau-
ungen französischer Meister, in der zweiten die auf dem Boden derselben basirenden, aber
eigenthümlich weiter entwickelten Ideen deutscher Baumeister die Führung übernahmen
und während der dritten bereits eine aus beiden hervorgegangene einheimische Richtung
mit den zuletztgenannten um die Gleichberechtigung rang.
Der französische Einfluß zeigte sich zunächst bei der Fertigstellung der schon berührten
Cistercienserkirchcn zu Sedlcc und Königsaal, erstreckte sich aber rasch auch auf die Profan-
bauknnst Böhmens. Denn der Prager Bischof Johann IV. von Drazitz berief zur Auf -
führung der Raudnitzer Elbebrücke, deren Grundstein am 24. August 1333 gelegt wurde,
den Meister Wilhelm, den Werkmeister der Brücke in Avignon, aus dieser Stadt nach
Böhmen, wo ebensowenig als in den Nachbargebieten geeignete Werkleute gefunden werden
konnten. Die sicher verbürgte Thatsache, daß derselbe mit drei Gesellen kam, ein volles
Jahr hindurch den Raudnitzer Brückenbau leitete und nach Vollendung zweier Pfeiler und
des sie verbindenden Bogens mit seinen Genossen in die Heimat zurückkehrte, gewinnt für
das Einsetzen unmittelbar französischen Einflusses noch deshalb besondere Bedeutung,
weil der fremde Meister auch einheimische Arbeiter, welche nach seinem Weggang die
Fortführung und Fertigstellung des Baues besorgten, in der Kunst des Brückenschlagens
unterwies. Nach einer auf die Verläßlichkeit der Angabe nicht mehr prüfbaren Quelle soll
Meister Wilhelm auch den Bau der Kirche des Raudnitzer Augustinerklosters geleitet
haben. Gleichzeitig kam der französische Einfluß auch bei großen Profanbauten der Landes -
hauptstadt zur Geltung, wo 1333 der mit Böhmens Statthalterschaft betraute siebzehn -
jährige Markgraf Karl von Mähren die verfallene und fast unbewohnbare Hradschiner
Königsburg nach dem Muster des alten Louvre, der Wohnstätte der französischen Herrscher,
instandsetzen ließ. Mit der Ausführung dieser Arbeit konnte der am französischen Hofe
erzogene Fürst, dessen erste Gemalin eine französische Prinzessin war, nur einen die
Details des Musters genau kennenden französischen Architekten betrauen. Da 1335 auch
König Johann nach dem Beispiel seines die königlichen Schlösser überhaupt restaurirenden
Sohnes sowohl auf der Prager Burg als auch in seiner Residenz auf der Altstadt sehr
viel bauen und im „französischen Stile" aufführen ließ, gewannen die französischen
Anschauungen immer breiteren Boden. Das Einleben derselben fand eine ungemein
227
15,*
weitgehende Förderung, als nach der Errichtung des Erzbisthums Prag 1344 für die
Leitung des schon seit 1341 geplanten Dombaues ans Avignon der Meister Matthias
von Arras berufen wurde, der bei der Ausführung des großartigsten Kirchenbaues
im Lande die beste Gelegenheit fand, die an verschiedenen Orten zu Tage getretenen
französischen Einwirkungen in einer bestimmten Richtung zu concentriren und die Aus -
bildung einheimischer Arbeiter im Sinne der französischen Gothik nachdriicklichst zu
beeinflussen. Da Matthias nicht nur den Prager Dom im französischen Kathedralen -
systeme auszuführen begann, sondern auch bei der ihm wahrscheinlich gleichfalls über -
tragenen Anlage der berühmten Burg Karlstein offenbar in der Papstburg zu Avignon,
einer ähnlichen Vereinigung gottesdienstlicher Räume mit einein Residenzbau, einen
französischen Bau zum Vorbild gewühlt hatte, so waren die Bedingungen für das
Wcitergreifen und Einwurzeln der französischen Auffassung die denkbar günstigsten, zudem
letztere auch auf dem Gebiete des Erzgusses, der Buchmalerei und des Kunstgewerbes,
in Kleidertracht und Sitte des mit dem französischen Königshause regen Verkehr und
innige Beziehungen unterhaltenden Hofes hervortrat. Hätte Matthias von Arras länger
gelebt und in Böhmen die Ausführung der größten Kirchen- und Profanbanten geleitet,
so wäre die Baukunst des Landes zweifellos vorwiegend von französischen Einwirkungen
abhängig geblieben, die bis in die ersten Regierungsjahre Karls !V. mit maßgebender
Stellung andauerten.
Die Erweiterung der Machtsphäre des böhmischen Königs, dessen Ansehen durch
Erlangung des deutschen Kaiserthums ungemein gestiegen war, änderte so Manches in
der bis dahin festgehaltenen Sonderstellung Böhmens. Karl IV. mußte bei den zahlreichen
Anlässen, die sein persönliches Eingreifen in den verschiedensten Theilen des deutschen
Reiches erforderten, bei seinen oftmaligen in Ausübung seiner Herrscherpflichten unter -
nommenen Reisen, bei der damit verbundenen Erledigung der mannigfachsten Geschäfte
im unmittelbaren Verkehr mit den Parteien vielfach andere Anschauungen gewinnen, als
früher durch seine innigen Beziehungen zu dem seine Erziehung bestimmenden und ihm
verwandschaftlich verbundenen französischen Hofe vermittelt wurden. Traten jetzt durch
drei Jahrzehnte die Verhältnisse zum deutschen Reiche vollständig in den Vordergrund
seiner Thätigkeit, so mußten die Wahrnehmungen, welche Karls praktischer Verstand und
scharfes Auge dabei machten, auch dem Knnstleben Böhmens neue Einflüsse vermitteln.
Prag hatte nicht nur als Sitz eines Erzbischofs und der ersten im deutschen Reiche
begründeten Universität, sondern auch als Residenz des damals angesehensten europäischen
Herrschers an Bedeutung gewonnen; hier mußte die gesteigerte Entfaltung kirchlicher
Pracht, das Herbeiströmcn Wissensdurstiger aus verschiedenen Ländern und die kaiserliche
Hofhaltung zunächst eine Steigerung der Knnstthütigkeit herbeiführen.
228
Derselben war zweifellos das Persönliche Verhältniß der für den Kaiser arbeitenden
Künstler ungemein förderlich, denen für besondere Leistungen wiederholt Beweise der
Anerkennung und Werthschätzung zutheil wurden. An dem Hose Karls IV. trat die
Bestellung von Hofkünstlern in einer Weise, wie sie bei keinem anderen weltlichen Fürsten
des Zeitalters sich findet, znm ersten Mal in den Vordergrund. Er beschäftigte die Hof -
maler Nikolaus Wurmser von Straßburg und Theodorich, den Hofsteinschleifer Johann
und den Hofgoldschmied Meister Hämisch; er intervenirte persönlich bei der Berufung der
beiden Prager Dombaumeister Matthias von Arras und Peter Parier von Gmünd, gab
denNeustädter Schildern wichtige Privilegien und schenkte der Prager Goldschmiede-Jnnung
die Reliquien ihres Zunftpatrones, nämlich Insel und Ring des heiligen Eligius. Lag darin
eine besondere kaiserliche Anerkennung der ersprießlichen Thütigkeit solcher Verbünde, so
offenbarte sich die Beachtung einer hervorragenden Künstlerpersönlichkeit nicht minder
darin, daß unter die Büsten auf der Triforinmsgallerie des Prager Doms, welche das
Andenken an alle hervorragenden Förderer des großartigen Werkes der Nachwelt über -
liefern sollten, neben den Persönlichkeiten des Herrscherhauses, den Erzbischöfen und Bau-
inspectoren auch die beiden ebengenannten Dombaumeister ausgenommen wurden. Die stets
mehr zu Ansehen gelangenden Künstler, welche sich als wichtige Factorcn in der Entwick -
lung bürgerlicher Verhältnisse zu fühlen begannen, folgten dem Zuge innungsmüßiger
Organisation, der in der ersten Hälfte des XIV. Jahrhunderts beim Handwerk immer
deutlicher hervortrat. Wie die Goldschmiede schon 1324 unter König Johann, so organisirten
sich bereits 1348 die Prager Maler zu einer, gewisse Normen beobachtenden Zeche und
erlangten 1365 die Neustädter Schilder besondere Begünstigungen.
Diese allgemeinen Verhältnisse führten auch dazu, daß der Künstler bei Übernahme
eines Auftrages Rechte und Pflichten genau abgrenzen ließ. So bezog zum Beispiel der
Dombaumeister Peter Parker nach dem aus den Wochenrechnungen nachweisbaren
Vertrage wöchentlich 56 Groschen, jährlich ein Sommer- und ein Winterkleid im Werthe
von je vier Schock Prager Groschen und besondere Bezahlung für jede eigenhändige Arbeit
oder für nothwendige Intervention bei wichtigen Geschäften, während er sich um Beschaffung
des Materiales, die Instandhaltung der Werkzeuge und dergleichen nicht zu bekümmern
hatte, da dies dem Bauherrn zufiel. Die klare Feststellung der dem Baliherrn und dem
Baumeister Ankommenden Obliegenheiten war, wie zum Beispiel der 1369 zwischen dein
Neuhauser Minoritenconvent und den Steinmetzen Nikolaus und Andreas geschlossene
Vertrag betreffs der Erbauung eines Kreuzganges nach dem Muster jenes im Augustiner-
Chorherrenstift Wittingan darthnt, im ganzen Lande in gleicher Weise gebräuchlich.
Einem alle Einzelheiten genau sestsetzenden Vertragsabschluß reihte sich naturgemäß
ein in festen, sicher bestimmbaren Bahnen sich bewegender Baubetrieb an, dessen kleinste
230
Details für den Prager Dombau nachweisbar sind und von dem Musterbau einen
Schluß auf den allgemeinen Brauch ermöglichen. Administrative und technische Leitung
waren geschieden. Erstere fiel dem Bauinspector und dem ihm beigegebenen Bauschreiber
zu, die alles Erforderliche zu beschaffen und die Auszahlung vorzunehmen hatten, indeß
ein Aufseher mit einem Diener die Instandhaltung der zur Hütteuarbeit nöthigen Werk -
zeuge besorgte. Die Bauhütte selbst unterstand dem technisch-geschulten Baumeister, als
dessen Stellvertreter in der steten Beaufsichtigung der in der Hütte hergestellten Arbeiten
der Parlier eintrat. Zum Hüttenverbande zählten nur Steinmetzen, die nicht im Taglohn,
sondern im Accord nach dem bis auf den Zoll abgemessenen Stück gezahlt wurden; für
die verschiedenen Stücke waren entsprechend der Verschiedenheit der erforderlichen Arbeit
bestimmte Lohnsätze vereinbart. Maurer, Schmiede, Zimmerleute, Handlanger und andere
Hilfskräfte wurden gesondert entlohnt. Der Steinmetz verdiente wöchentlich durchschnittlich
30 bis 40, der Maurer 12 bis 16, der Zimmergeselle 12 bis 18 Groschen. Für jeden,
auch den geringsten Handgriff wurde gezahlt und bei besonderen Anlässen ein Trinkgeld,
im Sommer außerdem das Badegeld ausgeworfen. Die Sommerbauperiode, in welche die
Hauptarbeit fiel, reichte von Petri Stuhlfcier (22. Februar) bis spätestens zum Gallitag
(16. October). Welche bedeutende Summen bei großen Betrieben verausgabt wurden,
zeigen die überaus sorgfältig geführten Rechnungen des Prager Dombaues, bei welchem
von 1372 bis 1378 durchschnittlich 120.700 fl. ö. W. im Jahre gebraucht wurden.
Bei der ungemein regen Bauthätigkeit, die gerade unter Karl IV. sich im ganzen
Lande entwickelte und durch den Kaiser, den Adel, die Geistlichkeit und den Bürgerstand
die nachdrücklichste Förderung erfuhr, bleibt es von besonderer Bedeutung, die Richtung
genauer zu bestimmen, welche die Gothik in Böhmen unter so günstigen äußeren Verhält -
nissen einschlug und weiter verfolgte.
Tie bedeutsame, fast episodcnartige Epoche des unmittelbar französischen Einflusses
endete unerwartet rasch mit dem Tode des Matthias von Arras und wurde durch
die Anschauungen der deutschen Gothik abgelöst, welche das der gleichen Quelle ent -
sprießende System in einer dem deutschen Geiste mehr zusagenden Art weiter ausgebildet
hatte. Karl IV. hatte auf seinen mannigfachen Reisen in Deutschland ihre bedeutendsten,
damals noch im Betriebe stehenden Schöpfungen kennen gelernt und persönlich die
Berufung des Peter Parler von Gmünd in Schwaben, welcher in der so wichtigen
Kölner Hütte herangebildet worden war, für den Prager Dombau vermittelt. Da der
Genannte außerdem mit der Erbauung der herrlichen Moldaubrücke in Prag, des Chores
der Allerhciligeukirche auf dem Hradschin und der Bartholomäuskirche in Kolin, der
Karlshofer Stifts- und der Prager Teynkirche, sowie der Knttcnberger Barbarakirche
betraut wurde, also gerade die künstlerisch bedeutendsten und wichtigsten Bauten leitete,
231
so mußte sich bei seiner säst ein halbes Jahrhundert andauernden Wirksamkeit in Böhmen
die von ihm vertretene Richtung vollständig einleben. Welcher Anerkennung sich dieselbe
im ganzen Lande erfreute, bewies außer der Berufung des Meisters nach Kolin und
Kuttenberg, sowie seines Bruders Michael nach Goldenkron ganz besonders die Bestellung
seines Sohnes Johann als Dombaumeister in Prag, weil derselbe offenbar der berufenste
Vertreter zur Einhaltung der von dem Vater durch Jahrzehnte verfolgten, allgemein
zusagenden Richtung schien. Die Ausgestaltung derselben wurde wesentlich durch den
Zuzug deutscher Steinmetzen gefördert, die aus Österreich (Wien), Sachsen, Schwaben,
Westfalen, Straßburg, Köln, Mainz, Frankfurt, Würzburg, Nürnberg, Regensburg und
anderen deutschen Gebieten nach Prag zogen und hier besonders in der Dombauhütte
lohnende Arbeit fanden. Gegen die einheimischen Werkleute waren sie lange numerisch
im Übergewicht und vertraten auch die künstlerisch fortgeschritteneren Anschauungen.
Manche ließen sich gleich dem Dombaumeister in Böhmen nieder und verstärkten so das
Einleben der von ihnen vertretenen Richtung, wie zum Beispiel die Verheiratung des
Hofmalers Nikolaus Wurmser von Straßburg mit der Tochter eines Saazer Bürgers
darauf hindeutet, daß der Künstler einige Zeit in Saaz arbeitete. Da die größten Bauten
Prags von Peter Parler geleitet wurden und abgesehen von der dabei stattfindeuden
unmittelbaren Unterweisung einheimischer Arbeiter auch als Musterleistungen anderen
Architekten des Landes mittelbar manche Anregung znkommen ließen, so stand die Bau-
thätigkeit Böhmens in der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts unter dem maßgebenden
Einflüsse deutscher Gothik, deren genialster Vertreter der aus der Kölner Hütte hervor -
gegangene Peter Parler von Gmünd war. Denn wie dessen Schaffen sich zwar vorwiegend
auf Prag coneentrirte, aber zugleich in Landstädte wie Kolin und Kuttenberg seine
befruchtenden Strahlen aussandte, so bildete die Landeshauptstadt gerade in dieser Zeit
mit ihren mannigfaltigen Äußerungen eines abwechslungsreichen Kunstlebens und der
dabei besonders zu Tage tretenden Hauptrichtung den Mittelpunkt geistiger Anregung für
das ganze Land.
Die Zustände, welche unter Karl IV. sich heraus gebildet hatten, hielten auch zum
großen Theile während der Regierung seines Nachfolgers an. Das Institut der Hofkünstler
blieb in Kraft; so wurden besondere Baumeister, Maler und Illuminatoren des Königs
bestellt. Die vertragsmäßige Regelung der Rechte und Pflichten des Auftraggebers und
des ausführenden Künstlers dauerte auch fernerhin nicht nur für Bauten, sondern auch
für die Herstellung von Tafelbildern, Bilderhandschriften und dergleichen fort. Auch das
Jnnungswesen erstarkte immer mehr.
Bis gegen die Wende des XIV. und XV. Jahrhunderts blieben auch die unter
Karl IV. zur Herrschaft gelangten Kunstanschauungen vorwiegend im Übergewicht.
232
Denn bis 1397 führte Peter Parier die Leitung des Dombaues, die dann unmittelbar auf
seinen Sohn Johann überging, während noch wenige Jahre früher die Prager Malerzeche
durch die auffallend zahlreiche Zuwanderung und Niederlassung deutscher Maler einen
stattlichen Zuwachs erhielt. Gleichzeitig bereitete sich aber allmälig ein Umschwung vor, der
die aus den Einheimischen hervorgegangenen Arbeiter langsam und seit dem Beginn des
XV. Jahrhunderts immer stärker in den Vordergrund treten ließ. Für den König arbeiteten
nun einheimische Architekten und Buchmaler; Prager Meister cechischer Herknuft, wie zum
Beispiel Peter und Ulrich Lutka, traten bei der Bausührung Prags und der Landstädte
mehr hervor, Christian von Prachatitz fand bei den Bauten in Budweis, Heinrich von
Neuhaus als Meister der Steinmetzkunst in Pilsen, Johann, der Neffe Meisters Stanek, bei
der Eiuwölbung der Pfarrkirche in Krumau lohnende Beschäftigung. War auch vielleicht
einer oder der andere noch von Peter Parier oder von anderen, durch diesen herangebildeten
Meistern unterwiesen worden, so daß eine gewisse gemeinsame Grundlage immer vorhanden
war, so kehrte er doch als Meister in seinen Arbeiten gewisse selbständige Züge hervor, da
ja die Angehörigkeit zu einer Schule keineswegs schon sclavische Nachahmung einer ganz
bestimmten Richtung verlangt. Allerdings fehlte es an einer in genialer Auffassung dem
Peter Parler gleichen Persönlichkeit, welche die Regungen stilistischer Selbständigkeit in ein
abgeschlossenes System gebracht und an großartigen, allgemeine Aufmerksamkeit erregenden
Bauten so verkörpert hätte, daß davon gleiche Anregungen wie von den Werken des großen
deutschen Meisters ausgehen konnten. Übrigens hielten zweifellos bis zum Ausbruch der
Husitenkriege die durch Peter Parler großgezogenen Anschauungen an vielen Orten vor, da
ja die damals gerade in Thätigkeit stehende oder tretende Künstlergeueration unmittelbar
oder mittelbar von denselben beeinflußt war. Denu mit dem Tode des Meisters und
dem 1406 erfolgten Hinscheiden seines Sohnes Johann war nicht jede Nachwirkung
der bis dahin tonangebenden Richtung vollkommen abgcschnitteu. Aber die allgemeinen
Verhältnisse des Landes waren einer Weiterentwicklung derselben nicht günstig. Während
die aus der Parler'schen Schule hervorgegangenen, beim Straßburger Münsterbau
sagenhaft auftauchenden „Junker von Prag", sowie die in Wien arbeitenden Steinmetzen
Jeny von Prag und Hans von Prachatitz oder der Meister Wenzel von Böhmen beim
Regensburger Dombau den Ruhm der Prager Architektenschule an verschiedenen Orten
Deutschlands zu Ehren brachten und gerade in ihrer auf dem Boden deutscher Gothik
wurzelnden Ausbildung natürliche Anknüpfung an die Fortführung bereits begonnener
Werke fanden, verloren in Böhmen selbst bereits die deutschen Meister, wie dies auch ans
den Aufzeichnungen der Prager Malerzeche ersichtlich ist, gegen die aus der slavischeu
Bevölkerung hervorgegaugeueu Arbeitskräfte immer mehr Boden. Im letzten Jahrzehnt
der Regierung Wenzels IV. gewann die Richtung der letztgenannten Baumeister bereits
233
an Einfluß, konnte sich aber in den Husitenstürmen, die dem Kunstleben Böhmens
schwere Schädigung brachten, nicht sofort weiter entwickeln.
Wenden wir uns den Denkmalen selbst zu, die unter den drei ersten Luxemburgern
entstanden, so verdient zunächst die während der Regierung König Johanns begonnene
Anlage des Augustiner-Chorherrenstiftes Raudnitz besondere Aufmerksamkeit. Bischof
Johann IV. von Drazitz hatte dasselbe 1333 gegründet und wahrscheinlich den zum Bau
der Elbebrücke berufenen Meister Wilhelm von Avignon mit dem Ban der Kirche betraut,
welchen derselbe freilich nicht vollendete, obzwar schon 1340 die Weihe erfolgte. Die streng-
klösterliche Anordnung des kleinen ungemein sorgfältig und zierlich gearbeiteten Kreuzganges
neben der basilicaförmig angelegten, mit langgestrecktem Chore ausgestatteten Kirche,
deren Seitenschiffe wie die an der Südseite vortretende Sacristei die alten Wölbungen
bewahrten, bietet im Fenstermaßwerke, den Schlußsteinen und Capitälen fein gearbeitete
Details. Das Wappen des Stifters, die drei aus einer Wurzel entspringenden Weinblätter
der Herren von Drazitz, war sowohl hier als auch an dem Thurm der Prager Bischofs-
resideuz, einem mit spitzbogiger Durchfahrt ausgestatteten Thorthurm aus sorgsam
bearbeiteten Steinen, als Schmuck angebracht. Es begegnet uns auch in der Vorhalle der
Prager Ägidiuskirche, die freilich erst am 4. Mai 1371 geweiht wurde und in der
dreischifsigen Hallenanlage mit den beiden auf mächtigen Pfeilern ruhenden Thürmen
nichts als den Typus der ursprünglichen Eintheiluug bewahrte. Um die Mitte des
XIV. Jahrhunderts erstand mit Unterstützung Ulrichs UI. von Neuhaus die heute arg
verwahrloste Kirche des ehemaligen Minoritenklosters zu Sie uh aus, deren linkes Seiten -
schiff später in den 1369 begonnenen Krenzgang einbezogen wurde, während die
Wölbungen des rechten nach den Wappen der Schlußsteine in: XV. Jahrhundert bei
werkthätiger Förderung des Klosters durch Heinrich IV. von Neuhaus und seine Gemalin
Elisabeth von Steruberg erneuert wurden. Nach dem Brande von 1339 wurde der Thurm
des Prager Agnesklosters aufgeführt, in welchem ein Schlußstein mit der schön seulpirten
Figur eines die Geige spielenden Engels und die Rippeuprofile die Fortschritte der Zeit
erkennen lassen. Die bereits vor dem Regierungsantritt König Johanns begonnenen
Bauten großer Klöster wurden nun nieist vollendet und neue Ordensniederlassungen, wie
z. B. das vom Könige selbst gestiftete, gleich beim Beginn der Husiteuunruhen zerstörte
Karthünserkloster in Smichvv, begonnen. Die Stadtkirche hielt au dem unter den letzten
Premysliden eingebürgerten Typus des dreischifsigen Langhauses mit ziemlich vortretendem
Presbyterium, vor dessen polygonalem Schlüsse meist zwei oblonge Kreuzgewölbejoche
angeordnet wurden, durchschnittlich fest. Das zeigt die Kuttenberger Jakobskirche, eine
wirklich großartig und schön disponirte Hallenaulage mit zweithürmiger Faxade, reich
gegliederten Schiffspfeilern und trefflich durchgebildeten Fenstern; da die Vollendung
234
des Baues sich bis 1358 hinzog, lassen sich manche Details eines Stilnmschwnngcs
gerade hier gut verfolgen. Die wenig beachtete, gut erhaltene Stadtkirche zu Tachan, an
deren Westseite ein mächtiger Thurm über einer Durchgangshallc ansteigt, zeigt in einigen
der hohen Chorfenster alte geschmackvolle Maßwerkbildungen, die uns in den Mittelschiffs -
fenstern nur vereinzelt begegnen. Die Prager Altncusynagogc hält geradlinigen Abschluß
des zweischiffigen Langhauses fest. Die 1311 geweihte, später bedeutend veränderte
und umgebante Laurcntiuskirche in Nen-Bydzov läßt noch die Anordnung des Chores
und die Dicitheiligkeit des Langhauses sicher erkennen. Aus derselben Zeit stammte die
dreischiffige und dreiwöchige Teynkirche in Prag, die nach den 1890 vorgcnommenen Aus -
grabungen ein vorspringendes Presbyterium und eine unter letzterem angeordnete Krypta
besaß; von ihren beiden Fa^adenthnrmcn war bis vor kurzem der südliche als sogenannte
Ludmilakapelle erhalten, in welcher man lange Zeit Überreste eines Boleslav'schen oder
Svatoplnk'schen Baues erkennen wollte.
Von sicher bestimmbaren Prosanbauten bieten die wegen der noch zu erwähnenden
Wandgemälde interessanten Thcile des Schlosses zu Ncuhaus selbst in den alten Theilen
der Burgkapelle keine hervorragend charakteristischen Architekturdctails. Wie beschränkt auf
manchen Adclssitzen der Bnrgkapellenraum war, zeigt am besten die kleine zweijochige
Anlage desselben im Krumaner Schloß. Zn bedauern ist ganz besonders der Verlust der
Naudnitzer Elbebrücke, die unmittelbar unter französischem Einflüsse entstand, Quaderbau
mit Gußmauerwcrk im Pfeilerkerne vereinte und mit dreieckigen Vorhäuptern zum Schutz
der Pfeiler besetzt war. Letztere treffen wir auch bei der alten Brücke in Pisek, deren Anf-
sühumg vielleicht durch die Naudnitzer Elbebrücke oder die Prager Karlsbrücke beeinflußt
wurde. Mit der Vernichtung der nach dem Muster des Louvre restaurirten Prager Königs -
burg, die nächst Karlstein wohl der wichtigste und interessanteste Profanbau der Gothik
war, ging eines der werlhvollsten Denkmale unter, das über das Einsetzen der Construction
und Decoration französischer Gothik in Böhmen die vielseitigsten Ausschlüsse vermitteln
konnte.
Kam schon mit dem ersten Auftreten des Markgrafen Karl von Mähren ein frischer
Zug in das Knnstlebcn Böhmens, der auch andere, vor allen König Johann selbst mitriß,
so erschloß sich letzteres doch erst zur vollsten Blüte, als Karl die Lenkung der Geschicke
Böhmens und Deutschlands zusicl. In Prag erstand seit 1348 die nach den genauen
Angaben de» Kaisers angelegte Neustadt, deren weitgestrecktes Terrain geradezu eine
ungewöhnlich rege Bauthätigkeit herausznfordern schien. Allein sie beschränkte sich nicht
ans die Neustadt, sondern dehnte sich auch aus alle anderen Stadttheile aus. Denn neben
dem Bau des Doms, des Chors der Allerheiligenkirche und der Moldaubrücke beschäftigte
die Banführnng der Klöster Emans und Karlshof, St. Katharina und Maria Schnee,
des Ambrosiusklosters, der Sluper Kirche Maria im Grünen, der Apollinaris-, Heinrichs-,
Stefans- und Teynkirche, die Vollendung der Ägidi- und der Jakobskirche, des 1346
gegründeten Benedictinerklosters znm heiligen Geist und der 1370 geweihten Pracht -
kapelle der erzbischöflichen Residenz, die Befestigung des Vysehrad, der Neustadt, sowie
des Hradschins und Laurentiusberges, die Vornahme von Neu-, Zu- und Umbauten
in Strahov, im Thomaskloster, auf dem Vysehrad, im Zderas- und Agneskloster und
an anderen Orten tausend und aber tausend Arbeiter. Wie diese Thätigkeit in ihren
mannigfachen Wechselbeziehungen zum praktischen Leben dem Bürgerstand im Allge -
meinen Wohlstand und Neichthum zuführte, so regten letztere wiederum den Bürger an,
an stelle der früher beschränkten Wohnhäuser geräumige Neubauten anszusühren und
behaglich auvzustatten. Lo herrschte irr Prag in den Tagen Karls IV. eine geradezu groß-
artige, über alle Gebiete sich erstreikende Baubewegung, die nicht nur ungewöhnlich vielen
Meistern und Werkleuten lohnende Arbeit bot, sondern auch die Kunstanschauungen der
Zeit nachdrücklichst bestimmen mußte.
Und ebenso rührig wie in der Landeshauptstadt war man nahezu in ganz Böhmen.
Neue Klosteranlagen, wie das Cistercienserstift Skalitz, die Minoritenklöster Kruman
und Nenhariv, die Earmeliterniederlassung in Tachan, die Angustiner-Ehorherrenstiste
Wittingau, i^adUa, Rokytzan, Jaromer, Leitomischl n. s. w., wurden begonnen und
rasch anfgeführt, wobei die Neneinführung einiger Orden, als der Carmeliter, Servilen,
Cölestiner, auch manche für die Architektur nicht uninteressante Einzelheiten vermittelte.
Die Erzbischöfe befestigten ihre Burgen und Städte, was auch die Adeligen über den
zahlreichen Kirchenbanten nicht verabsäumten. Der Wohlstand der zu immer größerem
Reichthum gelangenden Städte bot auch den Bürgern die Mittel, hinter den geistlichen
und weltlichen Großen des Landes in der Aufführung gemeinnütziger und prächtiger
Bauten nicht zurückzubleiben. Rathhüuser und Hospitäler erstanden, die Besestignngswerke
wurden erweitert und entsprechender hergerichtet, großartige Stadtkirchen erhoben sich nun
entweder vollständig als Nenanlagen oder an Stelle der alten, die nicht mehr ausreichend
erschienen und ganz oder theilweise abgebrochen wurden. Das ganze Land glich sozusagen
einer einzigen großen Bauhütte, deren Knnstbegriffe natürlich von jenen des bedeutendsten
Architekten abhängig bleiben mußten, und da auch Plastik und Malerei zu entsprechender
Ausstattung und Ausschmückung der Bauten herangezogen wurden, so erblühte aus dem
großartigen Aufschwünge der Architektur Böhmens unter Karl IV. zugleich ein wahrhaft
g o ldenes Zeitalter der Kunst überhaupt in dem damals glücklichen und reich gesegneten
Lande, dessen Einwohner ruhig und friedlich neben- und untereinander lebten.
Wie mit seiner Knnstthätigkeit, so steht Prag auch mit seinen in dieser Zeit
vollendeten oder begonnenen Baudenkmalen im Vordergrund. Alle überragt der 1344
237
begonnene Veitsdom, den Matthias von Arras nach dem Vorbild großer französischer
Kathedralen sünfschiffig mit Chorumgang und Kapellenkranz ausgestattet geplant hatte.
Nur die beiden letzteren stammen ans der Zeit des ersten Dombaumeisters, dessen Pläne
auch für die Südseite und den daselbst ungeordneten prächtigen Portalban maßgebend
blieben, aber durch die Einbeziehung der etwas älteren Wenzelskapelle in der harmonischen
Gesetzmäßigkeit der Anlage einigermaßen behindert wurden. Seine Maßwerkbildnngen sind
einfach und frei von reizvoller Abwechslung der Formen, seine Pfeiler streng, ja nüchtern
gegliedert. Wie anders Peter Parier, der nicht nur durch Kühnheit der Construction, sondern
auch durch wirkungsvollsten Wechsel der Details überrascht! Seine gewaltig ansteigenden
Strebepfeiler, deren Körper trotz der Steinmasse schlank und leicht bleibt, suchen mit
doppelten Strebebogen Anschluß an den hochragenden Lichtgaden des Chores, der über
dem breit vorgelagerten Kapellenkranzc in fast zu stark betonter Zierlichkeit und Schlankheit
sich abhebt. Die Neigung znm Zierlichen beeinflußt auch seine durch scharfe Schatten
wirkenden, tief eingeschnittenen Pfeilerprofile, die Anordnung der gewaltigen sechsfeldrigen
Maßwerkfenster, in welche bereits die langgczogene Fischblasenform eindringt, den Aufbau
des südlichen Treppenthürmchens und die Durchbrechung der Wand mit dem Trisorium.
Die durch Oberlichter und Trisorium znstrvmende Lichtfülle bringt die geradezu imponirende
Leichtigkeit des Oberbaues vortrefflich zur Geltung. Die Vorliebe für wirkungsvolle
plastische Decorativn zeigt sich in den zierlichen Spitzgiebeln, Fialen, Wasserspeiern u. s. w.
Die süddeutschem Banbrauch nicht unbekannte Anordnung des Thurmes neben dem
Langhause geht auf Meister Peter Parker zurück, der den Chorban 1385 vollendete
und 1392 noch bei der Grundsteinlegung für das Langhaus als Dombaumeister
thätig war. Ebensowenig als seinem Sohn und Nachfolger Johann war es dem gleich -
falls vor den Husitenkriegen wirkenden Dombaumeister Peter oder den Bemühungen
Wladislaws II. und späteren Zeiten beschieden, die großartige Anlage fertigznstellen, deren
Vollendung nach dem ursprünglichen Plane nunmehr unter der fachmännisch so tüchtigen
Leitung des Dombaumeisters I. Mocker immer näher heranrückt. Von der Pracht und
dem Glanz der ehemaligen Ausstattung des Domes hat sich in der Wenzelskapelle, deren
Wände 1372 und 1373 mit böhmischen Edelsteinen auf goldglänzendem Verputz verkleidet
und mit den heute noch erhaltenen Malereien der Seenen des Leidens Christi geziert wurden,
ein herrlicher Überrest erhalten.
Da Peter Parlers bei der Koliner Bartholomänskirche nachweisbare Eigenart, einen
Pfeiler des Chorschlusses in die Mittelachse des Gebäudes zu stellen, auch bei dem 1377
geweihten Chore des 1351 gegründeten Augustiner-Chorherrenstiftes Karlshof auftritt,
so war offenbar auch dieser speciell von Karl IV. geförderte Bau dem von ihm hochgeschätzten
Dombaumeister übertragen. Letzterer schuf unter Anlehnung an die berühmte Pfalzkapelle
238
Karl des Großen in Aachen hier in dem Langhause, dessen Achteck eine gewaltige Stern,
gewölbeknppel überspannt, ein in den österreichischen Landen einzig dastehendes Beispiel
kühner und genialer Constrnetion.
Die eben berührte Parler'sche Pfeilerstellung wurde auch in dem Chorschlusse der
Prager T eynkirch e festgehalten, zu deren Bau deutsche Kaufleute das Meiste beisteuerten.
Im Jahre 1380 war der Chor der stattlichen Basilica, deren drei Schiffe nach süddeutscher,
zum Beispiel beim Regensburger Dom auftretender Grundrißbildung je einen getrennten
selbständigen Polygonalabschluß erhielten, bereits vollendet. Die zweithürmige Fa^ade,
welche durch das hohe sechsfeldrige Maßwerkfenster, den zierlich deeorirten Giebel und die
thnrmreiche Helmbildnng ungemein reich belebt ist, gehört wie das reich scnlpirte Portal
an der Nordseite, zu den schönsten Leistungen der Gothik in Böhmen. Maßwerk und Pfeiler -
gliederung halten sich im Formencanon Peter Parlers, der den Ban nicht selbst vollendete.
Dagegen war letzteres der Fall beim Ban des Chores der Allerheiligenkirche auf
der Prager Burg, dessen Anlage trotz schwerer Beschädigungen beim Brande von 1541
sich erhielt. Künstlerisch hervorragender als dieses Wohl von allem Anfang an nicht
besonders reich ausgestattete Denkmal ist der Altstädter Brückenthurm, gleichfalls
ein Werk des großen schwäbischen Meisters. Ihm hatte Karl IV. den 1357 begonnenen
Ban der großartig angelegten Moldanbrücke übertragen, deren theilweiser Zusammensturz
bei der Hvchwasserkatastrophe vom 4. September 1890 weithin Aufsehen erregte. Das in
großen Bvgenöffnungen den Fluß überspannende Werk erhielt durch die Befestigungs-
thürme an beiden Enden einen entsprechenden Abschluß. Der Altstädter Thurm, in zwei
durch kräftiges Gesims geschiedenen Stockwerken auf quadratischen: Grundriß ansteigend,
ist mit zierlichen Eckthürmchen ausgestattet und trägt auf der zur Stadt gekehrten Seite
reiche Decorativn. In der Mittelabtheilung eines vvn Fialen durchbrochenen Giebels find
im ersten Stockwerk neben der Statue des heiligen Sigismund die fast lebensgroßen
Darstellungen der in: Königsornat thronenden Herrscher Karl IV. und Wenzel IV.
angeordnet, in zwei Nischen des mit geschmackvollen Bogenstellungen ausgestatteten Ober -
geschosses zwei Heiligenstandbilder und zu beiden Seiten des die Fahrbahn übcrspannenden
Thorbogens die bunt bemalten Wappen der mit Böhmen damals vereinigten Länder
angebracht. Der elegante Aufbau mit dem reichen Plastischen Schmuck entspricht ganz der
Parler'schen Richtung.
Von den unter Karl IV. in Prag vollendeten Klosteranlagen hat sich die des
Benedictinerklosters Emaus ziemlich gut erhalten. An die dreischiffige, 1372 geweihte
Hallenkirche, die drei gesonderte Chorschlüsse, nach Art der Teynkirche einfach gegliederte
Pfeiler und ruhiges Maßwerk besitzt, schließt sich südlich der regelmäßig schöne Kreuzgang,
dessen Wandflächen mit einen: umfangreichen Gemüldecyclus nach dem Anordnungsprincipe
240
der Armenbibeln geschmückt wurden. Die zwei Westthnrme treten über die Grenzlinie des
eigentlichen Kerns der Anlage vor. Dreischiffige Anlage wurde auch in der Kirche des
Wenzelsstiftes auf dem Zderas festgehalten. Von der 1369 geweihten Kirche des 1355
gegründeten Katharinaklosters ist nur der schlanke Thurm, von dem Gotteshause der
1347 gestifteten Carmeliterniederlassung nur der Chor geblieben, dessen gewaltige Höhe
und Länge auf eine großartige Gesammtanlage schließen läßt, deren Quer- und Langhaus
später abgetragen wurden. Ohne wesentliche Änderungen blieb die einschiffige Apollinaris -
kirche, 1362 für das aus Sadska nach Prag berufene Kapitel errichtet und bei bedeutender
Länge nahezu schmucklos gehalten; der südwestlich vorgelegte Thurm wurde erst im
XV. Jahrhundert fertig. Während in den genannten Bauten eine gewisse Einfachheit der
decorativen Ausschmückung zu Tage tritt, begegnen uns trefflich und ungemein sorgfältig
gearbeitete Zierdetails in der alten Klosterkirche Maria im Grünen, die heute für die
Jrrenhausfiliale Slup in Verwendung steht. Für die 1360 aus Italien nach Prag
berufenen Serviten aufgeführt, bietet schon die Anlage des quadratischen Langhauses,
dessen Gewölberippen wie in der gleichfalls aus der zweiten Hälfte des XIV. Jahrhunderts
stammenden Nikolauskapelle des Neuhauser Minoritenklosters von einer schlanken Mittel -
säule strahlenförmig ausgehen, manch Interessantes; der westlich ansteigende Glockenthurm
zeichnet sich durch Schlankheit des Aufbaues aus.
Während der Regierung Karls IV. wurden auch im Ncustädter Gebiete neue Pfarr -
kirchen errichtet, deren Fertigstellung aber erst unter seinem Nachfolger stattfand. Neben der
theilweise etwas älteren St. Adalbertskirche und der Heinrichskirche auf der unteren Neustadt
hielt auch die Stefanskirche der oberen Neustadt die für Stadtpfarrkirchen schon lange
in Böhmen beliebte Dreitheiligkeit ein und wahrte sogar noch die alte Basilicaform; der
Haupteingang wurde unter dem westlich vorgelegten Thurme angeordnet. Die schlicht und
einfach gehaltenen Bauten, in deren Art auch die arg verunstaltete, im Anfang des
XV. Jahrhunderts aufgeführte, jedoch 1511 neugewölbte Michaelskirche der unteren
Neustadt blieb, wurden mit einem ziemlich vortretenden polygonalen Chorschluß ausgestattet.
Nächst der zierlichen Erkerkapelle des Altstädter Rathhauses, deren Ein -
weihung 1381 erfolgte, fesselt unter Prags Profanbauten besonders noch der ungemein
geschmackvoll dnrchgebildete Erker am Prager Carolinum, ein von Johlin Rothlew
von Kolodej erbautes und von Wenzel IV. 1383 für die Universität erworbenes Gebäude.
Die Anordnung beider Werke, welche durch künstlerisch fein empfundenen Wechsel der
Decoration hervorragen, zeigt eine Reihe der Eigenthümlichkeiten der Parler'schen Richtung,
zu deren Vertretern zweifellos die hier beschäftigten Meister gehörten.
Kunstlos in der Detailausführung, aber ungemein wirksam für den malerischen
Abschluß des Prager Stadtbildes bleibt die über den Abhang und den Rücken des
241
Böhmen.
Laurentiusberges sich hinziehende „Hungermauer", deren Aufführung die oftmals Züge
der Wirklichkeit festhaltende Sage mit der Fürsorge Karls IV. für die durch Hungersnot!)
leidenden arbeitslosen Einwohner in Zusammenhang bringt. So bilden heute noch die in
dem kunstfrohen Zeitalter des genannten Herrschers entstandenen Baudenkmale, von denen
einige für die Geschichte der Gothik im Allgemeinen eine ganz hervorragende Bedeutung
haben, wahre Perlen in dem an künstlerischem Schmuck so reichen Diadem der
königlichen Praga.
Unter den außerhalb der Landeshauptstadt aufgeführten Bauwerken verdienen die
Burg Karlstein und die Bartholomänskirche in Kolin besondere Beachtung. Da
erstere Motive von der Burg der Päpste in Avignon ausweist und gleich derselben
einem Profanbaue durch Einreihung einer auffallend großen Zahl gottesdienstlicher,
für ganz besondere Zwecke bestimmter Räume einen stark kirchlichen Zug gab, so
dürfte wohl der aus Avignon berufene Matthias von Arras 1348 die Anlage nach
jenem Vorbild begonnen haben. Welch reichen künstlerischen Schmuck der kaiserliche
Bauherr der imposanten Burg geben ließ, die in allen Haupttheilen sich verhältnißmäßig
gut erhielt, lehren die Edelsteinverkleidung der Wände in der Kreuz- und Katharinenkapelle,
die Wandmalereien dieser beiden Kapellen und der Collegiatkirche, die heute noch größten -
teils am Orte der ursprünglichen Anordnung befindlichen Tafelbilder Theodorichs in
der Kreuzkapelle und deren herrlich gearbeitetes Gitter, die Neste alter Glasmalerei und
die in prächtiger Schmiede-Arbeit ausgeführte Thüre der Katharinenkapelle. Die Fertig -
stellung des mit sculpirten Einzelheiten nur mäßig gezierten Baues und die Vollendung
der Innenausstattung erfolgte erst nach 1365. Daß es sich bei Karlstein um eine von der
landesüblichen Burgenbauart abweichende Anlage handelte, läßt ein Vergleich mit anderen
damals auf Anregung Karls IV. aufgeführten Burgen, z. B. der in allen Hauptgebäuden
noch gut bestimmbaren Ruine Karlsberg bei Bergreichenstein, sofort feststellen.
Wohlhabende Städte beriefen für die Aufführung ihrer Stadtkirchen bewährte
Baumeister aus der Landeshauptstadt. So übertrug Kolin dem Dombaumeister Peter
Parier von Gmünd den Chorbau der dortigen Bartholomäuskirche, der am 20. Januar 1360
begonnen, aber erst zu Beginn des XV. Jahrhunderts fertig wurde. Dies sicher verbürgte
Werk Peter Parlers, das in dem ans vier Siebenecksseiten gezogenen Schlüsse einen Pfeiler
in die Mittellinie der ganzen Anlage rückt und den Kranz der fünf Kapellen in die Hälfte
des Zehnecks einordnet, bekundet in dem luftig und kühn ansteigenden Oberbau mit seinen
großen sechsseitigen Maßwerksenstern, in den mit Fialen besetzten Strebepfeilern und den
kühn geführten, reich decorirten Strebebogen offenbar Beziehungen zum Prager Dom.
Hier blieb der Meister im Typus der Anlage gleichsam einer Familientradition treu,
streifte in der Ausführung Details des von seinem Vater in Gmünd geleiteten Baues und
16
242
des von ihm selbst geführten Prager Dombaues und betonte durch den in die Mittellinie
der Anlage gestellten Chorschlußpfeiler eine sonst bei den gothischen Bauten Böhmens
nicht zu oft vorhandene Eigentümlichkeit, von deren Anwendung auf den Erbauer oder
wenigstens sicher auf die ihn bestimmende Schule geschlossen werden kann.
Während beim Chorbau der Koliner Bartholomäuskirche ein neues, bis dahin für
den Bau der Stadtkirchen Böhmens unbekanntes System eingeführt worden war, blieb
man bei der nicht viel früher begonnenen Pfarrkirche zu Nimburg, deren Neuaufführung
nach dem Brande von 1343 nöthig wurde, dem sonst üblichen Typus der Pfarrkirche treu.
Wieder schließt sich an das zweijochige Presbyterium mit dem aus fünf Achtecksseiten
gezogenen Chore, dessen Vortreten durch die an beiden Seiten angefügten Zubauten
beeinträchtigt erscheint, ein dreischiffiges Langhaus in Basilica-Anordnung; die Westfa^ade
flankiren zwei Thürme, von denen nur der südliche ausgebaut ist, während über dem
spitzbogigen Hauptportal ein mehrfeldriges Maßwerkfenster eingestellt und der abgetreppte
Giebel mit Spitzbogenblenden decorirt wurde. Die Fa^adenstrebepfeiler markiren die
Langhauseintheilung. Technisch ist die Nimburger Pfarrkirche noch besonders als der
bedeutendste Ziegelbau beachtenswerth, den es neben derKöniggrätzer Heiligengeistkirche gibt.
Von dem landläufigen Typus der Pfarrkirche ging man bei der Decanalkirche in
Klattau ab, welche durch Einschaltung eines zweischiffigen Querhauses die Kreuzanlage
betont und in dem älteren östlichen Theile reinere Maßwerk- und Wölbungsformen als in
dem spätgothischen Westtheile besitzt. Chorschluß und Querhaus machen mit ihren schlanken
und hohen Verhältnissen einen sehr ansprechenden Eindruck.
Die Bauten der großen Orden waren in dieser Periode zumeist abgeschlossen; nur
in der Landeshauptstadt erstanden einige neue Benedictinerklöster, über deren Anlage das
schon erwähnte Emaus ausreichend Aufschluß gibt. Die Cistercienseranlagen mehrten sich
nur durch Skalitz, eine 1357 durch den Mindener Bischof Dietrich von Kugelweit gegründete
Filiation von Sedlec, die beim Ausbruch der Husitenkriege noch nicht ganz vollendet
war; wenige Überreste zeigen von der Trefflichkeit der Arbeit, an welcher auch der
besonders als Kirchenerbauer bekannte Prager Meister Markwart Antheil hatte. Einen ganz
besonders starken Zuwachs erhielten die seit der Einführung in die Raudnitzer Canonie
offenbar rasch beliebt gewordenen Augustiner-Chorherren. Karl IV. berief sie nach dem schon
genannten Karlshofe in Prag; Erzbischof Ernst von Pardubitz nach Jaromer, Rokytzan
und dem freigewordenen Sadska; der Bischof Peter Jelito von Leitomischl nach Landskron
und der fromme Sinn der Herren Ulrich, Jodok, Peter und Johann von Rosenberg nach
Wittingau. Für die Augustinereremiten erstanden die Niederlassungen in Weißwasser,
Schüttenhosen, Leitomischl und Roeov, für die Carmeliter die von Karl IV. gestifteten
Ordenshäuser in Prag und Tachau, für die Karthäuser, die unter König Johann in
243
10*
Smichov eingeführt worden waren, die 1376 vom Leitomischler Bischof Albert von
Sternberg gegründete Anlage in Trzek bei Leitomischl und für die Serviten die schon er -
wähnte Sluper Kirche, indeß
die bei St. Michael unter
dem VyDehrad eingeführten
Cölestiner auf dem Oybin
ein auf kaiserlichen Befehl er -
richtetes geräumiges Kloster
mit prächtiger Kirche er -
hielten, deren Vollendung
sich bis 1384 hinzog, und
die Paulaner in demselben
Jahre von Peter und Johann
von Rosenberg mit Wissen
ihres Neffen Heinrich nach
Heuraffl nächst Friedberg
berufen wurden; Domini -
caner und alle Arten des
Franciscanerordens errich -
teten fast in jeder bedeuten -
deren Stadt des Landes eine
bald größere, bald kleinere
Anlage. So erwies sich auch
die Ausbreitung und Neu -
einführung gewisser Orden
während der Glanzzeit kirch -
licher Macht in Böhmen,
da nicht nur durch die Er -
richtung des Erzbisthums
Prag, sondern auch durch
Der Erker am Carolinum in Prag. das Vorwalten religiösen
Friedens im Lande die
Entfaltung äußerer Pracht im Kirchenbau und in der Ausstattung desselben gefördert
wurde, der Bauthätigkeit im hohen Grade günstig.
Unter den genannten Anlagen, von denen nicht viele sich so ziemlich in ursprüng -
lichem Zustande erhielten, interessiren durch Originalität der Anordnung besonders die
244
Augustiner-Chorherrenbauten in Sadska und Wittingau. Die Sadskaer Kirche, auf einer
mäßigen Anhöhe gelegen und weithin in der ringsum sich ausbreitenden Ebene sichtbar,
betont aufs entschiedenste die Kreuzform, da an den aus fünf Seiten des Achtecks construirten
Chor, dem noch ein Gewölbejoch des Presbyteriums vorgelegt ist, zu beiden Seiten der
Vierung sich zwei mit gleichem Schlüsse ausgestattete Arme anschließen und der westlich von
der Vierung vortretende Thurm, dessen Untergeschoß nach der Wölbungsart und dem
sculpirten Schlußsteine sich als ursprünglich erweist, den Ansatz eines vielleicht ehedem
länger projectirten Kreuzstammes markirt. Der 1362 geweihte Bau hat trotz Über -
arbeitungen des Äußern das Wesentliche seiner charakteristischen Anordnung gut bewahrt.
Fast ebenso verhält es sich bei der Anlage des von den Rosenberger Herren gegründeten
Stiftes Wittingau. An der Nordseite der zweischiffigen Kirche, deren Langhauswölbungen
auf vier schlanken, in der Mittellinie stehenden Säulen ruhen, zieht sich ein trefflich
erhaltener Kreuzgang mit einer östlich vortretenden Kapelle hin; die Wölbungen desselben
sind überall unversehrt, die Consolen für die Rippenansütze sauber gearbeitet. Das
Presbyterium ist nicht als Fortsetzung eines der beiden Schiffe angeordnet, sondern den -
selben gemeinsam, lang gestreckt und mit polygonalem Schluffe ausgestattet. Der West -
thurm ist ähnlich wie bei der Prager Stefanskirche angeordnet. Die decorativen Details
der Schiffssäulen sind sehr fleißig und sorgfältig ausgeführt und die Maßwerkbildungen
im Allgemeinen von spätgothischen Willkürlichkeiten frei. Die Fertigstellung des Baues
erfolgte erst gegen das Ende des XIV. Jahrhunderts. Ein Vergleich der in Böhmen
während des XIV. Jahrhunderts entstandenen Augustiner-Chorherrenanlagen beweist, daß
für dieselben sich nicht ein bestimmter Typus wie bei den Cisterciensern ausgebildet hatte,
indem wir in Raudnitz, Karlshof, Sadska und Wittingau grundverschiedene Kirchenbauten
finden und sich auch das Eintheilungsverhältniß der Kreuzgänge in Raudnitz und in
Wittingau nicht vollständig deckt.
Welch imposante Bauten die Augustinereremiten ausführten, zeigt besonders die
heutige Stadtkirche zu Ehren des heiligen Kreuzes in Leitomischl, ein unter den Denkmalen
der Gothik im Allgemeinen wenig beachtetes Werk. Im Basilicatypus aufgesührt, erweist
sie sich bei einem drei Gewölbejoche nebst polygonalem Chorschlnß umfassenden Pres -
byterium und dem fünfjochigen Langhause, dessen Seitenschiffe zur halben Mittelschiffshöhc
ansteigen und deren nördliches durch Einziehen einer Gallerte später untertheilt wurde,
als einen ungemein geräumigen Bau, dessen Eintheilung die Fa^adenstrebepfeilermarkiren;
zwischen letzteren ist ein ziemlich hohes, theilweise verunstaltetes Spitzbogenportal und
über diesem ein dreitheiliges ansprechendes Maßwerkfenster eingestellt. Die an der Südseite
des Presbyteriums angebaute Josefskapelle mit den zierlich geschmückten Schlußsteinen
und den ausdrucksvollen Köpfen im Scheitel der Spitzbogenfenster ist trefflich ausgeführt.
246
Der daran anstoßende viereckige saalartige Raum, welcher als Sacristei dient und
dessen Wölbung auf einem achteckigen Pfeiler ruht, scheint gleich der aufgelassenen,
höchst edel durchgebildeten Margarethakapelle ein Überrest der alten Klosteranlage zu sein.
Die Ausführung verräth trotz späterer Entstellungen und Veränderungen überall hohe
Sorgfalt.
Heute zu sächsischem Gebiete gehörend, bietet die nun in Ruinen liegende Cölestiner-
kirche auf dem Oybin noch Simsreste, Strebepfeiler mit angeblendeten Verzierungen und
Maßwerkdetails, die sich dem Formencanon der durch Peter Parler in Böhmen herrschend
gewordenen Gothik nähern. Die Zierlichkeit der Bearbeitung gemahnt an die Sluper
Servitenanlage. Die Paulanerniederlassung in Heuraffl, welche 1384 nur aus sechs Zellen
neben einer Kapelle bestand, verlor bei dem seit 1522 betriebenen Neubau ihren ursprüng -
lichen Charakter. Von der wegen ihrer soliden Bauart bewunderten Dachauer Carmeliter-
kirche, deren Reste noch 1846 die gleiche Anlage wie bei der Prager Maria-Schneekirche,
wenn auch in bescheidenerem Maßstabe, und Übereinstimmung der Wölbungsart und
Fensterbildung erkennen ließen, ist nichts mehr erhalten. Bedauernswerth bleibt besonders
auch der vollständige Verlust der aus dieser Periode stammenden Karthäuserklöster, deren
den Ordenssatzungen entsprechende Anlagen zweifellos einige neue Züge vermittelt haben.
Die Budweiser Dominicaner bauten an ihrem heute arg verwahrlosten Kreuzgange,
dessen Vollendung der ausgesprochenen Spätgothik Vorbehalten blieb, weiter. Die ver -
schiedenen Zweige des Franciscanerordens bewegten sich in den alten Bahnen.
Das Hauptordenshans für Böhmen, die Minoritenniederlassung zu St. Jakob in
Prag, erhielt 1374 eine sehr geräumige, dem Basilicatypus treubleibende Kirche, deren
Schiffe gleich dem ungemein hohen, langgestreckten Presbyterium die alte Eintheilung
genau feststellen lassen; doch bietet der schon unter König Johann begonnene Bau heute
sonst nichts Charakteristisches. Die gegenüber anderen Minoritenkirchen des Landes
beachtenswerthe Regelmäßigkeit der Anordnung und eine gewisse Großartigkeit des Auf -
baues deuten darauf hin, daß das Jakobskloster Wohl überhaupt eine hervorragende
Minoritenanlage war, deren mehrmals genanntes prächtiges Refectorium gern zur
Abhaltung größerer Festlichkeiten verwendet wurde. Auch hier zog sich die Fertigstellung
des Kreuzganges, dessen nördlicher Flügel noch einige wenige Capitäle aus den Tagen
König Johanns enthält, durch Jahrzehnte hinaus. Ebenso war es bei dem Kreuzgange
der Neuhauser Minoriten, welche 1369 mit den Steinmetzmeistern Nikolaus und
Andreas übereinkamen, daß dafür der eben im Baue befindliche Wittingauer zum Vorbild
genommen würde. Die in allen Flügeln gleichmäßig schöne Disposition des letzteren wurde
jedoch nicht erreicht, sondern schon dadurch beeinträchtigt, daß man das linke Seitenschiff
der Kirche in den Bau einbezog. Auch hier ging, wie der Bauvertrag ausdrücklich betont,
247
die Ausführung des Werkes mit dem entsprechenden Vorhandensein hinlänglicher Geld -
mittel Hand in Hand und zog sich, was die Unterschiede der Wölbung genauer verfolgen
lassen, durch ziemlich lange -Zeit hin. Die sogenannte Tuchmacherkapelle, welche im
Ostfliigel vortrat und erst 1814 den polygonalen Chorschluß und die ursprüngliche
Wölbung einbüßte, wurde wahrscheinlich noch unter Karl IV. vollendet. Vor dem Beginn
des Kreuzgangbaues hatte man an das Langhaus der Kirche ein neues Presbyterium
angebaut, dessen polygonalem Schlüsse zwei sechskappige Gewölbejoche vorgelegt sind; die
Hauptrippen entwickeln sich von Wandsänlen, die, nicht bis zum Boden herabreichend, auf
Consolen aufsitzen. Die an den Triumphbogen ansetzenden Rippen sind unnatürlich
gebrochen, was wohl daraus hervorging, daß der Baumeister, welcher es bereits mit
gegebenen Verhältnissen zu thun hatte, offenbar in der Berechnung irrte und den ent -
sprechenden Anschluß nicht erreichte. Ob die Rücksichtnahme auf besondere örtliche Umstände
oder Unachtsamkeit es verschuldete, daß man beim Chorbau die Mittellinie des Lang -
hauses nicht zur Direction wählte, weshalb heute Presbyterium und Langhaus eine
gebrochene Axe ausweisen, läßt sich nicht mehr sicher entscheiden. Gleich dem Chorban
war die südlich daran angebaute Nikolauskapelle, deren Eintheilung an die Sluper
Servitenkirche erinnert, bereits 1369 vollendet; die Verhältnisse des zuletzt genannten
Denkmals sind ungemein edel, die Detailbehandlung zeigt geschmackvolle Einfachheit.
Die Baulichkeiten des Minoritenklosters in Neuhaus lassen heute noch deutlich erkennen,
wie die einzelnen Theile nach dem Vorhandensein der erforderlichen Mittel in Angriff
genommen wurden und die Wahrung künstlerischen Gesammteindrucks den Minoriten kaum
am Herzen lag. Dieselbe Thatsache ergibt auch der Bauznstand des Minoritenklosters
in Krumau, einer Schöpfung des kunstfreundlichen Rosenberger Geschlechtes, dessen
Angehörige neben der 1357 bezogenen Minoritenniederlassung 1361 ein Clarissinnenkloster
gründeten. Die Gebäude des letzteren wurden erst nach 1383 vollendet, während jene der
Minoriten wahrscheinlich schon bei der 1358 stattgefnndenen Weihe zumeist fertiggestellt
waren, da 1361 bereits das Provinzialkapitel daselbst abgehalten werden konnte, mit
welchem die Einführung der Clarissinnen verbunden war. Die Kirche stellt sich heute
zweischiffig dar; das ziemlich langgestreckte Presbyterium besitzt hinter dem Hochaltar
noch schönes Netzgewölbe und bildet die Fortsetzung des Hauptschiffes, von welchem es
der gothische, mit barocken Stuckverzierungen ausgestattete Triumphbogen scheidet. Trotz
der später eingezogenen Tonnenwölbnng ist die Fünsjochigkeit des Hauptschiffes sicher nach -
weisbar, an welches sich ein südliches, mit hübscher Sternwölbung ausgestattetes Seiten -
schiff anlehnt. Letzteres dürfte ursprünglich gegen den daran anstoßenden Kreuzgang offen
gewesen sein, der hier neben der Kirche gleichsam eine auf vier Säulen ruhende Doppelhalle
erhielt, welche später durch Einziehung einer Mauer zwischen den Säulen zur Hälfte in
248
die Kirche selbst einbezogen wurde. Der im Grundriß rechteckigeKreuzgang, dessen dreitheilige
Fenster starke Verwerthung des Fischblasenmotioes zeigen, besitzt eine über den Ostflügel
vortretende, dem heiligen Wolfgang geweihte Kapelle; der Schlußstein der Kreuzwölbung
hält hier in der fnnfblättrigen Rose das Andenken an die Klostergründer fest. Die spitz-
bogigen Chorschlußfenster sind ganz einfach gebildet. Der Körper der Kreuzgangsstrebe -
pfeiler ist aus Ziegeln aufgemauert, für Sockel, Sims und Deckung aber Haustein ver -
wendet. Tragen auch Kreuzgang und Wolfgangskapelle den ausgesprochenen Charakter
der Spätgothik an sich, so ist dieselbe doch noch frei von den Absonderlichkeiten am Aus -
gang des XV. Jahrhunderts, an welchen eine auf den 8. September 1491 fallende Ein -
weihung der Kapelle beide schematisch streng miteinander verbundenen Bautheile verweist;
der Kreuzgangsbau wurde unter dem 30 Jahre dem Kloster vorstehenden, 1509 gestorbenen
Guardian Wenzel, genannt Walda Jnlens, vollendet. Jedenfalls bleibt das Krumauer
Minoritenkloster nächst dem zu Eger und Neuhaus für den Typus der böhmischen
Minoritenniederlassungen höchst beachtenswerth. Bescheidener als die Krumauer Anlage ist
das 1330 von dem Waffenschmied Theodorich gegründete Minoritenkloster in Horazdiovitz,
das 1814 aufgehoben und 1854 den Schulschwestern überlassen wurde. Die einschiffige
Kirche hat ein nur mit einem Kreuzgewölbejoch und polygonalem Schluß vortretendes
Presbyterium und ein dreijochiges Langhaus, einfache Spitzbogenfenster, die an der Nord -
seite des Schiffes ganz fehlen, und besitzt keinen selbständigen Thurm, sondern blos einen
Dachreiter. Der nördlich von der Kirche liegende kleine Kreuzgang ist quadratisch mit je
drei Spitzbogenfenstern nach dem Jnnenhof angelegt; der ursprüngliche Charakter der
letzteren läßt sich noch ziemlich sicher feststellen.
Wie die Minoritenkloster, so erhoben sich auch die Hospitäler knapp an der
Mauer der Stadt oder auch außerhalb derselben. Ihre Zahl wuchs während des
XIV. Jahrhunderts ganz außerordentlich, da der Wohlstand des Landes in der Sorge für
die ärmeren Bewohner gleichsam wetteiferte. Mit den Unterkunftsräumen, die wohl auch
nach einem bestimmten Schema angelegt wurden, aber nirgends so intakt erhalten sind,
daß letzteres durch Vergleich mehrerer Objecte mit zweifelloser Sicherheit herausgeschält
werden könnte, verband man in der Regel einen zur Abhaltung des Gottesdienstes
bestimmten Gebäudetheil, eine Art Hauskapelle. Verhältnißmäßig gut erhielt sich die
Spitalskirche zum heiligen Geist in Brüx, die schon 1351 bestand. Aus fünf
Seiten des Achtecks schließend, besitzt das Presbyterium sowohl im Chorschluß als auch in
dem Kreuzgewölbejoch sculpirte Schlußsteine, deren erster das Lamm mit der Kreuzesfahne
zeigt, indeß den anderen ein Schild mit dem Zeichen ziert. Die Consolen, von welchen
die Rippen ansteigen, bieten schönes Laubwerk, Thiere und Menschenköpfe in trefflicher
Ausführung, jedoch in theilweise recht beschädigtem Zustande. Das einschiffige Langhaus,
249
/
Der Pulverthurm in Prag.
in dessen Südwand ein spitzboglges
Portal eingesetzt ist, erhält wie das
Presbyterium sein Licht durch zwei -
theilige Maßwerkfenster, die noch die
reinen Formen des Drei- und
Vierpasses verwerthen. Die doppelt
abgetreppten Strebepfeiler der Chor -
partie sind aus Quadern anfgeführt
und mit ziemlich hohem Sockel aus -
gestattet.
Nicht blos der König und der
Erzbischof, sondern auch der Adel
legte Gewicht darauf, innerhalb der
Mauern der immer prächtiger anf-
gebauten Burgen einen besonderen
gottesdienstlichen Raum, eine Bnrg-
kapelle zu haben. Wie prächtig
Karl IV. solche Stätten ansschmücken
ließ, zeigt am besten Karlstein. Im
Allgemeinen hielt die Burgkapelle den
Typus der einschiffigen Landkirche
mit mäßig vortretendem, polygonal
schließendem Presbyterium ein.
Außer den schon früher ge -
nannten Stadtkirchen, welche wegen
besonderer Grundrißbildung oder
abweichender Technik eine genauere
Charakterisirung erforderten, wurden
jetzt noch zahlreiche andere, schon
früher begonnene vollendet, andere
von Grund ans neu anfgeführt. Die
Decanalkirchen zu Chrudim und
Hohenmauth, zum Theil der Zeit Karls IV. angehörend, fesseln durch Großräumigkeit der
Anlage, die uns auch in der schönen Halle der Pilsener Erzdechanteikirche begegnet und
selbst in Pilgram angestrebt wurde, indeß Prelouc und Patzau treffliche Stemmetzdetails
aufweisen. Die von den Rosenbergern wiederholt reich bedachte Kirche in Barau wurde
250
damals zweischiffig angelegt, was vielleicht auch mit Zugrundelegung eines anderen
Planes in Patzan der Fall war. Ein trefflich disponirter einschiffiger Ban ist die Kirche in
Skntsch, in deren Presbyterium hübsch gearbeitete Consolen mit Engels-, Jünglings- und
Mannesköpfen interessiren, während der vorgelegte Westthurm mit sonst nicht oft wieder
erscheinenden Sculptnrresten geschmückt ist. Auch die stattliche Kirche in Kardasch-Recitz
enthält noch Bautheile der guten Gothik. Die gothischen Presbyterien romanischer Kirchen-
banten, wie in Planian, Kondrac u. s. w. wurden im XlV. Jahrhundert mit dem
Anwachsen der Bevölkerung der einzelnen Pfarrsprengel immer zahlreicher. Wie schlicht
Landkirchen und Kapellen ausgeführt wurden, zeigt z. B. die Kirche in Neuern, welche
mit dem nördlich angeschobenen, aus dem Viereck ins Achteck umsetzenden Thurme an
die Anordnung der älteren Friedhofskapelle in Taus mahnt. Die 1361 geweihten, im
XVII. Jahrhundert umgestalteten beiden Kirchlein des heiligen Ulrich und Prokop in
Kienberg sind höchst einfach; während elfteres originell profilirte Streben, cordonirte und
diamantirte Thürleisten, sowie am Sockel der Chorwanddienste Rauten- und anders
dessinirte Formen bietet, hat letzteres bei dem Mangel der Strebepfeiler an dem gleichfalls
polygonalen Chorschlnsse die kleinen, spitzbogigen Maßwerkfenster noch bewahrt. Trotz der
Ungunst der Zeiten, welche in den Religionskriegen, sowie bei den Geschmackswandlungen
späterer Jahrhunderte den Bestand der 1384 genannten, ungemein zahlreichen Landkirchen
und Kapellen sehr stark lichtete, haben sich doch noch so manche derselben erhalten, ohne
jedoch etwas künstlerisch Hervorragendes oder Charakteristisches zu bieten. Handwerks -
mäßige Ausführung, schlichte Einfachheit und Beschränkung auf das Nothwendige und
Landläufige treten vorwiegend zu Tage.
Obzwar die Regierung Karls IV. eine langdauernde war, Böhmen während derselben
im Allgemeinen von schweren Heimsuchungen verschont blieb und die geistige und materielle
Entwicklung eine gedeihliche war, so wurden doch verhältnißmäßig nicht viele der großen
Bauwerke noch bei Lebzeiten des Herrschers vollendet. Flossen der Ballführung derselben
auch ans frommen Stiftungen, Testamenten, Geld- und Materialspenden reichliche oder
wenigstens durchschnittlich auslangende Mittel zu, so überhastete man doch nicht die
Fertigstellung, die im Ganzen mit strenger Wahrung der Solidität Hand in Hand ging.
Daher fiel die Vollendung, ja mehrfach die Einstellung des Betriebes der großen Bauten
nach dem Abschluß gewisser Haupttheile erst in die Regierung Wenzels IV., unter welcher
die Bauführung hinsichtlich aller früher erläuterter Detailfragen zumeist sich innerhalb der
bereits durch jahrzehntelangen Brauch fixirten Grenzen bewegte. So erfolgte unter dem
genannten Herrscher die Einwölbung und Weihe des Domchors und nach mehrjähriger
Unterbrechung die Grundsteinlegung zum Weiterbau des Doms; so baute man noch im
Beginn des XV. Jahrhunderts an der großen Moldaubrücke ^ für deren Herstellung auch
Gothisches Motiv vom Pulverthurm in Prag.
die Bürgerkreise ihr Scherflein abgaben; so ging' der Bau des Stiftes Karlshof, des
Carmeliterklosters und anderer Prager Kirchen, von denen einige auch nur erweitert oder
restanrirt wurden, langsam weiter. Ähnlich war es auch auf dem Lande, da z. B. der
Koliner Chorbau, die Wölbung der Wittingauer Klosterkirche, das Cistereienserkloster
Skalitz, das Clarissinnenkloster in Krnmau und andere bis zum Tode Karls IV. nicht fertig
waren. In diesen oft unter derselben Leitung fortgeführten Bauten mußte selbstverständlich
auch während der nächsten Zeit der Geist fortleben, der bis dahin die Bauführung de»
Landes bestimmt hatte; die Richtung Peter Parlers blieb bei allen diesen Werken in
Geltung.
Sie gewann aber auch gerade in den >vagen Wenzels 1^. Gelegenheit, bei einein
neuen Prachtbau des Landes, der in der Großartigkeit der Anlage unmittelbar an den
Prager Dom heranreichte, sich zu bethätigen und die Sphäre ihre» Einflusses zu erweitern.
Dies war bei der Barbarakirche der damals ungemein reichen und blühenden Bergstadt
Kuttenberg der Fall. Für die Aufführung des Baues hatte das Prager Metropolitan-
kapitcl der Frohnleichnamsbrnderschaft in Knttenberg als Bauherrn am 27. Juli 1388
den Grund abgetreten. Die reichen Mitglieder der genannten Corporation folgten gewisser -
maßen nur einem Zuge der Zeit, der auch die Bürgerschaft anderer L-tädte, wie Ulm, in
frommer Gesinnung zur Aufführung mächtiger, mit den Kathedralkirchen wetteifernder
Gotteshäuser führte.
Der Meister, den die reichen Bauherren mit der Ausführung des monumentalen
Werkes betrauten, legte die Barbarakirche nach dem Kathedralensystem mit Chorumgang
und Kapellenkranz an, was vielleicht die Auftraggeber selbst, angeregt durch den nahezu
vor ihren Angen aufgeführten Koliner Bau, von dem Meister verlangt haben mochten;
wahrscheinlich war auch ein ziemlich stark vortretendes Querhaus und gleich vom Anfang
ein fünfschiffiges Langhaus geplant. Sind auch keine Urkunden erhalten, aus welchen sich
die Übertragung der Bauführung an Peter Parker mit zweifelloser Sicherheit ergibt, so
machen doch die augenfälligen Eigenthümlichkeiten des Werkes feine maßgebende Theil-
nahme gewiß. Wie in Kolin und Karlshof ist ein Pfeiler des übereck gestellten Chor-
pvlygons in die Mittellinie der Anlage gerückt, da der Kapellenkranz in die Hälfte eines
5 41» -
l.
5 !>!
Sechzehnecks eingestellt wurde, womit ein Pfeiler in die Mittellinie der Kirche tritt und
je vier Kapellen rechts und links von demselben angeordnet erscheinen. Letztere sind wie
die Koliner Kapellen durch mächtige dreieckige Manerpfeiler geschieden, die breite Blind -
felder nach außen kehren. Ebenso deckt sich die Verschiedenheit in der Wahl des Chorschluß-
und des Kapellenkranzpolygons in Kuttenberg und Kolin, indeß die Übereinstimmung
in den Maßwerkbildungen, in den Profilen der Fenster, der Schiffs- und Wandpfeiler
fast für die Benützung der gleichen Schablonen bei beiden Bauten zu sprechen scheint.
Das durchbrochene Triforium, welches unter den über die ganze Wandbreite ausgedehnten
mächtigen Oberlichtern angeordnet ist, und der reiche Strebe-Apparat verweisen auf das
Analogon des Prager Doms, dessen genialer zweiter Baumeister hier sein überwältigendes
Ideal eines großen Kirchenbaues verwirklichen zu können glaubte. Allein nur die Chor -
anlage, die Anordnung und wahrscheinlich theilweise auch die Ausführung des Kapellen -
kranzes dürfen Peter Parler zugeschrieben werden, dessen Plan bis zum Ausbruch der
Husitenkriege eingehalten wurde, denn der Bau schritt nur langsam vorwärts, da zu dem
znletztgenannten Zeitpunkt der Chor noch ohne Hauptwölbung stand. Die Weiterführnng
des über den Kriegsunruhen ganz ins Stocken gekommenen Werkes blieb der für Böhmens
Knnstleben nicht unwichtigen Regiernngszeit Wladislaws II. Vorbehalten, so daß an der
Kuttenberger Barbarakirche zwei verschiedene Richtungen der Gothik in Böhmen zum Worte
gelangten.
Dieser herrliche Bau ist das letzte Werk, welches dem Meister, der schon den Höhe -
punkt seines Schaffens erreicht hatte, übertragen wurde. Hier zeigte er auf dem Boden
desselben Gedankens, welche Fortschritte er seit der Übernahme des Koliner Chorbanes
gemacht hatte, wie seine Anschauungen reifer und abgeschlossener geworden waren. Seine
Werke lassen Peter Parler als eine scharf ümrissene Künstlerindividualität erkennen. Als
Baumeister bevorzugte er gewissermaßen unter dem Einfluß der in Köln und Gmünd
genossenen Ausbildung die den Gmünder Meistern offenbar sehr zusagende Anlage mit
Chorumgang und Kapellenkranz, wobei er die vielleicht aus württemberg'schen Mustern
erwachsene Neigung, einen Pfeiler der Choranlage ins Kirchenmittel zu stellen, mit einer
gewissen charakteristisch werdenden Vorliebe hervorkehrte. Schlanke Verhältnisse des Auf -
baues, Kühnheit der Construction, starke Gliederung der Rippen und Pfeiler, das Streben
nach Vermittlung reicher Lichtfülle durch mächtige Maßwerkfenster und Anordnung eines
Triforiums traten überall zu Tage. Ein reiches Strebesystem brachte Bewegung und
Abwechslung in den Außenbau, dessen dünne Fialen, hohes Hanptgesims und Gallerie
gleich den Fischblasen des Maßwerkes das Eindringen der Spätgothik ankünden. Die bei
den Portalbildungen des Doms und der Teynkirche auftretende Verwendung des Rund -
bogens bereicherte den damaligen Formencanon um ein Motiv, welches gleichzeitig nirgends
wieder mit solcher Entschiedenheit betont und geschickt mit den anderen in einen ansprechen -
den, geschmackvollen Einklang gebracht ist. Für die Hauptportale liebte der Meister reichen
plastischen Schmuck, indeß er die minder wichtigen nur mit Stabwerk und Hohlkehlen
belebte. Die Anschauungen des Architekten standen oft unter jenen des Bildhauers, welcher
an dem Aufbau und der Ausstattung seiner Bauten reiches plastisches Beiwerk anzuordnen
pflegte; so griff Peter Parier nicht nur ans dem Gebiete der Architektur, sondern auch der
Plastik fördernd und maßgebend ein. Wenn auch das Fortleben seiner Richtung nach
seinem Tode außer Zweifel steht, so ist es doch nicht möglich, ganz genau die Abhängigkeit
der künstlerischen Ideen bestimmter Individuen von ihm zu begrenzen und zum Beispiel
zuverlässig festzustellen, inwieweit sein Sohn Johann in den Fußstapfen des Vaters
wandelte und im Weiterbau des Doms daneben auch einer selbständigen Richtung
Ausdruck verlieh. Die am Ende des XIV. und zu Beginn des XV. Jahrhunderts in
Böhmen und bei verschiedenen Bauten Deutschlands auftauchenden Meister, wie die
Meister von Prachatitz, Jeny von Prag und Jane Pehem in Wien, Meister Wenzel in
Regensburg, die Junker von Prag, waren offenbar ans der Schule des großen schwäbischen
Architekten hervorgegangen und wandten sich nach auswärts, als im Lande langsam eine
andere Richtung das Oberwasser gewann und die ehedem so rege Bauthütigkeit angesichts
der immer mehr alles Interesse absorbirenden religiösen und nationalen Streitigkeiten
allmälig ins Stocken kam.
Neben dieser ans dem Boden deutscher Golhik groß gewordenen und zu allgemeiner
Beachtung gelangten Richtung gestaltete sich unter Wenzel IV. auch eine zweite der auS
den Einheimischen hcrvvrgegangenen Meister aus, die natürlich so Manches ihrer Aus -
bildung der herrschenden Parler'schen Schule dankten. Sie stellten die Bauführer für so
manchen kleineren Baubetrieb des Landes, dessen Leiter man noch gern aus der Landes -
hauptstadt holte, wo die ungemein lebhafte Bauthütigkeit unter Karl IV. die Heranbildung
eines deni Bedarf stets näherkommenden Nachwuchses inländischer Arbeiter gefördert hatte.
Die umfangreichsten und größten Überreste dieser Richtung sind im südlichen Böhmen
erhalten. Den Ausgangspunkt für die Betrachtung derselben muß die Ägidikirche in
Mühlhausen (Milevsko) bilden, dessen Prämonstratenserkirche zu den bedeutendsten
romanischen Anlagen Böhmens gehört. Dieselbe besitzt ein außer dem Chorpolygon
dreijochiges, mit einem Sterngewölbe geschlossenes Presbyterium, in welchen: wie in de:
Südwand des ursprünglich offenbar zweischifffgen Langhauses dreifeldrige, mit Drei- und
Vierpaßmotiven gezierte Maßwerkfenster sitzen. Die Nippen der Wölbung entwickeln sich
von glatten, schmucklosen Capitülen der schlanken Presbytcriumswandsäulen und treffen sich
in den gleichfalls schmucklos bleibenden runden Schlußsteinen. Im Langhaus dagege,:
wurden sie ans seulpirte Consolen gestellt, die an beiden Kirchenwänden den Zusammensturz
254
der Wölbung überdauerten und auch für die beiden Gewölbejoche der nördlich ans
Presbyterium angefügten, geradlinig schließenden Sacristei angeordnet wurden. Hohe, fast
bis zum Dach reichende Strebepfeiler, deren Körper doppelt abgetreppt ist, markiren am
Presbyterium und an der Südseite des Langhauses die Wölbungseintheilung.Das gothische
Südportal ist einfach und schmucklos, der Sacristei-Eingang mit Stäben und Hohlkehlen
gegliedert. Obwohl ohne reicheren plastischen Schmuck, macht besonders das Presbyterium
durch seine schlanken Verhältnisse und die zierliche Wölbungsart einen recht guten Eindruck.
Dasselbe ist deshalb von hohem Interesse für die gothische Architektur Böhmens, weil 1407
in einem heute noch abschriftlich erhaltenen Contract des fürstlich Schwarzenberg'schen
Archivs in Krumau der Baumeister Johann, Neffe des Meisters Stanek, verpflichtet
wurde, den Chor der Pfarrkirche in Krumau nach Art jenes in Mühlhausen zu wölben,
womit nach einem Vergleich der Mühlhausener Denkmale mit dem Krumaner Presbyterium
nur die Ägidikirche gemeint sein konnte. Der Chor der letzteren war wahrscheinlich nicht
lange vorher fertig geworden und hatte offenbar Beifall gefunden, da er als Muster
hingestellt wurde; vielleicht hatte Meister Stanek oder Johann selbst denselben vollendet.
Gleich dem Mühlhausener Vorbilde ist die Krumaner Nachbildung in ziemlich
befriedigendem Zustande auf die Gegenwart gekommen. Zu Beginn des XV. Jahr -
hunderts hatte sich die durch Peter von Rosenberg aufgeführte Pfarrkirche der Stadt
Krumau als nicht mehr zureichend erwiesen, weßhalb man einen entsprechenden Erweite -
rungsbau beschloß, der 1407 schon so weit gediehen war, daß dem Meister Johann die Ein -
wölbung übertragen werden konnte. Wieder steigt die reiche Wölbung des gleichfalls aus
fünf Seiten des Achtecks gezogenen Chors von ganz einfachen Capitälen der schlanken
Wandsäulen wie in Mühlhausen empor; die des Chorpolygons stimmt an beiden Orten
vollständig überein, während im übrigen Theile des Krumaner Presbyteriums der Mühl -
hausener Wölbungsgedanke reicher entwickelt ist. Das Langhaus stellt sich als eine auf
vier Pfeilerpaaren ruhende Hallenanlage dar und hat in den hohen Fenstern der Süd -
wand besser als in den der Stadt zugekehrten das gut gearbeitete Maßwerk der Drei-,
Vier- und Fünfpässe erhalten. Bei zwei Pseilerpaaren steigt der Körper achteckig empor,
indeß er bei den beiden anderen aus je vier einem gemeinsamen Kern vorgelegten Halb -
säulen gebildet wurde; unter dem Ansätze der Gewölbefüße tritt eine Verengung des also
beschaffenen Schaftes ein, die nach dem Analogon im Schiffe der Hohenfurter Stiftskirche
in Südböhmen nicht unbekannt gewesen zu sein scheint, aber die Bildung der oberen
Pfeilerpartien ziemlich roh gestaltet. Hier findet sich keine Beziehung zu der trotz mancher
Schwächen eleganten und geschmackvollen Pfeilerprofilirung der Parler'schen Schule,
welcher die hohen und breiten Langhausfenster sich mit dem Streben reicher Lichtver -
mittlung nähern; die künstlerische Empfindung ist in der organisch schönen Verbindung
Gothisches Motiv vom Pulverthurm in Prag.
der einzelnen Bauglieder noch nicht vollkommen abgeklärt. Daß auf plastischen Schmuck
Bedacht genommen war, zeigen die für Statuenaufnahme berechneten Consolen der Schiffs -
pfeiler. Ein hübsch prosilirtes Portal ziert den Treppenaufgang zu dem westlich angeordneten
Musikchor, dessen Brüstung Vierpässe in guter Linienführung füllen. Die Seitenschiffe
bewahren die alte einfache Kreuzwölbung, welche auch für das Netzgewölbe des Mittel -
schiffes den Grundgedanken vermittelte, da in jeder Jochabtheilung zwei Kreuzgewölbe,
deren Rippen parallel laufen und sich durchschneiden, nebeneinander angeordnet wurden.
An dem Thürsturz des nördlichen Haupteinganges, dessen Leibungen drei Hohlkehlen mit
entsprechendem Stabwechsel gliedern, fesseln zwei ziemlich derb ausgesührte Köpfe. Die
dem genannten Portal vorgelegte Vorhalle zeigt in dem krabbenbesetzten Spitzbogen,
neben welchem rechts und links stark beschädigte Fialen ansteigen, in der Anordnung der
zur Füllung der Zwischenräume bestimmten Wappen, von denen das mit der fünfblättrigen
Rose dem um die Förderung des Kirchenbaues verdienten Herrengeschlecht gilt, und in
den ornamentalen Zuthaten eine dem Parler'schen Geschmack verwandte Neigung zur
Decoration des Äußern durch plastische Beigaben. Der untere Theil des Thurmes entstammt
einem älteren Ban. Die wie in Mühlhausen an der Nordseite des Presbpteriums ange -
baute Sacristei bewahrt eine schöne Netzwölbung, deren Ausführung gleichfalls dem
Meister Johann übertragen wurde. Die Abtreppungen der hohen Strebepfeiler, welche
auch an Mühlhausen erinnern, treten bei einfacher Deckung verhältuißmäßig nur wenig
vor. Ob die Einwölbung des Kirchenbaues wirklich innerhalb der vertragsmäßig aus -
bedungenen drei Jahre vollendet wurde, muß fast bezweifelt werden, da eine einst in der
Sacristei aufgefnndene Tafel die Aufzeichnung enthielt, daß der aus Krumau gebürtige
Bischof Matthias 1439 die Veitskirche consecrirt habe; doch war die Wölbung gewiß noch
vor den Husitenkriegen fertig geworden und verschob sich die Weihe wahrscheinlich nur
mit der während der Unruhen langsamer fortschreitenden Innenausstattung, von welcher
sich ein zierlich aufgebautes Sacrameutshänschen erhielt, bis zur Wiederkehr geordneter
Verhältnisse.
Die Ägidikirche in Mühlhausen und die Veitskirche in Krumau bieten die
wichtigsten Aufschlüsse über die von Meistern slavischer Herkunft gepflegte Richtung,
25tt
die im Ausbau sich an landläufige Typen hielt, die Wölbungsstützen wenig gliederte und die
organische Verbindung mit den aufsitzenden Rippen nicht immer erreichte, in der Anordnung
großer Fenster und plastischen Beiwerkes sich der maßgebenden Schule des'Prager Dom -
baumeisters näherte. Die Wölbungsart der genannten Bauten machte offenbar Schule,
denn das schöne Netzgewölbe der Krumauer Sacristei begegnet uns auch mit einigen
unwesentlichen Änderungen in den Sacristeien zu Stein und Poletitz. Die Consolen in
Poletitz zeigen gut gearbeitete männliche und weibliche Köpfe, sowie Thierfratzen, der Schluß -
stein des aus drei Seiten des Achtecks gezogenen Chors die fünfblättrige Rose der Rosen -
berge, die sa leicht einem in Krumau bewährten Meister die Ausführung des Poletitzer
Sacristeibaues zuweuden konnten. Die Mühlhausener Wölbung wurde auch das Vorbild
für den Chor in Blatna, so daß also ein gewisser schulmäßiger Zusammenhang der
Denkmale nicht zu bestreiten ist. Es bleibt zu bedauern, daß von den Werken des Bau -
meisters Kriz, der im Falle des Ablebens Meister Johanns den Krumauer Bau fertig -
stellen sollte, offenbar im Dienste Prager geistlicher Würdenträger arbeitete und Wohl mit
dem das Schloß Kuudratitz für Wenzel kV. erbauenden Meister Crux identisch war, nichts
sicher Erweisbares sich erhalten hat, weil sich gewiß an seinen Werken das Einsetzen
der in Südböhmen besonders herangebildeten einheimischen Richtung auch an anderen
Orten des Landes verfolgen ließe. Jedenfalls bezeugt die Stellung des Meisters Kriz,
welcher dem Meister Stanek und Johann gewiß auch in den künstlerischen Anschauungen
verwandt war, aufs deutlichste die Werthschätzung, deren letztere sich in den maßgebenden
Kreisen der Geistlichkeit und des Hofes bereits am Beginn des XV. Jahrhunderts erfreuten.
Eine zweite Abzweigung der durch Einheimische geförderten Bauweise ging schon in
den Tagen Peter Parlers von Prag selbst aus. Die wichtigste Familie, welche gleich
mehrere Mitglieder für das Bauhaudwerk stellte, war die der Brüder Lutka, von denen
besonders Peter Lutka gegen das Ende des XIV. Jahrhunderts mit der Aufführung
von Bauten in Prag und auf dem Lande betraut wurde. Im Jahre 1389 übertrug
demselben der Comthur der Johanniterniederlassung bei der Prager Brücke einen Thurm -
bau und im Jahre 1391 Herr Smil von Richenburg die Herstellung der Spitalskirche in
Skutsch, welch letztere heute noch recht gut erhalten ist. Das Presbyterium der ein-
sch^kMN Kirche hat außer dem in fünf Seiten des Achtecks schließenden Chor nur ein
Kreuzgewölbcjoch und fünf zweiseldrige Maßwerkfenster, die gleich den beiden in der
Südwand des Langhauses Drei- und Vierpässe zieren. Die Rippen entwickeln sich auch
in den zwei Kreuzgewölbejochen des Schiffes von einfachen Consolen und treffen sich in
glatt behandelten Schlußsteinen. Das in der Wand der Evangelienseite angeordnete
Sacramentshüuschen ist außen mit einem Spitzbogen decorirt, der mit einer Kreuzblume
abschließt. Drei Stäbe und vier Hohlkehlen gliedern das Gewände des verhültnißmäßig
Der Wladislaw'sche Saal in Prag,
258
niedrigen Spitzbogenportals der Südseite. Die Anlage hielt sich in bescheidenen Grenzen
und die Ausstattung blieb einfach. Fast dieselbe Eintheilung wie die Skutscher Spitalskirche
zeigt die derselben Bauperiode angehörende Kirche in Koci, in deren gleichgegliedertem
Presbyterium den Eselsrücken der Sacramentshänschenumrahmung zwei in Kreuzblumen
schließende, mit derben Krabben besetzte Fialen flankiren. Der spitzbogige Westeingang
zeigt die Jahreszahl 1397. Der hölzerne Oberbau des gewölbten Presbyteriums, die
Holzdecke des Schiffes und der im Blockverbande ausgeführte Westthurm, zu welchem
eine gedeckte Brücke hinüberführt, ist jünger, weshalb das Denkmal nicht, wie es
meist auch mit der bekannten Braunauer Friedhofskirche geschehen, als Holzbau der
luxemburg'schen Zeit aufgeführt werden darf. Derselben gehört nur der steinerne,
ursprünglich ganz gewölbte Unterbau an, dessen Übereinstimmung mit der in Skutsch
eingehaltenen Anordnung, falls sie nicht aus dem sonst ziemlich verbreiteten Typus der
Anlage kleiner Landkirchen sich ergab, auf die Beschäftigung desselben Meisters, des
Peter Lutka aus der Prager Neustadt, deuten würde. Letzterem wurde wahrscheinlich auch
die Erbauung der durch ihre Wandmalereien interessanten Kirche in Li bisch übertragen,
die nur wenige Jahre vor dem Bau in Koci vollendet wurde. Die Presbyteriumsanlage
des einschiffigen, heute wie in Koci mit flacher Holzdecke im Langhause ansgestatteten
Kirchleins stimmt vollständig mit den beiden zuletztgenannten Denkmalen überein und
zeigt bei sonstiger Einfachheit in den Profilirungen und der Consolenbehandlnug einen
manchmal originellen Zug derben Geschmacks. Der Bau gewinnt auch dadurch an
Interesse, daß Peter Lutka bei Übernahme anderer Kirchenanlagen vertragsmäßig zur
Nachbildung gewisser Details der Libischer Anlage verpflichtet wurde. Soweit sich die
Thätigkeit Peter Lutka's, der wahrscheinlich einige Zeit auch in königlichen Diensten stand,
mit urkundlicher Sicherheit verfolgen läßt, erstreckte sie sich vorwiegend auf die Ausführung
kleinerer Bauten und entwickelte offenbar kein so abgeschlossenes, künstlerisch bedeutsames
System wie die Peter Parlers, wenn sie auch vielleicht zahlreichere Objecte umfaßte. Nächst
Peter Lutka erhielt am Ende des XIV. und am Beginn des XV. Jahrhunderts der Prager
Steinmetz- und Maurermeister Nikolaus Plik die meisten, vorwiegend Profanbauten
geltenden Aufträge in der Landeshauptstadt und auf dem Lande; so stecken z. B. in dem
Schlosse Worlik, wohin Peter Zmrzlik von Svojsin den Genannten berief, sicher heute
noch einige, allerdings nicht näher bestimmbare Reste der Arbeit dieses Meisters.
In Prag, wo die bei dem Ausbruch der religiösen Streitigkeiten bald bekannt
gewordene Betlehemskirche nur in bescheidenen Dimensionen am Schluffe des XIV. Jahr -
hunderts vollendet wurde, erregte die auf der Prager Neustadt erbauteFrohnleichnams-
kapelle durch die ganz abweichende Form allseitiges Aufsehen. Der von der Prager
Frohnleichnamsbrnderschaft 1382 begonnene Bau, der 1791 gänzlich abgetragen wurde,
259
war in der Farm eines achteckigen Sterns angelegt; an jede Seite stieß ein Vorsprung,
der mit zwei einfach abgetreppten Strebepfeilern beseht war und sein eigenes Dach hatte.
Nach den erhaltenen Abbildungen besaß das Denkmal hohe, maßwerklose Spitzbogen -
fenster und auf den Strebepfeilern Fialenaufsätze, die auf eine reichere plastische Aus -
stattung hindenten könnten. Ob diese oon allem Herkömmlichen abweichende Anlage einem
einheimischen Meister zuznrechnen sei, darf billigerweise schon deshalb bezweifelt werden,
weil die beiden mehr einheimischen Richtungen im Aufbau der Kirchen sich offenbar mit
Vorliebe an die landläufigen Anlagetypen gehalten haben. Von den älteren Prager-
Kirchen erfuhren während der Regierung Wenzels IV. die Castulus- und die Peterskirche
auf dem Porte mehrere Veränderungen; die Michaelskirche auf der unteren Neustadt,
das heutige Gotteshaus der deutschen evangelischen Gemeinde Prags, laßt m seiner
Umgestaltung nur wenige Details der Anlage aus dem Anfang des XV. Jahrhundert»
wieder erkennen. Die Dreischiffigkeit des kleinen Langhauses, die auch die aufgelassene,
noch im XIV. Jahrhundert vollendete Martinskirche der Altstadt ausweist, hielt sich wie
der westlich ansteigende Thurm an den herrschenden Brauch.
Unter den Profanbauten nahmen wohl die unter Wenzel IV. vollendeten Anlagen
der königlichen Schlösser Zebrak, Tocnik und Kundratitz den ersten Rang ein; die Überreste
des zweiten lassen auf eine ausgedehnte Anlage, bei welcher man an passenden Stellen
plastischen und malerischen Schmuck nicht vergaß, schließen. Der nächst der Erkerkapclle
älteste Theil des Altstädter Rathhauses in Prag wurde nach dem Brande von 1399
aufgefnhrt. Von den vielgernhmten gothischen Rathhäusern in Kolin und Kattenberg ist
nichts erhalten, während das Leitmeritzer doch noch einige alte, dieser Bauzeit angehörige
Reste besitzt. Ein sehr beachtenwerthes Denkmal der Profanbaukunst Böhmens ist der
Thurm des Rathhanses in Kaaden, der im Erdgeschoß eine auf vier mächtigen Pfeilern
ruhende gewölbte Eingangshalle, im ersten Stock eine kleine, heute als Archivsranm
benutzte Erkerkapelle, sowie außerdem die abschließende Zinnenbekrönnng und den offenbar
nach altem Vorbilde restaurirten Helm erhalten hat. Dieser Bau wurde rn den ersten
Jahren des XV. Jahrhunderts errichtet, da Wenzel IV. erst 1401 gestattete, un
Kaadener Rathhanse einen Altar aufznstellen. Der Kaadcner Rathhausthurm läßt in
seinen! Unterbau vortrefflich das in den damaligen Städten beliebte Lanbengangsystem
erkennen, für welches ja auch die an der Ostseite des Altstädter Ringes m Prag erhaltenen
Überreste von Wichtigkeit sind. Denn die Prager Laubengänge waren eme Art Muster -
anlage welche einzelne Landstädte, wie zum Beispiel Saaz, ausdrücklich zum Vorbild
wählten. In manchen derselben erhielten sich auch Reste der in dieser Periode anfgeführten
Befestigungen, so in Budweis, wo gerade unter Wenzel IV. der größere Thcll der Stadt -
mauern und Thürme restaurirt oder auch neu hergestellt wurden.
260
Die Regierungsepvche der drei ersten Könige ans dem Hause Luxemburg füllt ein
ungemein wichtiges Blatt in Böhmens Architekturgeschichte. Verschiedene Einflüsse lassen
sich Nachweisen, bestimmte Richtungen scheiden. EinZug der Monumentalität trägt besonders
die unter fremden Einwirkungen entstandenen Werke, Einfachheit und meist Beschränkung
auf das Nöthige die Leistungen der einheimischen, durch fremde Unterweisung in der
künstlerischen Auffassung fortschreitenden Meister. Die Typen der Anlagen blieben meist
unverändert. Neben dem auch für Stadtkirchen verwendeten Kathedralensystem behielt die
dreischiffige Basilica oder die Hallenkirche und die einschiffige Landkirche die alte Geltung.
Von diesen Typen abweichende Anlagen, wie Karlshof, Sadska, Wittingau, die Prager
Frohnleichnamskapelle, erwuchsen offenbar ans ganz besonderen Rücksichten der Bauherren.
Gleichmäßige Entwicklung der Grundrißdetails war überwiegend, Unregelmäßigkeit trat
hier und da in Bettelmönchsniederlassungen zu Tage. Der Aufbau wurde kühner und freier,
mit ihm strebten die Wölbung, die am Beginn des XV. Jahrhunderts schon bei kleineren
Kirchen Stern- und Netzfvrmen liebte, und die stets schlanker emporschicßenden Strebe -
pfeiler immer energischer nach oben. Der Strebe-Apparat wurde bei den Kathedralanlagen
immer reicher, die Fülle des plastischen Beiwerkes mehrte sich in ebenso fein gearbeiteten
als künstlerisch zart empfundenen Dekorationen. Fialen und Gallerien neigten mit den
schon häufiger werdenden Fischblasen des Maßwerkes immer entschiedener zur Spätgvthik,
die auch in einer schwächlicheren Profilirnng der Nippen und Pfeiler allmälig mehr zum
Worte kam. Reich ausgestattete Portale sind selten, im Allgemeinen galt noch lange der
frühere einfache Aufbau. Consolen und Capitüle, anfangs oft schön scnlpirt und reich mit
Laubwerk verziert, wurden gleich den ursprünglich ähnlich behandelten Schlußsteinen, die
höchstens ein Wappen schmückte, bald nackt und schmucklos. Die Fenster nahmen an Höhe
und Breite zu und schieden durch stärkeres und schwächeres Stabwerk Haupt- und Nebcn-
abtheilungen; bei größeren Kirchenbauten hielt man die Einstellung eines mehrfeldrigen
Maßwerkfenstcrs über dein Hauptportal fest, bei kleineren wurden überhaupt nur zwci-
feldrige Fenster üblich. Der Thnrmbau gewann dadurch, daß man die vier Ecken des
Zinnenkranzes oder der abschließenden Galleric mit kleinen Thürmchcn besetzte, ein höchst
malerisches Äußere, blieb bei gewöhnlichen Landkirchcn oft etwas gedrückt, wurde im
Prvfanban der Burgen und Städte immer mächtiger und auch äußerlich wohl gegliedert
entwickelt. Die Erkeranlagen verliehen dem Äußern der Prvfanbanten hohen Reiz; die
gerünmige Anordnung mehr saalartiger Jnnenräume stellte auch der Wölbnngstechnik
dankbare und interessante Aufgaben.
Mit den Fortschritten künstlerischer Anschauung in immer weiteren Kreisen ging
auch die Entwicklung der Bantechnik Hand in Hand. Reiner Quaderbau beschränkte sich
auf ganz besonders hervorragende Objecte, für welche reiche Mittel zur Verfügung standen,
261
stillst hielten Quader und Bruchstein das schon früher eingegangene Compromiß fest, nach
welchem Zierdetails und alle für besonderen Widerstand berechneten Bauglieder aus Hau -
stein hergestellt wurden.
Der Backstein erlangte
immer weitere Verbrei -
tung. Seine Verwendung
beim Kirchenbau wurde,
seit in Königgrätz und
Nimbnrg so bedeutende
Anlagen entstanden waren
und auch ganze Wölbungs -
anlagen in Ziegeln ans -
geführt wurden, zwar
größer als früher, konnte
aber das fast in allen
Theilen des Landes ver-
hältnißmäßig billig und
bequem zu beschaffende
Bruchsteinmaterial nicht
verdrängen. Die ganz aus
Ziegeln aufgeführten, fehr
interessanten Überreste der
Nimburger Stadtbefesti -
gung bezeugen am deut -
lichsten, welche Bedeutung
der Backstein für die Auf -
führung großer Prvfan-
baulen gewonnen hatte.
Dasselbe verbürgt die
Thatsache, daß bereits im
XIV. Jahrhundert für die
Prager Altstadt die Kauf -
preise der verschiedenen
Die Nikolauskirche in Laun.
Ziegelsorten von der Stadtgemcinde selbst festgesetzt wurden und am Beginn des
XV. Jahrhunderts eine neuerliche Verordnung aller Prager Städte in diesem ^inn
erfolgte, weil eben das Ziegelmaterial für die Bauführnng der Bürger von größter
262
Wichtigkeit geworden war, denn es verdrängte auch in der Dachdcckung immer mehr die
Schindel und behauptete weitaus den Platz gegenüber der Schieferdeckung. Anderes Dach-
decknngsmaterial fand nur in seltenen Fällen Verwendung; so ließ Karl IV., um den nach
Prag zusammenströmenden Fürsten und Edlen der ganzen Welt den Reichthum und die
Bedeutung Böhmens recht augenscheinlich zu machen, 1370 die beiden Hauptthürme
im Osten und Westen der Prager Königsburg mit vergoldetem Blei decken. Stroh -
deckung erhielt sich besonders bei ländlichen Profanbauten, zu deren Aufführung das selbst
bei kleineren Kirchenbauten immer seltener werdende Holz noch vorwiegend verwendet
wurde. Die seit dem XIV. Jahrhundert in Böhmens Städten fortschreitende Pflasterung
und die Fürsorge für Instandhaltung der Brücken mußten auch dem Baubetrieb manche
Förderung zuführen.
Die unter Wenzel IV. immer noch nicht ganz erstorbene Kunstthätigkeit Böhmens
erstarrte unter dem eisigen Todeshauche der über die Cultur des Landes erbarmungslos
dahinbrausenden husitischen Windsbraut. Ihr fiel aber zugleich weitaus der größte Theil
der in früheren Zeiten entstandenen Kunstwerke zum Opfer, deren großartiger Gesammt-
reichthum den in Kunstfragen gewiß nicht befangen und einseitig urtheilenden Aeneas
Silvius zu den begeisterten Worte hinriß: „Kein Reich Europa's ist, wie ich glaube,
in unserer Zeit mit so vielen herrlichen und geschmückten Kirchen reich ausgestattet
gewesen wie Böhmen; die zum Himmel emporragenden Gotteshäuser waren von wunder -
barer Länge und Breite und mit Steinwölbungen gedeckt; die Altäre strotzten von goldenen
und silbernen Reliquienfassnngen, die pricsterlichen Kleider waren mit Perlen durchwirkt,
alle Ornate reich, die Kirchcngeräthe ungemein kostbar und hohe und sehr breite Fenster
mit schimmerndem Glas und von wunderbarer Arbeit ließen das Licht einströmen." Diesen
überaus reichen Bestand an kirchlichen Kunstdenkmalen, in denen sich ja die künstlerischen
Bestrebungen der früheren Jahrhunderte am schönsten verewigt hatten, mußte die der Pracht -
entfaltung beim Gottesdienst und bei der Kirchenausstattung abholde, ja oft sogar feindliche
Richtung des husitischen Fanatismus aufs schwerste erschüttern. Da die Zerstörungswuth
ebensowenig vor der Pforte der Klöster, wie vor dem Thore der Städte hielt, die sich der
Bewegung nicht angeschlossen hatten, und kirchliche Bauten, Bürgerhäuser und stolze
Burgen in gleicher Weise traf, so sanken zahlreiche Baudenkmals, welche der Richtung des
gothischen Stils angehörten, in Schutt und Trümmer. Die künstlerisch hoch bedeutsamen
Anlagen der Cistercienser in Königsaal/ Nepomuk, Skalitz, Goldenkron, Hradiste und
Sedlec wurden ganz oder theilweise zerstört; dasselbe Schicksal theiltcn die meisten Klöster
der Benedictiner, Prämonstratenser, Bettelmönche und der anderen Orden. Manche Stadt -
kirche brannte nieder oder litt schweren Schaden, wenn Hüb und Gut der Bürger in Rauch
und Flammen aufging. Wenige Jahre genügten, um gründlich mit dem aufzuräumen,
263
was der Kunstsinn und Fleiß früherer Jahrhunderte geschaffen. Öde Trümmerstättcn, kahle,
rauchgeschwärzte Mauern und niedergebrvchene Wölbungen der verlassenen Wohnungen
Lezeichneten jetzt die Mehrzahl der Orte, an welchen Herz und Auge durch künstlerisch
vollendete Gebilde erfreut worden waren. Daß bei einer solchen Vernichtung der Kunst -
werke, bei einer so ausgesprochenen Stellungnahme gegen die Werke der bildenden
Kunst sich unmöglich das Kunstverstündniß heben, geschweige denn eme Knnstthatigkeck
entwickeln konnte, ist ebenso selbstverständlich wie die Thatsache, daß em Unkraut niemals
als natürliche Frucht die Traube des Weinstocks oder die süße Feige zeitigen wird.
Denn ganz abgesehen von dem Waffenlärm und den Kriegsunruhen, die dem Knnst-
leben nie günstig sind, absorbirten auch zahlreiche andere damals im Vordergrund des
allgemeinen Interesses stehende Fragen das Sinnen und Trachten der Bevölkerung in
solchem Grade, daß für die Kunst nichts übrig blieb. Böhmens Knnstleben wurde durch
die Hnsitenkriege aufs tiefste geschädigt. Es bedurfte mehrerer Jahrzehnte, ehe mit der
Rückkehr ruhiger und mehr geordneter Verhältnisse auch die Kunstbestrebnngen sich erholten
und wieder in bestimmten Richtungen sammelten, denen seit den Tagen Wladislaws U.
abermals dankbare größere Aufgaben gestellt wurden. DieZwischenzeit war selbstverständlich
im Vergleich zu den früheren Verhältnissen zwar eine Periode schweren Darmederliegens
der Kunst, aber keines vollständigen Stillstandes derselben, da ja die im Lande lebenden
Meister, sobald sie nicht mehr an der Austragung der Tagesfragen persönlich sich betheiligen
mußten, beim Wiederaufbau der eingeäscherten Städte und Kirchen, sowie der zerstörten
Burgen, beim Beschaffen der nöthigen Ausstattungsstücke unzweifelhaft hinreichend
Beschäftigung fanden. Freilich kam bei diesen hauptsächlich das Nothwendige berück -
sichtigenden Unternehmungen, bei solchen Wiederherstellungen und Instandsetzungen
beschädigter Anlagen ein wirkliches Kunstbcstreben nur selten zum Worte. Wo aber dw,e
Nestaurationsthätigkeit und Beistellung des Nöthigen einsctzte, mußten die dazu berufenen
Arbeiter noch die Überreste ihrer in besseren Zeiten erworbenen Ausbildung verwcrthen,
da die Unruhen keine neue Künstlergeneration, keine neuen Knnstanschannngen gezeitigt
hatten. So stand man eine zeitlang ans dem Boden der vor dem Hnsitenstnrm herr,che»den
Knnstübnng, in welcher auch Nachwirkungen der Parler schen Richtung vorhielten aber
die einheimischen Meister an Einfluß gewannen. Erst die von letzteren herangebikete
Generation, die nicht wie jene des XIV. oder des beginnenden XV. Jahrhunderts sich
durch die Theilnahme an verschiedenen wirklich großartigen Baubetrieben kunstlenp ,
vervollkommte, verfiel in eine mehr provinzielle Manier, die zwar nicht überall, aber m
manchen beachtenswerthen Dingen originell wurde. Zur weiteren Betätigung erhielt
letztere ein größeres Feld, seit unter Wladislaw U. wieder ein knnst,renndl,ches Zeitalter
anbrach, freilich nicht mehr von den großen Gedanken der karolimschen Epoche getragen.
264
Die allgemeinen Verhältnisse des Baubetriebes bewegten sich in den vor den
Hnsitenkriegen eingehaltenen Bahnen. So schlossen 1435 die Bürger von Wvdnian
mit dem Meister Jaklik und seinem Sohn Wenzel einen genau specisicirten Vertrag für
den Chorban ihrer Pfarrkirche, so wurden beim Weiterban der Kuttenberger Barbarakirche,
für welchen Benediet Rieth am 14. April 1512 vertragsmäßig bestellt wurde, wie einst
beim Prager Domban genaue Rechnungen geführt, so waren die Lohnverhältnisse vollständig
geregelt, Sommer- und Winterbauperiode unterschieden, Trink- und Badegeld noch im
Brauch. Die znnftmäßige Organisation des Bauhandwerkes hatte auch in Böhmen während
des XV. Jahrhunderts große Fortschritte gemacht. Die Zunft der Steinmetzen in der
Prager Altstadt verwaltete schon 1489 „von der Hauptstadt aus alle Zünfte gleichen
Handwerks im ganzen Königreich Böhmen"; mit letzteren waren aber nur die einzelnen
städtischen Verbünde wie in Kattenberg gemeint, neben welchen bei großen Ballführungen
auch unabhängige, selbständige Baugewerksvereinigungen bestanden. Eine solche gab es
z. B. 1489 auf dein Hradschin unter der Leitung des mit der Ausführung königlicher
Bauten betrauten Meisters Benedict Rieth; dieselbe stand zu der Altstädter Zunft wohl in
demselben Verhältnis wie der Regensburger Dombaumeister Roritzer zu den Beschlüssen
des Regensburger Steinmetzentags von 1459. Die Lehrzeit war genau normirt und das
Meisterstück der Steinmetzen und Maurer bis in die Einzelheiten geregelt. Doch waren die
Baumeister Böhmens, deren einzelne Verbände ein wohlorganisirtes Ganze bildeten,
offenbar nicht außer jeder Berührung mit den Verbänden Deutschlands. So bestätigte am
3. August 1497 Peter von Rosenberg die Errichtung einer für den Rosenbergischen Besitz
begründeten Steinmetzenzeche, welche im engsten Anschlüsse an die Passauer Haupthütte
organisirt wurde. Am 26. Juli 1518 erklärten die zur Schlichtung der Annaberger
Streitigkeiten versammelten Steinmetzen,unter welchen Benedict Rieth die erste Rolle gespielt
zu haben scheint und auch die Meister Jörg von Maulbronn aus Brüx, Hans Günther von
Oberndorf und Meister Jörg Schremle aus Komotau mit den Gesellen Philipp von Wimpfen
ans Laun und Martin von Plan sich begegnen, in einer Eingabe an Herzog Georg den
Bärtigen von Sachsen die Handwerksgenossen „anß dem königreich Behem, Schlesin vnd
Meissen hoch beschwertht" durch das Vorgehen der Magdeburger Hütte. Das beweist, daß
selbst in dem Wiederaufblühen der Knnstthätigkeit in Böhmen nach den Hnsitenkriegen ein
Einfluß von Deutschland her zweifellos wieder zur Geltung kam. Denn 1516 wurden
für den Bau der Kuttenberger Barbarakirche durch Benedict Rieths Parlier Hanns auch
in Wien, wo ja eine der vier Hanpthütten bestand, neue Gesellen ausgenommen, deren
deutsche Namen von 1517 an in den Kuttenberger Rechnungen Vorkommen.
In dem Baubetrieb mußte selbstverständlich, da in den größeren, damals
schon zumeist cechischen Städten selbständige Steinmetzen- und Manrerzünste bestanden,
266
deren Angehörige wohl überwiegend, wenn nicht ausschließlich slavischer Herkunft waren,
die von denselben ausgebildcte Richtung besonders stark bemerkbar werden. Die Thätigkeit
des Meisters Jaklik und seines Sohnes Wenzel in Wodnian, des 1474 an dem Sobeslaner
Thnrme arbeitenden Benedict von Schweidnitz, des 1489 in Knttcnbcrg lebenden
Meisters Blazek und seines Vorgängers Hanns, des für den Ban des Prager Pulver -
thurms gewonnenen Meisters Wenzel und seines Nachfolgers Matthias Raysek von
Prostejov, der auch in Kattenberg, Gang, Königgrätz und in anderen Städten beschäftigt
war, verbürgt wie die Berufung des Meisters Nikolaus für die 1489 begonnene Erbauung
des Piseker Thurms das Einsetzen dieser Richtung in den verschiedensten Theilen des
Landes. Ihr bedeutendster Vertreter war Matthias Raysek, der in dem Ausbau der
Kuttenberger Barbarakirche und bei dem Altstädter Pulverthurm mit den großen Parler-
schen Leistungen des Prager Doms und des Altstädter Brückenthurms wirklich erfolg -
reich in den Wettbewerb eintrat.
Ob aber diese Meister bereits beim Beginn der Regierung Wladislaws II. wirklich
allen künstlerischen Anforderungen genügen konnten, wird durch die Thatsache zweifelhaft,
daß der König sich 1476 an den Rath von Eger wandte, damit derselbe ihm den Stadt -
baumeister Erhärt zur Ausführung seiner Bauten überlasse. Erfolgte diese Bitte gewiß
nur deshalb, weil man den deutschen Meister nach seinen bisherigen Leistungen einer
solchen Aufgabe vollkommen gewachsen wußte und die durch ihn vertretene Richtung
schätzte, so bewies die Bestellung des deutschen Meisters Benedict Rieth für die Leitung
der königlichen Bauten, des Doms und städtischer Kirchen deütlich, daß man der in
Deutschland blühenden Bauweise durchaus nicht ablehnend gegenüber stand. Die 1444
an die Gräfin von Schaumburg gerichtete Bitte Ulrichs von Rosenberg, ihm den Meister
Andersen zu überlassen, weil er in Krumau keine solchen Meister hätte, das strafende
Vorgehen der Prager Malerzunft gegen die Ausschreitungen der in Prag arbeitenden
Maler Lorenz von Meißen, Gabriel von Zittau, Hans von Lauf und Ulrich von Wien,
die Beschäftigung Konrad Pflügers in Böhmisch-Aicha und die Bestellung des Meisters
Kunz für den Kirchenbau in Graupen verbürgen die fortgesetzte Beschäftigung deutscher
Arbeiter in Böhmen. Denselben fiel dabei meist nicht eine untergeordnete, sondern die
maßgebende Stellung zu, ja, als man in Brüx nach dem furchtbaren Brande an den
Neubau der Stadtkirche ging, lieferte den Plan dazu der damals mit der Leitung des
Annaberger Kirchenbaues betraute Meister Jakob von Schweinfurt und stand der Bau-
führnng selbst der Meister Jörg von Maulbronn vor. 1507 arbeitete der Görlitzer Meister
Albrecht Stieglitzer in Königgrätz, 1520 der Görlitzer Bau- und Zimmermeister in
Böhmisch-Leipa. Da eine solche Einflußnahme deutscher Kunst sich nicht auf die Architektur
allein beschränkte, sondern auch ans allen anderen Gebieten vorhielt, indem zum Beispiel
267
König Ladislaus 1453 sein Majestütssiegel von den Nürnberger Goldschmieden Seitz
Herdegen undHieroiiynmsHölper, demGroßvater des berühmten AlbrechtDürer,anfertigen
ließ, 1465 die Freiberger Maler Meister Heinrich und Meister Hans Münzer die Lieferung
einer Altartafel für Graupen übernahmen, 1495 der Görlitzer Maler Georg Burchart eine
„toffel" nach Liebenan ablieferte, 1486 Meister Lorenz, Zinngießer von Baudissin, fin -
den Guß der großen Graupener Glocke vertragsmäßig gewonnen wurde und Maler aus
Plauen sich in Kaaden niederließen, so mußten auch die deutschen Kunstanschauungen einen
nicht unwesentlichen Theil des spätgothischen Kunstschaffens in Böhmen bestimmen.
Unter den Werken der einheimischen Architekten ragen die Leistungen des Matthias
Rahsek imponirend hervor. Seine Tätigkeit setzte 1476 bei der Erbauung des Prager
Pulverthurms ein, zu welchem am Montag nach Palmarum 1475 der Grundstein gelegt
wurde. Die Altstüdter Rathsherren, welche die Ausführung ursprünglich einem Meister-
Wenzel übertragen hatten, nahmen nach Schluß des Thorbogens den Matthias Raysek
von Prostejov, bis dahin Baccalanrens der Tehnschule, dazu aus, die Bildhanercubeiten
und Ornamente herzustellen, und übertrugen ihm nach zwei Jahren allein die Weitei-
führnng des Werkes. Die untere Partie desselben bis zu den oberhalb des Thorbogeus
angeordneten Vierpässen gehört dem Meister Wenzel, dem offenbar der Altstädter Brücken -
thurm als Muster vorschwebte; der von hier bis zu den unteren Fenstern reichende
Theil ist gemeinsame Arbeit beider Meister, indeß das Übrige von Matthias Raysek
stammt, der gleichsam die ihm nachgerühmte Fähigkeit im Zeichnen und Anfertigen von
Blumen und Bildwerk besonders hervorkehrte, um das Äußere des Werkes mit Figuren,
Wimpergen, Consolen und Fenstergewänden in überkünsteltem, manchmal sogar plumpem
Laubwerk zu zieren. Gegenüber dem klaren, kräftigen und harmonischen Aufbau des
Altstädter Brückenthurms ist hier eine gewisse Unsicherheit in der Beherrschung der
schwerfälligen Masse mit übertriebener, an Spielerei streifender Künstelei gepaart. Aller -
dings lag dieselbe im Geist der damaligen Bauweise, da sie den Matthias Raysek offenbar-
bekannt machte und weiter empfahl. Denn als die Kuttenberger, die am 22. August 1483
den Grundstein zu dem seit den Husitenkriegen stockenden Weiterban der Barbarakirche
gelegt hatten, wahrscheinlich nach dem Tode des 1488 oder 1489 verstorbenen ersten
Meisters Hanns einen neuen Bauleiter benöthigten, nahmen sie den von der Altstädter
Steinmetzenzunft empfohlenen Meister Rahsek, welcher dem Kuttenberger Meister Blazek
von Jugend auf bekannt war, als Werkmeister auf. Seine Arbeit läßt sich ziemlich genau
abgrenzen; sie umfaßt den Choroberbau bis zum Schlußstein der Wölbung, dessen
Inschrift 1499 als Vollendnngsjahr nennt, und fesselt durch die mit originellem Maßwerke
gezierten Oberlichter, das Strebeshstem mit den reichgeschmückten Strebepfeilern, die zwar
eigenartige, aber nicht uninteressante obere Anßeugallerie des Chors und die mit schöner
268
Mtgothischer Decoration ausgestatteten steinernen Chorschranken. Was ihm in Prag die
Überweisung des Pulverthurms vermittelte, eine hohe Fertigkeit hinsichtlich des Dekora -
tiven, trat auch bei der Barbarakirche zu Tage, in deren Ballführung nach ihm der königliche
Baumeister Benediet Rieth eintrat. Derselbe wölbte die drei mittleren Schiffe des mächtigen
Hallenbaues, zog in die inneren Seitenschiffe die Emporen ein und setzte den Dachstuhl
auf. Die Hauptarbeiten wurden durch den Meister Nikolaus den Parlier, Meister Johann
Mach, die Steinmetzmeister Peter, Georg Polak und Vitek und endlich durch Meister
Nikolaus weitergeführt und um die Mitte des XVI. Jahrhunderts nahezu eingestellt; 156.')
waren sie vollendet, ohne daß der großartige Plan Peter Parlers vollständig verwirklicht
wurde, da man den Ban mit einer Nothmauer abschloß. Gegenüber Meister Hanns, der
sich mehr den alten Formen näherte, ohne ihre Eleganz und künstlerische Vollendung zu
erreichen, bewegte sich Matthias Raysek freier, ging in der Formengebung eineil eigenen
Weg und bestimmte durch seine Art die Wirkung des Haupttheiles, während Benediet
Rieth die Schissswvlbungen nach der bei seinen anderen Bauten verbürgten Manier
herstellte, das Maßwerk starrer, die Strebepfeiler einfacher und derber behandelte und die
Letails oft weniger elegant ausführte. In den jüngsten Partien der Barbarakirche nahmen
die immer mehr phantastischen Formen eine wiederholt schwerfällige Geschmacklosigkeit an.
Aber trotz aller klar hervortretenden Unterschiede der einzelnen Bauführungsperioden, die
nahezu zwei Jahrhunderte umfassen, macht das Bauwerk noch heute einen überwältigenden
Eindruck und bleibt die imposanteste Leistung der Spütgothik in Böhmen, die ganz
besonders der von Matthias Raysek ausgeführte Theil zur Geltung bringt.
Wahrscheinlich hat der zuletzt Genannte auch die einschiffige Laurentiriskirche des
bei Kuttenberg gelegenen Bergstüdtchens Gang erbaut, deren Kanzel und Sacranrents-
häuschen sicher von ihm stammen; das Maßwerk der Chorfenster weist ans seine Art hin.
Da» durch ihn ausgeführte Sacramentshäuschen in Königgrütz verbürgt auch das Ein -
setzen der Thätigkeit Rayseks in anderen Landstädten Böhmens, ohne daß sich jedoch um
ihn eine bestimmte Schule ausbildete.
In Knttenberg herrschte um die Wende des XV. und XVI. Jahrhunderts eine
ungemein rege Banthüligkeit, da die Mariahimmelsahrtskirche, die Dreisaltigkeitskirche, das
bnrgallige Wohnhan» de» Johann Sinisek von Vrchovist, der prächtige steinerne Brunnen
und das sogenannte steinerne Haus im Baubetrieb standen und auch im Wälschen Hofe
gründliche Restaurationsarbeiten im Gange waren. Die Kirchenbanten blieben dem Typus
der dreischiffigen Halle mit vorgelegtem Westthurrn treu, die Profanbauten wurden durch
Reichthuln geschmackvoller plastischer Arbeiten ungemein belebt.
Im Landkirchenban war besonders im südlichen und südwestlichen Böhmen die
Beobachtung dreier Typen, nämlich der drei- oder zweischiffigen Hallenanlage und des
269
einschiffigen Langhauses beliebt. Das Eintheilnngs- und Wvlbungsprincip des Krumauer
Langhauses wurde iu der Kirche zu Tabor festgehalten, Zweischiffigkeit in Gojau, Höritz,
Blatna und Wvdnian unge -
ordnet. Der verhältnißmäßig
gut erhaltene Wodnianer Chor,
dessen Rippen iu dem aus fünf
Achtecksseiten gezogenen Schlüsse
und den drei oblongen Kreuz -
gewölbejochen sich von kleinen
Consoleu entwickeln und in
glatten Schlußsteinen treffen,
läßt den 1435 mit seiner Auf -
führung betrauten Meister Jaklik
und seinen Sohn Wenzel als
tüchtige Bauführer erkennen.
Gojan, 1488 vollendet, besitzt
außer reichem Netzgewölbe eine
mit prächtigem Maßwerke ge -
zierte Mnsikchorbrüstung. Ein
künstlerisch bedeutender ein -
schiffiger Bau ist die 1487 bis
1507 fertiggestellte Maria-
Magdalenakirche in Kalsching,
deren Chor Sterngewölbe, deren
Schiff sich durchdringende Netz -
rippen answeist und sich schon
fast der Rundbogenwölbung
nähert. Die Dornenkrone aus
dem Wappen des Patronats-
stistes Goldenkron ziert die
Schlußsteine, die in Höritz die
Rosenberger Rose tragen. Die
Kalschinger Wölbungsformen
begegnen uns auch in der Kirche zu Ottan, die fast gleichzeitig vollendet wurde; eine mit
einfachem Rantengewölbe decvrirte Vorhalle, deren gedrückter Bogen auf Consoleu ruht,
schützt das mit reichem Stabwerk gezierte Portal. Sie findet sich auch an der Südseite
Erker in Laun.
270
der dreischiffigen Kirche in Unterhaid, deren überaus reiche Netzwölbung der demselben
Eintheilungsprincip folgenden Nikolauskirche in Rosenberg zmn Vorbild diente, obzwar
dabei das Verständlich der gothischen Construetionsforinen schon stark znrückgedrängt war.
Die Sternform der Unterhaider Presbyteriumswölbung gelangte zu feinerer Durchbildung
bei der neuerlichen Einwölbnng der Jakobskirche in Prachatitz und fand auch fast gleiche
Verwendung bei dem Bau der Kirche in Schweinitz, der 1485 vollendet war. Die
polygonal schließende Taufkapelle der letzteren ist mit einer eleganten Sternwölbung, deren
schwache Rippen sich mehrfach kreuzen und überschneiden, ausgestattet, während eine schöne
Netzwölbung, schon zur spitzen Tonne neigend, mit ihren aus Formziegeln angesetzten
Zierrippen das Langhaus überspannt. Da der sechseckige Stern auch die Grundform der
Presbhteriumswölbung in Schweinitz wie in der Kirche zu Sobeslau bestimmt, deren
zweischiffiges Langhaus auch in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts ungemein reich
überwölbt wurde, und 1474 Meister Benedict von Schweinitz bei dem Sobeslauer Thurm -
bau beschäftigt war, so darf vielleicht auf letzteren als den Architekten der Schweinitzer
Kirche geschlossen werden.
Eine gewisse Gemeinsamkeit mancher Details ist den genannten Bauten nicht abzu -
sprechen, die einer gleichen Baurichtung ihre Entstehung verdanken mögen; die Lust an
immer reicher gebildeter Stern- und Netzwölbnng wuchs, so daß die einfacheren Formen
der Wölbung in Schlan und Rakonitz Restaurationsbauteu angehören müssen, die vor der
zuletzt behandelten Gruppe abgeschlossen waren, mit welcher die Melniker Chor- und
Mittelschiffswölbungen gleichzeitig erscheinen. Als eine der größten Restaurations- und
Erweiterungsanlagen des XV. Jahrhunderts erweist sich die Propsteikirche in Neuhaus,
die 1480 Heinrich IV. von Neuhaus mit einem neuen Presbyterium versehen und
restauriren ließ. Ebenso trafen die Kirche in Neu-Bistritz bedeutende Wölbnngs-
ünderungen, die auch bei dem Minoritenkloster in Bechin nothwendig wurden und hier
wie in dem Kreuzgang in Horazdiowitz zur Zellenform griffen. Zu welch eigeuthümlichen
Wölbungsarten man sich in Südböhmen verflieg, lehrt am deutlichsten das vielmaschige
Netz des einschiffigen Langhauses der Budweiser Friedhofskirche und die erst gegen Ende
des X> 1. Jahrhunderts vollendete Klosterkirche in Gratzen mit der reichen Netzwölbnng
des Presbyteriums und den breitgezogenen Sternen der Langhauswölbung, deren flache
Spannnug durchaus nicht mehr dem gothischen System entspricht.
Eine andere Richtung der Spätgothik trat in den Werken hervor, welche Benedict
Rieth, Baumeister Wladislaws II., aufführte. Von seinen Ansätzen zum Ausbau des
Veitsdoms, die im Anfang des XVI. Jahrhunderts entstanden, hat sich gar nichts
erhalten. Dagegen gehört heute noch das bekannte Wladislawffche Oratorium mit dem
hängenden Schlußstein der ans vielfach sich dnrchschueidenden Astwerkrippen gebildeten
271
Wölbung zu den Sehenswürdigkeiten der Prager Kathedrale. Noch imponirender spricht
sich Meister Benedicts Art in dem berühmten Wladislaw'scheu Saale der Prager Burg
aus, dessen aus dem Halbkreise construirte Wölbung ein vielverschlungenes Netz auf
Wandpseilern ansetzt, mit welchen fein ausgesührte gothische Strebepfeiler an der Nordseite
correspvndiren. Die Übereinstimmung der Wölbungsart mit den unter Wladislaw II. in
Pürglitz ausgeführten Bauten, dem Saalbau und dem Chorraum der Burgkapelle, ver -
bürgt den Antheil desselben Baumeisters an diesen Werken, sowie an dem Mittelschiffe der
Barbarakirche in Kuttenberg, für dessen Mariahimmelfahrtskirche Benedict Rieth gleichfalls
herangezogen wurde. Dieselbe Langhauseintheilung mit vorgelegtem Westthurm, die mit
den drei Pfeilerpaaren an den Langhauswänden correspondirenden Wölbuugsstützen finden
sich in der dreischiffigen Langhaushalle der Nussiger Stadtkirche, die nach dem Vor -
handensein des für die sogenannten Wladislaw'schen Bauten charakteristischen Namenszuges
des Herrschers auch während der Regierungsperiode Wladislaws II. ausgeführt sein
muß. Die Bildung der achteckigen Pfeiler, deren Seiten eingezogen sind, ihre Basis-
gcstaltung und Höhe, der Rippenansatz deckt sich nahezu mit den gleichen Details der
Nikolauskirche in Laun, welche Meister Benedict Rieth von 1520 bis 1528 vollendete.
Die Anlage derselben ist vollständig dem Typus des gleichzeitigen erzgebirgischen Kirchen -
baues nachgebildet, besonders der Meister Benedict so gut bekannten Kirche zu Annaberg
in Sachsen; hier wie dort bildet der Bau ein Rechteck, fast doppelt so lang als breit, sind
im Osteil drei polygonale Chorschlüsse angeordnet, ist das Mittelschiff nicht viel breiter
als jedes der Seitenschiffe und die Pfeilerbildung nebst dem überaus reichen Netzgewölbe
übereinstimmend.
In der Nähe von Lann setzte der erzgebirgische Einfluß bei einem anderen Kirchen -
ban ein, bei der Brüxer Stadtkirche, zu welcher der in Annaberg beschäftigte, besonders
durch den Hüttenstreit bekannte Meister Jakob von Schweinfurt den Plan lieferte, dessen
Ausführung dem Meister Jörg von Maulbronn übertragen wurde. Hier finden wir
reiche bildnerische Ausschmückung der Emporen, die Anordnung der Kapellen zwischcn
den vollständig ins Kircheninnere gezogenen Strebepfeilern, die Durchdnngung der
Curvenrippeu, welche die Decke des Hallenbaues zu einem Ganzen znsammenfaßt, ebenso
lvie in Annaberg, dessen Kirche Jakob von Schweinfurt wölbte. Der im erzgebirgischen
Kirchenban so nachdrücklich hervortretende Zug des Saalartigen der Predigtkirche erreicht
hier eine große Wirkung, die nicht unwesentlich durch den hallenartigcn Chorumgaug
und den Kapellenkranz gewinnt. Der Grundriß der Brüxer Kirche, deren Erbauung von
1517 bis 1532 erfolgte, stellt sich geradezu als eine Nachbildung des Grundrisses der
Liebfraueukirche in Ingolstadt dar, wo Jakob von Schweinfurt wohl als Geselle gearbeitet
haben mochte.
272
Sächsischer Einfluß trat auch iu dem durch Haus Günther ausgesührteu Chorbau
zu Oberndorf bei Komotau zu Tage, dessen durch Jörg Schremle erbaute Stadtkirche den
Emporeugcdaukeu weniger künstlerisch entwickelte und die in Aussig, Lauu und Brüx
vorhandene Pfeilcrbildung festhielt. Meister Kunz, vielleicht identisch mit dem in Sachsen
vielfach beschäftigten und auch in Böhmisch-Aicha thätigen Konrad Pflüger, übernahm
1484 die Erbauung der Stadtkirche in Graupen, deren an einer Seite des Chorpolygvns
angebante Kapelle eine ungemein zierlich und elegant durchgearbeitete Wölbung überspannt
und der Überrest eines älteren Baues — vielleicht des Presbyteriums der 1479 nieder -
gebrannten Kirche — sein dürfte. Bedeutender als der sonst schmucklose Bau, dessen
Strebepfeiler, Fenster und Portal in sorgfältiger Quadcrarbeit durchgeführt sind, ist die
Kirche des Heiligengeistspitals, deren zweifeldrige Schiffsfenster spätgothisches Maßwerk
bewahre». Dasselbe begegnet uns auch in der 1516 vollendeten Annakapelle auf den:
Graupener Friedhofe, deren bemalte Deckentäfelung erhalten ist. Originelle Wölbungen
besitzt die spätgothische, vor Graupen liegende Prokopikirche, deren Presbyterium gerad -
linig abschließt. Die Aufführung all dieser Bauten beeinflußte der rege Verkehr der
Bergstadt mit dem nahen Sachsen. Von hier kam gewiß auch der Meister der 1483
begonnenen Stadtkirche in Bensen, die schöne Maßwerkfenster, im Chor prächtige Stern -
wölbung und in der dreischiffigen Langhaushalle Netzgewölbe auf achteckigen, seitlich ein-
gezogenen Pfeilern besitzt.
In der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts wurde das Langhaus der Erzdechantei -
kirche zu Eger vom Stadtbaumeister Erhärt aufgeführt; das Maßwerk bietet gleich den
Details der nördlich vom Presbyterium liegenden Saeristei verhältnißmäßig noch reine
Formen der Spätgvthik. Dieselben erscheinen auch in der gleichzeitig vollendeten Egerer
Bartholomäuskirche, deren sechseckige Sternwölbnng auf einer Mittelsäule ruht. Die
dreischiffigen Kirchen in Schlackenwerth und Schlaggenwald besitzen ungewöhnlich schmale
Seitenschiffe, wie zum Beispiel auch bei der Pfarrkirche in Arnau; die Chorpartie der
Biliner Stadtkirche, welche um 1500 vollendet wurde, harmvnirt nicht mit den etwas
beschränkten und düsteren Verhältnissen des Langhauses. Hier zeigten sich mehr fränkische,
in den manchmal beliebten Emporen auch sächsische Einflüsse, indeß bei den erst später
ausgeführten Bauten der Stadtkirchen in Reichenberg und Friedland wahrscheinlich
schlesische Meister, deren Ausbildung durch den Görlitzer Meister Wendel Roßkopf auf
Benedict Rieth zurückging, zugezogen wurden.
Sorgfältigere Bearbeitung des Materials als die Denkmale des nordwestlichen
Böhmens zeigt das Blaßwerk der Maria Magdalenakirche in Böhmisch-Leipa, dessen
ältere Heiligcnkreuzkirche gleichfalls gutgearbeitete Fenster besitzt. Emporenanvrdnnng drang
auch in die Seitenschiffe der Decanalkirche in Jnngbunzlau und der Barthvlomäuskirche
Das steinerne Haus in Kuttenkerg.
in Pardubitz ein, deren einfache Kreuzgewölbe überraschen. Chrndim gewinnt durch
die Katharinen-, Michaels- und Heiligenkreuzkirche für die Spütgothik Bedeutung. Die
Emporendeeorativn der ersten erinnert an Kvinvtan, indes; an da^ gvthisch anfgebaute
Südportal schon Ncnaissaneemvtive herandrängen; dagegen bietet das Westportal der mit
originellem Giebel ausgestatteten Michaelskirche noch das sich dnrchschneidende Stabwerk
Böhmen.
274
und ganz phantastische Maßwerkbildungen. An der Nvrdseite der Kreuzkirche fällt besonders
außen die Anordnung einer alten Steinkanzel auf, indeß die über dem Hauptfenster des
Chorschlusses eingestellte Dachluke, die mit einer spätgothischen Thüröffnung ausgestattet
ist, mit einem Motiv an der Stirnseite des Chors der Decanalkirche übereinstimmt. Die
Ausführung ist meist derb, aber sauber.
Hohen künstlerischen Werth besitzt die an der Südseite der Pilsener Erzdechanteikirche
angebaute Sternberg'sche Kapelle aus dem Anfang des XVI. Jahrhunderts. Ein schönes
Sterngewölbe mit hängendem Schlußstein überspannt den im Achteck schließenden, durch
drei weite Maßwerkfenster erhellten Raum und bietet Beziehungen zu der von Benedict
Rieth verbreiteten Art. Unter den Denkmalen der Pilsener Gegend ragt besonders hervor
die einschiffige Kirche in Cecovitz, deren plastische Details aus der Thier- und Pflanzen -
welt an Portal, Giebelgesimse, Baldachinen, Figurenblenden, sculpirten Knäufen u. s. w.
mit sonst uns nur selten wieder begegnender Reinheit und Sorgfalt ausgeführt sind.
Gegenüber dem hier zu Tage tretenden Geschmack, welcher sich auf voller Höhe mit der
Stcrnberg'schen Kapelle in Pilsen hält, befremdet fast die um die Wende des XV. und
XVI. Jahrhunderts vollendete Kirche zu Ronsberg, die den einschiffigen Landkirchentypus
mit kurzem Presbyterium und zweithürmiger Fa^ade wahrte.
Da die Zeitrichtnng der Gründung neuer Klöster im Ganzen nicht günstig war, so
finden wir nicht viele Klosteranlagen aus dieser Periode. Im südlichen Böhmen gründete
1455 Peter von Linden das Augustiner-Chorherrenstift Forbes, dessen Gebäude nach I486
vollendet wurden. Die einschiffige Kirche, deren Presbyterium 1746 umgebaut wurde, und
der Kieuzgang an der Nordseite derselben sind wohl erhalten. Die vier Sterngewölbesoche
des Langhauses mit den birnförmig profilirten Rippen zeigen hübsch gearbeitete, auch mit
dem Stifterwappeu gezierte Schlußsteine; die prismatischen Strebepfeiler, theils mit Zinnen,
theils mit knollenbesetzten Giebelchen gekrönt, entsprechen in ihrer Construction vortrefflich
ihrer Function. Sie weisen wie der ganze Aufbau auf tüchtige technische Kenntnisse, Sorgfalt
und genaue Berechnung der Anordnung hin, die in dem Kreuzgang zum großen Theile
fehlen; die einzelnen Flügel desselben weichen in der Wölbung, die verschiedene Arten des
Netzgewölbes, aber auch springende Gewölbe bietet, von einander stark ab, so daß sich daraus
wohl eine längere Dauer der verschiedenen Anschauungen huldigenden Bauführung und
die Bestellung verschiedener Meister beim Kreuzgangsbau selbst ergibt. Eine vollständig
erhaltene Klosteranlage ist das außerhalb Kaaden aus einer Anhöhe reizend gelegene
Franciscanerkloster, das durch den 1514 gestorbenen Johann von Lobkowitz ans Hassen -
stein gegründet wurde. In der dreischiffigen Kirche, die Peter Bauer aus Eger erbaut haben
soll, bewahrt der edelgehaltene, ziemlich langgestreckte Chor in den dreiteiligen Fenstern
schönes spätgotisches Maßwerk. Die au der Südseite anstoßende Kreuzgangsanlage
V
276
ist mit der bei Franciseanerklöstcrn so gern im Ostflügel angeordneten Kapelle ansgestattct,
deren polygonaler Chorschluß nebst den zweifeldrigen Maßwerkfenstern einfach und
schlicht gehalten ist. Über dem rechten Seitenschiff befindet sich ein saalartiger Raum,
dessen Zellenwölbung auf zwei achteckigen Säulen ruht und auch in dem unmittelbar
darüber angeordneten Saale nochmals wiederkehrt. Dieselbe scheint, wie auch die Kreuz -
gänge in Bechin und Horazdiowitz schließen lassen, bei Bauten des Franciscanerordens
am Ausgang des XV. Jahrhunderts nicht unbeliebt gewesen zu sein. Außer Augustiner-
Chorherren- und Franciscanerbauten sind noch die Paulanerniederlassnngcn zu Kugelweit
und Heüraffl zu nennen. In die Ruinen der ersteren, besonders den Kreuzgang, sind
Bauernhäuser eingebaut, welche der aus fünf Achtccksseiten gezogene Chor der dachlvsen
Kirche überragt; nach den daselbst vorfindlichen Jahreszahlen 1509 und 1514 füllt die
Ausführung des Baues, der schöne Steinmetzarbeiten besaß, in die ersten Jahrzehnte des
XVI. Jahrhunderts.
Fast gleichzeitig erstand die 1522 errichtete einschiffige Kirche zu Heüraffl, deren
Portalstabwerk an Ottau gemahnt und vor der letzten Restauration in den Zicrdetails
eine für die Spätgothik fast auffallende Reinheit der Formen auswies. Die in verschiedenen
älteren Klöstern nach den Husitenkriegeu nöthig gewordenen Wiederherstellnngsarbeiten,
die infolge des tief erschütterten Wohlstandes sich nur auf das Nöthigste beschränkten und
blos ausnahmsweise die Umgestaltung älterer Theile, wie z. B. bei der Gothisirnng des
1490 reconciliirten Chors der Tepler Stiftskirche trafen, führten der Bauthätigkeit
Böhmens offenbar nur wenig neue Anschauungen zu.
Trat die kirchliche Baukunst im Vcrhältniß zu der früheren Periode auch stark
zurück, so deckte den dadurch entstandenen Ausfall das vergrößerte Bedürfniß des Prvfan-
baues, der sich nicht mit der Wiederinstandsetzung des Beschädigten begnügte, sondern auch
mit dem langsam zurückkehrendeu Wohlstand manch neues Werk erstehen ließ. Daß die
Herrscher Böhmens darin mit gutem Beispiel vorangingen, beweisen die Bauten der Burgen
Lititz und Pürglitz, sowie der Hradschiner Residenz. Die in Nenhaus, Klingenberg, Pisek,
Blatna und anderen Burgen erhaltenen Überreste von Wandmalereien sprechen wie die
verschiedenen zum Theil in Trümmern liegenden, znm Theil noch in fast ursprünglichem
Zustande bestehenden Adelssitze, wie Hassenstein, Schreckenstein, Strakouitz, Kvuopischl
und andere, für die auch nach den Husitenkriegeu festgehalteue Vorliebe der künstlerischen
Ausschmückung und geräumigen Anlage des Schloßbaues. Ein prächtiges Stück feiner
Arbeit ist der im vierten Schloßhof in Krnmau errichtete Erker, den Peter von Nvsenberg
nebst den anstoßenden Gemächern 1513 von Ulrich Plonitzer ausführen ließ.
Künstlerisch geschmackvolle Erker wurden bei Profanbauten überhaupt gern auge-
vrduet. Eine herrliche Leistung dieser Art, vortrefflich im Aufbau, in der Gliederung und
278
Detailbildmig wirksam vertheilten plastischen Schmuckes, ist der Erker in Laun, der dem
Zeitalter und der Richtung des Benedict Rieth entstammt. Noch reichere Ausstattung erhielt
das im letzten Viertel des XV. Jahrhunderts vollendete „steinerne Haus" in Kntten-
berg, das auch in dem schloßartig erbauten Wohnhaus des Johann Smlöek von Vrchovist
und in den Resten des Münsterbergischen Hauses werthvolle Überreste des Profan -
baues dieser Zeit besitzt und in erstgenanntem sogar Anlage und Raumvertheilung
eines zwischen Burg und Bürgerhaus stehenden Wohngebäudes genau verfolgen läßt.
Die Fa^ade des steinernen Hauses zeigt einen zwischen beiden Spitzbogen des Erdgeschosses
sich entwickelnden Erker im ersten Stockwerk, der innen zierliche Netzwölbung mit hübsch
seulpirten Schlußsteinen besitzt und, nach den erhaltenen Postamenten und Baldachineil
zu schließen, wahrscheinlich mit Statuen ausgestattet war. Der reich behandelte
Giebel, dessen Schenkel mit Krabben besetzt sind und in einer Kreuzblume sich treffen,
findet in ganz Böhmen nicht seinesgleichen. Zn beiden Seiten der drei schön verzierten
Fenster, über und unter welchen Wappenschmuck angeordnet ist, sprengen zwei Reiter
gegeneinander; aus der Kreuzblume über dem Mittelfenster entwickelt sich der voll der
Schlange umwundene Apfelbaum, zu dessen Seiten auf Consolen die nackten Gestalten
Adams und Eva's ausgestellt sind, indeß darüber zwischen anbetenden Engeln der Herr
von der Wolke herabsieht. Dies Denkmal, welches wie die Wölbung im Thurmgemach
des Münsterberg'schen Hauses sorgfältige Arbeit und Sinn für wohl abgewogene
Composition verräth, wurde offenbar von Kuttenberger Meistern selbst ausgeführt, die auch
bei der Instandsetzung des Wülschen Hofes, seiner Kapelle und des Vrchovist'schen Hauses
ihre Kunstfertigkeit bethütigten. Nächst Knttenberg besitzen auch andere Städte Böhmens,
wie Eger, Pilsen, Graupen, Chrudim, Budweis, Leitmeritz und andere bald mehr, bald
minder interessante und bedeutende Reste des bürgerlichen Profanbaues, für welchen
besonders einige Häuser auf der Ostseite des Egerer Marktplatzes von Bedeutung sind.
Ebenso wie das Privatinteresse förderte auch die Rücksicht auf die Allgemeinheit
die Bauthätigkeit des Landes; hier trat der städtische Repräsentationsbau in den Vorder -
grund. Welcher Reichthum decorativer Ausstattung bei den Rathhausbauten wohlhabender
Städte beliebt war, lehren die Umrahmung der berühmten Uhr, das Portal und ein
daneben befindliches Fenster des Altstädter Rathhauses in Prag, das unter
Wladislaw U. bedeutende bauliche Veränderungen erfuhr. Die Spätgothik behielt auch
bei dem Äußern des im XVI.. Jahrhundert ausgeführten Leitmeritzer Rathhausbaues in
Fenstern, Simsen und Wölbungen das Wort; mit noch größerem Nachdruck geschah dies
bei dem Rathhause in Tabor, dessen schön gewölbte Hallen und gut sculpirte Gurtträger
dem Anfang des XVI. Jahrhunderts angehören, wobei in der Decoration des Stadt -
wappens besonders ans Reichthum plastischer Zuthaten gesehen wurde.
279
Dem Repräsentationsbau gesellten sich oft praktische Rücksichten besonders bei den
Befestigungsanlagen der Städte hinzu. Solche bestimmten die Aufführung des Pulver -
thurms in der Prager Altstadt, der dem Königshof eine Zierde und der Stadt ein
Schutz werden sollte. Mehr als dieser zeigt der 1451 begonnene Neustädter Rathhansthnrm
und der erst 1464 neben der Karlsbrücke auf der Kleinseite in Angriff genommene Thurm
gegenüber dem reich gefchmückten und fchön gegliederten Altftädter Brückenthnrm, der
nach dem Brande von 1431 eine bis 1451 sich hinziehende Restauration durchmachte und
1496 den theilweisen Zusammenbruch der Brücke unbeschädigt überdauerte, Nüchternheit
Der gothische Brunnen in Kuttenberg.
und Einfachheit. Dieselbe waltete auch in den Thorthürmen der meisten böhmischen
Städte vor.
Hierher gehört der 1481 sertiggewordene Thorthnrm in Taus, das Prager Thor
und der hohe Thurm in Rakonitz, der Thorthurm in Neustadt an der Mettau, sowie in
Pilgram. Reichere architektonische und plastische Ausschmückung erhielten da^ Prager und
das Saazer Thor in Lann, die nach dem bekrönten 'W und der Jahreszahl 1500 unter
Wladislaw U. entstanden; doch läßt nur das letztgenannte in der freilich blos theilweise
unveränderten Anlage und Ausstattung auf eine Einflußnahme Benedict Rieths schließen.
Dagegen sind die Reste der alten Befestigungsthürme in Saaz, welche wie die 1463
vollendete Libotschaner Pforte unter Georg von Podebrad ansgeführt worden zu sein
280
scheinen, schlicht und derb. Das malerische Bild der mittelalterlichen Stadtbefestigung mit
ihren Bastionen und Thürmcn hatte sich besonders lange in Bcraun unverändert erhalten,
wo auch die solide Ziegelconstruction und Terraeottcn technisch manches Interessante
boten. Die mit manchen dieser Thorthürme verbundene zwingerähnliche Anlage in der
Art des berühmten Krakauer Florianithors oder des Görlitzcr Kaisertrntzes war bei dem
1472 aufgeführten, leider 1841 abgebrochenen Prager Thore in Schlan besonders schön
entwickelt. Reste alter Befestigungen, welche jedoch keinen besonderen architektonischen
Werth haben, finden sich noch in vielen Städten Böhmens, wie Pilsen, Eger, Brüx,
Böhmisch-Leipa, Bensen u. s. w.
Ein höchst originelles Werk schuf die Spätgothik in dem 1497 fertiggcstellten
zwölfcckigen Brunnen in Knttenbcrg, der mit Strebepfeiler, Halbsäulen, Consolcn und
Baldachinen für Statuenschmnck reich besetzt ist, indes; verschiedenartige Maßwerke der an
den Seiten angeblendeten Fenster mit krabbenbesetzten Wimpergen ansprechende Abwechs -
lung zeigen.
Die knnstgeschichtlich besonders wichtige Epoche spätgcthischer Anschauungen begann
erst mit der Regierung Georgs von Podebrad und erreichte ihre Höhe unter Wladislaw II-,
während dessen Regierung Matthias Raysek und Benedict Rieth als bedeutende Meister
zweier verschiedener Richtungen von der Menge der anderen Architekten sich abhobcn. Ersterer
ging in dem Streben, vor Allem eine malerische Wirkung des Äußern und Innern seiner
Werke zu erreichen, sogar so weit, daß seine Formen der Structur des Materiales manch -
mal nicht entsprechen, letzterer war vorwiegend Constructeur, der zu immer größerer
Fertigkeit vordrang. Die Banthätigkeit war in der Landeshauptstadt nicht mehr so groß -
artig als in der karolinischcn Zeit, ja, andere Städte und Gebiete, wie Kuttenberg, der
Besitz der Nosenberge, die Städte am Abhang des Erzgebirges, überflügelten Prag. Alle
Willkürlichkeiten der Spätgothik, welcher der Sinn für die Betonung des Constrnctiven
mit der wachsenden Lnst an phantastischer Decoration und spielender, übertriebener
Zierlichkeit abhanden kam, fanden Beifall. Große Grundrißgedanken wurden nur bei der
Fortführung früher begonnener Bauten festgehaltcn. Stadt- und Landkirchen wahrten den
früheren Thpus, betonten aber immer entschiedener den Charakter des Predigtranmes, der
nach Anordnung der Emporen mehr Gläubige fassen kann. Die äußere Ausstattung war
mit Ausnahme der schönen Kuttenberger Denkmale und des Pnlverthurms derb und
manchmal sogar flüchtig und nachlässig. Die Technik blieb im Allgemeinen auf dem schon
vor den Hnsitenkriegen erreichten Standpunkt, die Knnstauffassung trat hinter dem Zuge
des Handwerksmäßigen zurück.
Mit dem Einziehen des neuen Herrschergeschlechtes der Habsburger, welches sofort
das Hereinfluten edler Renaissance-Anschauungen veranlaßt, war das Ende der Gothik
281
angebrochen, die in Böhmen Kunstwerke ersten Ranges, zwar nicht absolut rein, aber
großartig und durch Eigenart anziehend, hervorgebracht hatte. Neben der Zersetzung des
Stilgedankcns war schon in den Tagen Wkadislaws II. hier und da ein Vordringen
neuer Ideen in Construction und Decoration ersichtlich, das nach seinem Hinscheiden
unter geänderten Verhältnissen sich zu einem geschlossenen System verdichtete. Aber
anch neben demselben behauptete sich vereinzelt die ganz verflachte, immer verständniß-
losere Gothik in der folgenden Zeit, wie z. B. die 1603 begonnene Rochnskirche im
Strahover Klosterhof oder die Maßwerkbildungen der von 1628 bis 1632 anfgefnhrtcn
Jesnitenkirche in Neuhaus beweisen. Ja, sie blieb sogar in den ersten Decenmen des
XVIII. Jahrhunderts bei der Wiederherstellung der Sedlecer Stiftskirche und beim
Umbau der Kladrauer Klosterkirche maßgebend, obzwar sich gerade hier aufs deutlichste
erkennen läßt, daß den Architekten dieser Zeit der Canon der Gothik fast ein Buch mit
sieben Siegeln geworden war und ein überladen phantastischer decorativer Aufputz
Hauptsache wurde.
Die im XIX. Jahrhundert in den Vordergrund tretende Wiederbelebung der Gothik
zeitigte auch in Böhmen sehr beachtenswerthe Früchte, da Kirchen und Profanbau sich ihr
neuerlich zukehrten. Als edelste derselben ist wohl der Ausbau des Veitsdomes m Prag
unter der Leitung des 1872 verstorbenen Architekten Kranner und des jetzigen Dombau-
meistcrs Josef Mocker zu nennen, welch letzterer seinen bestbewührtcn fachmännischen
Rath fast bei allen Restaurirungen gothischer Denkmale Böhmens zweckentsprechend
bethätigt.
Hervorragende Leistungen gothischer Kirchenbaukunst sind die Gruftkapelle^ der
gräflichen Familie Thun bei Letschen und der Monumentalbau der Schwarzenberg'schen
Gruft bei Wittingail, beide nach den Plänen des genialen Wiener Dombaumeisters Schmidt
ansgeführt, während unter den sonstigen gothischen Neubauten nur wenige wirklich
künstlerische Bedeutung haben. Auf das Gebiet des Profanbaues drang die Gothik besonders
bei der Aufführung und Wiederinstandsetzung stolzer Adclssitze ein, unter welchen Schloy
Frauenberg in Südböhmen, nach dein Vorbild des englischen Königschlosses Windsor
erbaut, den ersten Rang einnimmt und die Schlösser Sichrov und Blatna hohe Beachtung
verdienen. Die herrliche Anlage der Burg Karlstein ersteht unter der von Friedrich Schmidt
eingeleiteten und von Josef Mocker weitergeführten Restauration in neuer Schönheit des
alten Stils. Und so belebt sich gerade an den großartigsten Schöpfungen der Gothik,
beim Ausbau des Prager Doms und bei Wiederherstellung der Burg Karlstein, der
ehrwürdigen Karlsbrücke und der Kuttenberger Barbarakirche im XIX. Jahrhundert der
Stilgedanke, dessen bankünstlerischer Verkörperung Böhmen seine imposantesten Architektur-
denkmale zu danken hat.
282
Architektur der Renaissance- und Neuzeit.
Mit Widerstreben räumt in der Architektur Böhmens die Gothik der Renaissance
das Feld. Während sich die letztere in Italien schon zu voller Pracht entfaltet hat, sammelt
der gothische Stil in Böhmen seine Kräfte, um noch in der letzten Phase seiner Entwicklung
Bedeutendes hervorzubringen. Die letzte Blüte des gothischen Stils ist hier innig ver -
knüpft mit dem Namen des königlichen Baumeisters Benedict Rieth (Reta) von Piesting
(Pistov), welcher als einer der letzten hervorragenden Gothiker austritt. Und doch konnte
sich selbst dieser aus der gothischen Bauhütte hervorgegangene Meister des Einflusses der
neuen „wälschen Kunst" nicht erwehren, auch er fühlte sich verführt, zu den neuen Formen
zu greifen. Er that dies bei dem Bau des Wladislaw'schen Flügels der königlichen Burg
zu Prag. Der Umstand, daß an einem profanen Bau der neue Stil zuerst Anwendung
fand, ist für seine Stellung in Böhmen bezeichnend; auch späterhin sind es nur Profane
Bauten, bei welchen die Renaissance vollständige Ausnahme findet, während bei dem Ban
und Weiterbau von Kirchen und Kapellen der gothische Stil sich nahezu durch das ganze
XVt. Jahrhundert in seinem alten Rechte zu behaupten weiß.
Bei dem Wladislaw'schen Saalbau kommt der Renaissancestil nur rein äußerlich
zum Vorschein, ohne die Construction zu berühren: im Innern insbesondere an der
zur Allerheiligenkirche führenden Wandseite, wobei jedoch zu bemerken ist, daß die in der
Mitte eingestellte Thür bedeutend später ist und bereits dem Beginn des XVII. Jahr -
hunderts angehört. Am Außenbau sind es die an beiden Längsseiten paarweise gruppirten
viereckigen Fenster, welche Renaissanceformen aufweisen. Eines derselben, durch den
späteren Zubau verdeckt, trägt die Inschrift: ,1VinäisInu8 rox UnAnrio et Lollemie 1493".
Nachdem das Saalgebäude im Jahre 1502 durch Meister Benedict vollendet
worden, wurde an den mit ihm zusammenhängenden Bautheilen noch weiter gearbeitet, und
zwar sowohl zu Lebzeiten Wladislaws als auch nach dessen im Jahre 1516 erfolgten Tode
unter seinem Sohne und Nachfolger Ludwig. Dieser Zeit, zu welcher immer noch Meister
Benedict den königlichen Schloßbauten Vorstand, entstammt der an der Südseite in den
ehemaligen Schloßgraben auslaufende, durch den Fenstersturz des Jahres 1618 berühmt
gewordene Tract. Als jener Raum, in welchem sich die geschichtliche Scene abspielte, wird
von neueren Localforschern, der alten Tradition entgegen, die geräumige Stube des ersten
Stockwerkes angesehen. Wenn dies auch nicht der Fall wäre, bietet dieser gewöhnlich dem
Besucher verschlossene Raum ein Interesse für die Baugeschichte, indem er sich durch ein
zierliches Renaissanceportal auszeichnet. Der an demselben angebrachte, zwischen zwei
Greifenfignren gestellte Anfangsbuchstabe verewigt den Namen des königlichen Bau -
herrn. Die Pilaster und die Säulen, welche hier und am Wladislawsaale Vorkommen,
Lustschloß der Königin Anna am Hradschin (Belvedere).
234
haben insgesammt eine verwandte Gestaltung: der Schaft ist cannelirt und in die
Cannclnren der unteren Partien sind Stäbe eingelegt; mir zwei Säulen des Saales, wohl
die ältesten von allen, sind in dieser Beziehung anders gestaltet, indem ihr Schaft schrauben -
förmig gewunden ist. Die korinthischen Capilüle mit ihren Volutenranken und Akanthus-
blättern, mit allerlei dazwischen verstreuten Rosetten, Sternchen, Lilien, Weinreben, welche
mitunter bis auf die leicht geschwungene Deckplatte hinabreichen, bekunden eine mit den
Elementen des Renaissance-Ornamentes nur ungefähr vertraute, ziemlich selbständig
schaffende Hand. DieselbenFormen weist auch ein reizendes Seitenportal der nahegelegenen
Georgskirche auf, welches in seinem Tympanon ein noch vollständig gothisch empfundenes
Relief trägt. Wer der Steinmetz gewesen, dessen sich Meister Benedict bei seinen Bauten
bediente, und ob derselbe zugleich für den Urheber des Georgsportales gelten mag, ist
leider unbekannt. Ein Italiener ist er kaum gewesen, dazu sind seine Formen nicht rein
genug, aber es gab wohl damals in Prag italienische Künstler genug, welche das Ein -
dringen der neuen Knnstformen vermitteln halfen. Selbst bei den königlichen Bauten
sehen wir einen italienischen Maler Namens Roman Mach (der Wälsche) schon um das
Jahr 1500 beschäftigt. Sonst kommen Nenaissanceformen, geschweige denn im Geiste der
Renaissance durchgeführte Bauten während des ersten Viertels des XVI. Jahrhunderts in
der Architektur Böhmens selten vor. Die heimischen Werkmeister, an dem traditionellen
System festhaltend, bedienen sich nur hier und da einzelner dem neuen Stile abgelauschter
Motive. Es blieb den italienischen Baumeistern Vorbehalten, die Renaissance auch in
Böhmen voll znm Siege zu bringen, dieselben kamen jedoch erst, als der Altmeister der
Gothik, Benedict, im Jahre 1534 hochbetagt die Augen schloß, zu Worte.
Wohl wurde durch König Ferdinand I. in Bonifacius Wohlmuth für den Weiter -
bau des Schlosses und der Domkirche ein im Geiste der Gothik schaffender Baumeister
bestellt, doch gleichzeitig wurde von demselben König in nächster Nähe des Schlosses
einer förmlichen Colonie italienischer Künstler und Werklente ein dankbares Feld für ihr
künstlerisches Schaffen aufgeschlossen. Eine Art Wnndergarten sucht Ferdinand hier in
der Nähe der ernsten Burg zu seinem und seiner Gemalin Anna Vergnügen hervor-
znzaubern. Zunächst wird im Jahre 1535 Hans de Spazio beauftragt, eine Brücke
über den Hirschgraben aufzusühren und wohl auch das Terrain für den „Gartenpau"
herzustellen; ein italienischer Gärtner „Maister Francisco" unternimmt die Bepflanzung
mit „lemoni, Pomeranzen, cidroni und dergleichen", und in dem, derart zu einem italienischen
Hain verwandelten Schloßgarten reift schließlich der reizendste Bau heran, welchen die
Renaissance nördlich der Alpen anfzuweisen hat. Für diesen Bau hatte Ferdinand I.
durch seinen genuesischen Orator in der Person Paolo's della Stella de Mileto einen
hervorragenden Architekten und Plastiker gewonnen, welcher sich vordem sammt seinem
286
Gehilfen Zoan Maria de Padova neben Jacvpv Sansvvino an der Ansschmüeknng des
Santo in Padna betheiligte. Im Frühling des Jahres 1538 kam Paolo mit seinen
„13 wällischen Steinmetzen", darunter mich Zoan Maria Padovano, nach Prag und ging
an die Arbeit. Unter mannigfachen Wehen kam der Bau nach Jahren zustande. Bald
werden Klagen hörbar, daß die Italiener „gar unfleißig, faul, langsam" arbeiten, bald
werden sie beschuldigt, daß sie anderen Arbeiten nachgehen, bald benehmen sie sich sogar
meuterisch : dann tritt wieder in den von der böhmischen Kammer verfügbaren Geldmitteln
eine bedenkliche Ebbe ein, und ein andermal kommen Differenzen mit den Baumeistern
betreffs ihrer Ansprüche vor. Noch vor Vollendung der Arbeit starb Paolo della Stella
im October des Jahres 1552. Nach einer kurzen Unterbrechung, die nun eintrat, wurde
die Leitung des bereits zum oberen Stockwerke gediehenen Baues dem schon früher
nach Prag abgesandten königlichen Baumeister Hans Tyrol auvertraut, einem Meister,
welcher es verstand sich neben Wohlmuth zu behaupten und der sowohl in künstlerischer
Beziehung als auch vermöge seiner Abstammung den Italienern näher als der Letztere
stand. Aber auch Wohlmuth selbst finden wir ab und zu mit Angelegenheiten des „Lust -
hauses" beschäftigt, doch sind es Fragen mehr administrativen als künstlerischen Charakters,
welche nun zur Sprache kommen. Allmälig schreitet der Bau seiner Vollendung entgegen;
ini Jahre 1555 wird bereits an seine Bedachung und Pflasterung gedacht, aber erst 1558
wird die erstere vollendet, während an der Pflasterung und der inneren Ausstattung geraume
Zeit noch weiter gearbeitet wird.
Das Künstlerische des wunderbaren Baues kann nur für einen Meister, für Paolo
della Stella in Anspruch genommen werden. Von Ferabvsco di Lagno, welcher früher
neben Stella als Urheber des Baues galt, schweigen die Quellen; derselbe scheint erst,
als der Bau seinem Abschluß entgegeuging, heraugezogen worden zu sein. Dagegen
haben die wackeren italienischen Steinmetze Stella's, Zoan Maria, Johann Campian,
Baptista de Zavoza und manche andere der ab und zu recht trotzigen und händel -
süchtigen Gesellen an dem Zustandekommen des Kunstwerkes hervorragenden Antheil.
Eben durch die Fülle des decorativen Schmuckes und die feine Durcharbeitung der archi -
tektonischen Details, durch Eurythmie der einzelnen Bauglieder zeichnet sich das sonst
einfach angelegte Gebäude aus. Insbesondere sind es die, den Kern des Gebäudes an
allen Seiten des Erdgeschosses umgebenden Arkaden, an welchen sich die Kunst des Stein -
metzen entfaltet. Über den jonischen Capitälen der schlanken glatten Säulen schwingen
sich durch zierliche Perlschnüre umfaßte Bogen; sowohl die Säulensockel und die zwischen
ihnen sich hinziehende Brüstungsmauer, als auch die Bogenzwickel tragen figurale
Reliefs und über den letzteren zieht sich um das ganze Gebäude ein reicher Fries mit
schwungvoll behandeltem Blattwerk herum, welches ab und zu durch Embleme und
287
Trophäen unterbrochen wird. Eines der Reliefs an der dem Schloßgnrten zngekehrten Seite
zeigt uns in sinniger Weise Ferdinand selbst, wie er im Garten seiner Gemalin begegnet und
von derselben einen Blumenstrauß empfängt, die übrigen stellen durchwegs mythologische
Scenen dar; nur die an den Ecken befindlichen halben Zwickelfelder weisen eine andere
Anordnung auf, indem sie flott entworfene Schilder umfassen. In denselben sieht man an
einer der Schmalseiten den böhmischen Löwen und die Anfangsbuchstaben b' ^ (Ferdinand-
Anna), in den übrigen unter anderem wiederholt das Adlerwappen mit goldenem
Vließ. Auch sonst kommen unter den Verzierungen dem goldenen Vließ entnommene
Motive vor, an den Säulencapitälen, den Bekrönungen der Fenster des Erdgeschosses
und an der durchbrochenen Brüstung der oberen Terrasse. Die einzelnen Füllungen der
letzteren, insoweit sie den Unbilden des Wetters widerstanden haben, tragen ornamentale
Reliefs von vollendeter Durchführung und feinstem Geschmack. Der ganze Bau zeigt eine
Richtung, wie sie sich in den Schöpfungen eines Baldassare Peruzzi abspiegelt, und jenes
Gefallen an heiterem reichem Schmuck, welchem man an den Bauten Bergamo's und seiner
Umgegend, der Heimat der Mehrzahl der beim Belvedere beschäftigten Steinmetze, begegnet.
Dies gilt jedoch nur von dem unteren Geschoß und dem darüber befindlichen steinernen
Geländer der Terrasse; das obere Stockwerk ist ganz kahl, ein Zeichen, daß andere Künstler -
hände und andere Verhältnisse hier walteten. Der einzige Schmuck ist ein nüchterner Fries,
in welchem sich bereits der für die zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts charakteristische
Dvrismns zum Worte meldet.
Das Belvedere ist nicht das einzige rein italienische Kunstwerk in Böhmen; noch
eines haben wir zu verzeichnen, die Stuckdecoration des Schlosses Stern bei Prag. Der
Bau selbst verdankt dem kunstsinnigen Sohne Ferdinands I., dem Erzherzog Ferdinand
von Tirol seine Entstehung und auch seine sternartige Form, welche früher, als die Ent -
stehungsgeschichte des Baues nicht genügend bekannt war, zu allerlei Deutungen Anlaß gab.
Außer seiner Form bietet der Bau in architektonischer Beziehung wenig Bemerkens-
werthes, dagegen weist die innere Ausstattung des Erdgeschosses die reichsten und feinsten
Stnceaturen auf, welche die Renaissance in Böhmen geschaffen hat. Die sternartige Form
des Gebäudes gab zu der mannigfachen Anordnung des Deckenschmnckes Anlaß, sowohl
in dem zwölfseitigen Mittelsaal und den fünf rhombenförmigen Gemächern, welche den
Strahlen entsprechen (im sechsten Raume befindet sich die Treppe), als auch in den
zwischen letzteren befindlichen Gängen. Die einzelnen Gewvlbespiegel und Kappen, bald
durch Perl- und Eierstäbe, bald von Blattwerk und Fruchtschnüren umrahmt, bilden da
einheitliche Flächen, dort ein wahres Kaleidoskop von Zierfeldern und nehmen in
demselben den ganzen Fvrmenschatz der Renaissance auf, wie er nur den größten unter
den Cinquecentisten zu Gebote stand. Geschichtliche und mythologische Darstellungen,
288
steife Hermen und ungebundene Faune, reizende Putten, Hippvkampen und Tritonen, das
ganze Thierreich, wie es in der Natur oder in der Phantasie lebt, Embleme, Masken,
Trophäen und Guirlanden, das Alles belebt in bunter Abwechslung die gegenwärtig
stillen Räume und bietet einen durch die
Gesammtanordnung wirkungsvollen, durch
die fesselnden Details ergötzlichen Anblick.
Im Ganzen flach gehalten treten nur stellen -
weise einzelne Details im kräftigen Relief
hervor und bieten auch in der Behandlung
eine wohlbedachte Abwechslung. Während
das Ornamentale durchwegs meisterhaft
behandelt ist, ist das Figurale nicht immer
von gleicher Vollendung der Formen, ein
Beweis, daß hier mehrere, doch ungleiche
Kiinstlerhände betheiligt waren.
Jrrthümlicherweise wird die Urheber -
schaft für Paolo della Stella in Anspruch
genommen; der Bau ist nachweislich im
Jahre 1555 in Angriff genommen worden
und schon drei Jahre vordem hat der
Meister das Zeitliche gesegnet. Aber es war
einer von den trefflichsten seiner Getreuen
da, Zoan Maria, welcher volle Eignung
besaß, die Durchführung solch plastischen
Schmuckes zu leiten. Da müssen wir uns
unwillkürlich der Stuccodecorativn in der
Antoniuskapelle im Santo zu Padua, wo
Zvan Maria neben Paolo sich bethätigte,
erinnern.
Auch der Name Piero de Feraboveo Detail aus dem plastischen Schmuck des Schlotes Steril,
taucht hier abermals ans. Im Jahre 1565
finden wir hier urkundlich Johann Campian, den tüchtigen Steinmetz, beschäftigt.
Können nicht die einfach und geschmackvoll gearbeiteten Kamine, welche gegenwärtig die
würzige Zierde des ersten Stockes bilden und Verwandtschaft mit den Steinmetzarbeiten
des Belvedere aufweisen, ein Werk seiner Hand sein? Der nun verschwundene
Schmuck der oberen Stockwerke bestand nur in Malereien, zu welchen heimische Künstler,
289
ein Matthias Jahodka, Jakob Vvjlech, ein Pole (Polak) Sparga nnd Andere zngezogen
wtirden. Wohlinuth und Tyrol überwachen die Vollendung des Werkes, welches Erzherzog
Ferdinand „erdacht und circulirt, mit seiner tuyren rechten haut".
Während seines langjährigen Aufenthaltes in Böhmen (1547 bis 1507) ist Erzherzog
Ferdinand die Seele aller künstlerischen Unternehmungen, an welchen das Herrscherhaus
oder das Land betheiligt war. Er nimmt die Entwürfe der Architekten nnd Maler entgegen,
referirt unverdrossen an seinen Vater über den Stand und Gang der Dinge, trägt um
die administrativen Angelegenheiten Sorge und schlichtet die nicht seltenen Streitigkeiten
der Künstler. Der Bau des Lusthauses in, Schloßgarten wird unter seiner Aussicht
Detail aus dem plastische» Schmuck des Schlosses Stern.
weitergeführt und auch bei den zahlreichen Erweiterungsbauten im königlichen Schlosse,
welche nach dem mit dem Tode Ludwig des Jagellonen eingetretenen Stillstand wieder
in Angriff genommen wurden, ruht die oberste Leitung in seinen Händen.
Als nach dem verheerenden Brande des Jahres 1541 nothgedrnngen zur Errichtung
neuer Bauten geschritten wurde, erscheint mit der Bauleitung Bvnifacms Wohlinuth
betraut. Bei dem Bau der an den Wladislaw'schen Saal anstoßenden Landrechtsstube
knüpft Wohlinuth an die traditionelle Bauweise des Meisters Benedict an. Er schuf einen
noch vollständig gothisch construirten Raum, die Principien der Spätgothik sind hier sogar
aufs Äußerste getrieben, indem die wuchtigen Rippen des Netzgewölbes von demselben
frei abstehen nnd stellenweise nur als Decorativn dienen. Doch bedient sich Wohlinuth
bei den Wandkonsolen, an welchen die Rippen lagern, ausgesprochener Renaissanceformen,
welche den Zwiespalt seiner künstlerischen Natur kein,zeichneil. Mit Wohlgefallen referirt
Böhmen.
290
Wohlmuth nach vollendeter Arbeit 5. November 1563, „das ich zu got verhoff, euer Römisch
kais. maj. die werden nicht allein ein gnädiges gefallen, sonder der ganzen cron Behaimb
und derselben nachkomen ein eerlich Kleinat und gedachtnusz sein, sich auch wo nit besser
dem saal daneben vergleichen" — „umb welcher arbeit willen dem maister Benedigt säligen
vom künig Vladislaus ein hoher eerntitl gegeben worden . . . . " fügt er in einer kaum
mißzudeutenden Absicht hinzu. Bei anderen Schloßtheilen war Wohl auch Hans Tyrol
betheiligt, aber zu besonderer Bethätigung in künstlerischer Richtung war wenig Gelegen -
heit. Der für das sogenannte Rentamt und die Landtafel errichtete Flügel, welcher sich
unorganisch an den Wladislaw'schen Bau angliedert, ist in künstlerischer Beziehung unbe -
deutend. Auch bei dem Bau der Domkirche hat die Thätigkeit beider Baumeister Wohl -
muth und Tyrol keine künstlerisch hervorragenden Spuren hinterlassen.
Die italienischen Baumeister bleiben auch bei den von den Großen des Landes unter -
nommenen Bauten tonangebend. In der Nachbarschaft des königlichen Schlosses erwächst
der, bald nach 1545 von Johann von Lobkowitz erbaute, gegenwärtig Schwarzen-
berg'sche Palast, mit seinen Flügeln dem Hradschiner Platz,mit seiner, auf steilem Abhange
errichteten Front der Spornergasse zugekehrt. Der Bau kann als Typus der Schloßbauten
der böhmischen Renaissance hingestellt werden; die in Sgraffito nachgeahmten Bossagen,
die Lünetten unter dem vorgekragten Dachgesimse, die durch Pilasterstreifen gegliederten
Giebel, die ganze der einheimischen Flora entnommene Sgraffito-Ornamentik, welche die
Lünetten und Giebel belebt, kommen nebst den auch hier früher vorhandenen Hofarkaden
auch bei anderen Bauten Böhmens vor, so daß sie als Merkmale der unter dein italienischen
Einfluß sich entwickelnden Renaissance Böhmens gelten mögen. Auch beim bürgerlichen
Wohnhause, welches im Großen und Ganzen die Eintheilung jenes der gothischen Periode
beibehält, kommen dieselben Merkmale vor; das hohe Dachgerüst, welches insbesondere
als Erbe der alten Zeit beibehalten wurde, wird erst jetzt in decorativer Beziehung ver -
wertet, indem es in malerisch sich aufbauende Giebel aufgelöst wird. Dieselben verleihen
nun den langen Gassenfronten, wie es beispielsweise noch jetzt bei der Schloßstiege mit
dem ehemaligen Slawata'schen von den Herren von Neuhaus erbauten Hause der Fall ist,
einen eigenthümlich malerischen Reiz, welcher seinerzeit noch durch Sgraffitos und Malereien
erhöht war. An architektonischem Ornament sind die Renaissancebauten Prags und
Böhmens überhaupt sonst nicht besonders reich. Die Fenster, welche ihre gothischen Profile
erst nach und nach abwerfen, werden durch kräftige Chambranlen überkragt, die Thore und
Thüren in der Regel durch gewaltige Bvssagen umfaßt, welche oberhalb des Bogens
beim adeligen Hause das Wappen, beim bürgerlichen ein Schild mit dem Merkzeichen
des Eigenthümers tragen. Wo größerer Reichthum an decorativeu Formen entfaltet wird,
ist der Eingang durch Säulen flankirt, welche das Gebälke und ein Tympanon tragen.
291
Die Säulen sind in der ersten Zeit cannelirt, die Canneluren in den unteren Partien mit
eingesetzten Stäben versehen, später ans toscanische Art ab und zu ganz glatt gebildet und
vvm Beginn des X VII. Jahr-
Hunderts der Höhe nach durch
Nustica gegliedert. In der
zweiten Hälfte desXVI. Jahr -
hunderts wird das Gebälke
dem dorischen Stil ent -
sprechend gegliedert und die
Metopen sind durch allerlei
Embleme verziert; letztere
Art hält sich das ganze
XVII. Jahrhundert hindurch,
um mit dem anbrechenden
XVIII. Jahrhundert nahezu
vollkommen zu verschwinden.
Eine Decorationsweise,
wie es beispielsweise das
reizende Portal des Hauses
„bei zwei Bären" in der
Schwefelgasse aufweist — in
flachem Relief gearbeitetes
Blattornament, dem Stil der
deutschen Kleimneister ver -
wandt — gehört in Prag
und im südlichen und östlichen
Böhmen zu den Seltenheiten,
dagegen wird sie mitunter
in den nördlichen Städten
Böhmens angetroffen. Daß
unter ornamentalem Detail
ab und zu noch golhische
Das Zdiarsky-Haus in Prach-Ntz. formen auftanchen, kann bei
der Zähigkeit, mit welcher die einheimischen Meister an der Eothik »och lange sesthalten,
nicht Wunder nehmen. Ein interessantes Conglomerat gothischer und Renaissanceformen
bietet das große dreitheilige, die Inschrift ,?raga capul reAirw tragende Fenster des
292
Altstüdter Nathhauses. Es wird durch cannelirte Pilaster, wie sie der Frührenaissauce
in Böhmen eigen sind, eingefaßt, und während die äußeren zwei Pilaster in gothische
Fialen auslaufen, sind die Pfosten, das Gebälk, die Archivolten durch reinstes Renaissance -
detail verziert. Die Krone oberhalb des städtischen Wappens, welche in ihrer Form dem
bei Karl V. vorkommenden Typus entspricht, scheint darauf hinzuweisen, daß jenes Fenster
erst entstanden, als der Stadtrath bei den Feierlichkeiten des Jahres 1558 den neu -
gewählten römischen Kaiser Ferdinand I. als solchen in seinen Räumen begrüßte.
Wiewohl eine reiche architektonische Gliederung und plastische Verzierung der Renais -
sancebauten Böhmens zu den Seltenheiten gehört, blieben doch die Wände nicht unverziert;
dieselben wurden in der Regel ans florentinische Art über und über mit Sgrafsitos und
Chiaroscuro-Malereien bedeckt; in dieser ursprünglich rein ornamentalen Verzierungsweise
gewinnt um die zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts das Fignrale Oberhand, wie es
beispielsweise bei den im Jahre 1560 erbauten Partien des Teinhofes der Fall ist. Zur
Fortentwicklung dieser Richtung mag wohl auch die niederländisch-romanische Richtung
der zur Zeit Rudolfs II. in Böhmen thätigen Maler beigetragen haben. Aber noch bevor
diese ihre Thätigkeit entfalten, schon um das Jahr 1570, findet das der niederländischen
Renaissance eigenthümliche Cartouchenornament in der böhmischen Malerei Eingang.
Hierdurch erfährt nicht nur der Stil der malerischen Ausstattung, sondern auch jener der
Steinmetzarbeiten, der Holzschnitzereien eine Umwandlung. Ein prächtiges Beispiel einer
den niederländischen Ornamentisten vom Schlage des Johann Vredeman de Vries stil -
verwandten Sgraffitodecoration bietet das leider arg verwahrloste Ballhaus des könig -
lichen Schloßgartens in Prag, welches dem Charakter nach bereits der Zeit Maximilians II.
oder der anbrechenden Rudolfinischen Periode angehört.
Die königlichen Bauten Prags und seiner Umgebung: der Schloßbau Wladislaws,
das Belvedere Ferdinands I., das von seinem Sohne erbaute Schloß Stern mit seinen
Stuckaturen, das später errichtete Ballhaus mit seinen Sgrafsitos, bilden gewissermaßen
Marksteine des Entwicklungsganges der Renaissance in Böhmen, welche bereits mit dem
Antritt Matthias' die Neigung zeigt, in barocke Formen ausznarten. Dieselben Phasen
lassen sich auch außerhalb Prags verfolgen, nur zeigt die Entwicklung hier nicht ein so
rasches Tempo, die provinziale Kunst hält an den überkommenen Formen länger fest
und mannigfaltige Einflüsse, locale und individuelle, haben auch manche ganz originelle
Erscheinungen zur Folge.
Gleichzeitig mit dem „Gartenpau" werden von den dabei mitunter beschäftigten
Italienern verschiedene Bauten auf dem Lande ausgeführt. So wird um das Jahr 1549
an den königlichen Schlössern Brandeis an der Elbe, Schwarzkostelec und Podebrad
gearbeitet, welche ihr aus dieser Zeit stammendes Äußere mehr oder weniger bis heute
293
bewahrt haben. In Podebrad waren beispielsweise unter Zuziehung einheimischer Stein-
nietze Girzik von Lugano und der auch sonst bekannte Baptista de Zawoza, in Kostelec
Meister Johann de „Ffiniiaiidt", in Brandeis der Steinmetz Thomas und Maurer
Matesz thätig. Letzteres Schloß hat späterhin Rudolf II. zu seinem Lieblingsaufenthalt
gewählt und wohl auch entsprechend ausgestattet. Im Innern selbst hat sich hier wenig
Bemerkenswerthes erhalten, indem das Schloß von mannigfachen Umänderungen, zu
welchen beispielsweise die Vermauerung der seinerzeit offenen Hofarkaden gehört, nicht
verschont blieb.
Den bei diesen und den Prager Bauten wahrgenommenen Charakter finden wir
auch sonst bei den zahlreichen Bauten des östlichen Böhmens. Frühzeitig mit gothischen
Formen vermengt erscheinen hier Renaissancemotive bei einigen kirchlichen Bauten, wie zum
Beispiel an den einander verwandten Portalen der Katharinenkirche in Chrudim und der
Petri- und Paulikirche in Caslan. Für die profane Baukunst waren die baulichen Unter -
nehmungen des reichen Stammes der Pernsteine im östlichen Böhmen tonangebend. Zur
Zeit als italienische Werklente in königliche Dienste berufen wurden, waren schon einige
wälsche Steinmetzer bei den Bauten des Herrn Johann von Pernstein beschäftigt. Zu diesen
gehört zunächst das Schloß zu Pardubitz, welches sein Äußeres und einige interessante
Einzelheiten noch erhalten hat. Die Details des im Jahre 1529 entstandenen und im
Jahre 1541 unter Johann von Pernstein aufgerichteten Portals des Pardubitzer Schlosses
zeigen ein sonst ziemlich seltenes Bestreben nach besonderem Reichthnm der Formen und
lassen hierbei den Einfluß der deutschen Renaissance erkennen, aber der Bau selbst mit
seinen Giebeln und den Hofarkaden gehört der unter dem Einfluß italienischer Meister
stehenden Banrichtung an. Dies ist vollständig der Fall bei dem gewaltigen, von dem
„prachtliebenden" Vratislav von Pernstein im dritten Viertel des XVI. Jahrhunderts
erbauten Schlosse zu Leitomischl, welches sein ursprüngliches Äußeres im Großen und
Ganzen erhalten hat und in seiner Anlage, den Hofarkaden, der luftigen, dem Schloßpark
zu sich öffnenden Loggia, in seinen Bossagen des Portals, gleich dem Schwarzenberg'schen
Palais in Prag, den in Böhmen üblichen Typus trägt. Die dem Hofe zngekehrten
Wandflüchen sind über und über mit reichem figuralen Sgraffitoschmnck verziert.
In dem gegenwärtig dem Verkehr entrückten stillen Winkel des Erlitzgebirges reihen
sich zu Leitomischl kleinere Renaissanceschlösser an: das reizende, quadratisch angelegte,
mit Hofarkaden versehene gräflich Bubna'sche Stammschloß zu Dvudleb; Schloß
Castolowitz, welches in einem Flügel noch ursprüngliche, aus reichem alten Tafelwerk
bestehende Renaissancedecken trägt; Schloß Opocno mit seinen schlanken Hofarkaden und
viele andere.
Auch bei bürgerlichen Bauten ist man bestrebt eine gewisse Pracht zu entfalten.
294
Gar schüchtern treten die Renaissanceformen auf in den Bauten zu Pardubitz, welches,
im Jahre 1524 nahezu gänzlich eingeäschert, unter der Ägide der Herren von Pernstein
sich rasch erholte. Das Wahrzeichen der Stadt, der hohe grüne Thurm mit oberhalb des
Einfahrtthors angebrachten Giebeln, wurde im Jahre 1534 von einem heimischen
Steinmetz Paul erbaut. In der benachbarten alten Kreisstadt Chrudim bezeugen zwei
reizende, in der jetzigen Apotheke befindliche Portale mit dem Wappen der Herren von
Pernstein, daß auch hierher die Einflüsse ihres künstlerischen Schaffens drangen, und das
interessante Mydlär'sche Haus mit seinen der Gasse zugekehrten Loggien und dem bizarren
nünaretähnlichen Thurme, im Jahre 1573 von dem reichen Bürger Matthäus Mydlär
erbaut, ist anscheinend unter dem Einfluß des Leitomischler Schloßbaues entstanden. Auch
in der alten Bergstadt Kattenberg, wiewohl ihre Glanzperiode so ziemlich vorbei war, hat
die Renaissance ihre Spuren, wenn auch nicht in bedeutenden Bauten, so doch in einigen
reich ansgestatteten Portalen hinterlassen.
Wie in dem östlichen Böhmen der Stamm der Pernsteine, standen die Rosenberge
mit den stammverwandten Herren von Neuhaus in Südböhmen an der Spitze des künst -
lerischen Schaffens. Das unstreitig anziehendste Baudenkmal, welches zur Blütezeit der
Renaissance in Südböhmen entstand, ist der unter Joachim und Adam von Neuhaus
erfolgte Neubau des altehrwürdigen Stammschlosses Nenhaus. Das Nebeneinanderbestehen
der aus verschiedenenPerioden stammenden Partien, welche sich äußerst malerisch grnppiren,
die herrliche Lage, die Spuren einstiger Pracht und das Sagenhafte, welches sich an diesen
Stammsitz eines längst ausgestorbenen Magnatengeschlechtes knüpft, verleiht dem nun
nahezu verlassenen Schlosse einen eigenthümlichen Zauber. Die der Renaissanceperiode
angehörigen Partien grnppiren sich um den dritten Hof des Schlosses, welcher in seiner
Mitte den prächtigen schmiedeeisernen Brunnen trägt; hier in den Arkadengängen hat
sich einst das bunte Leben eines Herrensitzes in voller Pracht entfaltet. Im Innern hat
sich noch Manches ans dieser Zeit erhalten, hier das Tafelwerk der Decke, dort eine elegant
gearbeitete Thüreinfassung, da ein prächtiger Wätscher Kamin. Die Bauten wurden bereits
unter Joachim von Neuhaus in Angriff genommen, aber erst von Adam von Neuhaus
mit vollem Eifer fortgesetzt. Die Leitung des Baues wurde 1580 einem wälschen Maurer,
Balthasar Majo, welcher, auch Meister Balcar genannt, gleichfalls bei anderen Bauten
Südböhmens, beispielsweise in Krumau und Bechyn betheiligt erscheint, übertragen.
Ihm folgen Johann Maria Faconi, Anton Melana und Anton Cometa bald nach. Ein
reizendes Werk der Spätrenaissance ist das an der Südseite errichtete „Lusthaus", eine kleine
Rotunde, außen mit Fensteröffnungen, Pilastern, Nischen und malerischen Giebeln, innen
mit reicher Stuckdecoration verziert. Der Bau wurde in den Jahren 1591 bis 1597 von
Faconi und Cometa unter Zuziehung einheimischer Künstler und Handwerker durchgeführt.
Das Nathhaus in Pilsen.
Fast an keinem der zahlreichen Schlösser Südböhmens ist die Renaissance spurlos
vorübergegangen, überall hat sie irgend ein mehr oder weniger bedeutendes Werk hinter -
lassen, in Wittingan und Kruman, in Rosenberg und selbst in den kleineren zahlreichen
Vesten. Ein interessantes Baudenkmal dankt der glorreichen Periode der letzten Rvscn-
berge vollständig seinen Ursprung, das Jagdschloß Kratvchvile (Kurzweil) bei Netolitz,
296
ein rechter Zufluchtsort der jagdlustigen und allerlei Kurzweil treibenden Gesellschaft der
Nudolfinischeu Zeit. Das Schloß ist im Jahre 1583 unter Wilhelm von Rosenberg
erbaut worden und wir finden hier die aus Neuhans her bekannten italienischen Meister
Baltazaro Majo und Antonio Melana wieder. Ihnen gesellt sich als Dekorateur der
Rosenberg'sche Maler Widman hinzu. Die ganze künstlerische Pracht der lebenslustigen Zeit
war hier im Innern des Schlosses concentrirt; die Decken waren mit den theils in Gold
strahlenden weißen Stuckaturen Melana's, die Wände mit Tapeten und Malereien, die
Thüren mit Intarsien versehen, und selbst der Boden erhielt in den azulejoartigen Fließen,
welche nun zur Zierde einzelner Appartements des prachtvollen Neubaues Frauenberg
dienen, einen entsprechenden Schmuck. Wie so manches Bauwerk der Renaissance ist auch
dieses vor Verwüstung nicht verschont geblieben.
Neben der Architektur der Herrensitze hat sich in Südböhmen jene des bürgerlichen
Hauses in eigenartiger Weise ausgeprägt. Das Charakteristische desselben sind die Lauben -
gänge des Erdgeschosses und der horizontale, an Italien mahnende Abschluß des oberen
Geschosses; die hohen gothischen Firste, welche noch in der alten Hussitenstadt Tabor häufig
anzutreffen sind, kommen hier selten vor. Nur durch einen Zinnenkranz, ab und zu durch
eigenthümliche runde Thürmchen, welche sich auch manchmal zu einem gelinde aufsteigenden
Giebel gruppiren, erhält die Bekrönung des Gebäudes einen reicheren Schmuck. Es liegt
etwas trotzig Wehrhaftes in dieser Bauart, welche wir in Krnman, Wittingau und Bndweis
antreffen und dessen Typus wir bis Deutschbrod und bis auf den mährischen Boden
verfolgen können. Unwillkürlich erinnern wir uns an die vielen heißen Kämpfe, welche in
den Straßen dieser Städte, wo die Gegensätze des Glaubens und der Standesinteressen
so hart aneinander stießen, ausgefochten wurden.
Ein nahezu vollständiges Bild einer mehr friedlichen südböhmischen Stadt des
XVI.Jahrhunderts hat sich in dem einst als bedcutenderHandelsplatz blühenden Prach atitz
erhalten. Zahlreiche Gebäude haben dort ihr ursprüngliches, mit Fresken und Sgraffitos
geschmücktes Äußere bis heute bewahrt. Das zinnenbekrönte Stadtthor mit dem Reiterbilde
Wilhelms von Rosenberg, das in den Jahren 1570 bis 1571 erbaute Rathhaus, das
Bräuhaus, Herrenhaus, Zdiarsky-Haus, das letztere von Meister Fargit aus Budweis im
Jahre 1604 erbaut, alle mit verschiedenen Darstellungen, mit zahlreichen lateinischen,
böhmischen, mitunter auch deutschen Sprüchen bedeckt, sind die interessantesten und best -
erhaltenen Gebäude dieser alterthümlichen Stadt. Neben italienischen Einflüssen traten in den
Malereien auch Anklänge an Holbeins und Jost Ammans Stiche hervor; die Bauart selbst
weist ans die unter dem Einfluß italienischer Künstler heimisch gewordene Richtung hin.
Einer förmlichen Colonie italienischer Maurer und Baumeister, wie sie sonst zu jener
Zeit nur auf der Kleinseite Prags anzutrcffen war, begegnen wir in Pilsen. Die Stadt
Der Jnnenhof des Schlosses zu Mühlhausen.
blühte nach den hussitischen Kriegen rasch empor nnd wuchs zu immer größerer Bedeutung.
Für die cultnrellen Bestrebungen der dortigen Bevölkerung ist der Umstand bezeichnend,
daß hier am Schlüsse des XV. Jahrhunderts die erste bekannte Buchdrnckerei bestand, aus
welcher die trefflichsten böhmischen Inkunabeln stammen. Während des XVI. Jahrhunderts
erfreut sich die Stadt einer Wohlhabenheit, welche bald zu einer bedeutenden Bau-
thätigkeit Anlaß gab und die watschen Steinmetzen heranlockte. Johann und Anton de
Statia von Lugano, Johann und Matthäus Merliau, Albert Grhson, Marco Soldata und
298
viele Andere werden hier seßhaft und errichten eine große Anzahl von Häusern für die
Bürgerschaft Pilsens, und indem sie selbst bald zu derselben zählen, für eigenen Bedarf
oder förmlich auf Spekulation. Die Baulnst coneentrirte sich auf und um den geräumigen
Ringplatz, auf welchem sich aus der Mitte gleichartiger Gebäude das gewaltige Rathhaus
erhob. Dasselbe ist in den Jahren 1554 bis 1556 unter Leitung der Stadtväter von
Meister Johann de Statia erbaut worden.
Auch zahlreiche Schloßbauten der Renaissancezeit hat das westliche Böhmen auf -
zuweisen, von welchen wohl das westlich von Pilsen gelegene Bischofteinitz und das
nördlich liegende Schloß Kacerov die wichtigsten sind. Das Schloß zu Bischofteinitz, nach
dem Jahre 1547 erbaut, schließt sich gänzlich an die Bauweise des gegenwärtigen
Schwarzenberg'schen Palais in Prag an; es ist auch von demselben Bauherrn errichtet
worden, Johann von Lobkowitz, welcher durch seine Baulust zur Ausgestaltung der Renais -
sance in Böhmen viel beitrug. Auch als Oberstburggraf des Königreiches Böhmen ließ
Johann von Lobkowitz seine Baulust walten, indem er im Jahre 1555 das sogenannte
alte Burggrafenamt in Prag durch Meister Ventura umbauen ließ.
Die Richtung der Lobkowitz'schen Bauten ist durch einen anderen gewaltigen Bau -
herrn, durch Florian von Griespeck (gestorben 1588), den Erbauer der Schlösser von
Kacerov und Mühlhausen (Nelahozeves), weiter entwickelt worden. Bei dem Bau von
Kacerov hatte sich Griespeck der italienischen Meister, welche in Pilsen ansässig waren,
bedient; auch ist der Bau nahezu mit jenem des Pilsener Rathhauses gleichzeitig. Ilm
1550 wurde schon daran gebaut und ein prächtiger wälscher Kamin im Innern des
Schlosses trägt die Jahreszahl 1552. Der Ban des am Abhang über der Moldau sich
erhebenden Schlosses Mühlhausen wurde wohl bald nach dem Jahre 1558, in welchem
Florian Griespeck Eigenthümer der Herrschaft geworden, in Angriff genommen und nach
dem Tode Florians von seinem Sohne Blasius fortgesetzt. Noch im Jahre 1614
wurde an der künstlerischen Ausstattung einiger Bautheile unter Blasius und seiner
Gemalin Sofia von Bubna gearbeitet. Gleich Kacerov lagert sich der Bau um einen
quadratischen Hof herum, welcher mit seinen Portalen und Arkaden überaus malerisch
wirkt. Sonst war das Äußere mit Sgraffiten, die Jnnenräume mit Steinmetz- und
Stuccaturarbeiten, Fresken, Vertäfelungen äußerst glänzend ausgestattet; in mehreren
der Räume, welche lange Jahre ganz öde dastanden, haben sich noch Spuren einstiger
Pracht erhalten.
Von anderen Bauten Mittelböhmens schließen sich das von Mühlhausen westwärts
gelegene Martinitz'sche Schloß Smecna und ein Schloßflügel in der nördlicher liegenden
alterthümlichen Stadt Melnik der üblichen Richtung der böhmischen Renaissance an.
Im Norden Böhmens trifft man bedeutendere Bauwerke der Renaissancezeit selten,
299
selbst von dem Wenigen, was da war, wurde Vieles in neuester Zeit weggerünmt, so
das interessante Portal des alten nun als Rathhaus dienenden Schlosses zu Komotau,
welches vom Jahre 1520 herrührend neben Renaissaneemotiven noch gothische Profile
anfwies, und das Rathhaus in Brüx, dessen Äußeres die charakteristischen Merkmale
der böhmischen Renaissance trug. Wie jenes zu Komotau steht auch das alte Rathhaus
zu Leitmeritz noch teilweise unter Einfluß des gothischen Stils, während die innere
Ausstattung desselben, insbesondere die prachtvolle Holzdecke und Vertäfelung des
Sitzungssaals, vollends der Renaissance angehört.
Bei zahlreichen Bauten der nördlichen Gegenden kommt die Richtung der deutschen
Renaissance, wie sie sich insbesondere in Sachsen ausgebildet hat, klar zum Vorschein.
Ein größeres Bauwerk dieser Art ist das Schloß der Herren von Saalhausen in Bensen
mit seinen Giebeln und mit seinem Portal, dessen plastischer Schmuck au die deutschen
Kleinmeister gemahnt. Die bürgerlichen Häuser, wie man sie in Leitmeritz, Kaaden,
Komotau und anderorts antrifft, zeigen in ihren Portalen denselben Charakter. Eme tiefe
Hohlkehle, in welche unten an beiden Seiten Sitzsteine eingesetzt sind, ist bezeichnend für
diese Richtung, welche man weiter nördlich bis Dresden und in den sächsischen Städten
des Erzgebirges verfolgen kann. Interessante Beispiele liefert Komotau in zahlreichen
Häusern der Herren- und Steingasse, welche, nach dem Brande im Jahre 1598 entstanden,
ihre alten Portale oder ganze Fanden bewahrt haben. Insbesondere m den Steinmetz -
arbeiten ähnlicher Art, in den zahlreichen Portalen, dann in den Grabdenkmälern, Kanzeln
und Sanctnarien äußert sich die künstlerische Thätigkeit Nordböhmens, und zwar in einer
Weise welche der unter dem Einfluß Nossenis flehenden Kunstrichtung der benachbarten
Gegenden Sachsens verwandt ist. Die Geschlechter Saalhausen, Schlick und Rädern
spielen in dieser Knnstthätigkeit eine ähnliche Rolle wie jene von Pernstein, Rosenberg,
Neuhans, Lobkowitz, Griespeck und Andere in den übrigen Gegenden Böhmens.
Um die Wende des XVI. Jahrhunderts beginnen hier in der Architektur und
Scnlptnr niederländische und norddeutsche Elemente Oberhand zu bekommen. In dieser
Beziehung ist besonders der im Jahre 1582 von Christoph Melchior von Rädern
begonnene Schloßbau in Reichend erg durch die von seiner Witwe Katharina m den
Jahren 1604 bis 1606 vollführte Kapelle interessant, indem dieselbe in ihrer prachtvollen
inneren Ausstattung, den Sänlenstellnngen, Nischen, Hermen und Giebeln den reichen
Motivenschatz der sich bereits zum Barocken neigenden deutschen Renaifiance entfaltet.
Wir stehen schon am Beginn des XVII. Jahrhunderts und zugleich am Beginn
einer neuen Phase in der Entwicklungsgeschichte der Architektur. Das barocke Wesen, ;ed°ch
noch in Schranken gehalten, macht sich auch an den Werken der in Böhmen beschäftigten
Italiener geltend. Obenan steht Vincenzio Scamozzi, welcher auch hier nnt seiner wuchtigen
300
Kunst einsetzt. Es galt die königliche Burg am Hradschin weiter auszugestalten; schon
unter Rudolf II. wurden einige Anläufe dazu gemacht und nun ging sein Nachfolger
Matthias rasch ans Werk, indem er durch Scamozzi einen neuen, dem Hradschiner Ring
zugekehrten Flügel aufführen ließ. Von dem Ban ist das große Einfahrtsthvr, im Jahre
1614 vollendet, bis heute intact geblieben, ein mächtiges Portal mit rnsticirten Pilastern,
dorischem Fries und einem von Pyramiden flankirten Wappen und Inschrift tragenden
Giebel. Auch das ähnliche Formen ausweisende Portal, welches den Wladislaw'schen Saal
mit dem Oratorium der Allerheiligenkirche verbindet, gehört dieser Zeit an, sowie auch
verschiedene Bautheile des Altstädter Rathhauses und einzelner Kirchenbauten.
Ans dem Gebiete der kirchlichen Baukunst ringt noch am Beginn des XVII. Jahr -
hunderts der gothische Stil mit der siegreichen Renaissance; auf diesem Gebiete wissen
sich auch einheimische Bauleiter und Steinmetze gegen die vordringenden Italiener zu
behaupten. Zur Gründung neuer Kircheugebäude von größeren Dimensionen fand sich
lange kein Anlaß; erst die Verbreitung des Jesuitenordens einerseits und anderseits das
Vordringen der Augsburger Confession geben einen solchen. Von Ferdinand I. gefördert,
haben die Jesuiten bereits im Jahre 1556 von dem Kloster des heiligen Clemens in der
Nähe der Karlsbrücke Besitz ergriffen und im Jahre 1578 den Bau der Salvatorkirche
in Angriff genommen. Das ursprünglich ganz schlichte Gebäude wurde im Laufe des
XVII. Jahrhunderts mit einer ziemlich derben Pracht ausgestattet; an seine erste Bauzeit
erinnern jetzt nur die im Jahre 1601 vollendeten Portale. Gleichzeitig wurde auch die
anstoßende, von den in Prag seßhaften Italienern gegründete „Wälsche Kapelle" vollendet
(1600), ein schlichter Rundbau, dessen malerische Vorhalle einer späteren Zeit angehört.
Die von den Lutheranern 1611 bis 1613 gegründete Kirche auf der Kleinseite, die gegen -
wärtige Maria de Vietoriakirche, hat nur wenig von ihrem ursprünglichen Äußern bewahrt,
es sei denn das an Scamozzi mahnende Portal, welches theilweise dieser Periode
augehören dürfte. Ein zweiter, durch Lutheraner im Jahre 1611 bis 1614 errichteter Bau,
die Salvatorkirche in der Geistgasse, ist eine noch im Geiste gothischen Stils gedachte Anlage.
Wie hier kommen lange gothische Fenster und allerdings nur schmale Strebepfeiler auch
bei der von Rudolf II. im Jahre 1603 gegründeten und 1625 vollendeten interessanten
St. Rochuskapelle am Strahov vor, welche neben ihren gothischen Reminiscenzen auch
Details im Geiste Scamozzi's trägt.
Den lutherischen Bauten Prags folgten solche auf dem Lande, und das Einstellen
zweier ähnlicher Bauten durch kirchliche Behörden — in Braunau und Klostergrab — gab
den äußerlichen Anlaß zu dem Ausbruch jenes grauenvollen Krieges, welcher während seiner
dreißigjährigen Dauer ganz Böhmen verheerte und zahlreichen Baudenkmälern Verderben
brachte. Aber selbst in diesen bewegten Jahren wurde die Bauthätigkeit nicht eingestellt,
301
ja in einem Falle wurde sie durch die Verhältnisse des dreißigjährigen Krieges selbst
in einer großartigen Weise gesteigert. Der gewaltigste der Feldherren, Albrecht von
Waldstein (Wallenstein), ist bald nach seinem Auftreten bestrebt, seiner machtvollen
Stellung und seinen Bestrebungen auch künstlerischen Ausdruck zu verleihen, und die kurze
Spanne Zeit, welche ihm beschieden war, genügte, um in dieser Richtung Großartiges
hervorzubringen. Selbst im Lager, während des Schlachtgetümmels entwirft und prüft
Die Waldstein-Halle im Palais Waldstein zu Prag.
er bauliche Pläne, nimmt Referate über das Fortschreiten der Bauten entgegen und
drängt auf raschere Durchführung.
In Prag und Min, welches er zun, Mittelpunkt seiner Güter gewählt, werden von
dem Herzog bedeutende Bauten unternommen, in Prag das große Palais mit den aus -
gedehnten Gartenanlagen, in Nein und der nächsten Umgegend zahlreiche Bauwerke,
welche die Mannigfaltigkeit seines Strebens und auch der künstlerischen Richtungen kenn
zeichnen. Die Leitung der Bauten ruht in Händen italienischer Meister, welche die Barock -
architektur Italiens nach Böhmen verpflanzen; der Barockstil, in den Dimensionen an;
das Großartige, im Detail auf das Prunkvolle ausgehend, entsprach gänzlich den
Anforderungen eines prunkliebendcn Feldherrn.
302
Für feine Ausbildung des Details, wie ihn das königliche Belvedere, das Schloß
Stern anfweist, war der Sinn verloren gegangen; niedliche Arkaden, gemüthliche Gemächer,
wie sie bei jenen Bauten Vorkommen, genügten nicht mehr. Mit einer kolossalen stolzen
Arkade wendet sich der Palast dem Garten zu, welchen einst Bildwerke eines Adrian
de Vries schmückten, und ein nicht minder kolossaler Audienzsaal, so recht geeignet, die
stolze Suite des Herzogs zu versammeln, nimmt die ganze Breite des vorderen Flügels
ein. Die dem Platze zngekehrte Fahnde ist ziemlich nüchtern, die beiden Höfe werden
durch einfache, aufeinander ruhende Pilasterstellungen gegliedert. Die geschwungenen
Voluten, welche bereits am Schloßban Matthias' auftauchen, und das derb behandelte
Nahmenwerk der zur Aufnahme von Fresken bestimmten Flächen gehören schon der
barocken Decorationsweise an; die zahlreichen Fruchtschnüre bekommen eine für das
ganze XVII. Jahrhundert charakteristische Form und die Trophäen, welche zur Zeit der
Renaissance aus antiken Waffen bestehen, werden nun aus modernem Rüstzeug angeordnet,
welches selbst die olympischen Götter der Freskomalereien anlegen, um uns nicht vergessen
zu lassen, daß wir inmitten des großen Krieges stehen. Das ganze derbe barocke Wesen
des Details wirkt bei der großartigen Kalla terrena, welche wir durch den Anblick vom
Garten her in ihrer Totalität genießen können, weniger störend als in den Jnnenräumen.
Erbauer des Palastes war der im Jahre 1621 aus Mailand berufene Giovanni Marini,
welchem Bartolomeo Bianco als Decorateur zur Seite stand. Auch Basilio und Giovanni
Pironi werden bei dem Palastbau namhaft gemacht.
Mannigfaltiger waren die Aufgaben in Jicln, welches Wallenstein planmäßig zu
einem Herrschersitze umzugestalten beabsichtigte. Der große Palast daselbst, dessen Anlage
nicht minder ausgedehnt geplant wurde als jene des Prager Palastes, blieb unausgeführt;
das Bedeutendste sind die beiden Arkadenhöfe; die dem Ringe zugekehrte Front hat die alte
Anordnung des letzteren in den Laubengängen des Erdgeschosses behalten, während die
beiden Stockwerke durch große ununterbrochene Pilaster gegliedert sind, ein Motiv,
welches hier zum ersten Male auftritt. Eine weitere Gründung Wallensteins ist der nord -
östlich von Jicln gelegene Hof mit schattigem Ziergarten, in welchem sich eine mächtige
Kalla tsrreira, eine vereinfachte Replik jener des Prager Palastes befindet. Und am Lust -
garten vorbei geht es zu einem weiteren Baue Wallensteins, zu der großartigen Karthause
Walditz, welche er zu seiner letzten Ruhestätte ausersah und die gegenwärtig zu einem
Gefängniß umgewandelt worden ist. Der Bau, im Jahre 1628 nach Andreas Spezzas
Entwurf begonnen, wurde nach dem baldigen Tode Spezzas (gestorben 1628) von Pironi
weitergeführt. Das in Jicln selbst von Wallenstein gestiftete Jesuitencolleg war ein
gewöhnlicher Nutzbau, hingegen ist die dortige Jakobskirche eine der interessantesten
Kirchenbanten der Barockperivde.
Landschloß Troja ber Prag.
^ i!
304
Die durch Wnlleustein hervorgerufene Bauthätigkeit bildet in dem Entwicklungs -
gänge der Architektur Böhmens eine Episode, welche trotz kurzer Dauer von hoher
Bedeutung und nachhaltiger Wirkung war. Mit Walleusteins Tode schließt sie ab, die
großen Pläne des Friedländers bleiben unausgeführt und die Hast, mit welcher er
seine Bauten betrieb und dieselben commandomäßig hervorznbringen suchte, hatte zur
Folge, daß wenigstens das bereits Entworfene, wenn auch nur theilweise, zur Vollendung
gelangte.
In der Bauthätigkeit Böhmens tritt nun eine kurze Pause ein; erst nach dem West-
phälischen Friedenwagt man wieder zu neuen Unternehmungen zu schreiten. Die Jesuiten,
welche noch während des Krieges festen Fuß faßten, so daß sie bald eine ansehnliche
Anzahl von Profeßhäusern und eine Reihe von kleinen Residenzen zählten, waren die
ersten, welche daran gingen, neue große Gotteshäuser nebst Collegien zu errichten. Fast
gleichzeitig werden mehrere bedeutende Bauten von ihnen ausgeführt; eine der ersten,
wenn man von dem seit 1653 in Angriff genommenen mächtigen, der Kreuzherrengasse
zngekehrten Flügel des Clementinums absieht, war die Jgnazkirch e zu Klattan. Im
Jahre 1656 wurde der Grund zu derselben gelegt und unter Leitung Domenico Orsini's
schritt der Bau rüstig fort, so daß er bereits 1666 vollendet dastand; die nächsten Jahre
wurden der inneren und äußeren Ausstattung gewidmet und im Jahre 1679 fand die
feierliche Einweihung durch den Bischof Johann Dlonhoveskh von Longavilla statt. Nach -
dem die Kirche 1689 ein Raub der Flammen geworden, mußte sie abermals mit bedeu -
tendem Aufwands ansgestattet werden, in dem Bau selbst blieb jedoch das ursprüngliche
Werk Orsini's erhalten. Die Anlage der Kirche folgt jener der Gesü in Rom; die Seiten -
kapellen kommen bereits in Walditz vor, wogegen die östlichen Partien mit dem Querschiff
und dem groß angelegten Viernngsraum an die Anlage der Kirche zu Jicin anschließen;
von den beiden Kirchen zeichnet sich diese, eine der ersten Jesnitenkirchen, durch ihre
bedeutenden Dimensionen aus. Die Thürme, welche erst nach dem Brande vollendet wurden,
sind wohl eine der traditionellen Richtung zugestandene Concession.
Die Anlage und im Großen und Ganzen auch die innere Ausstattung der Klattaner
Kirche wird auch bei anderen Jesuitenkirchen, welche um diese Zeit entstehen, beibehalten,
in den Prager Bauten, in der Marienkirche in Königgrätz und in der Jgnazikirche in
Komotau. Letztere erhält einen Portikus, welcher auch bei anderen Jesuitenkirchen vor -
kommt, bei der Salvatorkirche in Prag, anläßlich des Umbaues im Jahre 1659 errichtet,
und bei der Jgnazikirche, welche die glücklichste Lösung dieses Baugliedes aufweist. Der
Richtung dieser Jesnitenbauten entsprechen auch einige Wallfahrtskirchen, wie beispiels -
weise jene von Altbnnzlau, sowie auch die Bauten in dem neuen Bischofsitz Leitmeritz,
wo die großartig angelegte Kathedrale zu St. Stefan vom ersten Bischof Max Rudolf
Palais Clam-Gallas in Pra„.
lm, Lchleiniy im Jahre 1671 gegründet
md van seinem Vachsvlger Grasen x"Uv^lav
,wn Steruberg im Jahre 1tt81 eingeweihl
wurde.
Ob bei einigen dieser Bauten auch
Orsini betheiligt war, ist gegenwärtig nicht
sichergestellt, wir finden ihn jedach in Prag vielbeschäftigt. Im Jahre 1676 baut er die
Kirche zum heiligen Benedikt, welche später demolirt wurde, und im Verein nnt ..kmtm
Böhmen.
306
Loragho den Carmeliterconvent in der Altstadt; auch die anstoßende Gallikirche erhält
zn dieser Zeit ihre gegenwärtige Ausstattung. Orsini, welchem wohl ein bedeutender
Antheil an der Entwicklungsgeschichte des Barocks in Böhmen zugestanden werden muß,
starb in Prag im Jahre 1680. In seinem Collegen Martin Loragho stellt sich uns ein
Mitglied einer weitverzweigten Baumeisterfamilie vor, welche schon in der ersten Hälfte
des XVII. Jahrhunderts in Böhmen auftaucht und gleich den Canevallis, Palliardis
und Anderen sich vollständig naturalisirt und tief hinein in das XVIII. Jahrhundert
wirkt. Im Verein mit Martin hat ein Carlo Loragho die Jgnazikirche in Breznitz
erbaut; letzteren! öffnet sich in Prag selbst sowohl in der kirchlichen als auch der Civil-
architektur ein weites Feld. Als Ingenieur leitete er im Jahre 1659 bis 1660 die nach
dem dreißigjährigen Kriege sich als nöthig erweisenden Festungsbauten zu Prag und
erbaute gleichzeitig das sonst schlichte Lobkowitz'sche Palais auf der Prager Burg. Sein
bedeutendstes Werk ist aber die Franciscuskirche bei den Kreuzherren in Prag, welche
in den Jahren 1679 bis 1688 unter dem verdienstvollen Prior Georg Ignaz Pospichal
errichtet wurde. Es ist eine der wenigen Kirchen jener Zeit, welcher nicht eine ältere
Anlage zu Grunde liegt; diesen Umstand hat der Meister wohl ausgenützt und die Kirche
in einer von dem Herkommen total abweichenden Weise angelegt. Als Basis wählte er
ein gleicharmiges Kreuz, über dessen Vierung sich die Kuppel erhebt.
Das Errichten von Kuppeln bei Kirchenbauten wird immer mehr und mehr beliebt;
so erhält die vom Grafen Wenzel Michna von Weitzenhofen gegründete Maria Magdalena -
kirche auf der Kleinseite (gegenwärtig Gendarmeriekaserne) eine Kuppel und eine
ähnliche wird auf Kosten seines Vaters Paul im Jahre 1649 auf der St. Salvatorkirche
in der Altstadt errichtet. In der Folge gehört die Kuppel zu den unerläßlichen Bau -
gliedern, und wo die nöthigen Fonds nicht vorhanden waren, um sie zu errichten, sucht
man wenigstens im Innern durch perspectivische Freskomalerei den Schein einer solchen
hervorzurufen. Die Kuppel der Kreuzherrenkirche ist auf kreisförmiger Basis construirt,
während bei den früheren die achteckige Form vorherrscht; der Tambour bekommt außen
durch gekuppelte jonische Säulen einen früher ungewohnten Schmuck. Im Ganzen bietet
diese Kuppel, welche dem maßvoll gehaltenen Bau zur besonderen Zierde gereicht, die
glücklichste Lösung, welche in dieser Richtung das XVII. Jahrhundert in Böhmen
aufzuweisen hat.
Während die Fa^ade der Kreuzherrenkirche einfache Behandlung aufweist, wird ihr
bei anderen Bauten besondere Sorgfalt gewidmet. Die Fa^ade der Sancta Maria de
Victoria auf der Kleinseite, jene der ehemaligen Panlanerkirche am Altstädter Ring,
wo gegenwärtig das k. k. Bergamt untergebracht ist, die St. Josephskirche auf der Klein -
seite, welche im Jahre 1692 vollendet, durch mächtige rusticirte Säulen gegliedert wird,
307
20*
zeigen in ihrer mannigfachen Anordnung die Barockarchitektur des XVII. Jahrhunderts
wieder von einer nicht minder günstigen Seite. Auch ist mit den Namen Orsini, Loraghv
die Liste der bei Kirchenbauten beschäftigten Baumeister nicht erschöpft, neben denselben
kommen Sylvester Carloni, ein Matthias von Burgund und Andere vor.
Nicht minder glänzend gestaltet sich die profane Architektur. Die immensen Güter,
welche einzelnen Adelsfamilien nach den unter Ferdinand li. erfolgten Cvnfiseativnen
zufallen, setzen sie in die Lage, kolossale Bauten nach dem Beispiel Wallensteins vorzunehmen.
Unter den Angehörigen des Adels, welche dem dreißigjährigen Kriege ihre Reichthümer
verdankten, war der in den Grafenstand erhobene Paul Michna von Weitzenhofen einer der
bedeutendsten. Durch Verleihung und Ankauf confiscirter Güter, durch Antheil an der
unter dem Namen „lange Münze" bekannten finanziellen Gebarung, durch Zustellung des
Proviants während des Krieges, sammelte er unermeßliche Reichthümer, von welchen ein
großer Theil durch ihn und seinen Sohn Wenzel zu kostspieligen Bauten verwendet wurde.
Ans den Gründen des Annaklosters am Ujezd auf der Kleinseite entsteht ein glänzendes
Palais mit Garten und in der Nähe desselben die bereits erwähnte Magdalenenkirche,
welche Graf Wenzel durch sein Testament vom Jahre 1658 zu seiner letzten Ruhestätte
bestimmt. Was die baulichen Unternehmungen Michna's besonders auszeichnet, das sind die
reichen Stuckaturen. In die zweite Hälfte des XVII. Jahrhunderts füllt das goldene Zeit -
alter der Stuccatenre, welche in Prag im Jahre 1657 eine selbständige Zeche gründen,
und erst gegen Schluß des XVII. Jahrhunderts wird die Stuccatur durch die anfblühende
Freskomalerei wieder verdrängt und auf das Rahmenwerk beschränkt.
Wie bei dem Waldstein'schen Palaste ist auch bei dem Palais Michna, dem jetzigen
Zeughause, der größte Aufwand auf die dem Garten zugekehrte Seite verwendet worden;
auch hier bestand früher eine 8nI1a terrerm, jedoch als ein ganz selbständiger Bau. Das
Äußere des Baues ist mit Friesen, Rahmenwerk, Fensterbekrönungen, Nischen ausgestattet,
die geräumigen Säle, insbesondere ihre Plafonds sind gleichfalls reichlich decorirt. Die
wiederholt vorkommenden dorischen Friese enthalten allerlei Kriegstrophäen und Embleme,
welche in uns Reminiscenzen des dreißigjährigen Krieges wachrufen.
Das Palais ist nicht mit gleichem Aufwands zur Vollendung gediehen, da die großen
Reichthümer der Michna in der dritten Generation völlig zerstieben. Die mit kolossalen
Schulden belastete Erbschaft Wenzel Michna's, welcher im Jahre 1667 gestorben war,
wurde zum Gegenstand einer der verwickeltsten Erbschaftsverhandlnngen des an großen
Erbschaftsprocessen so reichen XVII. Jahrhunderts. Die zahlreichen Stiftungen und baulichen
Unternehmungen scheinen zu diesem Ergebniß mit beigetragen zu haben; noch in der
„Michnischen Crida" treten Baumeister und Stnccateure, wie beispielsweise ein Dominik
Gallus Stuccator, mit bedeutenden Forderungen auf.
308
Auch die Herrensitze auf dem Lande werden zu dieser Zeit neu errichtet oder dem
herrschenden Geschmack entsprechend adaptirt. Eine der frühesten Schloßbauten dieser
Zeit ist das Schloß zu Raudnitz, welches Fürst Wenzel Eusebius Lobkowitz in den Jahren
1652 bis 1684 ausführen ließ. Den ersten Plan lieferte Francesco Caratti, welcher den
Bau bis 1665 geleitet hat, worauf Carlo Orsolini folgte. Als dieser am 24. März 1667
starb, trat Antonio da Porta ein, welcher als der eigentliche Erbauer zu betrachten ist.
Porta stand bis 1697 in fürstlichen Diensten und hatte auch das Schloß Libochovitz des
Grafen Sternberg, das Schloß Bilin des Grafen Wenzel Ferdinand von Lobkowitz und
andere erbaut. Auf einfachem, rechteckigem Grundriß angelegt, an seinen Außenseiten durch
mächtige Pilaster einfach decorirt, macht das Schloß Raudnitz infolge seiner herrlichen,
die Gegend beherrschenden Lage im Ganzen einen großartigen Eindruck; auch das Innere
ist einfach behandelt nnd nur in dem Flügel, durch welchen man eintritt, zeigt sich größere
Pracht; die beiden Treppen, die reiche, wenn auch etwas grobkörnige Stuccodecoration auf -
weisen, sind von bedeutender Wirkung.
Die mächtigen Pilaster- und Säulenstellungen sind für eine Gruppe der in der zweiten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts entstandenen Bauten charakteristisch. Wir begegnen ihnen
am Clementinum, wo sie durch ein perspectivisches Kunststück, trotz der Schmalheit der
Gasse, ungemein wirkungsvoll hervortreten, und wir finden sie an den Palästen Nostitz
auf der Kleinseite und ins Kolossale gesteigert am Palast Czernin am Hradschin
wieder. Bei letzterem, von Johann Humprecht Grafen von Czernin gegründeten Bau
treffen wir wieder Francesco Caratti an, welcher neben Giovanni Battista de Rossi als
Urheber desselben bezeichnet wird. Das gegenwärtig als Kaserne dienende Palais stand
schon zur Zeit des im Jahre 1682 erfolgten Todes des Bauherrn nahezu vollendet da,
doch wurde an der inneren Ausstattung, bei welcher der Maler Reiner nnd der Plastiker
Braun betheiligt waren, noch am Beginn des XVIII. Jahrhunderts gearbeitet. Bei anderen
Schloß- und Palastbauten haben sich die Architekten einer größeren Einfachheit beflissen
und es etwa nur bei dem Hervorheben des durch Säulen flankirten Portals und einer
Abwechslung von dreieckigen und flachbogigen Fensterbekrönungen, wie sie bei Porta
Vorkommen, bewenden lassen. Derart ist das ans den Jahren 1689 bis 1691 stammende,
gegenwärtige Palais Toscana am Hradschiner Platz nnd das von Wenzel Grafen von
Stcrnberg in den Jahren 1680 bis 1688 erbaute Schloß Troja beschaffen, doch wurde
bei dem letzteren Bau sowohl im Innern, in den mit Sculpturen, Stuccaturen nnd Fresko -
malereien geschmückten Gemächern nnd Gängen, als auch in dem anliegenden Garten
vollste Pracht entfaltet; höchst malerisch wirkt die dem Garten zngekehrte, mit Balustraden
und Bildwerken gezierte große Treppe und die mit mächtigen Terraeottavasen ausgestattete
Terrasse. Eine Gartentreppe wird von nun an ein Hanptbestandtheil ähnlicher Bauten;
T>ie tzt> Nillastirche in Prag (Meinseite).
sie tritt an die Stelle der offenen
Hallen und behält noch in der Periode
des Roeoco ihre Bedeutung.
Die Formenwelt, welche bis Ende
des XVIl. Jahrhunderts vorherrscht,
ist auch in einem Sammelwerke zum
Nutzen und Frommen aller Kunst -
beflissenen zusammengefaßt worden.
Der Arbeit unterzog sich der tüchtige
Maurermeister der königlichen Neuen
Stadt Prag Abraham Lentner von
Grund, welcher auch bei dem Bau des
Czernin'schen Palastes betheiligt war
> !
310
und sich durch ein Werk: „Grundtliche Darstellung der fünff Seullen" als eine Art
Theoretiker einführt. Das Buch, welches die Darstellung von Säulenordnungen und
diverse Details nebst „schönen'Grundtrissen, Rohr- und Quadraturboden auf hundert und
mehr Kupfer radirt" enthält, wurde von Kaspar Wussin ohne Jahresangabe heraus -
gegeben. Unter den Scamozzi und Vitrnv „und anderen vornehmben Baumeistern"
entnommenen Motiven finden wir auch Grundrisse und Facadeu der Kreuzherrenkirche und
des Czernin'schen Palastes, welche anscheinend als höchste Leistungen jener Zeit galteil.
Der Meister, in dessen Werke wir gewissermaßen das Glaubensbekenntniß älterer
Richtung forinulirt finden, sah bereits eine neue Generation heranwachsen. Leutner war
seit 1685 bei den Bauteil des Klosters Waldsassen betheiligt, wo er in Berührung mit der
Familie Dienzenhofer kam, und bald darauf tritt ein Mitglied dieser Künstlerfamilie,
Christoph Dienzenhofer (geboren 1655), in Böhmen auf. Seine erste Arbeit war vermuthlich
die Vollendung der Theatinerkirche in der Spornergasse, welche unter dem Einfluß
Quarini's, des Theatinermönchs, entstanden zu sein scheint.
Der Antheil Dienzenhofers an dem Bau der im Jahre 1709 vollendeten Maria
Magdalenakirche, in welcher er nach seinem im Jahre 1722 erfolgten Tode beigesetzt
wurde, mag nur ein geringer sein, dagegen dürfte vollständig ans ihn der in die Jahre
1715 bis 1719 fallende Umbau der Benediktinerkirche zu St. Margareth bei Prag
zurückgehen. Sein bedeutendstes Werk ist jedoch die großartige Jesnitenkirche zu St. Niklas
auf der Kleinseite, welche bei seinem Tode unvollendet dastand und deren Ban erst nach
langen Jahren von seinem Sohne wieder in Angriff genommen wurde.
Die Werke des Christoph Dienzenhofer athmen einen vollständig anderen Geist
als die älteren Bauten, bei welchen wesentlich nur das Detail barock zu nennen ist,
während die Anlagen und die constructiven Theile streng und maßvoll sich gestalten. Bei
Dienzenhofer bemächtigt sich das Barocke auch dieser Elemente; über Eck gestellte Pfeiler
und Säulen, zerhackte Kreissegmente an Portalen, Bekrönungen und Giebeln, unregel -
mäßig gebildete Fenster und Öffnungen dringen siegreich vor mit den geschwungenen und
geschweiften Linien, welchen selbst das Grundschema des Baues folgen muß. Die
unerfreuliche Fa^ade der Niklaskirche, welche auf den alten Dienzenhofer zurückgeht, hat
in dem Bau der St. Margarethenkirche in dieser Richtung ihr Seitenbild. In künstlerischer
Beziehung brachte dies Bestreben den einen günstigen Erfolg mit sich, daß nämlich nun auch
die Seitenflucht, welche bei den älteren Jesuitenbauten durch ihre Einfachheit fast abstößt,
eine künstlerische Durchbildung und Ausstattung erhält. Alan merkt dies auch bei den
Zeitgenossen Dienzenhofers, welche sich noch einer größeren Strenge befleißigen. Zu diesen
gehört Marc Anton Canevalli, welcher im Jahre 1694 bis 1696 die Kreuzkirche in
Reichenberg und im Jahre 1702 die Ursulincrkirche in Prag erbaute, der bauknndige
Cistercienserabt von Plaß Eugen Tittel (Tyttlj, unter welchem nebst anderen Bauten das
Stift Plaß nach einem großartig gedachten Plane erbaut wurde, und der kenntnißreiche
Franz Max Kanka, welcher, nach den ihm zugeschriebenen Bauten zu urtheileu, ein
tüchtiger Architekt war.
Eine ganz interessante, für Böhmen charakteristische Erscheinung tritt in jener Zeit
zu Tage, die Rückkehr zu gothischen Formen. Es scheint dies auch mit der, auf das
Volksthümliche hinzielenden Richtung der katholischen Propaganda jener Zeit zusammen
znhängen. Für die von den Jesuiten und spanischen Mönchen eingeführten spanischen und
italienischen Heiligen konnte sich lange das Volk, welches meistentheils erst zum katholischen
Glauben gezwungen und herangezogen werden mußte, nicht erwärmen; nun wurde die
Verehrung der alten Landespatrone, des heiligen Wenzel, Adalbert, Prokop, Ludmila,
Ivan, welchen sich als neuer der heilige Johannes von Nepomuk zugesellte, in den
Vordergrund gerückt und zugleich kamen die alten geheiligten Stätten wieder zur Geltung.
Zu diesen gehörten auch die alten Stifte, an welche sich manche Legenden knüpften und
die zum Theil noch seit der Hussitenzeit in Trümmern sich befanden, und da lag der
Gedanke nahe, sobald man an ihre Renovirung schritt, dieselbe in dem alten gothischen
Stil zu vollziehen. So entstanden die Stiftskirchen in Sedlec, Selau, Kladrau wieder,
so wurde die alte Propsteikirche des gewesenen erzbischöflichen Sitzes Raudnitz recoustruirt.
Die Gothiker dieser Zeit waren zwei Prager Bürger Franz Bayer und Johann Santini,
von denen der erstere die Kirche von Sedlec, der letztere die Kirchen zu Selau und
Kladrau wieder herstellte. In den Geist der Gothik einzudringen gelang es allerdings
nicht, selbst in das formale Wesen nicht; was früher Steinmetzarbeit war, wurde in Stucco
nachgebildet, wie es znm Beispiel bei dem, Wladislaw'sche Formen imitirenden Gewölbe
von Selau der Fall ist.
Wenn auch der Gebrauch des gothischen Stils in solchem Umfange sonst zu den
Seltenheiten gehört, so entspricht das Eingehen auf alte und fremdländische Stilarten
der Richtung jener Zeit. Namentlich war dies mit orientalischen Kunstrichtungen der
Fall, doch macht sich in Böhmen die Vorliebe für chinesische und japanische oder indische
Kunst nur etwa in Gartenhäuschen oder in der Ausstattung intimer Gemächer geltend.
Ein Meister, welcher in der Theorie den verschiedenen Stilarten gerecht zu werden
beflissen war, in der Praxis jedoch eigene Wege ging, Johann Bernhard Fischer von
Erlach, hat auch in Böhmen bedeutende Schöpfungen hinterlassen, welche seine Eigenart
und sein künstlerisches Können manifestiren. Es ist vor allen das Palais Clam-
Gallas, welches, 1707 bis 1719 erbaut, über die wuchtigen gleichzeitigen Palastbauten
jener Zeit durch seine Enrhthmie und das maßvolle Beiwerk weit hinausragt. Alle
übrigen Palastbauten aus der Zeit Josefs I. und Karls VI., das Palais Koasejovitz,
gegenwärtig Lobkowitz mit dem prächtigen Garten und dem malerisch angelegten rückwärtigen
Traet, das Palais Schönborn, das Palais Morzin mit seinem im Jahre 1712 non Brvkvss
errichteten Balcon und das Palais Thun mit dem mächtigen Einfahrtsthor bilden einen
Übergang oon den älteren Palastbauten zu der Richtung des jüngeren Dienzenhofer und
A. Lvragho. Auch hier nehmen die Krümmungen der Linien wenigstens in dem schwer -
fälligen Detail überhand, während die edlen, hier und da zierlichen Formen des Palais
Clam-Gallas eine andere Sprache führen. Im Auftrag eines Mitgliedes der Familie Claim
Gallas, der Reichsgräfin Emerentiana, vollführte der Meister nebstdcm im Jahre 1722
die Klosterkirche zu Haindorf. Mit der Prager Künstlerschaft stand Fischer stets in naher
Beziehung, insbesondere mit dem Plastiker Brokoff, welcher nach seinen Entwürfen Grab -
denkmale ausführte, und den er auch nach Breslau zu seinen Arbeiten heranzog.
Während der ersten Decenuien des XVIU. Jahrhunderts hat sich in Böhmen ein
eigenartiges selbständiges Knnstleben entwickelt und die Zahl einheimischer Bau- und
Werkmeister wird in dieser Zeit immer größer. Der Zuzug der Italiener hört nach und
nach auf, und wenn wir italienischen Namen begegnen, so sind es zumeist erbgesessene
Familien, welche sich alsdann in den Eintragungen und im Umgang der böhmischen
Sprache, wie die Familie des Mare Anton Canevalli, des Sylvester Carloni und später die
des A. Loragho, oder der deutschen Sprache bedienen. Der bedeutendste der einheimisch«,n
Architekten des XVIII. Jahrhunderts erstand Böhmen in dem Sohne Christoph Dienzen-
hofers, Kilian Ignaz (geboren zu Prag 1690), welcher in seiner Jugend eine fachmännische
Erziehung genoß und um seine Kenntnisse zu erweitern Reisen in fremde Länder unter -
nahm. Von seinen Reisen anläßlich des Todes seines Vaters im Jahre 1722 zurückgekehrt,
soll er sich durch den Bau der reizvollen Villa ans der Neustadt, „Zwergenhaus" oder
„Amerika' genannt, eingeführt haben, und es folgte alsdann ein Auftrag nach dem andern.
Die sämmtliche Bauthätigkeit der letzten zwei Decenuien unter Karl VI. und den ersten
Regierungsjahren Maria Theresiens steht unter dem Zeichen des Namens Dienzenhofer.
In Prag und in ganz Böhmen hatte er während dieser Zeit eine Unzahl von Gotteshäusern
von Grund aus aufgeführt, vollendet oder renovirt. In der That stehen seine Leistungen
auf bedeutender Höhe; das Ausschweifende und sit venia verbo Plumpe, welches den
Werken seines Vaters anhaftet, hatte er abgestreift, — es ist zwar derselbe Geist, aber durch
eine höhere künstlerische Potenz und feineren Geschmack geklärt.
Nach seinem Vater hatte er nebst dem Bau der Niklaskirche, von welcher nur das
Schiffsgebände fertig dastand, auch noch den Umbau der St. Thomaskirche auf der
Kleinseite übernommen. Ein ganz selbständig entworfenes Gebäude ist die St. Nepomuk -
kirche am Hradschin, welche binnen kurzer Zeit entstand, um bei Gelegenheit der
Canonisation des Heiligen im Jahre 1728 als erste Stätte desselben eingeweiht werden
314
zu können. Noch vor der Vollendung dieser Kirche wurde das Convictgebäude mit der
Bartholomäuskirche und das Conventgebände der Benediktiner bei St. Niklas in der
Altstadt in Angriff genommen und in raschem Tempo folgen in den Dreißiger-Jahren
St. Nepomuk an der Skalka in Prag und die Magdalenenkirche in Karlsbad, die
Borromäuskirche mit dem Emcritenhause in Prag, die Reconstruction der Ägydikirche
dortselbst, die gegenwärtig russische Kirche bei St. Niklas in der Altstadt Prag und
nebstdem Kirchen in Nicov, Prestitz, Rocov und vielen anderen Orten. Der Bau der
St. Niklaskirche auf der Kleinseite nahm sein ganzes thätiges Leben in Anspruch und
wurde kurz vor seinem Tode im Jahre 1752 unter Leitung seines Poliers Mandelik
vollendet. Durch die herrliche Kuppel zu St. Niklas, welche an Größe und Reichthnm
ihren bedeutendsten Vorgänger, jene der Kreuzherrenkirche übertrifft, hat sich Dienzenhofer
ein bleibendes, der Kleinseite als Wahrzeichen dienendes Denkmal gesetzt. In der auf
seinen Vater zurückgehenden Anlage der Niklaskirche wird das Grundschema der Jesniten-
banten beibehalten, aber welcher Abstand liegt da zwischen dem kahlen Äußeren der ersten
Jesuitenkirche bei St. Salvator und der opulenten Seitenflucht von St. Niklas; nur die
Doppelreihe der übereinander gestellten, der inneren Eintheilnng entsprechenden Fenster
bildet das Gleichartige beider Bauten. Sobald es Dienzenhofer beschieden war, einen Ban
selbst zu entwerfen, vermied er gänzlich das Langhaus und wählte mit Vorliebe die
Centralanlage. Seine bedeutendste Leistung ist in dieser Richtung die Niklaskirche in
der Altstadt, welche gleichfalls eine Kuppel erhielt. Hier, sowie auch ans jedem
anderen gegebenen Raume weiß er sich einzurichten und das Terrain zu interessanten
Lösungen oder zur wirksamen Anordnung des Äußeren auszunützen. Treppen, Geländer,
Parapette bieten ihm in solchen Fällen, wie bei Maria Loretto am Hradschin, bei
St. Nepomuk an der Skalka willkommene Mittel, und das malerische Gesammtbild läßt
uns manchmal das Krasse und Unorganische, das auch bei seinen Bauten nicht selten
vvrkommt, vergessen.
Die Kunst Dienzenhofers steht vorzugsweise im Dienst der Kirche, doch war sein
Einfluß auf die Entwicklung des Palastbaues und des bürgerlichen Hauses gewiß ein
bedeutender. Schon die verschiedenen Conventsgebäude waren in dieser Richtung maß -
gebend; außerdem werden ihm Entwürfe zu Palästen, als zum Palais Piccolomini, nun
Nvstitz am Graben, und des Palastes Golz, gegenwärtig Kinsky, zugeschrieben. Beide
Bauten wurden von Anselmo Loragho vollendet, welchem wohl die Ausbildung der
Fanden znzuschreiben ist. In denselben, insbesondere in jener des Palais Kinsky, kommen
schon die Formen der Rococoperiode zur Sprache und dieselben treffen wir auch in der
angeblich von Loragho errichteten, hinter dem Thore Scamozzi's befindlichen Einfahrts-
Halle und Treppe der königlichen Burg am Hradschin.
315
Unter Dienzenhofer und Loragho vollzieht sich die Umgestaltung des „sehens -
würdigen Prag", wie es in den Reisebeschreibnngen jener Zeit genannt wird, im Geiste der
barocken Kunst. Die alte Pulsader der Stadt, die Zeltnergasse nebst den beiden Karlsgassen,
Barocke Häuser <daru„ter das Palais Thun) in der Sporncrgasse zu Prag.
haben ihr aus dieser Zeit stammendes Äußere nahezu vollständig bewahrt; weiter geht
es über die Brücke mit den zahlreichen barocken Statuen, durch die Brückengasse zum
Radetzkyplatz, wo die Kuppel der Niklaskirche dominirt, und dieSpornergasse mit ihren
Palästen Morzin und Thun und der Cajetanerkirche hinauf zur königlichen Burg. Auf
diesen Wegen haben sich die Krönnngszüge, haben sich die wallenden Blassen bei der
316
Feier der Canonisativn des Johannes von Nepomnk nnd andere Pilgerzüge bewegt, ans
diesen Wegen wurden bei ähnlichen Anlässen die Trinmphpforten und sonstige pompöse
Decorationen eines Galli-Bibiena errichtet.
Nach dem Tode Dienzenhofers war Anselmo Loragho der führende Geist; der
Einfluß seiner anmuthigen Decorationsweise läßt sich an zahlreichen Patrizierhünsern
Prags verfolgen. Jedoch auch die Einwirkung der französischen Architektur sowohl der
Rvcocoperiode als auch der unter dem Namen Louis XVI. bekannten Stilrichtung macht
sich bemerkbar.
In der Fa>;ade der Strahover Bibliothek von 1782 melden sich bereits Elemente
des neuen Stils, welcher das Schnörkel- und Muschelwerk des Nococos verdrängt.
Medaillons mit Büsten, schwere Lorbeerkrünze oder gekreuzte Palmenzweige, Urnen,
welche den antiken ihre Form entlehnen, das sind die Elemente, welche nun an den sonst
nüchternen und linearen, regelmäßigen Bauwerken das decorative Beiwerk bilden. Man
findet es ziemlich oft an den adeligen und bürgerlichen Häusern am Graben, am Wenzels -
platz und in der Hybernergasse.
Nach und nach verschwindet auch dieses Ornament nnd es tritt eine vollkommene
Öde ein, und wenn es ein bedeutenderes Gebäude zu errichten gilt, so greift man zu den
strengen Formen des dorischen Stils. Ein großes Bauwerk der hellenischen Richtung
ist beispielsweise das gräflich Chotek'sche Schloß Kacina bei Kuttenberg.
Alsdann finden die mittelalterlichen Baustile Eingang, der gothische und romanische
bei kirchlichen Bauten, die englisch-gothische Weise bei den zahlreichen Bnrgbauten. Eines
der ersten Beispiele einer im gothischen Stil erbauten Kirche ist jene zu Turnau, 1826
bis 1853 errichtet, einer solchen im romanischen Stil die Kirche der Heiligen Cyrill und
Method in Karolinenthal, nach dem Entwürfe Rösners mit einigen Abänderungen von
Ignaz Ulmann und I. Belskh 1855 bis 1860 erbaut. Die stolzen Schlösser zu Frauen -
berg, Sichrov, Hrädek bei Nechanitz entstehen fast gleichzeitig, und mehrere andere folgen
ihrem Beispiel nach.
Zur Ausbildung des gothischen Stils boten der wieder aufgenommene Dombau und
auch andere Reconstructionen gothischer Gotteshäuser in Prag und im Lande Anlaß.
An der Spitze der Architekten, welche sich dem gothischen Stil zugewandt haben, steht
Josef Kranner (geboren zu Prag 1801, gestorben zu Wien 1871), welcher das Project
zur Vollendung des Dombaues entwarf und deni Baue jahrelang Vorstand; unter
Anderem rührt auch der Entwurf des gothischen, zur Erinnerung an Kaiser Franz am
Quai errichteten Denkmals von ihm her. Aus der Schule Kranners gingen Hermann
Bergmann (geboren in Prag 1816, gestorben 1880 in Wien) und Andere hervor, in
seine Stellung als Dombaumeister trat Josef Mocker ein, welcher auch die Restauration
Das Nationalmuseum in Prag.
der Barbarakirche zu Kuttenberg und der Burg Karlsteiu umsichtig leitet und zahlreiche
andere Restanrirungsarbeiten bereits vollführt hat. Auf diesem Gebiete fand auch Frauz
Schmorauz sonior im ganzen Osten Böhmens, insbesondere in der Diärese von Königgrätz
einen umfassenden Wirkungskreis. Vom Grund auf erhoben sich in neuester Zeit die
St. Wenzelsbasilica in Smichov, in edler, ans basilikales Grundschema angewandter
Renaissance von Anton Barvitins errichtet, und die von I. Mvckcr in gvthischem Stil
erbaute Lndmilakirchc ans den Königlichen Weinbergen. Auch die zahlreichen, prachtvoll
ausgestatteten Synagogen, als die von I. Niklas entworfene Synagoge in der Geistgasse
in Prag, sowie auch jene zu Teplitz, Karlsbad und anderwärts verdienen Erwähnung.
Auf dem Gebiete der profanen Architektur nehmen Zltek und Schulz eine hervor -
ragende Stelle ein und üben zugleich durch ihre Lehrthätigkeit an den beiden polytechnischen
Hochschulen ans die jüngere Generation bedeutenden Einfluß aus. Von Josef Zltek
(geboren zu Prag 1832) rührt die noble Cvlvnnade in Karlsbad und der Bau des böhmischen
Nativnalthcaters her, in Gemeinschaft mit Josef Schulz wurde von ihm das von der
böhmischen Sparrassa errichtete Künstlerhans „Rudolfinnm" geschaffen. Auch an dem
318
Bau des Nationaltheaters hat IosefS chulz (geboren in Prag im Jahre 1840) durch dessen
Ausgestaltung nach dem verhängnißvollen Brande Antheil und in neuester Zeit ist ein
neues Werk desselben Meisters, der dritte monumentale Ban des neueren Prags, das
Landesmusenm, welches einen großartigen Abschluß des Wenzelsplatzes bildet, zur
Vollendung gediehen. Allen diesen Bauten, in welchen der künstlerische Aufschwung Prags
neuester Zeit zur höchsten Entfaltung gelangt ist, hat die edelste Renaissance ihre Formen
verliehen. Auch verschiedene Nutzbaren und Zinshäuser in Prag und in vielen Landstädten
schließen sich der Renaissancerichtnng an, wie die Schöpfungen des unlängst verstorbenen
Achill Wolf, unter welchen der Ban der böhmischen Hypothekenbank zu erwähnen ist, und
jene Anton Wiehls, welcher durch das Anlehnen an die Bauwerke der böhmischen
Renaissance seinen Bauten eine locale Färbung und malerischen Reiz zu verleihen versteht.
Die Kunstthätigkeit der jüngeren rührigen Generation erstreckt sich auf ganz Böhmen
und ans alle Gebiete der Architektur und des Kunstgewerbes. Ein ziemlich vollständiges
Bild des künstlerischen Schaffens ans diesem Gebiete bot die Kunstausstellung der Landes-
Jnbilänmsausstellung des Jahres 1891, in welcher sich auch jene eingefunden haben, denen
es, wie Franz Schmoranzjunior, I. Hlävka, nicht beschiedcn war, bedeutende Baudenkmale
auf heimatlichem Boden hervorzubringcn. Auch in anderen Abtheilungen konnte man das
Walten des Architekten verfolgen und schon die von Wiehl und Münzbergcr entworfenen
Ausstellnngsbauten, die zahlreichen Pavillons boten an und für sich ein anziehendes Bild
des regen Schaffens der Gegenwart.
Burgen, Schlösser und Vesten.
Die ursprüngliche Anlage und fortschreitende Entwicklung der böhmischen Burgen
hing enge zusammen mit der seit Jahrhunderten tüchtigen und von den Nachbarn nicht
selten bewunderten Wehrkraft des Landes. Die alten Böhmen waren ein wehrhaftes,
tapferes und Physisch tüchtiges Geschlecht, das sich seinen Staat im Verlaufe des IX. und
X. Jahrhunderts aufgebant hatte und seitdem dessen Selbständigkeit mit Erfolg behauptete.
Ein wesentliches Hilfsmittel dabei war die eigenartige Gestaltung des Landes: der dichte,
dasselbe auf allen Seiten umringende Grenzwald und die mannigfachen Höhen und Berg -
kegel, welche von Natur aus zur Vertheidignng wie geschaffen waren. Aber je mehr die
Bevölkerung im Innern wuchs, je mehr die steigenden Bedürfnisse des Staatshaushaltes
größere Einnahmen und deshalb die Zuziehung fremder Colonisten forderten und
schließlich der Adel in dieser Beziehung dem Beispiel der Herrscher nachfolgte, umsomehr
lichteten sich nicht nur die bisher schützenden Wälder des Innern, sondern auch der früher
gesetzlich geschützte und gehegte Grenzwald. Die anfangs primitiven Vertheidigungsmittel
319
bedurften und erfuhren infolge dessen eine immer größere Vervollkommnung, bis schließlich
der regere Verkehr dem Eindringen westeuropäischer Befestigungskunst bedeutenden Vorschub
leistete. Könige, Clerus und Adel bauten nun jene kühnen und festen Burgen, die noch
heute unsere Bewunderung erregen. Diese felsenfesten, den Stürmen der Zeit trotzenden
Bauten waren sonst Festung und Wohnung zugleich, ersteres mehr, letzteres weniger, da
persönliche Sicherheit mehr galt als Bequemlichkeit. Mit der Zeit wurden diese Bauten,
St. Clemens bei Beneschau.
deren Besitzer mitunter dem ganzen Lande trotzten, auch weitläufiger und durch Zubauten
wohnlicher, immerhin aber war das Wohnen in denselben theils wegen der hohen Lage,
theils wegen ihrer Abgeschlossenheit unbequem und im Vergleich mit der Bequemlichkeit
der städtischen Wohnungen beschwerlich. Als sodann der Gebrauch des Schießpulvers die
militärischen Verhältnisse gründlich umänderte und die Omnipotenz des Staates, der nun
allein und selbst für die Sicherheit seiner Angehörigen zu sorgen hatte, sich entwickelte,
da verließ der Adel seine bisherigen hochgelegenen Sitze und vertauschte sie mit neuen,
in der Ebene gebauten und geräumigen Schlössern. Dieser Prveeß dauerte jedoch
hundert Jahre, ehe er zu seiner Vollendung gelaugte. Mit den trotzigen Wohnungen
320
war mich der trotzige Sinn des Adels gebrochen; fortan wendete er sich den schönen
Künsten mehr zu, als es seine Vorfahren thaten, und seine jetzigen Sitze zeigten Pracht
und Luxus. So wie er sich früher die Fortschritte des Westens in der Wehrhaftigkeit
aneignete, ebenso machte er sich bald die feinen Fortschritte wälscher und französischer
Baumeister zu eigen; seine Wohnungen wurden weitläufiger, bis er sich schließlich den
jetzigen Wohnungsverhältnissen zuneigte. Keine Wälle, keine Gräben umringen seine
Wohnung, auch ist dieselbe kein trotziger Bau, sondern ein luftiges, feines, gemächliches
Haus, gewöhnlich von schattigen oder blumenreichen Anlagen umgeben. Das ist im Kurzen
der Entwicklungsgang der böhmischen Königs- und Adelssitze.
Die ersten historisch bekannten Burganlagen Böhmens erscheinen bereits
in der heidnischen Periode. Wir erwähnen nur einen alten Herzogssitz, welcher gewiß noch
aus der heidnischen Zeit stammt, nämlich Alt-Kaurim oberhalb der Stadt Kaurim. Die
weitläufige Anlage dieser Herzogsburg unterscheidet sie von den Beamtenburgen des
XII. und XIII. Jahrhunderts. Man findet in Böhmen eine große Anzahl ähnlicher
Anlagen, welche vom Volke Hradiste (— Burgplatz, vom Worte Urnä — Burg) benannt
werden. Einige von ihnen sind mit gewaltigen Erdwällen umgeben und umfassen einen
großen Raum.
Einen Übergang von diesen großartig angelegten Wallbnrgen, deren Gründungs -
zeiten wahrscheinlich Jahrhunderte weit von einander liegen, zu den einfachen befestigten
Wohnorten bildeten solche Burgen, welche wir mit den späteren Städten vergleichen
könnten. Sie werden auch von unseren älteren Chronisten urbss genannt, während sie
ihrer Befestigung wegen auch enstru heißen. Sehr oft ist auch auf ihnen die in den ersten
Zeiten des Christenthnms gegründete Kirche verblieben. Ein Beispiel davon ist die sonst
(1056) Lstenl, jetzt Hradiste benannte Burg, deren Standpunkt man sehr gut vom Bahn -
wagen betrachten kann, wenn man die Sazava entlang der Station Cercan entgegenfährt.
Eine überaus steile, oben ziemlich geräumige Erdzunge wird von der Hochebene durch
einen gewaltigen, nun schon verflachten, Erdwall getrennt und in der Mitte steht die alte
St. Clemens kirche. Eine ähnliche Lage hat Alt-Pilsen (bei Plzenec) mit seiner uralten
Rundkapelle, Prachin (bei Horazdiowitz), und ähnlich sind die Anlagen bei Levyhradec
und Budee und der gewaltigen Burg Drevic (bei Laun), woselbst überall die Kirchen, der
einzige Rest der alten Ansiedlung, geblieben sind.
Wallburgen der kleinsten Dimension waren die von den Beamten des Herzogs
bewohnten Sitze. Sie waren ans steilen Erdznngen angelegt und durch einen gewaltigen
Erdwall von der Hochebene getrennt, aber ihr Umfang glich vollkommen den späteren
Steinburgen, welche mitunter auch in die älteren Anlagen hineingebant wurden. Bis
jetzt sind derartige Anlagen erhalten in Wratzlan (VratSlav bei Hohenmant), Retvlitz,
Cheynow, Teindles (Doudleby) bei Budweis. Eine ähnliche Anlage haben auch die alte
Herzogsburg Vlastislav (bei Trebnitz), Hrutov (bei Leitomischl), Libosln (bei Schlan),
Hradiste Homolka (bei Pilsen). Einige von ihnen besaßen ein subnibium, wie dies deutlich
bei Wratzlau, Netolitz und Teindles zu sehen ist. Interessant ist besonders die Anlage von
Teindles, denn das snknrbinm wird von drei Seiten von der Moldau umflossen und
stützt sich auf der vierten östlichen Seite auf den nicht gar breiten, aber beiderseits zur
Moldau steil abfallenden Burgberg.
Derartigen Burgen verwandt waren die sogenannten Teine (h>n^). Die dem
deutschen Worte Zaun etymologisch entsprechende Benennung dieser von Holzwerk
aufgeführten Umzäunungen hat sich in Ortsnamen häufig erhalten. Bei den meisten der
Tyn, Tynec, Tyniste, Tynistko benannten Ortschaften bemerkt man eine Anhöhe von
Böhmen. 21
322
mäßiger Ausdehnung und gewöhnlich ohne Wälle. Deutlich sieht nmn eine solche Anlage
in Elbeteinitz, doch findet man bei der Schloßstätte von Moldauthein (in die später eine
Burg hineingebaut wurde) einen auf die beschriebene Weise angelegten Erdwall.
Die im Tieflande und in der Ebene angelegten Burgen der ältesten Zeit
hatten eine wesentlich andere Anlage als die auf Erdzungen und Bergvorsprüngen
gegründeten. Die natürliche, durch steile Abhänge erzielte Befestigung wurde hier durch
Sümpfe und Gräben ersetzt. Auf diese Weise entstand bei Dobrisch eine kleine Wallburg,
aus deren sumpfigen Gräben unlängst große schwarze Holzstämme ausgegraben wurden.
Kleinere Anlagen dieser Art, welche als befestigte Sitze einzelner Familien zu betrachten
sind, waren Vorgänger der sogenannten Vesten, von denen wir unten sprechen werden.
Die Erhaltung unserer ältesten Burgen erforderte einen großen Aufwand von Arbeit,
da das Material störenden Einflüssen viel weniger trotzte als steinerne Mauern. Deshalb
wurden einestheils viele derselben, welche nicht hinlänglichen Schutz boten, verlassen, wie
zum Beispiel die sagenhafte Burg Krakov, die schon zu Anfang des XII. Jahrhunderts
mit Wald bewachsen war. Anderntheils wurde bei vielen das Verlangen nach steinernen,
ans römische Art angelegten Mauern größer, obwohl sich der conservative, an Holzbauten
gewöhnte Sinn des Landvolkes dagegen wehrte; Boleslavs (gestorben 967) energisches
Eingreifen bei dem Bau der steinernen Ringmauern von Alt-Bunzlau wird als rücksichts -
lose Strenge geschildert. Derartige Maueranlagen erscheinen indessen nur sporadisch,
wie z. B. die Mauer um die alte Burg Tetin (nicht mit der Steinburg gleichen Namens
zu verwechseln). Man fand indessen bald einen Mittelweg, indem man einheimische
Anlagen mit römischer Bauweise combinirte. Diesem Umstande verdankt auch der alte
schwarze Thurm von Klingenberg (fälschlich Markomannenthurm genannt) sein Entstehen.
Dieses in seiner Art seltene, dem Egerer Thurm ähnliche Bauwerk unterscheidet sich
auffallend von dem übrigen Mauerwerk von Klingenberg und erscheint als einziger
Rest der ursprünglichen Burganlage, welche sonst durch den außerhalb der jetzigen Burg
gelegenen, in schwachen Überresten erhaltenen Erdwall abgeschlossen war. Etwas Ähnliches
kann man bei der im Jahre 1126 neuerbauten Burg Primda (Pfreimtberg, Pfraum-
b erg) bemerken. Auch hier unterscheidet sich der auf der höchsten Spitze stehende viereckige
von Quadersteinen erbaute Thurm so sehr von dem übrigen Mauerwerk, daß an gleich -
zeitige Erbauung beider nicht gedacht werden kann; auch unterscheidet er sich wesentlich
von den im XIII. bis XV. Jahrhundert gebauten Wartthürmen. Der Hradschin zu Prag
wurde im Jahre 1135 nach römischer Art ummauert, wogegen die Residenz am Vysehrad
noch im XII. Jahrhundert von Holz gebaut war. Auch die märchenhafte Burg Devin (bei
Prag) stellte sich Cosmas als Holzbau vor. Als Zeitpunkt derartiger Neuerungen wäre
also der Anfang des XII. Jahrhunderts zu betrachten. Gleichzeitig aber erfolgte auch
323
eine andere Neuerung, die der befestigten Kirchen. Etwas Ähnliches bestand zwar
schon in den Umwallungen, welche eine Kirche einschlossen, aber der neue Name, welcher
den befestigten Kirchen beigelegt wurde (Kostelec), weist auf westlichen oder wenigstens
kirchlichen Einfluß hin. Bezeichnend nämlich ist der Umstand, daß die slavische Benennung
einer Kirche (Kostei) ihren Ursprung dem lateinischen eastslluna verdankt, also ursprünglich
wohl nur einer solchen Kirche beigelegt wurde, welche der Kern einer kleinen Befestigung
war. Das Beispiel einer derartigen noch erhaltenen Befestigung liefert die von Tabor
gegen Norden gelegene Ortschaft Kostelec, dermal nur aus Meierhof und Kirche bestehend.
Auf einem nach allen Seiten abfallenden Hügel steht die zwei Bauperioden entstammende
Kirche, deren gothisch gebautes Schiff als neuerer Zubau (1350) erscheint, während der
massive hohe Thurm mit der angebauten Rundkapelle im romanischen Stil aufgefnhrt ist.
Der den Wartthurm oder Berchfried ersetzende Kirchenthurm war bestimmt, die Befestigung,
welche aus starken, in ein Viereck angelegten Mauern besteht, zu beherrschen; die an den
Ecken dieses Vierecks angebauten Ansätze beweisen auch, daß diese Mauer, welche dermal
den Friedhof einschließt, deshalb so aufgeführt wurde, um einen Mordgang zu tragen.
Ortschaften des Namens Kostelec gibt es mehrere in Böhmen und bei einigen kann man
über ihre ehemalige Befestigung aus dem Terrain Schlüsse ziehen. So z. B. erscheint
die Friedhofskirche bei Elbekostelec als dasjenige Object, von dem der jetzige Name der
Stadt herrührt, während Adlerkostelec mehr Gemeinschaft mit den älteren Wallburgen
aufweist. Die hohe isolirte Lage vieler Kirchen wird durch unsere Erörterungen erklärlich.
Interessant als Befestigungspunkt ist die alte Kirche in Koci bei Chrudim, welche nur
mittelst einer Holzbrücke zugänglich ist. Bischof Thobias von Prag (gestorben 1296)
ließ fast alle Kirchen ans seinen Herrschaften befestigen, und dieser Umstand beweist auch,
daß man die befestigten Kirchen als Volksbnrgen, das ist solche Stätten, wo das bedrängte
Volk Zuflucht finden konnte, auffassen soll. In einein (1281) zwischen den Klöstern Zderaz
und Plaß geschlossenen Vertrage wird ausdrücklich hervorgehoben, daß die Unterthanen
beider Stifte sich in die unteren Localitäten der Potvorover Kirche flüchten können,
während der Obertheil (die Mordgänge) mit dem Thurm dem Plasser Abt und seinen
Unterthanen allein überlassen bleiben sollte.
Der Drang nach Sicherung der Person und des Eigenlhums beherrschte nicht nur die
Landesherren als die obersten Hüter der Sicherheit und das Volk, um dessen Haut es sich
gewöhnlich handelte, sondern auch die Edlen des Landes, den höheren Adel. Während der
niedere Adel (Vladyken, Ritter) in den Dörfern ansässig war, wohnte der Herr entweder auf
der königlichen Burg als Burggraf oder besaß einen befestigten Wohnsitz auf seinerHerrschaft,
die er als erblicher Amtmann verwaltete. Hierher gehört die am Berge Nazi (Hradec bei
Kruman) befindliche Umwallung mäßigen Umfangs, welche von einem ringförmigen,
21*
324
aus Bruchsteinen und Erde aufgeworfenen Wall und Graben umschlossen wird. Während
hier das innerhalb der Umwallung befindliche Wohngebäude von Holz aufgeführt war,
erscheinen auf dem im Jahre 1263 erwähnten Norm oder Onslruiri v^rislai (Berg
Hradec oder Hrady bei Vagau, auf der Generalstabskarte irrthümlich Vrata) Mauerrcste
aus lose aneinander gereihten, aber behauenen Steinen. Auf dem im XVI. Jahrhundert
Alt-Riesenberg benannten Berge PrikoPY (bei Neugedein) bemerkt man schon den Übergang
von den eben geschilderten zu den späteren Burgen, indem hier die Vorburg von der Hoch -
burg getrennt ist und letztere von einem dreifachen steilen Steinwall umschlossen ist.
Obgleich der Jnnenraum nur ein kleines hölzernes Gebäude fassen konnte, wollte man
doch diese Stätte zu einem husitischen Lager stempeln. Es sei hier auch die interessante
Burgruine am Berge Tremsln (bei Rozmital) erwähnt. Hier findet man ein ganzes
System von eingegangenen Steinwällen mit einer etwas tiefer gelegenen Umwallung des
Brunnens und in die alten Steinwälle wurde mit theilweiser Benützung derselben als
Unterlage für Holzbau das Mauerwerk einer späteren Burg hineingebant. Die im
XVI. Jahrhundert benannte Veste Hrochüv-Hrädek (heute Hrad bei Gutwasser, Umgebung
von Breznitz) ist auch in die Ecke einer älteren Umwallnng hineingebaut.
Die Regierungszeit Wenzels I. (1230 bis 1253) bedeutete in dem socialen Leben der
damaligen Zeit einen gewaltigen Umschwung. Mit aller Kraft machten sich westliche Ein -
flüsse geltend, welche von dem beweglichen Geiste des böhmischen Volkes rasch erfaßt und
angeeignet wurden. Der Adel, der sich mehr und mehr der Gewalt des sorglosen und
verschwenderischen Herrschers entzog, machte sich die Lockerung der obersten Gewalt zu -
gute und baute fleißig neue befestigte Wohnsitze nicht mehr als Vertreter des Herrschers,
sondern oft als Gegner desselben und gewöhnlich als herrschender Dynast der Umgegend.
Baiern und Franken gaben, sowie in anderen Sachen im X. Jahrhundert, den Impuls
zu umgreifenden Änderungen im Burgenbau. Wer nur immer konnte, wollte eine Burg
nach westlichem Muster haben, und um in Allem den deutschen Dynasten gleich zu sein,
mußte sie auch einen deutschen Namen bekommen. Die baierisch-fränkischen Benennungen
Sonnenberg, Königsberg, Waldek, Wolfstein, Hohenberg, Ramesberg, Engelburg,
Franenberg, Fnesperg, Cornburg, Sternberg, Klingenberg, Landesberg, Potenstein und
andere kehren in Böhmen wieder und werden den neuen Anlagen mitunter ohne wirkliche
Veranlassung beigelegt. Manche von ihnen erscheinen als schlechte Übersetzungen oder
Anlehnungen an bisher geltende slavische Benennungen, wie z. B. Klingenberg statt Zvekov
(zvuk --- Klang), Schreckenstein (Skrekov), Zampach (Sandbach — Pi'secna), Vogelhaus
(Kletce), Rauchenberg (Kaurim). Manche Namen sind vielleicht selbständig im Lande
entstanden oder durch die Baumeister ersonnen worden,, sie wurden aber sehr beliebt, wie
z. B. der Name Riesenberg (—bürg), welcher einigemal auftritt. Nach Personen erhielten
-,
'
326
ihre Benennungen: Petersburg, Bischofsberg (Geiersberg), Berkenstein, Pirkenstein
unb Grasenstein, nach bem Wappen ber Gründer: Rosenberg, Lrternberg, Hasenburg,
Lemberg (Löwenberg), Schwanberg, Aronburg, Fuchsberg, Ranwberg (Ronvperk), nach
Örtlichkeiten: Seeberg und Hohenberg. Während bei diesen nur der deutsche Name, wenn
auch verstümmelt, im Gebrauch verblieb, bekamen manche Burgen Doppelnamen, da das
Landvolk bei seiner Benennung beharrte; so Sperlingstein (Vrabinec), Scharfenstein
(Ostry), Berlenstein (Slonp), Helfenburg (Hradek), Hasenburg (Klept)), Michelsberg
(Michalovice), Rothenburg (Cervena Hora), Katzenstein (Skalp), Sommerburg (Ronovec),
Pechburg (Smolin), Bettlern (Zebräk), Gans (Hus), Pfraumberg (Primda), Frauenberg
(Hlubokä), Blankenstein (Blansko), Karlskrone (Radyne). Die Könige selbst huldigten
diesem Gebrauche. Wenzel l. benannte seine Sitze deutsch, wie zum Beispiel Angerbach
(Teyrov), Bürgleins (statt Hradek) und Miesenburg (Nischburg bei Beraun). Die bisherigen
königlichen Burgen Zvikov, Primda, Hlubokä, Loket erhielten die deutschen Benennungen
Klingenberg, Pfreimtberg, Froburg und Elbogen, und drei neue Anlagen wurden von
seinem Sohne Ottokar Landeswart (Brüx), Landsberg und Landskron benannt. Auch
Karl IV. benannte seine Anlagen Karlstein, Karlsberg, Karlskrone und Karlshaus deutsch.
Den letzten deutschen Namen erhielt die in den Jahren 1431 bis 1436 gebaute Burg
Neu-Schönburg bei Klösterle, denn fortan begnügte man sich mit dem Namen, welchen das
Volk der Örtlichkeit vor der Gründung beilegte. Indessen behielten viele Burgen wie
Okor, Budin, Raudnitz, Tetschen, Teplitz, Leipa, Roll, Habichtstein, Kostenblatt, Devin,
Krakowec, Tocnik, Zirotin, Skala, Podebrad, Nachod, Velhartitz, Kokorin, Lititz und
andere ihre ursprünglichen slavischen Benennungen.
Die Anlage der älteren Steiuburgen war eine einfache. Die Hauptsache bei
ihnen waren der Berchfried und die Ringmauern und was sich nebenbei als nothwendig
erwies, wurde an passenden Stellen angebaut. Obwohl die neue Befestigungsart dem
Westen entnommen war, so lehnte man sich doch in der Anordnung der einzelnen Theile
an die alten Wallburgen an. Auch die Vorliebe für Holzbauten verschwand nicht gänzlich
und regelmäßig wurden die oberen Theile von Thürmen und Wohngebäuden, sowie
Ringmauern von Holz aufgeführt. Am Karlstein waren sogar die zu oberst gelegenen
Gemächer der Kaiserin von Holz. Die im Westen beliebten Zinnen und Bekrönungen
kamen in Böhmen nur selten vor und manche von ihnen, die man jetzt noch erblickt, sind
spätere Zuthaten. Sicherheit und genügende Vertheidigungskraft waren bei der Gründung
der Burgen das Hauptziel, und konnte man hierbei auch etwas für die Bequemlichkeit thun,
so wurde dies als angenehme Beigabe angenommen. Es ist indessen schwierig, in dieser
Beziehung das älteste System ganz genau zu erkennen; denn erstens verschwanden alle
Zuthaten und Znbauten von Holz und zweitens repräsentirt selten eine Burg eine einzige
327
Bauperiode, sondern erscheint gewöhnlich als das Ergebniß Jahrhunderte lang dauernden
Schaffens. Nur bei solchen Burgen, welche seit Anfang des XIV. Jahrhunderts geringe
Veränderungen erlitten, kann man ihre ursprüngliche Gestalt erkennen oder wenigstens
vermnthen. Dies ist vorzüglich der Fall bei einigen königlichen und bischöflichen Burgen, da
sie nur von Burggrafen bewohnt werden. Das schönste Beispiel einer größeren Burg älteren
Stils liefert die Ruine Teyrov (bei Bürglitz); sie ist außerdem prachtvoll gelegen
wie wenige ihrer Schwestern. Die Vorburg erscheint heutzutage als ein gewöhnlicher
Anger und wird in älterer Zeit nichts anderes gewesen sein als eine mit Planken
eingezüunte Hofwirthschaft. Die Burg, von ihr durch einen tiefen Graben getrennt,
erscheint als ein System von Ringmauern mit in dieselben eingefügten Thürmen. Mit
Ausnahme des am westlichen Endpunkte stehenden viereckigen Thurms sind alle rund;
zwei von ihnen, der in der Mitte stehende Berchfried und ein das Thor beschützender
Eckthurm sind größer und fester als die übrigen. Ein nur halbwegs im größeren Stil
aufgeführtes Wohngebäude gab es hier nicht, wohl aber boten der Hintere Thurm und
allfüllige Holzbauten für anspruchslose Bewohner genügende Unterkunft. Einfach in
328
ihrer Anlage sind auch die beiläufig zu Anfang des XIV. Jahrhunderts erbauten Burgen
Geiersberg (bei Graupen) und Hirschenstein (Alt-Herstein bei Ronsberg), welche Eigen -
thum des Prager Bisthums wurden. Auch bei ihnen sind Thurm und Ringmauern die
wesentlichen Bestandtheile. Dies kann man auch bei der hochgelegenen Burg Ralsko (am
Rollberg bei Niemes), dem nur aus zwei Thürmen und Ringmauer bestehenden Hammer -
stein bei Reichenberg und der einfach angelegten Burg Michalovitz bei Jungbuuzlau
beobachten. Trotz dieser nüchternen Anlage wurde jedoch das Terrain zur Erzielung der
möglichst größten Sicherheit vollständig ausgenützt. Schmale Bergzungen wurden
einigemal mit Gräben durchschnitten und wo es sonst thunlich war, der Zugang in das
Innere verlängert. Man gab steilen Höhen den Vorzug, weil dann die eigentliche Befestigung
rasch und billig erzielt werden konnte. Die hochgelegene Burg Alt-Seeberg (oberhalb
Eisenberg) war von drei Seiten unzugänglich und wurde nur von einer Seite nach fast
einstündigem Wege erreicht. Dieses war aber schon zu Anfang des XIV. Jahrhunderts
den keineswegs verweichlichten Besitzern doch ein gewaltiges Opfer für die angebliche
Sicherheit, es wurde daher ein Neu-Seeberg (nun Rothenhaus) tief unter dem Seeberge,
aber dennoch in geschützter Lage gegründet. Die Ruine Wolfstein bei Tschernoschin
mit ihrem eigenthümlichen, sicher aus dem XIII. Jahrhundert stammenden Wartthurm
steht in ihren steinernen Resten so beiläufig, wie sie im XV. Jahrhundert verlassen wurde.
Auch bei ihr ist die ursprüngliche Anlage ziemlich einfach. Der Pirschenstein (bei Klösterle),
der Scharfenstein (bei Bensen), Pirkstein zu Rataj, der Talmberg (in der Nähe davon),
Bradlec und Kumburg (bei Jicin), Krenovitz (bei Ledetsch), Herrenstein (bei Neugedein)
und der Tollenstein bei Rumburg sind sämmtlich Burgen aus dem XIII. oder den ersten
Decennien des XIV. Jahrhunderts, mitunter in ihren Befestigungen weitläufig, aber
dennoch von einfacher Anlage. Sieht man aber die Reste der Wohngebäude zu Bösig,
Pisek, Klingenberg und Bürglitz, welche der Ottokar'schen Bauperiode entstammen, so
bemerkt man gleich, daß man an königlichen Pfalzen auch Kunst und Pracht entwickeln
wollte und entwickelte.
Zu den ersten Burgen gehören auch einige Doppelbur gen, das sind solche, in denen
es zwei Mittelpunkte der Vertheidigung gab. Ein herumreisender Baumeister mag in der
zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts die drei Doppelburgen Rosenberg, Riesenbnrg und
Hasenburg erbaut haben. Bei allen dreien ist der Mittelpunkt der großen leeren und
allenfalls nur mit Holzbauten bedeckten Vorburg ein hoher massiver Rundthnrm, während
ein viereckiger Berchfried den Kern der oberen oder Hinteren Burg bildet. Rosenberg hatte
sogar zwei Burggrafen, von denen der eine auf dem „größeren", der andere auf dem
„kleineren Haus" bestellt war. Ähnlich ist die Anlage der überaus malerisch gelegenen,
aber ganz verfallenen Burg Nistejka bei Hochstadt.
329
Das Leben in diesen Burgen war ein von den landläufigen Romanen
entnommenen Vorstellungen wesentlich verschiedenes. Die Existenz in ihnen wäre für unser
an Comfort gewöhntes Geschlecht unerträglich. Ohne genügendesTageslicht, ohne ordentliche
Beleuchtung, ohne öftere Ansprache seitens der Nachbarn war man nur auf sich angewiesen,
das Familienleben also um so intimer. Die unangenehmen Seiten des Winters machten
sich insofern geltend, als man bei dem Kamin vor Hitze nicht bestehen konnte und bei dem
kleinen, mit Häuten bedeckten Fenster auf dem Estrich stehend fror. Trotz der eisernen
Natur der Männer und Frauen, trotz des vielen Pelzwerks, in das man sich hüllte, scheint
die Sterblichkeit unter dem Adel, welche durch die häufigen Kriege befördert wurde, ziemlich
groß gewesen zu sein. Rechnet man hinzu die gewaltigen Anstrengungen im Kriege, besonders
die drückende, durch die schweren Rüstungen vermehrte Hitze, so blieben als alleinige
Annehmlichkeiten die Familienfreuden, die ja ein Jeder besitzen konnte, die Freuden der
Jagd und die allerdings theuer erkaufte höhere gesellschaftliche Stellung.
Interessant sind die aus dem Ende des XIII. und Anfang des XIV. Jahrhunderts
stammenden combiuirten Burg- und Städte-Anlagen, ein gut gemeinter Versuch, einen
zahlreich besetzten Vertheidigungspunkt und eine finanzielle Quelle zu erhalten und zugleich den
Einwohnern Sicherheit des Eigenthums unter dem Schutze der beherrschenden Burgmauern
zu verschaffen. Die erste Stelle unter ihnen verdient Pribeuitz bei Tabor, einst die stärkste
Festung Südböhmens, nun eine wildromantische Gegend, in der die schon geringen Neste
der im Jahre 1437 zerstörten Bauten von üppigem Grün überwuchert sind. Auf beiden
Ufern der Luznitz thronten auf steilen und theilweise überhängenden Felsen mächtige Burgen
mit weitläufigen Meiereien, während die zwischen ihnen liegende, durch eine starke Krümmung
des Flusses gebildete Halbinsel Standpunkt des in Böhmen, Mähren und Schlesien Ring
benannten Stadtplatzes wurde und mit Mauern umschlossen war. Auch die bei den Roseu-
berg'schen Gründungen gewöhnliche, Latran benannte Gasse fehlte nicht und erstreckte
sich an dem schmalen Ufer zwischen dem Flusse und dem östlichen Burgberge. Bei
Klingenberg findet man Burg, Meierhof und Burgflecken, obwohl schon zerfallen, dennoch
mit Ringmauern verbunden. Die bei der Bahnstation Cercan liegende Ruine Duba besteht
ans schwachen Resten, bedeutender ist das Mauerwerk des ehemaligen, „angemauerteu"
Burgfleckens Odranec, welcher den weitläufigen üppigen Rasenplatz am Ufer der Sazava
unmittelbar unter der Burg eiunahm, besonders der gewaltige viereckige Thorthurm. Das
jetzige Städtchen Rataj an der Sazava (sonst Uataso Irru^onö ^ ummauertes Rataj),
auf einer steil sich erhebenden Erdzunge gelegen, war umfriedet und seine Endpunkte
beherrschten zwei Burgen, von denen die am steilen Ende der Erdzunge stehende, sonst
Pirkstein benannte (nun Pfarrhaus und Glockenthurm) erhalten ist, während die Stelle der
zweiten das jetzige am Plateau gelegene fürstlich Liechtenstein'sche Schloß einnimmt.
330
Die meisten der alten Burgen stammen aus der Periode Karls I V. Die damals engen
Beziehungen zu dem päpstlichen Hofe zu Avignon und zu Frankreich entwickelten eine unge -
wöhnliche Bauthätigkeit, welche die bisher herrschende Vorliebe für Holzbauten überwand.
Karl selbst legte einige Burgen ganz neu an, welche sämmtlich nach ihm benannt wurden,
meist nüchterne Bauten, die den praktischen und in gewisser Hinsicht sparsamen Kaiser zum
Urheber haben und nur der Erhaltung der Sicherheit und des Landsfriedens wegen
gegründet wurden. Das von ihm bei Pilsen erbaute Schloß Karlskrone (vom Volke nach
der Örtlichkeit Radyne benannt) erscheint als das einfachste, was man sich denken kann,
nämlich ein viereckiges Gebäude, an dem einen Ende abgerundet, an dem andern in
einen Thurm auslaufend; es brauchte nicht größer zu sein, da es nur von einem
Pfleger bewohnt werden sollte. Weitläufiger ist das bei Bergreichenstein liegende Schloß
Karlsberg, insofern es ausgebreitete und langgedehnte Außenwerke besitzt, aber der Kern
desselben, das von zwei Thürmen gekrönte Hauptgebäude ist auch nüchtern gehalten. Das
nördlich von Frauenberg gelegene Karlshaus erscheint wieder als ein von Gebäuden
umgebener Hof mit Kirche und Burgflecken, auffallenderweise ohne Thurm. Was an diesen
Bauwerken erspart wurde, das wurde im reichlichsten Maße auf den Karlstein ver -
wendet, denn dieser sollte als Aufbewahrungsort der Kroninsignien alle Kronburgen an
Festigkeit und Pracht überbieten. Die Anlage ist gewiß vom Kaiser selbst, der in allem
und jedem persönlich eingriff und stets das Richtige traf, vorgezeichnet worden. Der Haupt -
gedanke derselben ist, einen massiven, an und für sich festen und überdies von Natur und
Kunst befestigten Thurm durch mehrfache Außenwerke und einige Hindernisse unzugänglich
zu machen. Deshalb sind da mehrere Thore, ehemals mit Zugbrücken versehen, und in den
innersten Ringmauern befand sich als einziger Zugang eine enge Stiege, welche das
Eindringen einer Masse sehr beschwerlich machte, die sonstigen Hindernisse ungerechnet.
Auf diese Weise erscheinen die Collegiatkapelle zu St. Maria, der kaiserliche Palast und
die Burggrafenwohnung als Nebenbauten, weit hinter dem Heiligsten, dem Thurm mit
seiner geheiligten Kapelle, welchen kein Mann mit seiner Frau, nicht einmal der Kaiser
mit der Kaiserin bewohnen durfte. Vier Kapellen befinden sich in dieser Burg: eine dem
heiligen Nikolaus geweihte, zwei, zu St. Maria und St. Katharina in der Marienkirche
und die Kreuzkapelle im Hauptthurm. Letztere als die hauptsächlichste und die Katharinen -
kapelle als die für den Kaiser allein bestimmte, wurden mit dem Schönsten und Besten, was
Kaiser und Reich bieten konnten, ansgeschmückt. Böhmische Edelsteine in ungewöhnlicher
Größe schmücken die Wände, sofern dieselben von Werken tüchtiger Maler nicht bedeckt
werden. Besonders die Kreuzkapelle ist mit einem riesigen Aufwand von Geldmitteln aus -
gestattet worden. Obwohl sie theilweise ihres Schmuckes, der Edelsteine beraubt ist, obwohl
die ehemalige Farbenpracht verblichen ist, überrascht sie dennoch den Neueintretenden,
332
und wenn man sich die ehemalige Beleuchtung aus den zahlreichen Flammen und den
glitzernden herabhangenden Edelsteinen hinzudenkt, erscheint diese Kapelle wirklich als das
in der Apokalypse und Legende geschilderte himmlische Jerusalem.
Der regen Banthätigkeit dieser Periode entstammen auch einige andere interessante
Burgen. So zum Beispiel ist die bei Prag liegende Burg Okor, von einem Prager Bürger
gegründet, nach demselben Prinzip gehalten wie der Karlstein, obzwar die äußeren
Befestigungen aus späterer Zeit stammen. Die bisher bewohnte Burg Kost bei Sobotka
erscheint trotz den im XVI. und XVII. Jahrhundert getroffenen Zubauten als eine dem
Plane nach einfache, aber auf einen verhältnißmäßig kleinen Raum beschränkte Befestigung,
weshalb die enge Vorburg, durch welche der Zugang bogenförmig geleitet ist, die-eigent -
liche Burg nach allen Seiten umgibt, während der hochgelegene Berchfried zugleich das
rechte Thor beherrscht. Burg Navarov bei Hochstadt war zwar durch steile Abhänge
geschützt, aber gut zugänglich und ziemlich wohnbar. Prachtvoller sind die Hofburgen
der Rosenberge, der 1349 gegründete Maidstein (bei Budweis) und die 1355 bis 1357
entstandene Helfenburg (bei Barau). Obgleich auch hier später Zu- und Umbauten nicht
geleugnet werden können, erscheinen beide in ihren alten Bestandtheilen als großartige
und weitläufige Werke von bewunderungswürdiger Festigkeit. Dies gilt besonders von
dem schon seit mehr als 300 Jahren verlassenen Maidstein. Auch Friedstein bei Liebenan
ist geräumig und mehr durch Kunst und Lage befestigt. Dagegen sind Ko ko rin bei Melnik,
aus einem Thurm, einem Gebäude und ovalförmiger Ringmauer bestehend, und Helfenburg
bei Auscha, ans Thurm, Ringmauer und Holzbauten bestehend, einfach gehalten.
Eigentümlich ist die Anlage der beiläufig zu Anfang des XIV. Jahrhunderts erbauten
Burg Velhartitz bei Schüttenhofen. Während bei langgestreckten Burgen sich der letzte
Vertheidignngspunkt an dem dem Eingang entgegengesetzten Ende befand, steht hier der
Hauptthurm, wenn auch isolirt ober dem Thore, das von ihm bestrichen wird. Die Ober -
fläche des Berges nämlich ermöglichte es, daß man die Vorburg vom Eingang bis zum
Ende des Burgberges am Abhang unterbrachte, die Zufahrt in die Hochburg von da an
am obersten Kamm zurückleitete und endlich zwischen dem schmalen Wohngebäude und
dem Hanptthurm eine hohe steinerne, auf vier gothischen Bogen ruhende Brücke erbaute,
welche beiderseits nur auf Zugbrücken zugänglich war und den einzigen Weg zum letzten
Zufluchtsort bildete.
Die in den folgenden Jahren sich mehr und mehr entwickelnde technische Fertigkeit
führte zu den kühnsten Bauten, wozu Nordböhmen mit seiner Sandstein- und Basalt -
formation genügenden Spielraum bot. Schon zu Ende des XIII. Jahrhunderts wurden
der Habichtstein (bei Hirschberg) und der Birkstein (besser als Bürgstein) bei Leipa
besiedelt. Elfterer war ein mit seiner scharfer Kante auf einem Hügel aufsitzender Felsblock,
333
*
den man oft mit einem gestrandeten Schisse verglichen hat. Wir sagen „war", denn
heutzutage ist nur ein Theil des Burgfelsens vorhanden, nachdem beiläufig ein Drittel
desselben abgerutscht und zerbröckelt ist. Die von den Gründern geebnete Oberfläche
trug sonst eine Holzburg, welche von den in Fels ausgehauenen Ringmauern umgeben
war. Der Birkstein, ein riesiger Sandsteinblock, entstand zu gleicher Zeit mit dem Habicht -
stein, ist jedoch viel weitläufiger, wahrscheinlich auch längere Zeit bearbeitet worden.
Man hatte sich da förmlich in den Fels hineingegraben, so daß einige hinzngefügte
Holzbauten der nüchternen Lebensweise der damaligen Zeit vollständig genügten. Auf
ähnliche Weise wurde auch der bei dem jetzigen Schlosse Schwoika stehende Felsen
ausgenützt und was der Stein nicht bieten konnte, wurde aus Holz hiuzugefügt. Die
überaus malerisch gelegene Burg Groß-Skal bei Turnau und der nahe Waldstein gehören
auch in diese Kategorie der Felsenburgen. Valecov bei Münchengrätz und Rothstein bei
Turnau sind theilweise in Felsblöcken ausgehanen, theilweise waren sie oder sind sie mit
thurmartigen Gebäuden gekrönt. Auch die Burg Parez bei Jitschin besteht meistentheils
334
aus Felsengemächern. Die leichte Bearbeitung des Sandsteins und die von der Formation
desselben schon geschaffene Unzugänglichkeit bewirkten, daß in Nordböhmen eine größere
Anzahl kleiner Felsburgen entstand, deren Namen und Zweck wir nicht einmal kennen.
In der Eile wurde ein halbwegs thunlicher Zugang zum Felsen geschaffen, in schnell
eingehauene Falzen ein Holzbau eingelassen und das neue Werk so geschwind verlassen,
als es entstand. Häufige Brände verleideten wahrscheinlich den Aufenthalt in solchen
Vesten. Lange Zeit wurde bewohnt die theilweise in einen langgestreckten Felsenkamm
hineingemeißelte, theilweise von Holz erbaute Burg Vranov bei Klein-Skal. Auch Frede-
wald, dessen Felsenspitze den Wartthurm bildete, war eine geraume Zeit Hauptsitz der
Herrschaft Böhmisch-Kamnitz. Wir erwähnen noch den Falkenstein bei Dittersbach, dessen
Holzgebäude auf einem Felseuwürfel stand, endlich die hölzerne Burg Stohanek (bei
Niemes), welche auf einer hohen Felsensäule gebaut wurde und lediglich aus Holzwerk
bestand. Bei vielen erwies sich das Anbringen einer Stiege als nothwendig, da man auf
andere Weise den hohen und steilen Felsen nicht besteigen konnte.
Eine geschickte Ausnützung des Terrains, wie sie nur ein vorgeschrittener Bau -
verständiger treffen konnte, findet man bei der Ruine Trosky (bei Turnau). Der Name
bedeutet soviel als Ruine und ist vollkommen gerechtfertigt, da die Anhöhe mit ihren zwei
säulenförmigen Basaltfelsen einer Ruine nicht unähnlich ist. Der Gründer hat die beiden
Felsen mit Thürmen gekrönt und den Fuß derselben mit Mauern verbunden. Auf ähnliche
Weise wurde auch der steile Burgfelsen des Sperlingsteins bei Tetschen ausgenützt, indem
man die Mauern an Felsblöcke anlehnte und dieselben mitunter mit Steingebäuden
krönte. Überhaupt begünstigte die damalige Zeit mit ihren zahlreichen Fehden die Anlage
ähnlicher Burgen auf steil sich emporhebenden Bergen. So zum Beispiel sind das bei
Dauba liegende Schloß Alt-Perstein (eigentlich Berkensteiu) und Zbirov (bei Turnau)
klein, aber ungemein fest, die dadurch geförderte persönliche Sicherheit wurde freilich durch
den mühevollen Aufstieg erkauft. Auch bei der von König Wenzel IV. erbauten Burg
Tocnik zeigt sich das Bestreben, im hochgelegenen Wohnsitze Sicherheit zu genießen. Denn
unmittelbar unter dem Berge liegt die alte, mit zwei Rundthürmen, Ringmauern und
ehemaligen Teichen ringsum wohlbefestigte Burg Zebrak, aber ihre versteckte Lage mag
dem für Kunst und Schönheit empfänglichen Herrscher wenig behagt haben. Indessen ist
die um 1401 gegründete Burg Tocnik, obwohl sie durch einen höheren Beamten, als die
gewöhnlichen Burggrafen waren, verwaltet wurde und dadurch und als königliche Pfalz
den ersten Rang nach dem Prager Schlosse und dem Karlstein erhielt, in ihrer ursprüng -
lichen Anlage keineswegs großartig; denn der thurmartige Palas mit dem anliegenden
Nebengebäude würden heutzutage mancher reichen Familie nicht genügen, wohl aber
entsprachen sie den damaligen einfachen Wohnungsverhältnissen und dem Bedürfniß des
336
Königs selbst, der als kühner Jäger Wald und frische Luft den gesperrten Räumen vorzog.
Entgegen dem nüchternen böhmischen Branche ist hier das äußerste Thor mit dem Wappen
aller Länder geziert, welche dem Hause Lnxenburg angehörten. Auch die bei Knnratitz
1412 erbaute Burg Wenzelstein (Xov^ Irrack), nun ganz zerfallen, hatte ein viereckiges
thurmartiges Hauptgebäude, welches Wenzel während seiner letzten Regierungsjahre
bewohnte.
Charakteristisch sind die Thurmvesten (tvrris), welche im XIV. und XV. Jahr -
hundert sehr zahlreich waren. Dermal bestehen zwar nur wenige noch, wie zum Beispiel
Kralovitz bei Aurinoves, Hrusov und Groß-Horka bei Benatek, Pasinka bei Kolin,
Malotitz bei Kaurim, Nelechov bei Ledec, aber man findet in Wäldern, Wiesengründen
und bei Dörfern eine Unzahl von Stätten, auf denen Vesten standen (böhmisch tvi-mSte).
Leicht kenntlich find sie nach dem geringen Raume, den sie einnehmen, und dem runden
oder viereckigen Wallgraben, der sie umfängt. Viele von ihnen waren Holzbauten, indessen
wirkte das Beispiel der Klöster, welche seit Ausgang des XIII. Jahrhunderts bei ihren
Meierhöfen steinerne Thürme anlegten, auch auf den Land- und Dorfadel anregend.
Wollen wir uns nun die innere Beschaffenheit einer solchen Veste und das Leben in
derselben (nach unseren Begriffen das Leben der Mittelclasse) in Gedanken reconstruiren.
Der mit Mauerwerk oder mit Holzstämmen bekleidete Graben ist gewöhnlich mit Wasser
angefüllt, das je nach dem Charakter der Landschaft größeren oder kleineren Zufluß besitzt,
gewöhnlich mit Fischen besetzt und je nach dem persönlichen Bestreben des Besitzers mehr
oder minder reinlich ist. Eine Zugbrücke führt über denselben in einen engen, von Mauern
eingefriedeten Hof, dem der Thurm, die eigentliche Wohnung, entragt. Man mag sich den
Hof, nach den Reinlichkeitsverhältnissen, wie sie noch zu Anfang des XVI. Jahrhunderts in
den Städten herrschten und heutzutage noch in kleinen Wirthschaften bestehen, ausmalen.
Glücklicherweise für Augen und Nasen sind im Thurm keine modernen Fenster, sondern
nur Lucken, und sind Fenster da, so befinden sie sich in ziemlicher Höhe. Holzstiegen
und Leitern vermitteln die Verbindung mit dem ersten Geschoß, denn der ebenerdige
Raum dient, wenn er überhaupt von unten zugänglich ist, als Vorrathskammer. In den
zwei oder drei oberen Geschoßen bestehen einige Räumlichkeiten, eine Kemenate znm Heizen
und Stuben mit Kammern abwechselnd; erstere sind matt erhellt, letztere ganz finster.
Die Stuben sind eben nur dazu da, um vor Regen und Gewitter zu schützen. Die Kammern
dienen als Schlafstätten und Depositorien. Da hängen an den Wänden und in den
Schränken die wenigen Mobilien, welche die Familie besitzt, ganz so, wie wir es bei
dem Landvolke zuweilen noch treffen. Des Mannes Stolz sind seine Waffen, sie sind auch
das Kostbarste, was er besitzt. Außer diesen trifft man etwas Pelzwerk, verschiedene
Kleidungsstücke, einen Beutel mit barem Gelde, einen kleineren mit dem Siegel und bei
Burg Kost bei Turnau.
den Sparsamen auch einige Schuldverschreibungen, welche wie Gold aufbewahrt werden,
damit Schrift und Siegel keinen Schaden leiden. Die Bemannung der Veste besteht aus
Knecht und Magd, denn im Nothfall sind Leute aus dem nahen Meierhofe und dem
Dorfe zur Hand. Die Einfachheit der Verhältnisse erzeugt Genügsamkeit, religiöser Sinn
mildert die Wildheit des Charakters und lehrt Freigebigkeit gegen Arme und Zucht und
Sitte verbinden Alle nicht nur leiblich, sondern auch geistig zu einer Familie.
Zn den Vesten und Burgen kleinerer Dimensionen gehören auch die wenigen
Wasserburgen, welche Böhmen besitzt; sie waren eben darum nicht zahlreich, weil die
Beschaffenheit des Landes es Jedem ermöglichte, hochgelegene Sitze zu bauen." Die
interessantesten sind die später (im XV. Jahrhundert) zu Schlössern nmgebauten Vesten
Böhmen. 22
338
zu Blatna und Roth Lhota (bei Sobeslan), welche mit dem sie umgebenden Wasserspiegel
reizende Bilder gewähren.
Das Verlangen nach hochgelegenen Wohnsitzen ist auch bei solchen Burgen
maßgebend, welche nach den Husitenkriegen entstanden. So zum Beispiel ist die bei
Klösterle gelegene Schönburg, nach dem Jahre 1431 von Pirschenstein aus gegründet,
auf einem hohen Berge gelegen, hat einen lange dauernden, aber nicht beschwer -
lichen Zugang und zeigt trotz der nicht unbedeutenden Befestigungswerke schon Sinn
für Bequemlichkeit. Beiläufig denselben Charakter hat auch das im XV. Jahrhundert
oberhalb Böhmisch-Kamnitz auf dem Schloßberge gegründete Schloß, sowie die fast
gleichzeitig erbaute Burg Novyhrad (oberhalb der Kletschkamühle) bei Solnitz. Hoch -
gelegen, aber klein ist die Burg Öltank bei Trebnitz, während die Ronburg bei
Drum hohe Lage mit Wohnlichkeit verbindet. Ähnlich gehalten wie letztere ist auch
der ältere Theil der im Jahre 1478 gegründeten Burg voubravskü Iiora (Neuschloß)
bei Teplitz. Das zu Ende desselben Jahrhunderts gegründete Schloß Pravda bei Zittolib
ist ein Mittelding zwischen älterer Burg und neuerem Schloß, da hier den Wohn-
räumen ein bedeutender Theil der Burgstätte zugewiesen wurde und die Befestigungswerke
sich auf den Wallgraben und eine einfache, die dreieckige Burg einschließende Ringmauer
ohne Vorwerke beschränken. Sinn für Wohnlichkeit findet man auch bei Blatna, Neuschloß
(bei Zittolib), Krakowec (bei Rakonitz), Lipnitz und Vorlik (bei Humpoletz), welche
damals entweder gegründet oder aus älteren Anlagen umgebant wurden. Die Burg Lititz
(bei Senftenberg), das Werk Georgs von Podebrad, ist zwar eine ältere Anlage, verdankt
jedoch seine jetzige Gestalt größtentheils diesem bedeutenden Herrscher (1468); der Kern
derselben sind zwei einander gegenüberstehende viereckige und thurmartige Wohngebäude,
welche mit hohen Mauern verbunden und von einem viereckigen Thurm beschützt sind.
Das äußere Thor ist das schmuckvollste von allen böhmischen Burgthoren, leider aber in
einem traurigen Zustande der Verwahrlosung. Dieselbe Combination von zwei thurmartigen
Gebäuden zeigen auch Lischna bei Bistritz, von den Sternbergen an der Stelle einer älteren
Veste erbaut, und das hochgelegene und weithin sichtbare Schloß Hoch-Chlumec, welches
dem im XVII. Jahrhundert geplanten Umbau in ein kasernenartiges Gebäude glücklich
entging.
Einige von reichen Landherren dieser Zeitperiode herrührende Anlagen beweisen ein
deutliches Bestreben, die bisher beliebte hohe, schwer zugängliche Lage durch bedeutende
Außenwerke zu ersetzen. Zwei dieser Anlagen stammen von Püta von Riesenberg
(gestorben 1504), die beiden anderen von Wilhelm von Pernstein (gestorben 1521); das
von ersterem gegründete Schloß Schwihau (bei Klattau) entstammt jedenfalls einer älteren
Anlage, verdankt jedoch seine jetzige Gestalt größtentheils diesem baulustigen Herrn.
339
Die eigentliche Burg ist eine Kombination von zwei viereckigen Gebäuden mit einem hohen
und festen Thorthurm und fünf Bastionen (in dem einen die Kapelle), trotzdem war sie noch
sammt der westlich gelegenen Vorburg mit einer starken Ringmauer und einigen Bastionen
befestigt; heutzutage ist ein Theil davon verbaut, während die übrigen Werke schon im
XVII. Jahrhundert auf höheren Befehl geschleift wurden. Pnta's zweite Gründung, die
Burg Rain (bei Schüttenhofen), zeigt noch deutlich die alte und neue Anlage. Die alte
Anlage besteht aus einem hohen überaus festen Thurmgebände, das von zweifachen
schloß Sternberg.
Ringmauern eingeschlossen ist; dazu gehört noch ein ganzes System von einzelnen, durch
Mauern mit einander verbundenen Gebäuden, ein ziemlich weitläufiges Winkelwerk,
beiläufig nach dem Plane wie Karlstein gebaut. An und für sich gehört dieser Theil zu
den größeren Hofburgen, aber die von den Vorfahren so sehr gerühmte Festigkeit verdankte
Rabl seinen bedeutenden um das Jahr 1490 erbauten Außenwerken, welche den nördlichen
und westlichen, etwas sanfteren Abhang des Burgberges festigten. Die überaus starken, in
halbrunde Bastionen auslanfenden Ringmauern sind wohlerhalten und die an ihnen
befindlichen Stiegen, welche eine schnelle und leichte Verbindung bezweckten, so wie auch
die oben fortlaufenden Gange sind einzig in ihrer Art; nur der aus Holzwerk bestehende
Mordgang fehlt natürlich. Wie Rabi, so ist auch der bei Adterkvstelec gelegene Potenstein
340
theils alte, theils neue Anlage, aber so, daß das Nene in das Alte hineingebaut wurde.
Van dem älteren Theil sind verhältnißmäßig wenige Reste, aber die von Wilhelm von
Pernstein zngebauten Wohngebäude reichen noch bis zu einer bedeutenderen Höhe, während
die von ihm um die alte Burg neu errichteten Außenwerke ganz verfallen sind. Die
bedeutendste, jedoch dem Anfang des XVI. Jahrhunderts entstammende Festung ist die
Burg Xuiwlmkü bora bei Pardubitz. Gegründet wurde sie zwar auf einem der Ebene
entsteigenden weithin sichtbaren Berge zur Zeit der Husitenkriege, sie nahm aber nur den
Gipfel des Berges ein, das Prunkgebäude jedoch und die ausgebreiteten Außenwerke
sind eine Schöpfung Wilhelms, des reichsten Herrn Böhmens in der damaligen Zeit. So
finden wir hier hohe Lage und vorgeschobene Befestigung zum letztenmale vereinigt. Den
reichen Landherren standen die Könige dieser Periode, was Bauthätigkeit anbelangt,
nach. Seit Wenzel IV. wurden auf keiner königlichen Burg größere Partien ausgebaut
und man mag sich nur auf Erhaltung von Details beschränkt haben: erst Wladislaw
entwickelte eine gewisse Bauthätigkeit, indem er die Burg Bürglitz im Ganzen so ausbaute,
wie sie, einige Neubauten abgerechnet, noch heutzutage den Besucher mit einigen prunk -
vollen Gebäuden, besonders der kunstvollen Burgkapelle anzieht.
Was sich die reichsten Landherren erlauben konnten, das vermochten die minder
reichen, wenn auch mit zeitlichen Gütern ziemlich gesegneten Herren nicht nachzumachen.
So manche Burg war wohl befestigt und konnte der altrömischen Belagerungskunst
Stand halten, aber seit den Husitenkriegen war sie den mehr und mehr überhand
nehmenden Geschützen gegenüber halb wehrlos. In Ermangelung von Geldmitteln, die
zur Erbauung großer Außenwerke dienen sollten, behalf man sich mit vorgeschobenen
Thürmen und Befestigungswerken. Höchst interessant ist die bei dem Schlosse Winterberg
gelegene Basta, heutzutage Haselburg. Das alte, aber im XVII. Jahrhundert überbaute
Schloß ist zwar hochgelegen und durch Felsabhänge geschützt, aber die Nordseite ist sanft
abfallend und der an dieser Seite aufgeworfene Graben schien keinen hinlänglichen Schutz
zu gewähren. Deshalb wurde ein massiver Rnndthurm mit hufeisenförmiger Ringmauer
unmittelbar vor das Schloß vorgeschoben. Das auf dem Thor dieses Befestigungswerkes
angebrachte Wappen der Kaplire (Kapler) von Sulevitz beweist, daß dies um die Mitte
des XV. Jahrhunderts geschah. Außer Winterberg besitzen noch einige Burgen Außen-
thürme. Ältere Thürme finden sich bei Karlsberg, Lipnitz und Sternberg; bei letzterem
steht er unterhalb des Schlosses, um den Zugang zu schützen, während ein anderer, hoch
oberhalb der Burg stehender Thurm eine selbständige Befestigung besitzt. In diese Kategorie
von Befestigungen mögen auch die Umwallungen bei Tremschin (am Hengstberge) und vor -
der Tschappkeule (bei Dauba) gehören. Die Burgen Okor, Zelenä Hora und Liebstein sind
mit vorgeschobenen Bastionen versehen, welche die Umgegend von Hügeln oder höheren
341
Lagen beherrschten nnd den, Feinde
unmöglich machten, seine Angriffswerke in
unmittelbarer Nähe der Burg zu errichten.
Ihre hufeisenförmige Form erinnert an
das XVI. Jahrhundert.
Zahlreiche Vesten wurden in der
damaligen Zeit in Schlösser, ein Mittel -
ding zwischen Burg und Veste umgebaut.
Ein schönes Beispiel ist das im Jahr
1460 erbaute Schloß Smecno, dessen im
XVI. Jahrhundert erfolgter Umbau in
einheitlicher nnd geschmackvoller Weise
erfolgte. Auch viele Burgen erhielten ein
schloßähnliches Aussehen, indem man die
bisher separat stehenden Thürme und
Gebäude durch neue, an die Ringmauern
angelehnte Bauten verband und auf die
architektonische Verzierung des Äußern viel
mehr verwendete, als dies in früherer Zeit
geschah. So z. B. ist das Schloß Rohozec
bei Turnan gehalten.
Die im XVI. Jahrhundert gegrün -
deten Herrenwohnungen zeugen von
dem gewaltigen Umschwung, der sich seit dem
XV. Jahrhundert in ganz Europa geltend
machte. Mit der erstarkenden Staatsver -
waltung schwindet der bisherige Trotz des
Adels, er versucht einen Gegendruck nur
als Corporation und der Einzelne wird dem
Staate gegenüber machtlos. Die Zeiten,
wo man mit Landschädigern pactirte, sind
vorbei, die persönliche Sicherheit nnd der
Werth des menschlichen Lebens steigen
Schloß Stern bei Prag samni! Grundriß. stetig. Auch die persönlichen Bedürfnisse
wachsen, indem sich das Streben nach Wohlleben, in der Natur des Menschen begründet,
mehr und mehr geltend macht. Die vorgeschrittene Industrie erlaubt nun manche
342
Erfordernisse billig zu erwerben, die sonst theueres Geld kosteten. Um nur Eine» zu
erwähnen, sei auf den billigeren Preis des Glases hingewiesen, welcher nun ermöglichte,
luftigere und hellere Wohnungen zu schaffen. Die hochgelegenen und mühevoll erreichbaren
Burgen wurden aufgelassen und verfielen. Zwar bleiben noch manche bewohnt, aber neue
Wohngebäude werden in ihnen, selbst in der Vorburg, ausgeführt (Bösig, -vocnik), einige
erhalten sich nur noch als Zufluchtsstätten zur Zeit des Krieges. Der Adel will jetzt
bequem wohnen und baut fleißig neue Schlösser. Ein Graben verbleibt wohl, aber nur,
um den Wohnsitz gegen Räuber zu schützen. Indessen genügen auch einfache Herrenhäuser
(siäla), welche bei dem Meierhofe erbaut werden. Das letzte hochgelegene Schloß wurde
bei der Gründung von Neustadt a. M. zu Anfang des XVI. Jahrhunderts erbaut.
Die neuen Wohnbauten des reichen, prachtliebenden Adels sind im einheitlichen
Stil der Renaissance geschaffen und auch mehr oder minder erhalten, nur die bei Klvsterle
gelegene Felixbnrg wurde in der neuesten Zeit vollständig dem Verfall überlassen. Das
älteste Bauwerk dieser Art ist das durch seine bizarre Form interessante Lustschloß Stern
bei Prag, welches Erzherzog Ferdinand im Jahre 1555 sammt dem umliegenden Thier -
garten gründete und durch wälsche Künstler ausschmücken ließ. Der Grundriß des
Gebäudes ist ein sechseckiger Stern, und die schwierige Aufgabe, das Innere zweckmäßig
und künstlerisch einzutheilen, ist vom Baumeister in genialer Weise gelöst worden. In
gewisser Hinsicht ist dieses Schloß ein Vorgänger der jetzigen Adelssitze und der erste
Versuch, einen Wohnsitz inmitten von Parkanlagen zu gründen. Bald entstanden in
Befolgung dieses Princips zahlreiche „Lnsthäuser", welche der Adel in den Gartenanlagen
bei seinen Schlössern gründete.
Die nächstültesten großen Wohnhäuser dieser Periode sind Kacerov bei Radnitz
und Mühlhausen an der Elbe. Mit ihren Grüben und Ringmauern erinnern sie an die
alten Burgen, während die Eintheilnng des Wohngebäudes mit der entweder schon
verblichenen oder ganz eingegangenen Zierde der Wände neuen Einfluß verräth. Der
Gründer beider Schlösser war der Tiroler Florian Grießbeck von Grießbach, eine bedeutende
Persönlichkeit unter der Beamtenschaft Ferdinands I., welcher zu dem Bau italienische
Meister verwendete. Bald gab es im Lande eine Menge wälscher Baumeister, so daß man
jeden Baumeister mit dem Namen Vlach (Wälscher) benannte und der Renaissancestil bei
Wohnbauten der allein herrschende wurde. Ja, die Sucht, moderne Wohnhäuser zu besitzen,
bewirkte eine förmliche Bauwuth, oft mit Vandalismus verbunden, schuf aber mitunter
prachtvolle Kunstwerke. Das im Jahre 1573 von Vratislav von Pernstein erbaute
Schloß Leitomischl ist seinem ganzen Stil nach einheitlich gehalten und bis auf die Gegen -
wart unversehrt geblieben. Diese Pernstein'sche Gründung wird jedoch weit überflügelt von
den Werken der letzten Rosenberge. Das von Wilhelm von Rosenberg in den Jahren
343
1582 bis 1589 erbaute Schloß Lraloolivilo (Kurzweil) enthält noch Reminiscenzen an
die alte Befestigungsweise, die es mit den geradlinigen Formen des Renaissancestils zu
verbinden sucht. Die Gräben sind noch ernst zu nehmen, aber die Ringmauern und
sogenannten Bastionen (kleine Zubauten wahrscheinlich zu Dienerswohnungen) sollen nur
den Schein eines befestigten Wohnsitzes wahren. Das Hauptgebäude, im Viereck angelegt,
Schloß Lcitomischl.
ist ein Prachtwerk, denn nüchtern von außen, ist es um so kunstvoller im Eimern mit
seinen Wandgemälden und Arbeiten in Stucco, welche leider nicht ohne Schaden und
Verunstaltung (Beweißen) geblieben sind. Auch der Wohnsitz Peter Voks, des letzten der
Rosenberge, nämlich das Schloß Wittingau (in den Jahren 1599 bis 1608 erbaut),
ist ein großartiges Bauwerk, welches nicht durch Kunst, sondern durch seine Masse imponirt,
da es aus mehreren Gebäuden bestehend einen bedeutenden Raum einnimmt und einer
kleinen Stadt gleicht, deren Mittelpunkt daS bereits im XV l. Jahrhundert erbaute
eigentliche Schloßgebaude bildet.
344
Wenn wir das damalige Bestreben als Bauwuth bezeichnen, so soll sich dieser
Ausdruck keineswegs aus die eben berührten Schloßbauten, sondern lediglich auf die
geschmacklose Ummodelung älterer Bauwerke, wie sie ja auch in der Gegenwart
vorkommt, beziehen. Am meisten wurde an Neuhaus gesündigt. Diese großartige, im XIV.
und XV. Jahrhundert mit entsprechendem Kunstaufwande erbaute Burg unterlag mit
seinem Hauptgebäude (der sogenannten Heinrichsburg) und dem daran stoßenden Hunger -
thurm einer Übertünchung in italienischer Manier, glücklicherweise ohne Verletzung der
inneren, im edlen gothischen Stil gehaltenen Räume. Da letztere für die Hofhaltung
Adams von Neuhaus nicht genügten, wurden in den Jahren 1580 bis 1596 neue Zubauten
hinzugefügt. Diese (leider im Jahre 1773 durch eine Feuersbrunst verwüsteten und theil-
weise öden) Räume sind an und für sich ein einheitliches Kunstwerk im edlen Stil,
harmoniren aber keineswegs mit dem gothischen Stock, an den sie angebaut sind.
Ihre innere Ausstattung, noch in Resten erhalten, zeigt von Prachtliebe und Geschmack,
ebenso wie der benachbarte Gartensalon, welcher sämmtliche der adeligen, damals
beliebten Lusthäuser au kunstvoller Ausstattung übertraf, dermal aber blos als Kunst -
reliquie sein Dasein fristet. Auch die von den Rosenbergen bereits im XV. Jahr -
hundert durch Zubauten erweiterte Burg Krumau hat zweimal bedeutenden Umbau
erlitten, doch zeigt die Bauthätigkeit Wilhelms von Rosenberg ein viel schöneres Resultat
als diejenige der Eggenberge um ein Jahrhundert später, da diese eine bloße Uniformirung
im Kasernenstil bezweckte, während Wilhelms Schöpfung, das am Felsen stehende zierliche
Gebäude mit dem anstoßenden, ebenfalls zierlich ausgebauten Rnndthurm zu den schönsten
Partien des jetzigen Krumauer Schlosses gehört.
Einige Schlösser, welche damals umgebaut wurden, sind noch vollständig erhalten
sowohl in ihren älteren Theilen, als auch in den von italienischen Meistern hinzngefügten
Gebäuden. Wir nennen das hochgelegene schön gebaute Schloß Opocno, eine Schöpfung
der Familie Trcka, das imposante Schloß Nachod, ein Werk der Smiricky, die Ruine
Koschumberg bei Luze, in die von den Slavatas ein Renaissanceflügel hineingebaut
wurde, Altenburg bei Liban, von dessen älteren Gebäuden nur die Burgkapelle stehen
geblieben ist, die Ruine Zerotiu bei Juugfernteinitz, das Schloß Zumberg bei Nassaberg,
endlich die Ruine Ruppau bei Prestitz, in deren hohem Schlot ein ganzes Vermögen
in Rauch aufging. Auch das malerisch gelegene Schloß Tetschen hat damals durch
die Ritter von Bünau und durch späteren Umbau nichts Burgenähnliches behalten
als nur den steilen Felsen, von dem es sich in den Wellen des Elbestroms abspiegelt.
Klingenberg wurde durch einige neue Gebäude erweitert, so daß die einzelnen Theile der
ausgebreiteten Burg aus einigen Jahrhunderten stammen und sich darnach auch leicht
unterscheiden lassen.
345
Die in den letzten zwei Jahrhunderten entstandenen Schlösser sind
geräumige, häufig einen Hof umschließende Gebäude, welche schon durch ihr Äußeres, die
zahlreichen Fenster, so wie auch durch die Flucht der zahlreichen Zimmer ihren Zweck
bekunden, dem Besitzer, seiner Familie und der zahlreichen Dienerschaft ein bequemes
Heim zu bieten. Manche imponiren durch ihre Masse, manche werden durch die zierliche
Ornamentik im Barockstil des XVII. Jahrhunderts anziehend. In ersterer Beziehung
verdient das mehr in technischer Vollkommenheit als edlem Stil erbaute Schloß Raudnitz
sicherlich den ersten Platz. Wenzel Eusebius Fürst von Lobkowitz, der franzosenfreundliche
Minister Leopolds I., ließ es in den Jahren 1652 bis 1677 an Stelle der bisherigen
Burg aufführen; der Baumeister war Antonio Porta, von dem auch die Schlösser in
Libochowitz und Bilin, so wie auch das Schlößchen Radic (bei Selcan) herstammen. Das
Anwachsen des Stammvermögens einzelner Adelsfamilien, das mit der während des
dreißigjährigen Krieges stattgehabten Commassation kleiner Landgüter zusammenhing,
begünstigte großartige Bauten. Zu den größeren und mittelgroßen Anlagen dieser Periode
gehören die Schlösser Zelenä Hora, Horazdowitz, Rothenhaus, Eisenberg, Wartenberg,
Chroustowitz, Zamrsk, Weißwasser, Schwaden, Benatek und Kolodej. Fast alle entstanden
auf älteren Anlagen mit theilweiser Benützung der bisherigen Bestandtheile.
Zu Ende des XVII. und zu Anfang des XVIII. Jahrhunderts entwickelte eine rege
Bauthätigkeit der gebildete Sonderling Graf Franz Anton von Sporck. Auf dem auf der
Herrschaft Maleschov liegenden Berg Wysoka erbaute er das neue Lusthaus Belvedere
mit St. Johanneskapelle und Eremitenwvhnungen (1697). Das bisher noch bürgen-
ähnliche Schloß Lissa wurde von ihm fast ganz umgebaut und erhielt seine jetzige Gestalt.
Unweit davon entstand auf einem von der Herrschaft Benatek angekausten Berge das
Lustschloß Hon I-6P08 (1718), woselbst der jagdlnstige Herr den Freuden des Vogelfanges
vblag. Auf der Herrschaft Gradlitz gründete er das Bad Kukns mit Herrenwohnung und
verschönerte die Umgegend auf die damals beliebte originelle Weise. Das alte Schloß zu
Konojed wurde bereits im Jahre 1699 in ein Spital verwandelt, aber dafür ein neues
Jagdschlvß in Ober-Algersdorf erbaut (1700). In der Nähe dieser Sitze entstanden neue
Kapellen, die damals beliebten Eremitagen und nach französischer Art angelegte Spazier -
gänge, doch haben die meisten dieser Gründungen sich nicht lebensfähig erwiesen. Unter den
Schloßbauten jener Zeit hatte das neue Schloß zu Mostet die kürzeste Dauer. Es wurde
im Jahre 1724 von der Gräfin Maria Theresia von Tranttmansdorsf, in zweiter Ehe
vermälten Gräfin vvn Rottal oberhalb der Stadt Brandeis a. A. in Ermanglung eines
passenden Wohnsitzes auf der Herrschaft gegründet. Der kunstvolle, vvn dem Architekten
Donato Alliv mit dem Maurermeister Donato Morazzv anfgeführte Bau war schon
ziemlich vorgerückt, wurde aber plötzlich eingestellt, als der junge Graf Franz Norbert vvn
346
Tranttmansdorff von seinen Reisen zurückkehrte und Mißfallen an der neuen Gründung
äußerte. Die Ruinen dieses Gebäudes erregten eben wegen der plötzlichen Störung im
Ausbau des Schlosses durch ein ganzes Jahrhundert das Interesse von Forschern und
Touristen, sind aber seit zwei Deeennien von der Oberfläche spurlos verschwunden.
Mit dem XIX. Jahrhundert werden in den Schlössern durchgreifende Veränderungen
vorgenommen. Schon seit längerer Zeit heißt das Schloß nur uneigentlich so, weil es nicht
mehr geschlossen ist, und verdankt seinen Namen nur dem conservativen Sprachgebrauchs.
Nun verschwinden die schweren eichenen und stark beschlagenen Thorflügel, welche sonst
den Eingang versperrten, die inneren Räume werden wohnlicher und mit mehr Lnzu»,
als es in der „guten alten Zeit" Brauch war, ausgestattet, die Kanzleien werden in
separate Amtshäuser verlegt, und schließlich wird die bisherige Gemeinschaft von schloß
und Meierhof aufgelöst. Gewöhnlich weicht das Schloß, wird auf einen luftigen Platz
verlegt und mit Gartenanlagen umgeben.
Das Beispiel reicher Landherren befolgend verwendete der kleine Adel auf den Auf -
oder Umbau seiner Sitze ziemlich bedeutende Geldsummen und das Streben, es den Größeren
nachzumachen, tritt überall hervor. Die alten Vesten, soweit sie noch das XI I. Jahr hundert
überdauerten, werden entweder umgebaut und erweitert oder als Nebengebäude zu
ökonomischen Zwecken verwendet, die Gräben zugeschüttet und die nächste Umgebung geebnet.
Verhältnißmüßig kleine Edelsitze erhalten im Oberstock die unentbehrliche Taselstube und
eine Kapelle, während das Erdgeschoß für die Küche, die Vorrathskammern und die Diener-
wohnnng bestimmt wird. Noch aber verbleiben bis in unser Jahrhundert die herrschaftlichen
Ämter und Kanzleien im Schlosse, freilich nur aus wenige Lokalitäten beschränkt. Eine
Menge dieser Dorfschlösser besteht noch und trügt das Gepräge jener Zeit, den Zopfstil.
In den Jahren 1802 bis 1822 wurde vom Grafen Johann Rudolf Chotek das
prachtvolle Schloß Kamm bei Knttenberg erbaut, welches, in Form eines gedrückten Bogens
angelegt, sich nicht nur durch die schönen Verhältnisse seiner Architektur, sondern auch durch
die Einfachheit und Angemessenheit der ornamentalen Theile auszeichnet. Es konnte eine
Zeit lang als der prachtvollste Landsitz gelten, wurde aber übertroffen durch das reizend
gelegene,mit ungewöhnlicher Pracht ausgestattete Schloß Frauenberg bei Bndwei», das Ziel
eines jeden Touristen, welcher Südböhmen besucht. In den Jahren 1844 bis 1847 an Stelle
einer alten Burg und mit theilweiser Benützung des Mauerwerkes mit einem bedeutenden
Kostenaufwand erbaut und am 3. September 1847 vom jetzt regierenden Kaiser höchst -
eigenhändig mit Einsetzung des Schlußsteins beendigt, ist es unstreitig der schönste und
prachtvollste Adelssitz des Königreiches, ein prunkvolles Gebäude, welches mittelalterliche
Motive dem modernen Comfort unterordnet und die theilweise in einen Ziergarten
umgestaltete, theilweise schon von Natur aus baumreiche und grüne Umgegend beherrscht.
347
Malerei und Elastik im Mittelalter.
Mit dem Eindringen nnd der Verbreitung des Christenthums in Böhmen vollzog
sich ein Umschwung ans dem Gebiete der Architektur, der allmälig auch Plastik und
Malerei berührte. Allein gegenüber der Zahl romanischer Bandenkmale verschwinden
nahezu die durch die Ungunst späterer Jahrhunderte stark znsammengeschmolzenen Überreste,
welche auf den Grad der Kunstfertigkeit in der Handhabung des Meißels und des Pinsels
während der romanischen Epoche schließen lassen. Diesen Verlust gleichen theilweise
zuverlässige Nachrichten über verhültnißmüßig frühe Künstler und Leistungen derselben aus.
Gewiß ist, daß auch in Böhmen anfangs die Übung dieser Künste in den Händen
der Geistlichkeit und insbesondere der um die Hebung der Wissenschaft nnd Cultur so
hochverdienten Benedictiner ruhte. Unter der Regierung Vratislavs II. stand an der Spitze
des von dem Landespatron Prokop gegründeten Klosters Sazava die interessante Künstler -
persönlichkeit des Abtes Bozetech, der nicht nur den 1095 vollendeten Erweiterungsbau
der Klosterkirche aufs prächtigste ausstattete, sondern auch geschickt zu malen, Stein und
Holz für plastische Zwecke zu bearbeiten und in Bein zu drechseln verstand. Auch nach
ihm blieb Sazava ein gerade für die Ausübung der Malerei und Plastik nicht unwichtiger
Ort. Denn der als Bozetechs Nachfolger eingeführte Brevnover Propst Diethard
(1097 bis 1133) schrieb nicht blos selbst gottesdienstliche Bücher, sondern nahm auch zur
Herstellung solcher mit Bilderschmuck gezierten Werke besondere Schreiber aus. Abt Sil -
vester (1134 bis 1161) ließ das Kloster mit Gemälden schmücken und dem ans Metz
stammenden Künstlerabt Reginhard rühmt der Chronist von Sazava die Fertigkeit
zu malen, aus Holz, Bein oder verschiedenartigem Metall Statuen anznfertigen,
Glasmosaik zusammenzusetzen, kurz jede Übung des Knnsthandwerkes nach. Wie in
Sazava war es auch in anderen Klöstern Böhmens bestellt, denn mancher aus Zwisalten
nach Kladrau wandernde Benedictiner, mancher ans dem Rheingebiet zugezogene
Prämonstratenser und mancher ans fränkischen Ordenshäusern berufene Eistercienser stellte
die Kunstfertigkeit seiner Hand in den Dienst des Hauses, bei dessen würdiger
Ausschmückung wie in anderen Ländern Plastik und Malerei Hand in Hand gingen.
Die Wandmalerei gewann offenbar in der ersten Hälfte des XII. Jahrhunderts an
Ausdehnung, da der Geschichtschreiber es bei der Angabe der 1129 unter Sobeslav I.
ausgeführten Restauration der Vysehrader Collegiatkirche für besonders erwähnenswerth
hielt, daß der Fürst die Wände mit Malereien zieren ließ.
Die ans dem XII. Jahrhundert stammenden Scnlptnren an der Südseite und im
Tympauonfelde der Kirche St. Jakob bei Kuttenberg, welche mehrere Heilige nnd den
segnenden Christus darstellen, sind zwar derb nnd unbeholfen, aber besser als die beiden
:;48
Priestergestalten des Tympanons der Wenzelskirche in Hrusitz. Die Belebung der Portal -
hohlkehle durch Thierdarstellnngen, die sich bei letzterer findest trat noch reicher an dem
um 1200 entstandenen Portal in Zabor zu Tage. Während der Gekreuzigte des Pod-
vinecer Tympanons nebst den beiden ihm zu Füßen liegenden Gestalten schwach gezeichnet
ist, erreichte die Cistercienserkunst sowohl in der feinen, maßvollen Decoration des Por -
tals zu Hradiste (Münchengrätz), als auch in dem originellen steinernen Lesepulte in
Ossegg bereits hohe Vollendung. Innerhalb der romanischen Auffassung blieb der in
Triptychonform angeordnete Steinaltar der Prager Georgskirche. Im Mittelstück knieen
vor der das segnende Christnskind haltenden Maria, die von zwei Engeln gekrönt wird, die
Äbtissinnen Maria und Bertha des Georgsklosters, im linken Flügel die 1200 bis 1228
nachweisbare Klostervorsteherin Agnes, die Schwester Premysl Ottokars I-, der selbst im
rechten Flügel betend dargestellt ist. Die zwar strenge, aber in allen Theilen harmonische
Gruppirnng läßt trotz mancher Härte und Ängstlichkeit der Ausführung den Schluß zu,
daß man in Böhmen während der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts mit Erfolg natür -
lichem Ausdruck plastischer Schöpfungen znstrebte. Auf dem Prager Boden lassen sich die
in dieser Hinsicht gemachten Fortschritte am besten verfolgen in dem Tympanonrelief ans
der aufgehobenen Lazarnskirche, dessen Auferweckung des Lazarus eine mit verständigem
Auge dem Leben abgelauschte Bewegung durchdringt; dagegen lagert über dem thronenden
König, welcher der Kleinseite das Stadtrecht verleiht — einem Sculpturüberrest, der vor
einigen Jahren in einem Hause neben dem Kleinseitner Brückenthnrm anfgefunden
wurde — mehr statuarische Ruhe bei meist paralleler Ordnung des Faltenwurfs. Was
die Steinplastik des Übergangsstils an reizend durchgebildeten decorativen Details zu
leisten im Stande war, kam nirgends wieder in so elegantem und feinem Vortrage wie
bei den Eapitälen und Schlußsteinen der Kirchen des Prager Agnesklosters zur Geltung.
Von den noch im Geiste romanischer Knnstübung ausgeführten Wandmalereien
haben sich nur geringe, sehr stark beschädigte Überreste in der Kapelle unter dem
südlichen Thurm der Georgskirche in Prag erhalten. In der Halbkuppelwölbung der Apsis
begegnet uns das der mittelalterlichen Malerei geläufige Motiv des auf dem Regenbogen
thronenden Erlösers, neben dessen Mandorla die Evangelistensymbole angeordnet sind,
während an der Wand der Apsisrundnng, sowie an der Süd- und Westwand Apostel-
nnd Heiligenfiguren erscheinen, die nur eine einzige zusammenhängende Darstellung,
die Marter eines halbentblößten, an einen Baum gefesselten Jünglings zeigen. Die
Deckenwölbung zierte das ungemein arg mitgenommene Bild des himmlischen Jerusalems,
dessen Composition Anklünge an die gleiche, ebenfalls im XIII. Jahrhundert ausgeführte
Deckenmalerei in Gurk bietet. Die Gewandung der von dunkelbraunem Grunde in schwarzen
Umrissen sich abhebenden Gestalten ist wenig dnrchgebildet und in einfachen Tönen ohne
349
feine Abstufungen, ja fast
ahne Schattirung colorirt. Die
Wölbung der Hanptapsis der
Georgskirche zeigt Überreste
einer Krönung Mariä, welche
derselben Zeit angehört. An
das Ende der Übergangszeit
rückt ein Theil der vor kurzem
bloßgelegten Spuren derWand-
Malereien in der Kirche des
Prager Agnesklosters, deren
architektonischer und plastischer
Reichthnm noch durch eine stil -
volle Bemalung gehoben wurde,
da auch Capitäle und Schluß -
steine in Farbe gesetzt und ver -
goldet waren.
Den nahezu vollständigen
Verlust romanischer Wand -
malereien vermögen die er -
haltenen Bilderhandschrifteu
nur theilweise auszugleichen.
Das augenscheinlich in Böhmen
während der zweiten Hälfte des
XI. Jahrhunderts vollendete
Vysehrader Evaugelistar, dessen
meist einförmige, in groben Um -
rissen gezeichnete Typen mehr -
fach mißlungene Verhältnisse aufweisen, läßt trotzdem auch großartige Züge ernster, künst-
St. Georg auf dem Schloßbrunne» am Hradschin.
lerisch hoher Auffassung erkennen. Letztere sinkt in den Darstellungen der Wolsenbüttler
Wenzelslegende, die im XII. Jahrhundert nach einem älteren Muster hergestellt wurde. Den
Höhepunkt der Buchmalerei dieses Abschnittes markirt wohl die in sauberer ^eckmaleiei
nach herkömmlichem Typus ausgeführte Kreuzigung des Ostrover Codex in der Prager
Metropolitankapitel-Bibliothek. In der Durchbildung der Typen und des Jnitialschmuckes
bewegt sich die aus einem böhmische» Benedietinerkloster stammende hinter verborum«
innerhalb der Grundsätze, welche die deutsche Buchmalerei der ersten Hälfte des XIII. Jahr-
350
Hunderts überhaupt eiuhält. Das tu derselben Zeit entstandene Sedleeer Antiphonar zeigt
vereinzelt auch die Anlehnung an ein byzantinisches Vorbild, während in dem nach
Stockholm entführten Riesencodex, welchen Sobeslav im Kloster Podlazitz schrieb, die
mehr locale Auffassung zn Tage trat. Züge der letzteren begegnen uns auch in einigen
Handschriften der Prager Universitäts- und Kapitelbibliothek, deren Herstellung in Böhmen
sedvch nicht immer mit Sicherheit aus inneren Gründen zu erweisen ist.
Seit die Gothik imLande Boden gefaßt hatte und an Ausbreitung gewann, lenkte
die Plastik gleich der Malerei in andere Bahnen ein. Die Cistercienser behielten anfangs die
Führung. Das Tympanonrelief des Hohenfnrter Sacristeieinganges, die dekorativen Details
des dortigen Kapitelsaals und jene in den ursprünglichen Theilen der Goldenkroner Anlage
zeigen bei sicherer Handhabung des Meißels saubere und geschmackvolle Abrundung.
Die Grabsteine der Äbte blieben wie der des Abtes Paul von Hradiste einfach, während
Königsaal für seinen königlichen Stifter Wenzel II. zunächst ein prächtiges in Stein
gearbeitetes Grabmal und an dessen Stelle bald daraus eine von dem Meister Johann
von Brabant gegossene Erzplatte aufstellen ließ. Daß um die Mitte des XHl- Jahrhunderte
offenbar ein anderer Geist die plastischen Arbeiten zu beherrschen begann, beweist die
besondere Anerkennung, welche man den scnlpirten Säulen des unter dem Domdechanten
Veit vollendeten Domkreuzganges zollte. Den Marktplatz der Prager Altstadt zierten
steinerne Standbilder, zum Andenken an Wenzel I. errichtet. Elfenbeinarbeiten erwarb
man — wie Abt Bawor von Brevnov am päpstlichen Hofe — meist in der Fremde. Schon
um 1300 wurde eine große, aus Holz geschnitzte Statue für die Politzer Propsteikirche um
9 Mark Silber angeschafft; Reisealtärchen aus weißem oder rothem Marmor waren nicht
selten. Vereinzelt lieferte noch eine Mönchshand plastische Arbeiten, so Abt Budissuw von
Strahov (1290 bis 1297) eine Maricnstatue für den Chor seiner Stiftskirche.
Große Scnlptnrwerke der Frühgothik haben sich nicht erhalten, was ans uns
gekommen ist, gehört vorwiegend der reich entwickelten und der verfallenden Gothik an. Die
künstlerisch bedeutendsten Werke stammen aus der Zeit vor den Hnsitenkriegen. Bedeutender
als das fast ganz verwitterte Relief von der Maria-Schnee-Kirche des ehemaligen Prager
Karmeliterklosters ist die Bischofsstatne an dem Facadenstrebepfeiler der Nimburgcr Stadt -
kirche. Eine geradezu einzig dastehende Leistung des Erzgnsses jener Zeit bleibt die heute
im dritten Burghofe aufgestellte Reit er st atu e des heiligen Georg, 1373 durch Martin
und Georg von Klausenburg, die Söhne des Klausenbnrgcr Malers Nikolaus, gegossen.
Die beiden auch in Ungarn angesehenen Erzgießer verliehen dem etwa in halber Lebens -
größe ausgeführten Werke eine überraschende Lebendigkeit, die besonders in der Bewegung
des Pferdes und in der Durchbildung seines Leibes eindringendes Natnrstudium verräth,
wenn auch die Haltung des drachentödtenden Reiters von einer gewissen Befangenheit
351
nicht frei ist. Die von den fremden Meistern in sv vorzüglicher Weise gegebene Anregung
übte ans die Entwicklung der Gnßtechnik zu Gunsten feinerer Durchbildung der plastischen
Details keinen nachweisbaren Einfluß aus. Denn das in der Königgrätzer Heiligengeist-
Der Thürklopser an der Thüre der St. WmzeMapelle in Prag.
kirche erhaltene Taufbecken, welches 1406 Abt Bartholomäus von Podlazitz anfertigen
ließ, zeigt ungemein derb gearbeitete Apostelgestalten. Ja, auch in den einer späteren
Zeit entstammenden zinnernen Taufbecken, welche in der Form einer umgestürzten Glocke
auf drei Füßen ruhen und sich in der Prager Stephanskirche, in Nimbnrg, Sobeslau,
352
Leitmeritz, Kuttenberg, Chrudim, Laun, Kolm u. a. O. erhalten haben, zeigt sich wie bei den
besonders seit der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts zahlreicher werdenden Glocken, die
nur vereinzelt mit einem Flachrelief des Gekreuzigten, der heiligen Maria oder des Kirchen -
patrons geziert wurden, trotz aller Tüchtigkeit der Ausführung nichts, was künstlerisch
besonders beachtenswert!) wäre, — hier walteten die Formen der Gothik fast noch durch
das ganze XVl. Jahrhundert hindurch vor. Bronze-Epitaphien, wie z. B. das des Busko
von Seeberg ans dem Jahre 1499 wurden erst in der Renaissancezeit häufiger; dagegen
schuf, nach dem Löwenkopfe an der Thüre der Prager Wenzelskapelle und
nach einem ähnlichen späteren an der Thür der Egerer Nikolanskirche zu schließen, die
ganze Zeit hindurch der Bronzeguß geschmackvolle, in guter Ciselirnng dnrchgearbeitete
Thürverziernngen.
Die gothische Steinplastik lieferte gerade in der Zeit, da die größte Bauthätigkeit im
Lande sich entfaltete, ihre besten Arbeiten. Ein Meister, dem gleich Peter Parier Erfindung
und hohe Begabung fürs Plastische eigen war, sowie ein Wechsel der Motive mit wirkungs -
voller Herausarbeitnng der Details zusagte, mußte die unter seiner Leitung Arbeitenden
durch Vorbild und Unterweisung beeinflussen. Von seiner Hand stammten die anmuthige,
stilvolle Wenzelsstatne, die Grabmale Premysl Ottokars I. und II. und wahrscheinlich
ein Theil der Triforiumsbüsten im Prager Dom, deren übrige sowie die anderen Grab -
denkmale böhmischer Fürsten unter seinen Augen entstanden. Wie hier so kam auch in
dem Denkmal des Prager Erzbischofs Johann Ocko von Maschine und in den Herrscher -
statuen am Altstädten Brückenthurm eine besondere Vorliebe für das Betonen des Wesent -
lichen bedeutender Personen zum Worte, ein Zug, der auch noch im letzten Viertel des
XV. Jahrhunderts den Statucnschmuck anderer Bauten ins Leben rief. Der Reichthum
plastischer Ausstattung, den namentlich die im Geiste der Gmünder Schule ausgebildeten
Bildhauer bevorzugten, offenbarte sich am schönsten in den plastischen Zuthaten derBanten,
als seulpirten Schlußsteinen, Capitälen, Consolen, Baldachinen, originellen Wasserspeiern
und besonders in dem prächtigen, figurenreichen Portalschmuck der Prager Teyn-
kirche. Derselbe ist das bedeutendste und umfangreichste Werk gothischer Steinplastik, bietet
im Tympanonfelde außer der Kreuzigung mit allen Details der Überlieferung die Geißelung.
Verspottung und Dornenkrönung Christi, an den Strebepfeilereonsolen das Opfer
Abrahams und Moses mit den Gesetzestafeln und war ursprünglich noch mit zahlreichen
anderen Statuen ausgcstattet, welche einst die heute leeren Bilderblenden zierten. Ihm
zunächst steht wohl das tnmbenartige Grabmal der heiligen Ludmila in der Ludmilakapelle
des Prager Georgsklosters, welches ans dem Deckel die ruhende Gestalt der die Hände
faltenden Heiligen und an den beiden Langseiten in spätgvthischen Nischen je fünf derbe
Hciligenstatnetten zeigt, aber bei wiederholter Überarbeitung viel von seinem ursprünglichen
354
Charakter verloren hat. Die Grabdenkmalplastik schritt, wie sich aus zahlreichen Grab -
steinen großer und kleiner Gotteshäuser des Landes feststcllen läßt, zu einer immer lebens -
wahreren Darstellung der betreffenden Personen vor, wobei das anfangs nur in schwachem
Relief gearbeitete Bildniß allmälig in entsprechender Rundung entschiedener vortrat. Die
im XiV. und XV. Jahrhundert als Zierde jedes Gotteshauses angeordneten Sacraments-
hüuschen, die z. B. in Nachod, Eger, Schlan, Rakonitz als zierlich decorirte Schreine
mit Seitenstreben, Fialen, Baldachin, Wimperg- und Kreuzblumenkrönung, bald wieder
pyramidenartig aufsteigend, wie in den Kirchen zu Kaurim, Böhmisch-Brod, Prachatitz,
Krumau, Gang, Nezamyslitz, in der Dreifaltigkeitskirche zu Kuttenberg, in der König-
gratzer Kathedrale u. a. O. die Evangelienseite des Chorraumes zierten, boten der Plastik
neue dankbare Aufgaben, die einheimische wie fremde Meister mit Geschick lösten. Als Muster
der heimischen Richtung darf das inschriftlich von Raysek verfertigte Sacramentshäuschen
in Gang gelten, während in Eger sich Einflüsse Nürnberger, in Prachatitz solche süd -
deutscher Auffassung zeigen. Auch an den Aufbau der Kanzeln drängte sich die spütgothische
Plastik und schuf in Kuttenberg, Prag, Laun, Aussig und Unterhaid treffliche Werke; nächst
der Kuttenberger ist die von Raysek in Gang aygefertigte Kanzel, welche an reicher Aus -
stattung noch von der Rakonitzer übertroffen wird, wohl wegen der Nachweisbarkeit des
Urhebers am interessantesten, wenn auch ihr Meister keineswegs mit den gleichzeitigen
bedeutenden plastischen Leistungen anderer Länder ans gleicher Stufe steht. Ebenso wenig
zeigt der gegen Schluß des XV. Jahrhunderts in der Prager Teinkirche aufgestellte Altar -
baldachin, daß der Künstler eine hervorragende Begabung für das Plastische besaß. Das
realistisch herausgearbeitete Astwerk spätgothischer Decorationsweise kam an dem
Wladi.slaw'schen Oratorium des Prager Doms und an der reichen Umrahmung der
berühmten Uhr im Thurme des Altstädter Rathhauses am entschiedensten und mit einer
gewissen künstlerischen Eleganz zur Geltung. Die Plasük trat in der zweiten Hälfte des
XV. Jahrhunderts auch immer mehr in den Dienst des Profanbaues, wie die Sculpturen-
reste der Burg Lititz, am Saalbau in Pürglitz, des abgerissenen Prager Thors in Schlan,
des Saazer Thors in Laun, des steinernen Hauses, sowie des Stadtbrunnens in Kuttenberg
beweisen. Eine sehr anerkennenswerthe Leistung maßvoller Außenverzierung bleibt der
Erker in Laun, während uns in dem Portal des Altstädter Rathhauses in Prag und
in dem daneben befindlichen Fenster schon mehrfach geschmacklose Auswucherungen spät -
gotischer Zierformen begegnen. Ein repräsentativ realistischer Zug schuf iü einzelnen
Städten als Wahrzeichen der Handelsfreiheit die Rolandssäulen, wie jene am Leitmeritzer
Rathhause und an der Prager Karlsbrücke; die letztgenannte auf einem mit gewappnetem
Wächter, Engel und Kaufmann gezierten Pfeiler wurde vor wenigen Jahren durch eine
im Stilgefühl nicht ganz glückliche Nachbildung ersetzt.
355
Die Innenausstattung der Gotteshäuser und Wohnräume stellte auch der Holz-
bildnerei zahlreiche lohnende Aufgaben. Gegen das Ende des XIV. Jahrhunderts stand
dieselbe wie die Steinplastik unter dem Einfluß der Parler'schen Richtung, denn nach
Vollendung des Prager Domchors übernahm Peter Parier selbst die Herstellung des
leider nicht erhaltenen Chorgestühls. Die während der zweiten Hälfte des XIV. Jahr -
hunderts steigende Marienverehrung führte zur Anfertigung schöner Marienstatuen, wie in
der Prager Teinkirche, in der Propsteikirche zu Neuhaus, in der Erzdechanteikirche zu
Pilsen, in der Kirche zu Reichenau, im Museum zu Eger; der fromme Glaube des Volkes
bezog die Herstellung einzelner auf den um die Belebung des Mariencultus hochverdienten
Erzbischof Ernst von Pardubitz. In einzelnen der jetzt sich mehrenden städtischen Museen und
im Privatbesitze haben sich ziemlich zahlreiche Überreste von Holzsculpturen des XIV. und
XV. Jahrhunderts erhalten. Außer dem fein componirten Rahmen des städtischen Museums
in Prag und dem Prager dornengekrönten, die Wundmale zeigenden Christus ragen durch
edle Auffassung je eine heilige Barbara und eine heilige Katharina im Museum zu Pilsen
und im Leitmeritzer Diöcesanmuseum, sowie eine heilige Ludmila im Besitz des Fürsten
Adolf Josef zu Schwarzenberg hervor, während sonst z. B. in der dem archäologischen
Vereine „Voeel" zu Knttenberg gehörigen „Dornenkrönung", in der Ludmila- und
Adalbertfigur aus der Kapelle des wälschen Hofes und zahlreichen Einzelngestalten des
Egerer Museums handwerksmäßige Tüchtigkeit ohne hervorragende Originalität sich zeigt.
Ungemein tiefes Gefühl durchdringt die Kuttenberger Christusstatne von 1511, die wahr -
scheinlich der einheimische Meister Jakob ausgeführt hat. Namentlich wurde die Holzplastik
durch die Aufstellung der damals üblichen Altarschreine gefördert, von denen sich einige
vollständig erhalten haben, während von anderen nur das Hauptstück auf uns gekommen
ist. Zu den elfteren zählt außer dem Wohl der Zeit Wladislaws II. entstammenden
Pürglitzer Altar der gleichfalls deutschen Einfluß zeigende Altar der Nussiger Decanal-
kirche, der wieder die Anfertigung des 1493 in der Kirche zu Klapay bei Lobositz geweihten
Flügelaltars beeinflußt zu haben scheint und scharf charakterisirte Gestalten zeigt. Das
im Auftrag eines Herrn von Martinitz ausgeführte Altarwerk in Smecno nähert sich
im Ornamentalen den Chorstühlen der Barbarakirche in Knttenberg, in welcher Meister
Jakob 1502 einen prächtigen, 1675 beseitigten Flügelaltar mit der Hauptdarstellung des
letzten Abendmahls aufgestellt hatte. Eine weit derbere Durcharbeitung zeigen die Chrndimer
Werke, wie z. B. der Flügelaltar der Decanalkirche, der schon in der Anordnung der
Himmelfahrt Mariä ein Abgehen von der sonst üblichen Darstellungsweise und auch auf
den die Flügel zierenden Scenen der Verkündigung und Heimsuchung Mariä, der Geburt
Christi und der Anbetung der Könige einige originelle Züge answeist. Der Seeberger
Altar von 1498 und der 1520 für die Jodoknskirche in Eger geweihte Flügelaltar,
23*
350
die heute im Egerer Museum stehen, nähern sich dem Durchschnittsmaß handwerksmäßiger
fränkischer Arbeiten, während die Barbara im Mittelschreiu des Getaner Seitenaltars
sächsische Einwirkungen zeigt, die ja auch ans dem Flügelaltar der „vierzehn Nothhelfer-
kapelle" des Franciscanerklosters in Kaaden sowie ans der ausFreiberg stammenden „Tafel"
des Heiligengeistspitals in Graupen durchklingen. Der Tod Mariä vom Fliigelaltar der
wälschen Kapelle inKuttenberg ist schwächer als dieselbeDarstellung einer derGojauerKirche
gehörigen Altarschnitzerei, die in den Köpfen Maria's und des Johannes ideale Schönheit,
in den Falten nicht die üblichen geknitterten Brüche, sondern langgezogene Linien bietet;
lebendiger als beide Stücke ist die gleiche Darstellung des Holzreliefs der Klomiuer Kirche.
Da man auf das Vorhandensein kunstvoll gearbeiteter Chorstühle und die Anfer -
tigung derselben durch bewährte Meister offenbar hohen Werth legte, so fand die Holz -
bildnerei auch hier ein reiches Feld zu fruchtbarer Bethätignng. Welche vollendete Leistungen
sie gerade auf diesem Gebiete zustande brachte, zeigen die Chorstühle der Jakobs- und
besonders der Barbarakirche in Knttenberg, die rücksichtlich des Aufbaues und der
Decvration zu den beachtenswerthesten Schnitzwerken des absterbenden Mittelalters gehören
und die gothischen Formen noch reiner bewahren als die schon unter dem Hereinstuten von
Renaissance-Anschauungen entstandenen zwei Kirchenstühle der Brüxer Stadtkirche. War
die Thür eines gottesdienstlichen Raumes außen nicht mit Eisenbändern beschlagen und der
Raum der dadurch entstehenden Rauten nicht, wie bei der Karlsteiner Katharinenkapelle, der
Wenzelskapelle des Prager Doms oder der Kirche in Kladno, mit Wappen oder Buchstaben
ansgefüllt, so wurde auch die Außenfläche solcher Thüren dem Holzschnitzer, der sie bei der
Jakvbskirche zu Prachatitz einfach und geschmackvoll, in Schlan mit dem ganzen Reichthum
spätgotischer Fenster- und Maßwerkbildnngen verzierte, in Arbeit gegeben. Nicht minder
konnte derselbe, wie das Orgelgehäuse in Dentschbrod zeigt, bei der Ausführung eines
Orgelbaues seine Kunstfertigkeit bethütigen. Von Trinmphkreuzigunasgruppen ist nächst der
ungemein edel durchgebildeten, 1439 aufgestellten in der Prager Teinkirche und der fast
gleichwertigen in der Goldcnkrouer Stiftskirche besonders noch die um l481 entstandene
Krenzignngsgruppe der Kirche zu Luditz beachtenswerth, deren gleichzeitige Ölbergsgruppe
wie jene in Egcr und Pilsen unter Anlehnung an fränkische Muster entstanden zu sein scheint.
Weit bedeutender als die Stellung, welche die Werke gothischer Plastik in Böhmen
in einer allgemeinen Geschichte der Plastik einnehmen, ist die der Wand-, Tafel- und Buch -
malerei. 1244 wurde der Domkreuzgang, 1252 die Michaelskapelle und 1253 der Chor des
Prager Doms mit Malereien geschmückt, und die bei der Restauration der Kirche in Keh
und in der Budweiser Dominicanerkirche wieder zu Tage getretenen Überreste von Wand -
gemälden lassen gleich einigen Darstellungen in der Klingenberger Kapelle und den jüngst
bloßgelegten Wandmalereispuren in der Kirche des Prager Agnesklvsters darauf schließen,
358
daß die Ausschmückung der Jnneuräume mit bildlichen Darstellungen sehr beliebt war.
So ließ z. B. Abt Paul Batwr von Brevnov die Kammer des Abtes, Sprechzimmer und
Dormitorium in Pölitz, Bischof Johann IV. die Hauskapelle der Prager Residenz mit
den Bildern seiner Amtsvorgänger und sein Speise- und Wohnzimmer mit Darstellungen,
die durch belehrende Verse erläutert waren, sowie mit den Wappenschildern böhmischer
Adeliger ausmalen. Über die Art einer solchen bilderreichen Innenausstattung geben die
Wandmalereien im Schlosse zu Neuhaus, welche auf Befehl Ulrichs von Neuhaus 1338
ausgeführt wurden und die Georgslegende in der Auffassung des damaligen Ritterthums
behandeln und durch deutsche Inschriften erläutern, einen vollständig ausreichenden Auf -
schluß. Sie entsprechen auch in der mit schwarzen Strichen leicht ausgeführten Skizzirung
der schlanken, oft anmuthigen Gestalten und in dem Aufsetzen der Farben ohne Modellirung,
wie es auch in dem gleichzeitigen Wandbilde der Nikolauskirche auf dem Friedhof zu
Bergreichenstein uns begegnet, der Technik der deutschen Wandmalerei dieses Zeitraums.
Unter Karl IV. entfaltete sich die Malerei in Böhmen, begünstigt durch die 1348
vollzogene Organisation der Prager Malerzeche, deren deutsch geschriebene Satzungen noch
erhalten sind, zu ungewöhnlicher Blüte, die auf alle Zweige dieses Kunstgebietes sich
erstreckte. Nun gelangten italienische Einflüsse in den bis 1372 vollendeten Krenzgangs-
bildern des Klosters Emans, welche einer Scene des neuen Testamentes zwei des alten an
die Seite stellen, mehr zum Worte, während in den Wandbildern der Karlsteiner Marien -
kirche und Katharinenkapelle der Hofmaler Nikolaus Wurmser von Straßburg die der
rheinischen Schule geläufige Schlankheit und feinere Kopfbildung wahrte. Dieser näherten
sich nebst den an Kapellenwänden des Veitsdoms erhaltenen Überresten auch die wahr -
scheinlich von Meister Oswald 1373 vollendeten Passionsdarstellungen der Prager
Wcnzelskapelle, während die Wandgemälde in den Fenstern der Karlsteiner Kreuzkapelle
sowie die Darstellungen aus der Wenzels- und Ludmilalegeude au den Wänden des
Treppenaufgangs zu diesem Raume nebst den Bildnissen KarlsIV.,Blanca's und Wenzels I V.
in der Marienkirche mehr den Geist der Richtung Theodorichs athmen, welcher die noch
näher zu erwähnenden Tafelbilder der Kreuzkapelle schuf. Derselbe durchdringt nicht
minder die Wandmalereireste in dem Kreuzgang zu Strakonitz, deren „Frauen am Grabe
Christi" und „Christus in die Vvrhölle hinabsteigend" noch die Compositionsweise festhalten,
welche uns im Passionale der Äbtissin Kunigunde des Prager Georgsklosters begegnet.
Wie reich selbst kleine Landkirchen mit Wandmalereien ausgestattet waren, lehren am
besten die gegen das Ende des XIV. Jahrhunderts entstandenen Bilder der Kirche zu
Libisch, die iu zahlreichen Härten eine mehr handwerksmäßige Ausführung bekunden.
In die zweite Hälfte des XIV. Jahrhunderts gehören die an der nördlichen Chorwand der
Prager Georgskirche ansgeführten, größteutheils noch übertünchten Scenen der Georgs-
359
und Marienlegende. Unter den Wandgemälden des XV. Jahrhunderts verdienen die im
Thorthurm des Schlosses zu Blatna, deren mattgrüner Grund mit grünen ineinander-
geflochtenen Bändern und distelartigen Ranken auch in Klingenberg vorkommt, besondere
Beachtung. Die Darstellungen sind den architektonischen Verhältnissen des Raumes
angepaßt und zeigen an den Nischenwänden der drei Fenster die Verkündigung und
Heimsuchung Mariä, die Geburt Christi und Anbetung der Könige, die Enthauptung der
heiligen Katharina und das Fegefeuer. Reicher Wappenschmuck ziert die Wände des
Gemaches, in welchem von den übrigen Bildern besonders der Kampf des heiligen Georg
fesselt. Fast gleichzeitig entstanden die Wandgemälde im Rittersaal der Burg zu Pisek,
die 1479 vollendet wurden. Mehr als die Kreuzigung und Anbetung der Könige interessirt
uns die verhältnißmüßig lebendige Darstellung des Turniers, in welchem das Andenken
an ein für die Stadt wichtiges Ereigniß festgehalten wurde. Gleiches Bestreben führte im
Schlosse zu Neuhaus zu der Ausführung des nur schwer kenntlichen Gemäldes der Schluß-
Verhandlungen über die Landesverfassung Wladislaws II. — Heinrich IV. von Neuhaus,
der dieses Werk vollenden ließ, ist in der kleinen Marienkapelle des Neuhauser Schlosses
nebst seinen drei ersten Frauen sowie seiner Tochter Anna abgebildet. In Klingenberg
wurde der größere Theil der Wandmalereien unter Bohuslav von Schwamberg (1473
bis 1490) und Christoph von Schwamberg (gestorben 1534) vollendet. Überall gewähren
Wappenbeigaben Anhaltspunkte für die Bestimmung der Entstehnngszeit. Einen
anderen Charakter als die genannten Malereien zeigen die Bilderreste in der ehemaligen
Schloßkapelle zu Petschau, die an die Richtung der Nürnberger Schule sich anlehnen. Der
Auffassung österreichischer Malereien des XV. Jahrhunderts nähert sich der Tod Mariä
in Rosenberg, jener der deutschen Kunst eine Kreuzigung an der Außenseite des Chors
der Prachatitzer Stadtkirche.
Hinter der so bedeutenden Entfaltung der Wandmalerei blieb die Tafelmalerei, welche
besonders die wachsende Marienverehrung förderte, nicht zurück. Einzelne Typen berühmt
gewordener Marienbilder des XIV. Jahrhunderts wurden mit geringen Änderungen wieder -
holt. So begegnet uns das Motiv der Madonna von Teindles in dem Bilde zu Stein -
kirchen, das Goldenkroner auf einem Marienbilde des Prager Doms, das Königsaaler auf
Bildern in Leitomischl und ini Besitz des Fürsten Adolf Josef Schwarzenberg, das Motiv
eines 1396 noch in Raudnitz erhaltenen Originals in der Madonna von Breznitz und
das zumeist verbreitete Hohenfurter Motiv auf den Marienbildern zu Neuhaus, Wittingau,
aus dem Miuoritenkloster und dem Jodokusspitale zu Krumau. Mehrere dieser Bilder
haben einen mit Heiligen- und Engelsfiguren bemalten Rahmen, der auch bei einigen
Madonnendarstellungen der Prager Gemäldegalerie patriotischer Kunstfreunde, des
k. k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie in Wien, der Prager Stephanskirche
360
und der Hoheufurter Gallerie, auf der Heimsuchung Mariä (Prag, Gallerie patriotischer
Kunstfreunde) und dem bekannten Vern-ilcon des Prager Doms uns begegnet. Italienische,
deutsche, byzantinische und einheimische Anschauungen traten hier neben einander auf.
Erstere kamen außerdem wohl am schönsten zur Geltung in dem Madonnenbilde des
Thomas von Mutina in Karlstein, der Tafel mit sechs Heiligen aus dem Leitmeritzcr
Diöcesanmusenm, der Kreuzigung des Klosters Emans und in dem von einem Rosenberger
gestifteten Hoheufurter Tafelbildercyklus. Das imposanteste Werk der Tafelmalerei in
Böhmen bleiben die zahlreichen Heiligendarstellungen, die als Täfelung der Wände der
Karlsteiner Kreuzkapelle verwendet und von dem Hofmaler Theodorich zwischen 1360 bis
1370 vollendet wurden. Die hier vertretene Durchbildung und Auffassung der würdevollen
Heiligengestalten, die auf Typen der Zeit zurückgreifen und nicht nach der Schablone
gearbeitet sind, die Selbständigkeit der Zeichnung und Farbengebung können geradezu als
Eigenart der böhmischen Malerei dieses Zeitraumes bezeichnet werden, zu welcher die Tafel
mit dem heiligen Ägidius zwischen Adalbert und Prokop in der Kirche zu Blanitz eine
Vorstufe bildet. Sie zeigt sich auch in dem mit den Karlsteiner Tafelbildern fast gleich -
zeitigen Votivbilde des Erzbischofs Johann Ocko von Vlasim (Prag, Gallerie
patriotischer Kunstfreunde), auf welchem der Stifter nebst dem Kaiser, seinem jugendlichen
Sohne und den Landesheiligen vor der thronenden Madonna mit dem Kinde lebenswahr
dargcstellt ist. Denselben Typus betont nicht minder der heilige Wenzel der Kleinscitcner
Nikolauskirche in Prag und die Tafel mit den böhmischen Landespatronen aus Dubecek.
Selbständige Fortschritte in der angedeuteten Richtung machte der Meister von Wittingau,
dessen Hand die aus St. Magdalena stammenden Tafelbilder (Prag, Gallerie patriotischer
Kunstfreunde und Wittingauer Archiv) zugerechnet werden. Dagegen verfiel der Maler
der vier im Pfarrhause zu Schweidnitz erhaltenen Tafeln mit Darstellungen aus dem
Leben Christi in eine mehr handwerksmäßige, fast rohe Manier. Leidenschaftlichkeit und
ein gewisses Behagen an der Herausarbeitnng von Marterscenen wurden maßgebend für
die Passionsdarstellungen der Raudnitzer Tafelbilder. Mehrere der Tafelbilder in den
Gallericn der Klöster Hohenfnrt und Strahov, die einen sehr ungleichen Knnstwerth
besitzen, gehörten offenbar Flügelaltären an, welche, wenn ein geschnitztes Mittelstück
vorhanden war, letzteres gleichfalls im Reize der Farben boten, so daß, wie anderswo,
auch in Böhmen auf diesem Gebiete Plastik und Malerei einander in die Hände arbeiteten.
Unter den Altarwerken, deren Mittelstück nicht geschnitzt, sondern nur gemalt war,
gehören der heimischen Richtung aus der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts an: das aus
dem Georgskloster stammende mit dem Tode Mariä: die Flügel zeigen die Verkündigung
und Heimsuchung Mariä, die Anbetung der Könige und den Drachentödter Georg. Der
Ottauer Flügelaltar, welcher neben dem Mittelbilde der Kreuzigung vier Scenen aus dem
301
Leben Johannes des Täufers bietet, wich mit dem Silbcrgrunde von der Übung des aus -
gehenden XV. Jahrhunderts ebenso ab wie das Marienbild zu Beneschan oder einige Tafeln
der Strahover Gallerie. Die Passionsscenen des aus der Netolitzcr Wenzelskirche stammen -
den Altars (Schloß Frauenberg)
beeinflußten österreichische Anschau -
ungen, die, auch in zwei kleinen
Flügelbildern und der Anbetung der
Könige zu Heuraffcl uns begegnend,
in Südböhmen sich einer beifälligen
Berücksichtigung erfreut zu haben
scheinen. Einflüsse deutscher Typen,
die theilweise durch Holzschnitte und
Stiche vermittelt sein können, treffen
wir auf dem Flügelaltar mit der
heiligen Sippe in der Königgrätzer
Kathedrale; die Verkündigung und
Heimsuchung Mariä, sowie die An -
betung der Könige stehen über den
gleichen Scenen des Knttenberger
Altars. Tüchtige Tafelbilder lieferten
die langsam eine schulmüßige, mehr
selbständige Entwicklung betonenden
Meister in Chrndim in den dort
erhaltenen Altarwcrkcn, an deren
Darstellung sich schon der Geist einer
neuen Zeit hier und da herandrängte.
Gothische Ornamcntation blieb, wie
die Andreas- und Thomastafeln des
städtischen Museums in Klattan zeigen,
Miniatur aus der Handschrift dos Wilhelm von Lranso c>SS7). ^ch ersteilHülftedesXVI.Jahr-
hunderts in Kraft.
Die Glasmalerei lieferte bereits im XIII. Jahrhundert tüchtige Arbeiten; schon 1270
stellte Bischof Johann III. für den Prager Dom zwei große Fenster mit Darstellungen
ans dem alten und neuen Testament bei. Von der Tiefe und Leuchtkraft der Farben,
welche solchen Werken in der besten Zeit eigen war, zeugt außer den Resten in den
Fenstern der alten Krnmauer Schloßkapelle und der Kreuzigung in der Karlsteiner
362
Katharinenkapelle besonders der Tod Mariä in Kolin. Noch in der Zeit Wladislaws II.
erfreute sich dieser Kunstzweig, wie die Überreste in Pürglitz und in der Karlshofer Stifts -
kirche erkennen lassen, großer Förderung.
Nur ganz vereinzelt wurde musivische Arbeit zum Schmuck der Bauten verwendet;
so ließ Karl IV. 1370 bis 1371 an der Faxade der südlichen Eingangshalle des Prager
Doms das erst vor kurzem abgenommene Mosaik, welches außer dem jüngsten Gericht
und den böhmischen Landespatronen den Kaiser und seine vierte Gemalin zeigte, durch
italienische Arbeiter ausführen.
Einen besonderen Aufschwung nahm unter den Luxemburgern auch die Buchmalerei,
die schon zur Zeit der letzten Premysliden Tüchtiges geschaffen hatte. Rndger von Ossegg
war als Hersteller solcher Arbeiten geschätzt, die übrigens, wie dies für das Kloster König -
saal, Brevnov und Bischof Johann IV. nachweisbar ist, auch in Frankreich und Italien
angekauft wurden. Unter dem Einfluß baierischer Anschauungen entstand gegen Ende des
XIII. Jahrhunderts die Velislav'schc Bilderbibel (Prag, Bibliothek des Fürsten Lobkowitz),
die aber erst im XIV. Jahrhundert fertig wurde und sowohl durch originelle Behandlung der
Motive als auch durch den Reiz des Zeitgeschichtlichen hervorragt. Großartiger ist die Auf -
fassung der leicht colorirten Federzeichnungen des Passionales der Äbtissin Kunigunde
des Prager Georgsklosters, das der Canonikns Benes geschrieben und vielleicht auch
illuminirt hat, wenn auch darin kein von der gleichzeitigen deutschen Buchmalerei sich
abhebender Localcharakter zu Tage trat. Einen schulartigen Abschluß erlangte Böhmens
Buchmalerei erst unter Karl IV. zunächst durch französische Muster, deren Ornamentik
nachgeahmt wurde, während die Jndividualisirung der Figurenmalerei zurückblieb. Neben
gleichzeitigen deutschen Einflüssen entwickelte sich auch die einheimische Richtung natur -
gemäß weiter und zeitigte in dem 1356 für das Prager Kreuzherrenkloster vollendeten
Brevier des Großmeisters Leo sowie in dem 1376 geschriebenen Lehrbuch der christlichen
Wahrheit des Thomas von Stitne (Prag, Universitäts-Bibliothek), in der 1388
abgeschlossenen Bibel des Prager Altaristen Knnsso (Bibliothek des Grafen Erwein
Nostiz-Rhinek), sowie in dem Missale des Prager Canonikns Wenzel von Radetz (Prag,
Metropolitankapitel-Bibliothek) schöne Früchte, hinter welchen die Handwerksleistungen des
Kaplitzer und Slovenitzer Missales (Prachatitz, Wittingauer Archiv), sowie die 1411 bis
1414 hergestellte Leitmeritzer Bibel (Leitmeritzer bischöfliche Bibliothek, Wittingauer Archiv)
zurückblieben. Der Einfluß der französischen Vorbilder, der schon in dem Antiphonar und
Brevier der böhmischen Königin Elisabeth, der Witwe Wenzels II. (Raigern, Stiftsbibliothek)
hervor getreten, machte sich besonders in dem Normte und Orotioirule des Erzbischofs
Ernst von Pardubitz, in dem luder viotieus des Leitomischler Bischofs Johann von
Neumarkt (Prag, böhmisches Museum) und im Missale des Olmützer Bischofs Johann
363
Ocko von Vlasim — 1351 bis 1361 — (Prag, Metropolitankapitel-Bibliothek) geltend.
In den unter Wenzel IV. entstandenen Bilderhandschriftcn, in dem 1387 vollendeten
Wilhelm von Oranse (Wien, kunsthistorisches Hofmuseum), in der berühmten deutschen
Bibel und in der „goldenen Bulle" (Wien, Hofbibliothek) begann das Kunstschaffen der
Buchmaler schon zu verflachen, während in der 1402 für Konrad von Vechta geschriebenen
Bibel (Antwerpen, Nusöe kluIin-Uoretus) und in dem 1409 von Lanrinus von Klattan
ausgeführten Missale des Prager Erzbischofs Zbynko Zajlc von Hasenburg (Wien, Hof -
bibliothek) noch der frühere Adel der Auffassung überwog. Von den am Hofe Wenzels IV.
thätigen Hofilluminatoren Frana, Nikolaus, Wenzel und Johann fertigte elfterer einen
Theil der Bilder der Wenzelsbibel an. Abgesehen von diesen Hauptwerken haben sich in
in- und ausländischen Bibliotheken noch zahlreiche, künstlerisch weniger hochstehende Bilder -
handschriften erhalten, die in Böhmen ausgeführt wurden. Denn auch nach den Husiten-
kriegen leistete die Buchmalerei daselbst Tüchtiges und wußte sich neben den im XVI. Jahr -
hundert immer mehr zur Geltung kommenden Jllustrationskünsten des Holzschnitts
und Kupferstichs lange mit Erfolg zu behaupten, wobei sie allerdings vielfach die durch
letztere vermittelten Motive verwerthete und langsam durch diese Renaissance-Einflüsse im
Figürlichen und Ornamentalen einen anderen Charakter annahm. Unter den in cechischer
Sprache geschriebenen Bilderhandschriften sind die Kladraner und die taboritische Bibel
sowie ein altes Testament der Prager Universitäts-Bibliothek, die 1435 für Herrn Philipp
von Paderov vollendete Bibel der Wiener Hofbibliothek, die Stundengebete zur heiligen
Maria (Prag, Universitäts-Bibliothek und Böhmisches Museum) und mehrere andere
hervorzuheben. Seit der Mitte des XV. Jahrhunderts richteten die einzelnen Kirchen -
gemeinden ihr Augenmerk auf die Anschaffung bilderreicher Gesangsbücher (Cantionale), von
denen sich prächtige, meist dem XVI. Jahrhundert ungehörige Exemplare in vielen Städten
erhielten. Noch ins XV. Jahrhundert gehört das Kuttenberger (Prag, Bibl. Lobkowitz) und
das berühmte Leitmeritzcr Cantionale. Wie ungleichartig Werke derselben Alt ansgestattet
waren, zeigt das 1486 von Johann von Humpolec angefertigte Kuttenbcrger Missale neben
dem, welches der Illuminator Matthäus für den Hofmeister Smlsek von Vrchovisk (Wien,
kunsthistorisches Hofmuseum) vollendete. Fleißige und saubere Ausführung, die noch viel -
fach alte Anschauungen festhült, zeigen die für Ladislaus von Sternberg gemalten Hand -
schriften. Die Entwicklung der Buchmalerei in Böhmen, aus welche die ziemlich zahlreichen
einheimischen Illuminatoren den meisten Einfluß nahmen, blieb hier und da mit der
deutschen Kunst in Zusammenhang, wie z. B. die von Ulrich Bart in Magdeburg vollendeten,
1491 vom Stifte Tepl erworbenen Bilderhandschriften zeigen. Aber nach den Hnsitenkriegeu
ging die künstlerische Auffassung, die unter Karl IV. vorgcherrscht und in einer gewissen
internationalen Weise sich ausgebildet hatte, in einer immer mehr handwerksmäßigen unter.
364
iNalcrei unc> Elastik i)er Renaissance, der barock- und 2>ococozcit.
Über den Werken der Tafel- und Wandmalerei der heranbrechenden Renaissance -
periode waltete ein eigcnthümliches Schicksal: es hat sich ihrer verhültnißmäßig eine
geringere Zahl erhalten als ans den vorangehenden Zeiten, lind doch muß die Production
um die Wende des XV. Jahrhunderts eine immense gewesen sein, wenn wir nach der langen
Reihe von Namen, welche sich uns in den Städtebüchern und insbesondere in den Auf -
zeichnungen der Maler-Confraternität erhalten haben, schließen dürfen. Aber diese Nach -
richten, so willkommen sie sind, geben uns über die Entwickelung der Kunst selbst nur
geringen Aufschluß. Eine Unzahl von Künstlernamen lernt man kennen, aber keiner darunter
erfreut sich eines ruhmvollen Klanges; die Bruderschaft hält sie alle in ihrem Bann
und kennt keinen Unterschied zwischen großen und geringen Meistern, sondern nur
zwischen Ältesten und Zechmitgliedcrn. Die Ältesten brauchen eben nicht die Bedeutendsten
ihrer Kunst zu sein, wenn sie nur fromm, rechtschaffen, erfahren und sonst vertrauens -
würdig sind, lind wenn sich einer von den Vielen in seiner Zeit hervorgethan hat, so fehlte
es ihm an jener Ruhmbegierde, welche anderwärts den Meister dazu bewog, seinen
Namen am Werke selbst zu verewigen.
Selbstverständlich machen sich zunächst in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts
Einflüsse der niederländischen Malerschule geltend. Auf hervorragende Weise äußern sie
sich in den Wandmalereien einer vom Hofmeister Michael Smisek von Vrchovisk nach
dem Jahre 1485 ausgestatteten Kapelle der Barbarakirche in Kattenberg. Die Kreuzigung
Christi, Angustus und Sibylla, die Gerechtigkeit Trajans und die Begegnung Salomons
mit der Königin von Saba zeigen nahe Verwandtschaft mit ähnlichen Darstellungen der
niederländischen Malerschule und zugleich eine hohe Vollendung, wie man sie bei anderen
mehr oder weniger gleichzeitigen Wandmalereien, beispielsweise im Schlosse Blatna, in
der Burg Klingenbcrg, nicht antrifft.
Nach einer anderen Richtung macht sich der niederländische Einfluß in einer Serie
von Tafelbildern des Kreuzherren-Convents in Prag, welche um die Wende des XV. Jahr -
hunderts entstanden sind, bemerkbar. Die Darstellungen der beiderseits bemalten Tafeln
haben zumeist ans den Orden Bezug. Wie sich eine Darstellungsweise traditionell wieder -
holt, zeigt uns der Vergleich eines dieser Bilder, ans welchem die heilige Agnes mit dem
Großmeister, einen Kirchenbau haltend, dargestellt ist, mit der ähnlichen Darstellung des
berühmten Krenzherren-Psalters vom Jahre 1356.
Das Festhalten an alten Traditionen zeigt sich in anschaulicher Weise in den
zahlreichen Madonnenbildern, von denen einige erst dem Schlüsse des XV. und dem
Beginn des XVI. Jahrhunderts angehören. Eines der schönsten und bestcrhaltenen
365
Madonnenbilder, nach dem Vorbilde der Hohenfurter Madonna gemalt, befindet sich in
dem Kapuzinerkloster zu Raudnitz und trügt die gepunzte Inschrift: „Letha N06L66 XIll.
13. V." (Im Jahre 1513. L. I).). Ein Monogramm wie in diesem Falle kommt sonst
selten vor. Raudnitz ist überhaupt so glücklich, zahlreiche aus verschiedenen Perioden
stammende Tafelbilder zu besitzen; unter den Bildern der dortigen Probstkirche fesselt uns
unwillkürlich eine Folge von Passionsbildern. Es ist etwas ungemein Originelles in
diesen Semen, welche uns bald durch die urwüchsige und edle Ausdrucksweise anziehen,
bald durch das Übermaß des Grauenvollen abstoßen, aber doch gefangen halten. Die
bewegten Semen, wo Christus vor Kaiphas und Pilatus geführt wird, wo er als
blcee Iromo dem Hohne des sich zusammenrottenden Volkes preisgegeben wird, sind neben
der Grablegung die besten Leistungen der ganzen Reihe. Die ganze Folge, welche bereits
im Ornamentalen den ausgesprochenen Renaissancestil anfweist, ist wohl am Beginn des
XVI. Jahrhunderts entstanden und soll von einem auseiuandergelegten Flügelaltar her -
rühren. Zahlreiche dieser Zeit ungehörige Flügelaltäre mit Passionsbildern und Dar -
stellungen aus dem Leben Mariens kommen noch in zumeist dem Verkehr abgerückten
Orten und Dörfern vor, so in dem Kirchlein zu Libisch, in der Kirche zu Slavetin, welche
einen von Wenzel Sokol von Mor im Jahre 1531 gestifteten, mit Schnitzereien reich
verzierten Flügelaltar birgt. Auch das Diöcesan Museum in Leitmeritz enthält Arbeiten
dieser Zeit. Sowohl künstlerisch als auch kulturhistorisch interessant ist der im Rathhause
zu Neubydzov befindliche, um das Jahr 1530 entstandene Flügelaltar, welcher in der
Mitte das Abendmahl Christi, auf den Flügeln die Gestalten zweier husitischer Priester,
des Pfarrers Wenzel und seines Bruders Jan, trügt.
In einigen Gemälden dieser Zeit ist der Einfluß Dürers unverkennbar; der durch
die zahlreichen Beziehungen zu Nürnberg und durch die unter der Regierung Ferdinands I.
eingetretenen Verhältnisse geforderte Einfluß der fränkischen Malerschule beschränkt sich
wesentlich auf das zweite Viertel des XVI. Jahrhunderts und weicht in der zweiten Hälfte
desselben der Richtung der italienischen und alsdann der niederländischen Maler. Neben der
Dürer'schen Richtung macht sich insbesondere in den nördlichen, von deutscher Bevölkerung
bewvhnten Gegenden Böhmens der Einfluß der sächsischen Schule Krauachs bemerkbar.
Eine ganz interessante Erscheinung ist ein im Norden Böhmens vorkomnicuder
Künstler, von dessen Hand ein in der Kirche zu Selau bei Kaaden befindlicher Flügelaltar
herrührt; seinen Namen kennen wir nicht, doch hat er wenigstens sein Werk mit den
Anfangsbuchstaben desselben I. IV. und der Jahreszahl 1526 signirt. Die Darstellungen
der Innenseite sind dem Leben Mariens entnommen, während an den Außenseiten der
Flügel die fast lebensgroßen Gestalten der Landespatrone Böhmens erscheinen. Die
Malereien sind kraftvoll und saftig, die großen Gestalten, wie z. B. der in voller
366
Turnierrüstung auftretende heilige Wenzel von packender Natürlichkeit. Ein aus Melnik
stammendes Bild, welches den Erlöser zwischen den Gestalten des Todes und des knienden
Donators darstellt, trägt dieselbe Signatur nebst der Jahreszahl 1539 und liefert den
Beweis, daß die Thätigkeit dieses Meisters eine ziemlich ausgedehnte war.
Einen tieferen Einblick bietet die Kunst der Illuminatoren, welche sich in Böhmen
seit jeher einer allgemeinen Gunst erfreute und ununterbrochen gepflegt, feste Wurzeln
faßte. Ziemlich früh macht sich hier der Renaissancestil geltend; in einem Lobkowitz'schen
Gebetbuche vom Jahre 1404 kommen neben den althergebrachten Motiven auch solche
der ausgesprochenen Renaissance in der Art Atavante's vor und eine Reihe von Werken,
welche am Beginn des XVI. Jahrhunderts im Auftrag eines bedeutenden Kunstmäcens,
Ladislaus von Sternberg, Herrn auf Bechyn, Kanzler des Königreiches Böhmen,
ansgeführt wurden, weist gleichfalls neben traditionellen ornamentalen Motiven
Einflüsse der Renaissance auf. In dem, im Jahre 1500 von Jakob von Olmütz auf dem
Schlosse zu Bechyn geschriebenen und gemalten, gegenwärtig in den Kunstsammlungen
des Allerhöchsten Kaiserhauses aufbewahrten Graduale kommt die Renaissance noch nicht
voll zum Durchbruch, dagegen ist dies der Fall bei zwei kleineren, in böhmischer Sprache
geschriebenen Werken, welche zu dem Schönsten zählen, was die böhmische Miniaturmalerei
in dieser Richtung geschaffen hat. Es ist dies das Leben des heiligen Franciscus,
gegenwärtig im Besitz des Grafen Czernin, und ein in der Sammlung des Herrn
Dr. Figdor in Wien befindliches Breviarium im Jahre 1505 von Ägidins von Ratibor,
Priester des Prediger-Ordens zu Pilsen, geschrieben. Ein viertes, noch erhaltenes Werk,
der prächtige umfangreiche böhmische Codex: Das Leben der heiligen Wüsten -
bewohner, im Jahre 1516 entstanden, liefert ein Beispiel, wie man die Renaissanceformen
der in die Breite sich ergehenden Weise der alten ornamentalen Motive anznpassen verstand.
In allen diesen Werken kehrt die Gestalt des Stifters wieder und in allen kommt die
Darstellung der Stigmatisirung des heiligen Franciscus vor, welcher sich einer besonderen
Verehrung von Seite des Donators erfreute.
Daß Renaissancemotive zuerst in katholischen Andachtsbüchern auftanchen, ist
durch den innigeren Contact der katholischen Glaubenspartei mit Italien wohl erklärlich.
Dagegen dauert es ziemlich lange, ehe die Renaissance auch in den kolossalen
utraqnistischen Gesangsbüchern Eingang findet. Es sind das Werke ganz eigener Art,
untereinander nahe verwandt und doch verschieden und immer von einem ausgesprochenen
volksthiimlichen Charakter. Nur Norditalien hat in seinen riesigen Choralbüchern etwas
Ähnliches hervorgebracht. Die aus dem ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts stammenden
Cantionale sind durchwegs in lateinischer Sprache abgefaßt, erst nach und nach tritt
die böhmische an ihre Stelle. Die schwungvoll behandelten Initialen und Randleisten,
in bunten Farben und Gold prangend, bilden die Hauptzierde der ganzen Ausstattung,
welche einen wahren Schatz von ornamentalen Motiven bietet.
Der derbe und ungezügelte Humor, der sich in den aus dem Schlüsse des XV. Jahr -
hunderts herrührenden Arbeiten öfters zu breit macht, weicht nach und nach einer
368
weihevollen Würde oder einer fröhlichen Laune, welche nichts Aufdringliches besitzt. An der
Spitze dieser Arbeiten steht das in den Jahren 1491 bis 1493 von Matthäus Illuminator
für den Knttenberger Hofmeister Michael Smisek von Vrchovisi gemalte Cantionale (in
den Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses in Wien) und ein ziemlich gleich -
zeitiges, ähnliches, gleichfalls aus Kuttenberg stammendes Werk in der Hofbibliothek in
Wien. Es folgen dann das kolossale Cantionale der fürstlich Lvbkowitz'schen Bibliothek
zu Prag, das Cantionale der Stadt Jungbunzlau vom Illuminator Janicek
Zmilely aus Plsek gemalt, ein stilverwandtes Werk zu Königgrätz von dem reichen
Bürger Johann Franus im Jahre 1505 gestiftet, das Graduale der Stadt Deutschbrod,
im Aufträge des Nikolaus Trcka von Lipa von Paul Melnicensis 1506 geschrieben, und
jenes der Stadt Leitmeritz, von Jakob Ronovsky von Welgenau und Wenzel von Repnitz
gestiftet. Ein großes Bild in dem letzteren stellt die Verbrennung des Hus vor, eine
Darstellung, welche zur Zeit der Gegenreformation aus den meisten der anderen Chor -
bücher entfernt worden ist. Sonstige Darstellungen haben auf den Inhalt der Gesänge
Bezug; bei den meisten hat sich eine traditionelle Darstellnngsweise festgestellt, hier und
da greifen die Illuminatoren zu den Stichen Schongauers, später auch Dürers und
bedienen sich derselben, falls die Auffassung ihrem Geiste entspricht, als Vorbilder, ein
Verfahren, welches zu jener Zeit auch in der deutschen und italienischen Kunst nicht zu
den Seltenheiten gehört.
Der Gebrauch der Gesangbücher war ein äußerst ausgedehnter; bei jeder Kirche
bestand ein Literatenchor, zu dessen Bedürfnissen ein schön geschriebenes Cantionale
gehörte. Nach Abschaffung der lateinischen Gesänge begann die Production von neuem.
Während in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts einzelne reiche und angesehene
Männer das ganze Werk stiften, ist es in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts
Ehrensache der ganzen Gemeinde, ein solches zu beschaffen; die Innungen, Bürger
und Bürgerssrauen, Patrizier und kleine Leute, selbst Bauern aus der Umgegend trugen
das Ihrige dazu bei, daß das seltene Buch sich zu ihrem Andenken und zum Ruhme
der Gemeinde so glänzend als möglich gestalte. Es liegt ein eigenthümlicher Zauber
darin, in diesen Folianten zu blättern, man sieht das Werk entstehen und wachsen, der
Ort und seine Bewohner treten uns leibhaftig entgegen, wir lernen das Leben und
Weben eines gottesfürchtigen Geschlechtes kennen und lauschen manchen intimen Charakter -
zug den alten Pergamentblättern ab. Selbst Werke von geringerem künstlerischen Werth
erhalten hierdurch etwas Anziehendes, vom culturhistorischen Standpunkte sind sie alle von
Wichtigkeit. Der massenhafte Bedarf dieser Chorbücher hatte schließlich eine Fabrikation
im Großen zur Folge. Schon Paul von Melnik scheint die Ausstattung derselben
handwerksmäßig betrieben zu haben. Ein Cantionale seiner Hand in der Bibliothek des
Miniatur aus einem lateinischen Cantionale von Jungbunzlau. (Um 1500.)
Museums des Königreiches Böhmen und insbesondere sein spätestes Werk, das lateinische
Cantionale von Laun vom Jahre 1530, stehen nicht auf derselben Höhe wie das Graduale
von Deutschbrod. Allerdings war hier ein Trcka der Stifter.
Eine förmliche Anstalt zur Anfertigung von Chorbüchern ist durch Johann Taborsky,
den kundigen Schreiber und Mathematiker, welcher für seine Verdienste von Ferdinand I.
das Prädicat von Klokotskä Hora erhalten, ins Leben gerufen worden. Im Jahre 1500
geboren, kommt er zuerst im Jahre 1530 vor, in welchem er das Register des älteren
Chrudimer Cantionales verfaßt und mit seinem Monogramm signirt. Aber erst in der
zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts werden Cantionale seiner Werkstätte häufiger. Der
vorzüglichste Meister, dessen er sich bedient, ist Fabian Puler, welcher mit bewnnderns-
werther Leichtigkeit und Bravour schuf und dem es nicht an entschiedenem Compositions-
talent fehlt. Obenan steht das in lateinischer Sprache im Jahre 1551 geschriebene Chorbuch
der katholischen Metropolitankirche zu Set. Veit in Prag, es folgen die böhmischen
utraquistischen Cantionale von Luditz aus dem Jahre 1558, von Laun aus dem Jahre
1563 und von Caslau (gegenwärtig in der Hofbibliothek zu Wien) aus dem Jahre 1565.
Ein besonderes Interesse bietet das prachtvolle Graduale von Luditz, indem es verzeichnet,
was die Malerei jedes einzelnen Blattes gekostet, was für Pergament und Einband
verausgabt worden. Der Gesammtaufwand für das gegen 500 Blatt zählende Werk betrug
über 283 Schock Meißener Groschen: gewiß keine unerhebliche Summe für eine kleine Stadt.
Allerdings rühren nicht alle in den genannten Büchern enthaltenen Malereien von der
Hand Pnlers her, einiges dürfte Taborsky selbst gemalt, anderes geringeren Händen
überlassen haben. Auch auf dem Gebiete der Tafelmalerei war nachweislich Puler thätig,
aber leider hat sich keines seiner Werke dieser Art erhalten. In anderen bei Taborsky
verfertigten Cantionalen machen sich andere Hände, welche mehr die traditionelle Weise
bewahren, bemerkbar, so in den von Matthias Pecka von Klattau geschriebenen böhmischen
Cantionalen von Teplitz vom Jahre 1560 und 1566 und von Klattau vom Jahre 1560.
Böhmen. ^
Johann Taborsky, welcher noch in seinem 70. Lebensjahre die astronomische Rath-
hansnhr beaufsichtigte und im Jahre 1570 eine Beschreibung derselben, welche sein eigenes
und auch wohl eigenhändiges Porträt enthält, verfaßte, fand in Johann Kantor Stary
in der Neustadt Prags einen Nachfolger, welcher gleich ihm zahlreiche Maler beschäftigt
zu haben scheint. Aus seiner Offizin stammen unter Anderem die böhmischen Cantionale
der Stadt Jungbunzlau vom Jahre 1572, der Kleinseite Prags vom Jahre 1572 und die
Lomnitzer Gesangbücher vom Jahre 1580 bis 1583. Der künstlerische Werth dieser
Werke ist nicht gleichmäßig und der Stil der Malereien zeigt bereits eine Umwandlung;
sowohl in der Ornamentik der Initialen als auch im Figürlichen macht sich der nieder -
ländische Einfluß geltend.
Neben Taborsky ist auf diesem Gebiete Matthäus Ornys, von Ferdinand I. 1562
mit dem Prädicate „de Lindperk" bedacht, eine der interessantesten Erscheinungen; derselbe
bekleidete das Amt eines Geometers des Königreiches Böhmen und wußte ebenso gut den
Pinsel wie den Zirkel zu führen. Den Beweis liefern seine Malereien in den böhmischen
Gesangsbüchern von Leitomischl vom Jahre 1563 und Trebnitz vom Jahre 1575. Seine
Darstellungsweise ist kraftvoll und lebendig. Ein gewisser alttestamentarischer Charakter -
zug, welcher den bibelfesten husitischen Gemeindemitgliedern zusagte, äußert sich in seinen
Werken und manche aus dem Leben gegriffene Scenen lassen an Anschaulichkeit nichts zu
wünschen übrig. Dabei steht er im Ornamentalen den Italienern am nächsten und in
manchen Versalien und Cartouchen des Trebnitzer Cantionales kommen bereits barocke
Motive zum Vorschein, wie sie sich zu jener Zeit nur in Italien finden.
Der Einfluß der italienischen Malerei, welcher sich in der zweiten Hälfte des XVI.
Jahrhunderts geltend macht, wurde selbstverständlich durch die Gegenwart italienischer
Künstler nur gefördert. Zur Zeit des Erzherzogs Ferdinand finden wir auch den Hofmaler
Francesco Terzio in Prag mit verschiedenen Entwürfen beschäftigt. Es gilt den Orgelfnß
in der Domkirche auszustatten, die Sigismundkapelle dvrtselbst ausznmalen, Skizzen für
dieses und jenes zu liefern.
Auch in den Landstädten und auf Schlössern tauchen italienische Maler auf und
machen den einheimischen starke Concurrenz. Um das Jahr 1565 finden wir besonders
einen Baptista de Testo mit Aufträgen auf dem Lande viel beschäftigt. In Prag war wohl
die gegenseitige Eifersucht keine geringe, und Fälle, wo böhmische und deutsche Maler ihr
Lob den Italienern nicht vorenthalten, werden als etwas Außergewöhnliches angeführt.
Aber schon zur Zeit Maximilians erschienen auch die Niederländer auf dem Schauplatze,
zuerst in Wien zwei junge Künstler, der Maler Bartholomäus Spranger und der
Bildhauer Johann de Monte. Nach dem Tode Maximilians kommen beide nach Prag und
während der letztere bald verschwindet, weiß sich der erste zu behaupten; in Prag seßhaft,
371
von Rudolph II- zum Hofmaler ernannt und 1595 in den Adelsstand erhoben, bildet er den
Mittelpunkt der ganzen nachfolgenden Künstlergesellschaft. In erster Reihe sind dies der
Kupferstecher Ägidius Sadeler, gleich Spranger aus Antwerpen gebürtig, der Maler Hans
van Achen, welcher ebenfalls zum Hofmaler Rudolphs II. ernannt wurde (gestorben in
Miniatur aus dem böhmischen Cantionale des Literaten-Chors in Chrudim (1570).
Prag 1615), dann die Maler Johann Rottenhammer, Joseph Heinz, Jakob Hoefnagel,
Noelant Saverij und viele andere. Einige hielten sich nur zu Lebzeiten Rudolphs II. in
Prag auf und verließen es, als sich mit seinem Tode die Verhältnisse änderten. Dagegen
blieben Spranger und van Achen bis an ihr Lebensende in Prag thätig und ihre Werke
übten einen entschiedenen, ziemlich anhaltenden Einfluß, welcher noch durch die Stiche
24*
372
Sadelers gefördert wurde. Zahlreiche Porträts Rudolphs II., seiner Künstlerschaar, seiner
Hofleute, verdanken der Trias: Spranger, van Achen und Sudeler ihren Ursprung.
Eine Anzahl religiöser Bilder gesellt sich den Bildnissen zu, doch in diesen liegt nicht das
Hauptgewicht der Schule. Mythologische Darstellungen, mit Vorliebe erotische Scenen
behandelnd, die verschiedenen Allegorien der Tugenden, der sieben freien Künste, der
Welttheile, der Elemente und der Planeten, Darstellungen verschiedener Beschäftigungen
und Lustbarkeiten, das ganze Wissen und Treiben der Zeit in anschaulicher Form, —
das ist der eigentliche Bilderkreis der höfischen Kunst, welcher, durch die Richtung des
Studiums, der Literatur gefördert, über die Wälle Prags hinüberdringt und in den
Sälen der Schlösser und Rathhäuser, an den Fanden, an Thürmen und Thoren immer
wiederkehrt.
Neben den fremden höfischen Künstlern bethätigen sich einheimische, zur Confrater-
nität zählende Maler. Im Jahre 1598 werden die Satzungen neu festgesetzt und bereits
im Jahre 1595 die Malerei zur freien Kunst erhoben. Unter den heimischen Künstlern
erfreuen sich Simon Hntsky von Bürglitz und Daniel Alexius von Kvetna, welcher die
erzbischöfliche Kapelle in Prag ausgemalt hat, eines guten Rufes.
Ein gewisses Festhalten an alten Traditionen ist in den Arbeiten heimischer
Künstler mit niederländisch-wülschen Einflüssen vermischt. Dies gilt auch von den
Malern und ihren Werken auf dem Lande, außerhalb Prags. Eine ganze Schaar von
Malern treffen wir in Südböhmen, zumeist in Rosenberg'schen Diensten thätig. Bald sind
es Einflüsse der niederländischen, insbesondere Spranger'schen Richtung, bald directes
Anlehnen an die italienische Kunst, welche sich hier bemerkbar machen. Als Beispiel
ersterer Art mag die ziemlich gut erhaltene Ausstattung des großen Saales auf dem
Schlosse zu Rosenberg gelten. Die mythologischen Gruppen, die Darstellungen aus dem
menschlichen Leben von der Wiege bis zum Grabe, sind ebenso charakteristisch wie die in
einem andern Gemach daselbst befindlichen Darstellungen der Planeten.
Ähnlich gestalten sich die Verhältnisse in anderen Gegenden, aber Hervorragendes
trifft man allerdings selten an. Eine Künstlergestalt verdient jedoch besondere Beachtung,
der Chrndimer Maler Matthäus Radons, dessen Leistungen die Thätigkeit einer
kleinen Loealschule, die sich in Chrudim während des XVI. Jahrhunderts herangebildet
hat, würdig abschließen. Allem Anschein nach gehören die Malereien des böhmischen, im
Jahre 1570 entstandenen Cantionale, welche sich in den fignrenreichen Compositionen
dem Besten was Pulör geleistet hat, an die Seite stellen, seiner Hand an; sicherlich sind
als seine Werke die farbenprächtigen böhmischen Gesangbücher der Stadt Königgrätz, in
den Jahren 1585 bis 1604 entstanden, beglaubigt. Zahlreiche Lehrlinge versammeln sich
um den Meister, welcher als Typus eines Landstadtmalers und zugleich als der
373
bedeutendste von allen hingestellt werden kann. Die heranbrechenden Kriegsjahre zer -
streuen die Schaar und beeinträchtigen auch die Thätigkeit des Meisters, welcher, um
ans seiner Vaterstadt nicht scheiden zu müssen, hochbetagt znm katholischen Glauben über-
trat und im Jahre l63b starb.
Ein Fach ist es, welches vorzugsweise von diesen Meistern der Landstädte geübt
wird, das Herstellen von Epitaphien, welche das Andenken der Verstorbenen zu ehren
bestimmt sind. In Friedhofkirchen, sowie ab und zu auch an den Wänden und Pfeilern
der Hauptkirchen oder in den Sacristeien derselben aufgehängt, enthalten sie gewöhnlich
auf Tod und Auferstehung bezughabende Darstellungen mit den knieenden Gestalten der
Verblichenen. Selbst ein Spranger hielt es nicht unter seiner Würde, seinem Freunde
Michael Peterle von Annaberg für die Stephanskirche in Prag ein Epitaphium zu malen,
und schuf in dem gewaltigen, über den Tod triumphirenden Christus eines seiner besten
und ergreifendsten Bilder.
Das Grabdenkmal, bald in Form einer Tumba, bald als Epitaphium gestaltet,
spielt auch in der Entwicklung der plastischen Künste eine bedeutende Rolle. Die Tumba-
form, wie sie sich in den Premyslidengräbern zur Zeit Karls IV. ausgeprägt, bleibt immer
nur den Hohen und Höchsten Vorbehalten. In die Mitte einer Kirche gestellt, entbehrt sie
nicht, selbst bei einer weniger vollkommenen Durchführung, wie dies bei dem Grab -
denkmal des Johann von Pernstein in der Kirche zu Pardubitz der Fall ist, eines würde -
vollen Eindrucks. Zur vollendeten Durchbildung gelangt diese Form in dem glänzenden
Mausoleum der Domkirche in Prag, welches auf Geheiß Maximilians II. von Alexander
Collin in den Jahren 1564 bis 1589 hergestellt wurde; ursprünglich für die Eltern
Maximilians bestimmt, sollte es nur die Gestalten derselben tragen, aber nach dem früh
erfolgten Tode Maximilians wurde auch seine Porträtfignr den auf der Tumba liegenden
Gestalten zugescllt.
Unter den zahlreichen Epitaphien ans Stein, die insbesondere im nördlichen
Böhmen häufig Vorkommen, findet man nicht selten ganz bedeutende Arbeiten, wie es zum
Beispiel mit dem Grabmale Wolfs von Salhanseu vom Jahre 1589 in der Kirche zu
Bensen, den Sculptnren in Waltirsch, den Grabdenkmälern des Friedrich und Melchior von
Redern aus den Jahren 1565 bis 1566, beziehungsweise 1610 in Friedland, den Epitaphien
der Brozansky von Vresovitz vom Jahre 1583 und 1588 in der Kirche zu Brozan und
anderen der Fall ist. Interesse erregen auch die in und neben der Martinitz'scheu Kapelle
der Domkirchs in Prag befindlichen Grabsteine der Herren Johann und Georg von
Lobkowitz, von welchen ersterer laut eines im Jahre 1581 abgeschlossenen Vertrages
von Vincenz Strasryba, Steinmetzen in Laun, welcher vor dem Jahre 1594 über der
Arbeit starb, ausgeführt wurde. In diesen Arbeiten lernen wir Strasryba als einen der
374
tüchtigsten Steinmetze kennen, bedeutend genug, um in der Kunstgeschichte ermähnt zu
werden. Um so mehr lassen uns diese Arbeiten den Verlust des von ihm in seiner Vater -
stadt Lauu im Jahre 1574 errichteten Brunnens beklagen, welcher als ein Meisterwerk
gepriesen wurde.
Noch ein Verlust muß hier leider verzeichnet werden, um so trauriger, als er erst
in neuererZeit verschuldet worden ist: die Zertrümmerung des schönen steinernen Brunnens,
welcher 1590 bis 1593 unter Primator Wenzel Krocln von Drahobejl errichtet, eine
Zierde des Altstädter Ringes bildete. Nur wenige Überreste des Werkes haben sich in
das böhmische Landesmuseum gerettet. Den Arbeiten Strasrybas verwandt, mußte der
Brunnen von einem ihm ebenbürtigen Meister herrühren, falls er nicht das Werk seines
Meißels gewesen.
Während es Sache des Steinmetzen war, die Märkte und Ringe mit großen,
steinernen Brunnen zu versehen, siel dem Erzgießer die Aufgabe zu, Gärten mit Fontaine»
zu schmücken. Die Thätigkeit eines Erzgießers des XVI. Jahrhunderts war mitunter recht
vielseitig; es handelt sich nicht immer um Werke der hohen Kunst, das Gebiet des Kunst -
gewerbes nebst jenem des Waffenwesens treten vielmehr in den Vordergrund. Einer der
vielseitigsten und begabtesten, welche in Böhmen gewirkt haben, war Thomas Jaros,
gebürtig aus Brünn. Im Jahre 1547 (?) von Ferdinand I. zum königlichen Büchsen -
meister bestellt, erscheint er vom Jahre 1548 ununterbrochen beschäftigt. Die größten und
schönsten Glocken rühren aus seiner Werkstätte her, dann liefert er verschiedenes Geschütz
und sein Werk ist auch der schöne „singende Brunnen", welcher den königlichen Schlvß-
garten am Hradschin ziert. In einem Nntirssis bollemien betitelten Manuscript der Prager
Universitätsbibliothek befindet sich unter verschiedenen Anleitungen über Guß von Kanonen
und Mörsern, Glocken und Kannen eine Zeichnung des besagten Brunnens mit der
böhmischen Inschrift: „Dieser Brunnen ist am Schlosse zu Prag gefertigt worden im
Jahre 1554 bis zum nennten Jahre und er ist gefertigt worden von Meister Thomas dem
Büchsenmeister und von mir Wawrinec Krziczka von Bytyßka, da habe ich selbst alle
Figuren ausbereitet und Wolf der Büchsenmeister hat geformt und mit einander haben
wir ihn gegossen." Diese Nachricht hat sich als richtig erwiesen, nur was die Jahreszahl
betrifft, hat der Verfasser einen lapsns naainorine begangen, welcher zu verschiedenen
Deutungen Anlaß gab. Anstatt 1554 soll es einfach 1564 heißen. Im Jahre 1563 wurde
der Gedanke gefaßt, einen Brunnen ansznführen und der Maler Francesco Terzio bekam
den Auftrag, eine Skizze ansznführen, welche anscheinend nicht zur Durchführung gelangte.
In den Jahren 1564 bis 1569 wurde das Werk vollbracht, aber erst nach dem im Jahre
1570 erfolgten Tode des Meisters Thomas Jaros im Schloßgarten aufgestellt. Nebst dem
von Vavrinec Kricka, welcher in den Rechnungen als Lorenz Kandler, „Mitbürger in der
Der eherne Brunnen im Schloßgarten zu Prag.
Neustadt" auftritt, angeführten Meister Thomas, welcher das Ganze leitete, und Wolf
Hofprngger, welcher nach Jarosens Tode znm königlichen Büchsenmeister bestellt wurde,
waren bei dem Zustandekommen des Werkes Hans Peiser und Anthoni de Campion
betheiligt, von welchen der erstere das Modell zum Untersatz und unteren Becken, der
letztere jenes für das obere Becken und den „Sackpfeifer" hergestellt hat.
376
In einem anderen Falle wurde ein Gartenbrunnen im Ausland bestellt. Im Jahre
1599 ließ Herr Johann Lobkowitz bei Benedikt Wurzelbauer in Nürnberg einen Brunnen
für seinen am Hradschin gelegenen Garten Herstellen; der Brunnen, im Jahre 1600 auf -
gestellt, wurde im Jahre 1648 von den Schweden mit anderer Beute weggeschleppt, und
nach mannigfachen Schicksalen gelangte schließlich die von demselben herrühreude Gruppe
Venns und Amor darstellend in den Besitz des kunstgewerblichen Museums in Prag als
Geschenk des Fürsten Johann von Liechtenstein.
Aber das Bedeutendste, was in dieser Art in Prag hervorgebracht wurde, waren die
Bildwerke, welche Adrian de Vries für den Wallenstein'schen Garten schuf. Angeblich seit
1590 in Prag thätig, hatte er daselbst im Jahre 1593 die gegenwärtig im Louvre zu Paris
befindliche Gruppe „Merkur mit Pandora" vollendet und bald folgten verschiedene Arbeiten,
darunter Porträtbüsten Rudolphs II. nach. Abermals finden wir de Vries in Prag in den
Jahren 1622 bis 1627, und diesmal sind es die zahlreichen Figuren, Gruppen, Vasen,
welche ans seiner Werkstätte hervorgingen, um den prunkvollen Garten des neuerbauten
Palastes des mächtigen Feldherrn Albrecht von Wallenstein zu zieren. Aber noch derselbe
Krieg, welcher zu diesen bedeutenden Schöpfungen gewissermaßen Anlaß gab, hat sie
ihrem ursprünglichen Standorte entrückt, indem sie im Jahre 1648 von den Schweden
in ihre nördliche Heimat weggeschleppt werden, wo sie bis heute eine Zierde des königlichen
Schlosses Drottningholm bilden.
Die unter der Ägide des großen Friedländers entstandenen Werke sind die letzten
bedeutenderen Leistungen, welche die erste Hälfte des XVII. Jahrhunderts hervorgebracht
hat. Die bewegten Jahre des dreißigjährigen Krieges, welche so vielen Kunstdenkmalen
ihren Untergang bereitet haben oder doch wenigstens sie dem Boden, wo sie entstanden,
entführten, haben der weiteren Entwickelung der Kunstthütigkeit ein jähes Ende gebracht.
Unter der Unzahl jener, welche dem Glauben ihrer Väter nicht entsagen wollten oder
überhaupt durch die eingetretenen Verhältnisse sich genöthigt sahen, das Land zu ver -
lassen, waren viele bedeutende Männer von Talent, darunter auch Männer der Kunst. Der
bedeutendste Kupferstecher Böhmens, Wenzel Hollar von Prachno, wirkte als Exulant in
London, und aus einer der Gemeinde der böhmisch-mährischen Brüder angehörenden
Emigranten-Familie entstammt Johann Kupeeky (in der Brüder-Colonie zu Bösing in
Ungarn 1667 geboren), welcher sich nicht selten gleich Hollar als natioirv Uollomus zu
bezeichnen pflegt. Einer Emigranten-Familie entstammt auch Karl Skrcta Sotnovsky
von Zävoritz, welcher es vorzog zum katholischen Glauben überzutreten, und nachdem
er in Italien sich in der Malerei ausgebildet, in seine Heimat zurückzukehren, wo er bereits
im Jahre 1644 auftrat und alsdann Gelegenheit fand, eine erfolgreiche Thätigkeit zu
entwickeln.
377
Als mit dem westfälischen Frieden ruhigere Zeiten eingetreten waren, füllten sich
die verödeten Kirchen wieder mit neuen Altären, von welchen manche zur Erinnerung an
das denkwürdige Ereigniß errichtet wurden. Auch hatte der katholische Glauben mittlerweile
von den ehemals zumeist ntraquistischen Gotteshäusern Besitz genommen und man ging nun
Karl Slreta: Porträt eines Unbekannten.
daran, dieselben entsprechend einzurichten. Das Anstößige hatte man schon früher entfernt
und der ganze Umschwung trug bedeutend dazu bei, daß sich von den Werken des XV. und
XVI. Jahrhunderts, insbesondere in Prag, so wenig, ja nahezu gar nichts erhalten hat.
Die bald nach dem Jahre 1648 entstandenen Altäre zeigen eine ziemlich gleichmäßige
Behandlung. Das schwarz mit Gold gehaltene Gerüst ist architektonisch gegliedert und
378
baut sich nicht selten in zwei Etagen ans; die zahlreichen holzgeschnitzten Figuren gehören
mitunter zu dem Besten, was in dieser Art in Böhmen geschaffen wurde, sie haben noch nicht
die barocke Haltung der späteren Arbeiten, klingen vielmehr in ältere Traditionen aus.
So war das Gerüst beschaffen, zn welchem Skreta und seine Zeitgenossen, wie
Mathias Zimbrecht und andere, ihre Altarblätter lieferten. Es wäre in vielen Fällen
ungerecht, wenn man ihre Kunst nach dem gegenwärtigen Zustande der Bilder messen
wollte; dieselben sind mit der Zeit stark nachgednnkelt und niit Staub bedeckt worden,
oder wie dies bei den Bildern Skretas in der Leitmeritzer Kathedrale der Fall ist, wurden
die Farben von den Sonnenstrahlen nahezu aufgezehrt, und in den meisten Fällen
haben noch unberufene Hände unter dem Vorwände liebevoller Restauration zur Verderbniß
beigetragen. Nur in Ausnahmesällen ist der Zustand ein weniger bedauernswerther.
Skreta schloß sich während seines Aufenthaltes in Italien gänzlich der Richtung der
Eklektiker an und setzte seine Zeitgenossen durch seine Eigenschaft, sich fremde Malweise
anzueignen, in Staunen. Es gibt kaum einen bedeutenden Künstler Italiens des XVI.
Jahrhunderts und vom Beginn des XVII. Jahrhunderts, welcher nicht in der Liste jener
vorkäme, deren „Manier" nach dem Dafürhalten seiner Zeitgenossen Carlo Screta, wie er
sich zu unterschreiben Pflegte, täuschend nachgeahmt hat. In günstiger Weise tritt in seinen
besten Leistungen, wie in dem Hochaltarblatt der Maltheserkirche in Prag eine gewisse
Hinneigung zn der venetianischen Schule hervor. Bedeutend sind seine Leistungen im
Porträtfach, welche zumeist auch bedeutende Persönlichkeiten vorführen; die hohe
Geistlichkeit ist darunter selbstverständlich vertreten, insbesondere durch jene Männer,
welche der Kunst gewogen waren, wie der Administrator des Maltheser-Priorats Bernard
de Witte oder der erste Bischof von Leitmeritz Maximilian Rudolph von Schleinitz. Das
gespreizte Wesen, welches in den Leistungen der früheren Generation, wie beispielsweise
des Hofmalers Ferdinands III. Luyx von Luxenstein vorherrscht, ist in den Bildnissen
Skretas völlig abgestreift; die natürliche Haltung, der lebendige Ausdruck, der warme Ton
zeichnen diese Bildnisse von jenen der früheren Generation aus.
Der gewaltige künstlerische Aufschwung, dessen Anfänge in seine Lebenszeit fallen,
hatte zurFolge, daß am Schluß des XVII. Jahrhunderts Prag von fremden Künstlern nahezu
überflutet wird und daß selbst auf dem Lande bei den kunstsinnigen Adeligen und Prälaten
Künstler stete Verwendung finden. Unter den gegen Schluß des XVII. Jahrhunderts
seßhaft gewordenen fremden Künstlern sind Rudolph Byis, Johann Onghers, Jan Valerij
Callot zu nennen, und denselben gesellen sich zahlreiche Maler zu, welche aus dem damals
noch zur Krone Böhmens gehörenden Breslau stammend mit Recht den heimischen Künstlern
beigezählt werden können. Johann Christoph Liska, Georg W. Nennherz, Johann Georg
Heintsch und Franz L. Palcko sind die bedeutendsten unter ihnen.
379
Ein heimischer Künstler, Peter Brandl 1668 in Prag geboren, übertrifft sie jedoch
alle an Originalität und künstlerischem Können. Von ihm rührt eine Unzahl von Altar -
blättern sowohl in den Kirchen Prags, als auch auf dem Lande her. In Prag ist er insbesondere
Peter Brandt - Selbstporträt.
in der Carmeliterkirche und bei St. Jakob mit mehreren Werken vertreten, auf dem Lande
hat er namentlich in Kuttenberg, wo er eine Zeit lang sich aufhielt und für das benach -
barte Kloster Sedlec zahlreiche Altarblätter lieferte, eine umfassende Thätigkeit entwickelt,
welche auch daselbst durch seinen im Jahre 1735 erfolgten Tod ihren Abschluß fand.
Seine Himmelfahrtsbilder, seine Visionen sind schwungvoll, seine Martyrien mit brutaler
380
Kraft gemalt. Das Colorit war ursprünglich von klarer, leuchtender Farbe, wie es beispiels -
weise bei dem Simeon und Anna darstellenden Bilde bei den Karmelitern in Prag der
Fall ist; erst in späterer Zeit scheint er sich die tiefe Farbenstiminung angeeignet zu haben,
welche im Einklang mit der Wahl und Behandlung der Gegenstände einen der spanischen
Schule verwandten Zug verräth. Derselbe kommt noch nachdrücklicher bei seinem Zeit -
genossen Palcko, welcher eine Vorliebe für visionäre Darstellungen und asketische Heilige
hat, zum Vorschein.
Besonders ein Zweig der Malerei, die Freskotechnik, wurde in Böhmen zu einer
hohen Stufe der Vollendung gebracht. Die gewaltigen Gewölbe und Kuppeln der Kirchen,
die Plafonds der Refectorien und Prachtsäle erforderten einen prunkvollen Schmuck, und
die Kunst eines Pozzo und eines Tiepolo hatte etwas Verführerisches an sich. Der Richtung
derselben leisten die Theoretiker und Pcrspectivmaler wie Ferdinand Galli-Vibiena und der
auch als Lehrer hervorragende Maler und Ingenieur Johann Ferdinand Schor Vorschub.
Anfänglich erscheinen auch auf diesem Gebiete fremde Künstler: Kosmas Damian
Assam und Johann Hiebel von Ottobeuren, welcher die Clemenskirche des Jesuiteneollegs
Clementinum mit prächtigen Fresken schmückte. Auch der Schlesier Liska hatte sich in
dieser Richtung bethätigt; von ihm rührt ein Theil der Fresken der Kreuzherrenkirche
in Prag her; dieselben durch ein großes Knppelbild zu vollenden, wurde der junge Maler-
Wenzel Lorenz Reiner herangezogen, welcher bereits im Verein mit Assam die Kirche
am Weißen Berge mit Fresken versah. In Reiner (geboren in Prag 1686, gestorben
1743), welcher ursprünglich Veduten, Thierstücke, Altarblätter mit großer Virtuosität
schuf, erstand nun Böhmen der größte Freskomaler des XVIIl. Jahrhunderts und wohl
einer der bedeutendsten Meister seiner Zeit überhaupt. Die kolossalen Gemälde, welche die
Gewölbe von St. Ägid, St. Thomas,St. Katharina u. a. m. in Prag, in den Klosterkirchen
zu Dux, Ossek bedecken, sind, wiewohl sie an Farbenpracht viel eingebüßt haben, von einer
gewaltigen Wirkung. Die Ordensheiligen und Ordensbrüder spielen darauf eine hervor -
ragende Rolle und in der Verherrlichung derselben sehen wir gewissermaßen die Macht, zu
welcher in jener Zeit die Geistlichkeit gelangte, sich wiederspiegeln. Auch zahlreiche Schloß -
bauten rühmen sich seiner Fresken, leider ist ein am meisten gerühmtes Werk dieser Art,
die Fresken des Palais Cernin in Prag, völlig vernichtet worden.
Das Beispiel Reiners trug wesentlich dazu bei, daß sich ein Virtuoseuthum in der
Freskotechnik ausbildete. Da es in erster Reihe galt, Gotteshäuser auszustatten, hat
sich auch eine Anzahl von Ordensgeistlichen der Freskomalerei zugewendet; einPuimon-
stratenscr vom Stift Strahov, Siardus Noseckh, welcher insbesondere im Stift Strahov
selbst fignrenreiche und farbenprächtige Werke schuf, steht in erster Reihe, dann der Jesuit
Ignaz Raab, im Ganzen trockener und düsterer als der farbenfreudige Prämonstratcnser.
382
Die beiden gehören noch den Zeitgenossen Reiners an; die nächstfolgende Generation
gebietet noch über alle Mittel der Kunst, oerfällt aber in einen Manierismus, so daß ihre
Werke nicht selten den Eindruck der Coulissenmalerei Hervorbringen. Tadeas Supper,
der Urheber des großen Freskocyklus im Stift Sedlec, Karl Kovar, welcher auch im
benachbarten Kuttenberg thätig war, und der zierliche I. Hager, ein Schüler Palckos, sind
die bedeutendsten. Als letzte Epigonen Reiners wirken die beiden Brüder Kramolin, ans
Nimburg gebürtig, Joseph, welcher dem Jesuitenorden angehörte, und sein Bruder Wenzel.
Die kirchliche Kunst absorbirte nahezu alle Kräfte, so daß die Genre- und
Landschaftsmalerei kaum aufkommen konnten. Doch gab es auch zahlreiche Maler, welche
auf diesen Gebieten thätig waren, namentlich wurde Landschafts-, Blumen- und
Stillleben-Malerei nach der Art der Holländer eifrig gepflegt. Als Landschaftsmaler
entwickelt insbesondere die Kuttenberger Familie Hartmann, Johann Jakob und seine
Söhne Franz und Wenzel, eine bedeutende Thätigkeit; ganz nette Stillleben, insbesondere
Blumen, liefern: Adalbert Angermayer und sein Schüler Kaspar Hirschely (geboren in
Prag um 1701, gestorben 1745). Außerordentlich fruchtbar war Norbert Grund (geboren
in Prag 1714, gestorben 1767), von welchem eine Unzahl anmuthiger Bilder kleineren
Formates herrührt. Genrescenen und Landschaften aller Art, Dorfscenen, Jagdscenen
und Reitergefechte, späterhin auch verschiedene „galante" Scenen, wohl unter dem Ein -
fluß Watteans und seiner Richtung entstanden, werden von ihm flott und manchmal
nicht ohne pikanten Reiz geschildert; auch das Getriebe des alten Prag spiegelt sich
in den Bildchen Grunds. Die Beliebtheit, welcher sich die Schöpfungen dieses Klein -
meisters erfreuten, hat seinen Freund, den Kupferstecher Balzer veranlaßt, eine Reihe
derselben serienweise heranszugeben.
Die bedeutende Bauthätigkeit kam wie den decorativen Künsten überhaupt, so
insbesondere dem Gedeihen der Plastik zu statten. Stuccatur- und Bildhauerarbeit stehen
im Vordergrund, während Holzschnitzerei nur mäßig betrieben wird und der Metallguß
gänzlich aufhört. Die nach dem Modell von Johann Brokoff gegossene Erzstatue des
heiligen Johannes auf der Prager Brücke, welche von dem Nürnberger Wolf Hiero -
nymus Herold im Jahre 1683 ansgeführt worden, ist das letzte künstlerische Werk ans
diesem Gebiete.
Die selbständige Stellung der Plastik war wohl mitbestimmend bei den Versuchen
der Bildhauer, sich von der Malerconsraternität zu emancipiren; mit Ernst Heidelberger,
Georg Pendel an der Spitze, standen sie seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts gegen die
Bruderschaft in Opposition, bis 1660 vom Appellationsgerichte zu Recht erkannt wurde,
daß die Maler nicht befugt seien, die Bildhauer „wider ihren Willen unter ihre Zunft
zu zwingen".
383
Ferdinand M. Brokoff: Grabmal des Johann Wenzel Bratislav Graf Mitrovitz in der Jalobslirche zu Prag.
Die beiden Meister Heidelberger und Pendel sind die meist beschäftigten Bildhauer
der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, doch sind ihre Arbeiten, insbesondere jene
Pendels recht mittelmäßig. Die Mariensäule am großen Ring, welche Pendel im Jahre 1650
errichtete, ist eine Nachbildung der Marien -
säule in München und ward zugleich ein Vor -
bild für ähnliche Gedenksäulen, welche nun in
Prag und auf dem Lande errichtet werden. Ein
Werk Heidelbergers, der Brunnen im ersten
Hofe des Prager Schlosses, vom Jahre
1686 ist eine ziemlich gediegene Leistung; ein
ähnliches, jedoch umfangreicheres Werk ist
der Brunnen am großen Ring zu Budweis.
Zum Schluß des XVII. Jahrhunderts
treten schon zahlreiche Bildhauer auf,
384
darunter insbesondere Andreas Quiteiner ans Friedland gebürtig, Matthäus Jeckel und
Johann Brokoff, welcher ans Georgenberg in Oberungarn stammte und sich um das
Jahr 1675 in Prag niederließ. Sein Sohn Maximilian Ferdinand Brokoff, im Jahre
1688 in Prag geboren, ist nebst dem im Jahre 1704 von dem kunstliebenden Grafen
Franz Sporck nach Böhmen berufenen Matthäus Braun der bedeutendste böhmische
Bildhauer der Barockperiode. Hervorragend waren die, noch im Verein mit dem Vater,
nach dem Jahre 1707 entstandenen Gruppen der alten Karlsbrücke zu Prag, welche man
nun mit Statuen zu schmücken begann und welche zugleich zu einer Art Kunstschule
wurde. Eine dominirende Stellung unter den Brückenstatnen nahmen die beiden
Gruppen des heiligen Ignatius und des heiligen Franciscus, von den Jesuiten 1712
gestiftet, ein, gewaltige Steinbilder, von welchen besonders jenes des heiligen Franciscus
durch die originelle Anordnung und die kraftvollen Gestalten der Vertreter der bekehrten
wilden Völker sich auszeichnete. Ihre dominirenden Stellen haben die beiden Gruppen
durch ihren Untergang bei der Überschwemmung des Jahres 1890 gebüßt. Die Gruppe
des heiligen Franciscus Seraphicns und die durch den „Türken", welcher die christlichen
Sclaven bewacht, populär gewordene Statue des heiligen Johann von Matha schließen
sich ihnen an. In anderer verwandter Richtung sehen wir Brokoff mit dem Ausführen
von Gedenksäulen beschäftigt; auch das große, dem Grafen Johann Wenzel Vratislav
von Mitrovitz 1716 nach dem Entwürfe Fischers von Erlach in der Jakobskirche errichtete
Grabmal zeigt einen verwandten Charakter. Seltener hat er seinen Meißel decorativen
Zwecken geliehen, doch find seine finster grollenden „Mauren" des Palais Morzin vom
Jahre 1714 die prächtigsten Karyatiden der ganzen Epoche.
Hingegen ^egt die Bedeutung Brauns insbesondere in seinen decorativen Leistun -
gen; dieser Art waren schon seine etwas bizarren Erstlingswerke, welche er in den
Gärten zu Kukus und Lysa für den Grafen Sporck ausgeführt hat; zur hohen Vollendung
gelangt er in seinen Karyatiden und Bildwerken, welche die Paläste Prags zieren; in
erster Reihe gehören dazu jene des Palastes Clam-Gallas, dann die der Paläste Thun-
Tetschen, Buquoy und des Maltheser Grandpriorats. Von freistehenden Statuen ist die
bedeutendste die Gruppe der heiligen Luitgardis ans der Karlsbrücke, zugleich eine der
bedeutendsten Schöpfungen, welche letztere anfweist.
Die nächstfolgende Generation, unter welcher Ignaz Platzer dominirt, verfällt in
hohles Pathos, durch welches sie die urwüchsige Kraft Brokoffs zu ersetzen sucht. Ver -
schiedene Umstände haben dazu beigetragen, daß die glanzvolle Knnstepoche nach hundert
^zahre dauerndem Entwicklungsgänge jäh abschließt: zunächst der siebenjährige Krieg,
dessen steter Schauplatz Böhmen gewesen, alsdann die nüchterne Anschauungsweise, welche
schließlich der Kunst gegenüber eine feindliche Stellung nimmt. Eine Zeit brach ein,
385
die nicht nur kein bedeutendes Werk aufkommen ließ, sondern auch den künstlerischen
Schätzen, welche frühere Generationen ansammelteu, das größte Verderben brachte.
Insbesondere bei der Aufhebung der vielen Klöster wurden die Werke der Väter mit
einer Barbarei und Pietätlosigkeit behandelt, welche uns darüber staunen läßt, wie sehr
der Kunstsinn gerade den Kreisen der Intelligenz gänzlich abhanden kommen konnte.
Eines jedoch, was diese Zeit mit sich brachte, die im Jahre 1781 erfolgte Auflösung der
Malerconfraternitäten, von welchen damals ein nur handwerksmäßiger Betrieb der
Kunst engherzig gehütet wurde, ist kaum zu bedauern, um so weniger, als bald darauf
Institutionen entstanden, welche für eine neue, gedeihliche Entfaltung der Knnstthätigkeit
fruchtbare Keime in sich trugen.
Malerei und Elastik der Neuzeit.
Die spärlichen und unbedeutenden Werke der heimischen Profan-Malerei ans
dem Ende des vorigen Jahrhunderts bezeugen, daß das Kunstbcdürfniß des Bnrgerstandes
sowie des reichbegüterten Adels in Böhmen damals im Allgemeinen ein äußerst geringes
gewesen ist. Nur für kirchliche Zwecke fanden bis zu der durch Kaiser Josef II. verfügten
Aufhebung der Klöster einige Maler Beschäftigung. Außer Altarbildern haben wir nur
wenige und mittelmäßig gemalte Porträts aus jener Zeit. Diesen völligen Mangel an
Liebe und Verständniß für Malerei und Plastik, welcher damals mit geringen Ausnahmen
alle Stände beherrschte, haben unsere Nachbarn gründlich ausgenützt, indem sie nicht nur
durch ihre Agenten in Böhmen einzelne hervorragende alte Kunstwerke erwarben, sondern
ganze, in älterer Zeit angelegte vorzügliche Kunstsammlungen vornehmer Familien
ankauften und damit die anfblühcnden Kunstsammlungen ihrer Heimat bereicherten.
Die von Kaiser Leopold I- im Jahre 1692 gegründete Akademie der bildenden
Künste in Wien war die Anstalt, an welcher zahlreiche junge Männer aus Böhmen ihre
künstlerische Ausbildung suchten und fanden. Zu den tüchtigsten gehörten die Brüder
Josef Hickel und Anton Hickel aus Böhmisch-Leipa, von welchen der erste, von der
Kaiserin Maria Theresia als Hof-Pensionär zur weiteren Ausbildung nach Italien
geschickt, 1769 Mitglied der Akademie zu Florenz und 1771 k. k. Hof- und Kammermaler
wurde und eine große Anzahl von Porträts hervorragender Persönlichkeiten malte, Anton
hingegen nach größeren Reisen sich längere Zeit in Paris aufhiclt, wo er, von der Königin
Maria Antoinette protegirt, zahlreiche Porträts malte, bis er, durch die Revolution
vertrieben, sich nach London wandte und daselbst unter andern 1793 das 96 Porträts
umfassende Gemälde der Mitglieder des englischen Unterhauses mit den Hauptfiguren
Pitt und Fox malte.
Böhmen.
25
386
Auch Dominik Kindermaun aus Schluckenau, gestorben 18t7 zu Wien, zuerst
Schüler des Jesuitenbruders und Malers Ignaz Naab in Prag, kam später nach Wien,
wo er Altarbilder, Darstellungen aus der Geschichte des Alterthums und Bildnisse malte.
Desgleichen sind zwei Prager, der Landschaftsmaler Franz Scheyerer (geboren
1762 zu Prag, gestorben 1838 zu Wien) und der Architekturmaler Josef Plazer
(geboren zu Prag 1752, gestorben zu Wien 1810) in Wien ansässig geblieben. Auch unter
den renvmmirten Kupferstechern Wiens finden wir bekannte Künstler, deren Wiege in
Böhmen stand. Dazu gehörte Johann Ernst Mansfeld (geboren 1739 zu Prag,
gestorben 1796 zu Wien), welcher 1767 in die Schule Jakob Schmutzers eintrat, als
einer der ersten Schüler dieses vortrefflichen Meisters aus der damals gegründeten
Kupferstecher-Akademie.
Von den in Wien ansässigen Bildhauern ans Böhmen wären zu erwähnen der in
Rehberg 1710 geborene Philipp Prokop, Schüler der Wiener Akademie, seit 1772
Gehilfe des Hof-Statnarius Wilhelm Beyer, mit welchem er an mehreren Statuen im
Schönbrunner Park arbeitete und selbständig die Gruppe „Aeneas und Anchises" und eine
auf dem Platze vor der Piaristenkirche in der Josefstadt in Wien aufgestellte Mariensanle
mit vier Heiligen zur Seite derselben ausführte, und Augustin Noppacz aus Krumau,
ebenfalls Schüler der Wiener Akademie und speciell Zauners, dem er bei der Ausführung
des Monumentes für Kaiser Leopold II. als Gehilfe zur Seite stand.
Einige der böhmischen Künstler, welche ihre Ausbildung der Wiener Akademie zu
danken und längere Jahre in Wien gearbeitet hatten, kehrten wieder in ihre Heimat zurück,
wo sie durch ihre Arbeiten anregend wirkten, allerdings nur auf die ihnen näher stehenden
Kreise. Zu ihnen gehört vor allen Johann Quirin Jahn (geboren 1739 zu Prag,
gestorben daselbst 1802), der einer alten in Ossegg ansässig gewesenen Künstlerfamilie
entstammte, nach seiner Rückkehr nicht nur viele Altarbilder und Fresko-Malereien
ansführte, sondern auch als Architekt thäiig war und als Schriftsteller sich große Verdienste
um die heimische Kunstgeschichte erwarb. Gleich diesem Mitglied der k. k. Akademie in Wien
war auch der aus Schmutzers Schule hervorgegangene Architekturmaler Ludwig Kohl
(geboren 1746 und gestorben 1821 zu Prag), welcher 1775 als Lehrer der Zeichenkunst
an die damals eben neu errichtete k. k. Musterhauptschule nach Prag berufen, in seiner
bescheidenen Stellung unter den damaligen Verhältnissen für die Heranbildung junger
Künstler eifrig thätig und durch Privatstnnden, in welchen er seit 1783 au Sonn- und
Feiertagen „zahlreichen Lehrjungen, Gesellen und Künstlern unentgeltlichen Unterricht
im bürgerlichen Zeichnungsfache" ertheilte, eine Kunstschule zu ersetzen bemüht war.
Angesichts dieser kläglichen Kunstverhältnisse, in welche das einst unter Karl IV.
und Rudolf II. reich erblühte Kunstleben in Böhmen herabgesunken war, vereinigten
1,
sich auf Anregung des kunstsinnigen Franz Reichsgrafen vvn Sternberg-
Mandcrschcid und des Med. Dr. Johann Mayer einige gleichgesinnte, znincist dem
hohen böhmischen Adel angehvrende Vaterlandsfrennde, welche im Jahre 1796 die
S5>»
388
„Privatgesellschaft patriotischer Kunstfreunde" gründeten, deren vornehmster
Zweck „die Wiederemporbringung der Kunst und des Geschmackes" sein sollte. Als die
dienlichsten Mittel zur Erreichung dieses Zweckes wurden erkannt: erstens die Aufstellung
einer Gemäldegallerie, um darin die noch in Böhmen zurückgebliebenen Kunstwerke vor
Verderben zu schützen und dem Verschleppen derselben vorzubeugen, und zweitens die
Gründung und Einrichtung einer Kunstschule, worin junge Künstler angeleitet werden
sollten, sich in ihren Arbeiten den in der Gemäldegallerie zu sammelnden Vorbildern
zu nähern. Diese nun nahezu hundert Jahre wirkende Privatgesellschaft hat unvergängliche
Verdienste um das Wiedererblühen der bildenden Künste in Böhmen, insbesondere der
Malerei. Die beiden von ihr gegründeten und seitdem verwalteten Kunstinstitute bestehen
noch heute in erneuerter voller Kraft; die Gemäldegallerie, seit 1884 in das neuerbaute
Künstlerhaus Rudolphinum übersiedelt, vertritt in Böhmen die Stelle einer Nationalgallene
und an der Akademie bildender Künstler, jetzt „Malerakademie", genossen viele Künstler,
die in der gesammten Kunstwelt einen Namen haben, ihre erste Vorbildung.
Bei der Wahl des ersten ans acht Mitgliedern bestehenden Ausschusses wurden in
denselben auch drei Männer aus dem Bürgerstande ausgenommen, darunter der vorhin
schon genannte Johann Quirin Jahn, der als der letzte Oberälteste der im Jahre
1783 aufgelösten, seit dem Jahre 1348 ununterbrochen in Prag bestandenen Maler-
Confraternität gewissermaßen den Übergang der alten zur neueren, mit der Gründung
der „Privatgesellschaft patriotischer Kunstfreunde" beginnenden Kunstepoche in Böhmen
vermittelt. Die Bestrebungen dieser neuen Gesellschaft fanden sogleich Unterstützung und
Förderung ihrer Ziele durch Kaiser Franz, welcher bei der noch im selben Jahre (1796)
in Angriff genommenen Anlage der Gemäldegallerie derselben an 300 Gemälde aus
der Prager königlichen Burg auf unbestimmte Zeit leihweise überließ und außerdem der
Gesellschaft ausgedehnte Lokalitäten im zweiten Stockwerk desColleginm Elementinum
zuwies, in welchem die Kunstschule untergebracht wurde.
Auf Anempfehlung des letzten souveränen Fürstbischofs von Passau, Leopold
Grafen von Thun, wurde dessen Kammermaler und Truchseß Josef Bergler (geboren
zu Salzburg 1753, gestorben zu Prag 1829), der sich unter Professor Martin Knoller in
Mailand, dann in Rom unter Anton von Maron, dem Schwager des Raphael Mengs,
gebildet hatte, zur Einrichtung und Leitung der Kunstschule nach Prag berufen. Bergler
entnahm mit Vorliebe die Gegenstände seiner Darstellungen der Sage und der Geschichte
des Alterthums, die er mit Gewandtheit zu behandeln verstand, wobei er stets die
Antike als Vorbild vor Augen hatte; die Natur galt ihm nichts oder doch nur sehr-
wenig. Er war aber immerhin für seine Zeit ein angesehener Künstler, im -Linne seiner
Meister und mit gleichen Mitteln wie diese lehrend. Die von Josef Bergler eingerichtete
3.
Kunstschule war unter seiner und seines getreuen Nachfolgers Franz Waldherr (bis
1835) Leitung im Grunde genommen nur eine Zeichenschnle, in welcher nach Berglers
eigenen Vorlagen, dann nach Gypsabgnssen von antiken Bildwerken gezeichnet wurde.
390
Das Naturstudium war auf das Zeichnen im Abendmodell und auch dieses nur auf die
Wiutermonate beschrankt, das Malen ganz ausgeschlossen.
Trotzdem waren einige seiner Schiller, welche erst in reiferen Jahren eingetreten
waren und das Malen später selbst erlernt hatten, sehr gute Porträtmaler, so Franz
Horcicka (geboren um 1776 und gestorben 1856 zu Prag), Franz Liebich (geboren
1778 zu Reichstadt, gestorben 1830), Karl Funk (geboren 1773) und Severin Pfalz
(geboren 1796 zu Eger), von denen in der Allgemeinen Landesausstellung 1891 in Prag
sehr hübsche sn irllniatnro ansgeführte Porträts zu sehen waren. Josef Hellich (1810
bis 1880), Gustav Kratzmann, geboren um 1811 zu Kratzau, und Anton Lhota,
geboren 1812 zu Knttenberg, nahmen später eine geachtete Stellung als geschichtliche und
kirchliche Maler ein. Leopold Pollak, geboren 1806 zu Lodenitz, der bald von hier
nach Wien und schon in jungen Jahren nach Rom kam, wo er bis zu seinem Tode
(1880) blieb, malte Italienerinnen und ideale Frauengestalten in der Art August von
Riedels.
Außer dem Bildhauer Wenzel Prachncr (geboren 1784 und gestorben 1832
zu Prag), welcher aus innigster Neigung und mit bestem Erfolg sich seinem Meister
angeschlossen hatte und sehr Tüchtiges leistete, waren von den vielen Schülern, welche
Bergler während seiner 29jährigen Lehrthätigkeit heranzog, jene die bedeutendsten, welche
selbständig eine ganz andere Richtung einschlugen. Es sind dies in erster Reihe die drei
Freunde Franz Kadlik (geboren 1786 und gestorben 1840 zu Prag), Leopold Friese
(geboren 1788 zu Neuherrenberg bei Schluckenau,gestorben 1842) und Josefvon Führich
(geboren 1800 zu Kratzau, gestorben 1876 in Wien), der jüngste von ihnen und der
hervorragendste von allen, welcher in seinem 19. Lebensjahre in die Prager Kunstschule
ausgenommen wurde.
Mehr als von der antikisirenden Weise Berglers fühlte sich Josef von Führich
angeregt durch die Werke der damaligen deutschen Dichterschule, durch die Werke Tiecks,
Novalis' und Schlegels, dann durch die Compositionen zu Goethes „Faust" von Peter
Cornelius, zumeist aber durch die Holzschnitte Albrecht Dürers, die ihm eine neue Welt
erschlossen. Diese im Verein mit den Werken der alten Meister, welche er im Jahre 1821
in den Bilderschätzen Dresdens das erste Mal zu bewundern Gelegenheit hatte, übten einen
tiefen Eindruck auf den 21jährigen Jüngling und wirkten bestimmend ans seine künftige
Richtung. Im Gegensatz zu Bergler, der dem Classicismns ganz ergeben war, begeisterte
sich Führich für das „starke und fromme Mittelalter". Jene große, schöne, hingcschwnndene
Zeit in Lied und Bild zu feiern, erschien ihm jetzt als die Aufgabe seiner Kunst. Führich
ward, wie er in seiner Selbstbiographie sagt, „Romantiker" in diesem Sinne, und seine
Compositionen zur böhmischen Geschichte, die er im Verein mit Leopold Friese und
392
Anton Machet für die Peter Bohmann'sche Kunsthandlung in Prag ausführte und
selbst auf Stein zeichnete (72 lithographirte Blätter mit böhmischem und deutschem Text
von Hanka und W. A. Sw oboda), können in mancher Beziehung als der erste
Ausdruck seiner damaligen Geistesrichtung gelten. Im Jahre 1824 entwarf Führich
in Prag die Illustrationen zu I. L. Tiecks „Leben und Tod der heiligen Genovefa",
die einen aus 15 Federzeichnungen bestehenden Cyklus bilden. Von einem Freunde nach
Wien gebracht, erregte diese Arbeit die Aufmerksamkeit hoher Persönlichkeiten, darunter
des Fürsten Metternich, welche dem jungen Künstler die Mittel boten, einige Jahre in
Italien und Rom zu verweilen. Nach beinahe dreijährigem Aufenthalt in Rom, wo er
in Overbeck, Koch, Schnorr, PH. Veit, Cornelius und Anderen ihm geistesverwandte und
gleichgesinnte Künstler gefunden hatte, kehrte Führich nach Prag zurück, wo er neben
einigen kleineren Bildern auch ein großes Altarbild für die Stadt Neu-Paka in Böhmen
malte und für die P. Bohmann'sche Kunsthandlung in Prag den Cyklus „Genovefa" selbst
radirte (1830), nachdem er ihn zum großen Theil ganz umgearbeitet hatte.
Vom Fürsten Metternich (1834) zum zweiten Custos an der Graf Lamberg'schen
akademischen Gemäldegallerie in Wien ernannt, entfaltete er daselbst eine hochbedeutsame
Thätigkeit als Künstler und, nachdem er die ihm 1840 verliehene neu geschaffene Professur
der geschichtlichen Composition an der k. k. Akademie der bildenden Künste daselbst
angetreten hatte, auch als Lehrer. Führich ist der größte kirchliche Maler Österreichs.
Sein inhaltlich und räumlich größtes Werk sind die Entwürfe für die Ausmalung der
Altlerchenfelder Kirche in Wien, nach deren Vollendung er in den Ritterstand erhoben
wurde. Noch als Einundsiebzigjähriger (1870 bis 1871) illustrirte er die Legende des
heiligen Wendelin, worin er die Abkehr einer gottergebenen Seele von der Welt und
der Natur und ihren Frieden reizend schildert.
Durch gleiches Streben und Freundschaft mit Führich innig verbunden war der
um 14 Jahre ältere Franz Kadlik (Tkadlik), ebenfalls ein ehemaliger Schüler Berglers
und der Wiener Akademie, welcher schon früher (1824) als kaiserlicher Pensionär in Rom
sieben Jahre — gleichzeitig mit Führich — zubrachte. Im Jahre 1836 als Director
der Kunstschule nach Prag berufen, brachte er neues Leben in die veraltete und unter
Franz Waldherrs Leitung hinsiechende Schule. Er legte größeres Gewicht auf das
Studium der Natur und richtete ein Zimmer als „Malstube" ein, in welchem der
Gemäldegallerie entlehnte Gemälde, zumeist Köpfe, copirt und dadurch die bis dahin
verpönt gewesene Farbe an der Prager Kunstschule in ihre Rechte — allerdings in
höchst bescheidenem Maße — eingesetzt wurden. Zu den Gemälden, welche er noch vor
seiner Reise nach Wien und Rom in Prag gemalt hat, gehört „Christus mit zwei Engeln",
im Besitz des Dr. Popel in Prag (vom Jahre 1820), und die heilige Familie auf der
393
Flucht nach Egypten (vom Jahre 1821) in der Graf Czernin'schen Sammlung. Das in
der Gcmäldegallerie des Rudolphinums befindliche Gemälde: „Rückkehr des böhmischen
Bischofs Adalbert aus dem Kloster Monte Cassino in die Heimat im Jahre 993" hat
Kadlik 1824 in Wien gemalt vor seiner Reise nach Rom. Eines seiner interessantesten
Gemälde: „Der heilige Evangelist Lukas malt knieend auf der von zwei Engeln gehaltenen
Tafel das Bild der heiligen Jungfrau Maria, welche ihm in einer Glorie erscheint", ist
Eigenthmn der Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses.
Kadlik wirkte auch anregend ans die Ausführung öffentlicher Kunstwerke: auf
seine Veranlassung wurden die alten Wandmalereien im Stiegenraume des hohen
Thurmes auf der Burg Karlstein durch die fortgeschrittensten Akademieschüler Anton
Lhota und Wilhelm Kandier copirt und restaurirt. Die Kreuzwegstationen auf dem
Laurenziberg in Prag nach Skizzen von Führich wurden al lraseo von den in dieser
Technik gut geschulten Münchener Malern Johann Bapt. Müller und G. Holzmaier
ausgeführt, welche ans Kadliks Wunsch zu diesem Zweck hierher berufen worden waren.
Die beiden Fresko-Maler wurden die Lehrmeister der jungen Prager Maler Anton
Lhota und Wilhelm Kandler in dieser seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts nicht
mehr angewendeten und darum vergessenen Technik, welche beide das erste Mal wieder
anznwenden Gelegenheit fanden, als sie von der Direktion des Klar scheu Blinden-
Jnstitutes den Auftrag erhielten, in der Apsis der St. Raphaels-Kapelle daselbst die
Wandmalereien nach den Entwürfen Führichs ul kraseo auszuführen.
Von Kadliks Schülern sind außerdem seiner Richtung treu geblieben: Adolf
Weidlich (gestorben 1885), Gustav Watzek, Johann Dwolacek und Rudolf
Müller, der, gegenwärtig in seiner Vaterstadt Reichenberg als Knnstschriststeller thätig,
die von ihm miterlebten Kunstverhältmsse schildert und sich durch die Biographien
der zeitgenössischen Künstler Böhmens sehr verdient gemacht hat. Franz Cermäk
(gestorben 1884) und Karl Javnrek, welche sich später in der Antwerpener Kunstschule
eine tüchtige Fertigkeit im Malen aneigneten, wandten sich mit Vorliebe der Geschichte
Böhmens zu, welche ihnen reichen Stoff für ihre Darstellungen bot. ^ohann Brandeiv
(gestorben 1872), welcher in reiferen Jahren eine Zeit lang in Paris gearbeitet hatte,
und Ignaz Umlauf in Geiersberg (gestorben 1851) wurden sehr geschätzte und tüchtige
Porträtmaler. Anton Dvorak (gestorben 1881) war der erste böhmische Genremaler, der
erste, welcher das Leben der Landleute schlicht, aber mit großer Wahrheit zur Darstellung
brachte. Arthur Freiherr von Ramberg, einer der vornehmsten deutschen Genremaler
(geboren 1819 zu Wien, gestorben 1875 zu München) dankte seine erste Vorbildung der
Prager Kunstschule, in welche er im Alter von 18 Jahren ausgenommen wurde, als sein
Vater, damals Oberst des Regiments Trapp, in Prag garnisonirte.
394
Die Landschaftsmalerei war während der ersten vier Decennien unseres
Jahrhunderts, der mit dem Tode Kadliks abschließenden Periode, arg vernachlässigt.
Wohl wirkte neben Josef Bergler während der ersten sechszehn Jahre Karl Postl
an der Prager Kunstschule als Lehrer für das Landschaftsfach, doch hatte er außer
Anton Maries keinen Schüler, der in weiteren Kreisen bekannt geworden wäre, und
nach Postls Tode blieb diese Stelle neunzehn Jahre lang ganz unbesetzt. Erst 1835
wurde die Landschaftsschule abermals errichtet und unter Anton Manes' (geboren 1784
zn Prag, gestorben daselbst 1843) Leitung gestellt. Nach dem Beispiel seines Lehrers
hielt sich Manes ängstlich an seine älteren Borbilder, cvmponirte italienische ideale
Landschaften, ohne jemals in Italien gewesen zu sein. Er behandelte die Landschaft
in der herkömmlichen Manier, obwohl er beim Studium der heimischen Natur-
ganz unbefangen seiner eigenen Anschauung folgte, die er aber unter dem Druck des
damals noch herrschenden Geschmacks bei seinen Gemälden nicht zur Anwendung zn
bringen wagte.
Vorübergehend bestand an der Akademie auch eine Kupferstecherschule; ans
Verlangen des Allerhöchsten Hofes gab die Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde dem
„k. k. Pensionär und aguatiilln Kupferstecher" Anton Herzinger (geboren zu Fallbach
in Oberösterreich 1763, gestorben 1826) im Jahre 1800 eine Wohnung im Clcmentinum
und gewährte ihm den Gebrauch einer durch sie angeschafften Knpferdrnckerpresse.
Herzinger behielt seine Stelle nur bis zum Jahre 1806. Seine Schüler waren Josef
Drda (1781, gestorben 1833), der den Druck der zahlreichen Radirnngen Berglers
besorgte, dann Anton Pucherua, Lehrer des Radirers Grafen Lnigi Buquoy, eines
frischeren Talentes, und Georg Döbler, welcher namentlich viele Compositionen Führichs
in Kupfer gestochen hat und später als Leiter der Kupferstecherschule einige gute Schüler
heranbildete, unter Andern Konrad Wiesner aus Hohenelbe, welcher 1847 in der
Blüte seiner Jahre in Rom starb.
Der rührige Kunstverlag von Peter Bohmanu hat das Verdienst, einige der
strebsamsten und selbständiger auftretenden jüngeren Künstler — mit Josef Führich an
der Spitze — durch die Vervielfältigung ihrer Arbeiten in den weitesten Kreisen bekannt
gemacht zn haben, wodurch sie in nähere Beziehungen zu dem großen Publikum traten.
Dabei war Anton Machet, selbst ein vorzüglicher Porträtmaler, als Eigenthümer einer
lithographischen Anstalt den Künstlern und dem Verleger behilflich. Anton Machet
(geboren 1774, gestorben 1844), ein Schüler Ludwig Kohls, erlernte in Wien von dem
Maler Knnike das Lithographiren und war auch der erste, welcher die Lithographie
in Prag, dem Geburtsorte ihres Erfinders Alois Senefelder (geboren 1771,
gestorben 1834), einführte und künstlerisch zu verwerthen wußte.
396
Schon in den ersten Decennien ihres Bestehens wurden von der Prager Akademie
sogenannte „Kunstausstellungen" veranstaltet, auf welchen neben, von ihren Schülern
mit der Feder oder mit der Kreide fleißig ausgeführten Kopien nach Gemälden einige
selbständige Versuche der Schule entwachsener Künstler zu sehen waren. Das Los der
meisten dieser älteren Bergler-Schüler war ein trauriges, da für die inhaltlosen Formen
des sogenannten Classieismus sich doch nur sehr Wenige zu erwärmen vermochten.
Immer nur auf sich und die unter gleichen Verhältnissen ausgewachsenen Kollegen
angewiesen, ohne Kenntniß von dem indeß außerhalb des Landes erwachten regen
Kunstleben, mußten sie jeglicher Anregung zu freudigem Schaffen entbehren. Dies gab
einigen Mitgliedern der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde Veranlassung, ein
Actienunternehmen zu gründen, um in diesen Kunstausstellungen Werke einheimischer
Künstler anzukanfen und zu verlosen — mit besonderer Berücksichtigung jener Künstler,
welche der Kunstschule der Gesellschaft selbst ihre Ausbildung zu danken hatten.
In der richtigen Erkenntniß, daß die fortgesetzte strenge Abschließung von der
Außenwelt auf die weitere Entwicklung der bildenden Künste lähmend wirken müsse und
daß es unbedingt nvthwendig sei, den Gesichtskreis der Künstler und der Kunstfreunde
zu erweitern, waren einige einflußreiche Männer bestrebt, eine Wendung zum Bessern
anzubahnen — in erster Reihe zwei hochherzige Kunstfreunde, Dr. Alois Klar und
vier Jahre nach dessen Tod Franz Graf von Thun und Hohenstein, welche mit
praktischem Sinn die richtigen Mittel ergriffen, um die heimische Kunst zu fördern.
Dr. Alois Klar (geboren 1763 zu Auscha, gestorben zu Prag 1834), Professor der
elastischen Literatur an der Prager Universität,der Gründer des nach ihm benannten großen
Blindenerziehungsinstitutes in Prag und in nahen persönlichen Beziehungen zu Josef
Führich stehend, erfaßte 1832 die Idee, eine eigene Künstlerstiftung in der Art zu gründen,
daß die Zinsen eines durch eigene Widmungen und Sammlungen znsammengebrachten
Kapitals, das später bedeutend anwuchs, einem Künstler zur Reise nach Italien zugewendet
werden. Der Klar'schen Künstlerstiftung, welche im Jahre 1839 ins Leben trat, ver -
danken zahlreiche böhmische Künstler den meist dreijährigen Aufenthalt in Italien, welcher
nicht allein auf die Stiftlinge veredelnd wirkte, sondern durch diese nach deren Rückkehr
in die Heimat auch ans die Zurückgebliebenen nicht ohne wohlthütige Rückwirkung blieb.
Wenn Klar in der Absicht die hohe Kunst zu fördern, den Weg wühlte, den
Künstler durch das Studium der elastischen Kunstwerke zu bilden, indem er ihm. durch seine
Künstlerstistung die Mittel zu einem mehrjährigen Aufenthalt in Italien bot, entschied
sich Graf Franz Thun (geboren 1809 auf Schloß Tetschen, gestorben 1870 zu Prag)
dafür, nicht allein ans die zurückgebliebenen Künstler, sondern vornehmlich auch auf die
Geschmacksbildnng und Kunstliebe der gebildeten und wohlhabenden Laien anregend
397
einzuwirken, indem er jenes Actienunternehmen, welches schon im vierten Jahre seines
Bestandes aus Mangel an Theilnahme erlosch, gleich nach seinem Eintritt in die Gesellschaft
patriotischer Kunstfreunde, im Jahre 1837, nach den von ihm vertretenen, noch jetzt
geltenden Grundsätzen in den „Kunstverein für Böhmen" umgestaltete, dessen
Geschäftsleitung ihm übertragen wurde. Als Leiter des „Kunstvcreines für Böhmen" war
Thun bemüht, auch auswärtige Künstler zu bewegen, die von nun an regelmäßig zu Ostern
beginnenden Prager Kunstausstellungen des Kunstvereines zu beschicken, was jedoch nur
dann zu erreichen war, wenn dieselben Aussicht hatten, ihre Werke in Prag zu verkaufen.
Es wurde daher in den von Thun verfaßten Statuten der Ankauf von Kunstwerken zur
Verlosung grundsätzlich auch auf jene der auswärtigen Künstler ausgedehnt. Die wichtigste
Bestimmung in den Satzungen dieses neuen Kunstvereines war aber, daß ein Fünftel von
dem jährlich eingezahlten Actieneapital zur Gründung des „Fonds zur Veranlassung
öffentlicher Kunstwerke" verwendet werden sollte, der mit der Zeit eine ansehnliche
Höhe erreichte. Ans den Mitteln desselben wurden seit 1847 die Wandmalereien im
Ferdinand'schen Lustschlosse Belvedere, dann jene in der St. Raphaels-Kapelle des
Klar'schen Blindeninstitutes, in der großen Apsis der Karoliuenthaler Kirche und in der
St. Anna-Kapelle der Prager Domkirche, sowie auch das Prager Radetzky-Monument
ausgeführt, endlich seit 1882 die Gemäldegalerie der Gesellschaft patriotischer Kunst -
freunde durch Ankauf von Kunstwerken alter und moderner Meister vermehrt.
Erst mit der Gründung des „Knnstvereines für Böhmen" beginnt — später als in
den nachbarlichen Ländern — der von bestem Erfolge gekrönte Wetteifer der Prager
Künstler, mit den unter günstigeren Verhältnissen schaffenden Kunstgenossen anderer großer
Kunststädte gleicheil Schritt zu halten. Das Resultat der ersten unter der Geschäftsleitung
des Grafen Thun nach seinen Grundsätzen durchgeführten Kunstausstellung war ein so
günstiges, daß aus dem Reinerträgnisse derselben dem Bildhauer Emanuel Max, welcher
als erster Stipendist der Klar'schen Künstlerstiftnng im Mai 1839 seine Römer-Reise
antrat, 600 Gulden Conventions-Münze gewidmet werden konnten.
Mit dem Eintreten des Grafen Franz Thun in das öffentliche Kunstleben beginnt
eine neue Periode, die Glanzzeit in der neueren Geschichte der bildenden Künste in Böhmen.
Im Allgemeinen waren die Verhältnisse damals schon günstiger als zu Anfang des Jahr -
hunderts. Hofrath M. Dr. Josef Hoser, Leibarzt Erzherzog Karls, ein geborener Böhme,
übersiedelte mit seiner kostbaren, etwa 300 Gemälde zählenden Sammlung, welche vordem
in Wien Künstlern und Kunstfreunden zugänglich war, im Jahre 1844 nach Prag, innige
Liebe zu seinem Geburtsland vermochte den edlen Mann, noch bei Lebzeiten sich von
seinem Schatz, welchen er vierzig Jahre lang mit feinen: Verständniß und großen Opfern
gesammelt hatte, zu trennen, um ihn zu einem „nützlichen Gemeingut der Natwn" zu machen.
398
In dieser Absicht übergab er seine Sammlung der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde
in die Verwaltung, welche sie mit ihrer Gcmüldegallerie vereinigte.
Ein anderer kunstsinniger Privatmann, der Domänenbesitzer Anton Veith, unter -
nahm es, auf seinem großen Besitz Liboch bei Melnik aus eigenen Mitteln eine „Slavln"
genannte Art Walhalla zu erbauen, bestimmt, die Standbilder der hervorragendsten
Männer und Frauen Böhmens anfzunehmen. Dieser monumentale Bau (im maurischen
Stil mit einem Thurm), zu welchem der Münchener Architekturmaler Wilhelm Gail die
Pläne entworfen hatte, blieb nach dem Tode Veiths leider unvollendet. Von den von
Ludwig Schwanthaler in München modcllirten Standbildern in Überlebensgröße sind in
München nur acht in Erz gegossen und vollendet worden: Libusa, Premysl, der heilige
Wenzel, König Ottokar II., Königin Elisabeth, Erzbischof Ernst von Pardubitz, König Georg
und Bohuslav von Lobkowitz, welche dem Böhmischen Nationalmnseum zufielen. In der
prachtvollen Ehrenhalle (Pantheon) des kürzlich vollendeten neuen Museumgebäudes haben
diese schönen Werke Ludwig Schwanthalers endlich eine würdige Aufstellung gefunden.
Die Modelle einiger anderer dieser für den „Slavin" bestimmten Standbilder stehen noch
im Schwanthaler-Museum in München und harren vergeblich der Ausführung in Erz.
Im Jahre 1845 wurde ein monumentaler gothischer 23 Meter hoher Brunnen
vollendet, welchen die böhmischen Stände nach dem Entwürfe des Architekten Kranner
zu Ehren des Kaisers Franz I. auf dem Franzens-Qnai in Prag errichten ließen. Das
Reiterbild des Kaisers, ausgeführt von Josef Max, dem Vater des bekannten Malers
Gabriel Max, ist von Bnrgschmiedt in Nürnberg in Erz gegossen. Die übrige», die
16 Kreise Böhmens und die Hauptstadt Prag charakterisirenden Figuren, in Stein ans -
geführt, sind ebenfalls von Josef Max. — Wenige Jahre später, im Jahre 1848, wurde das
anläßlich der 500jährigen Jubelfeier der Prager Universität dem Gründer derselben, Kaiser-
Karl IV. gewidmete Denkmal enthüllt. Es ist von Ernst Hähnel in Dresden entworfen und
modellirt (1846 vollendet) und von Bnrgschmiedt in Nürnberg in Erz gegossen.
Nach dem Tode Franz Kadliks wurde Christian Rüben (geboren 1805 zu
Trier, gestorben 1875 zu Wien), ein ehemaliger Schüler der Düsseldorfer Akademie unter
Peter Cornelius, zur Leitung der Prager Kunstschule berufen. Seit 1826 zu München
ansässig, hatte er sich an den Cartons zu den neuen Glasfenstern für den Regensburger
Dom und für die von König Ludwig neu erbaute Aukirche bei München betheiligt.
In Christian Rüben fand Graf Franz Thun den richtigen Mann zur Durchführung
seiner Ideen. Obwohl als Maler nicht hervorragend thätig, da er seine Zeit zumeist der
Schule widmete, verstand es Christian Rüben wie keiner seiner Vorgänger, das Talent
seiner Schüler zu wecken, diese zu leiten, durch persönliche» Einfluß die Kunstfreunde für die
Arbeiten seiner Schüler zu intcressiren und dadurch auch glänzende Resultate zu erzielen.
Da 1844 auch Rubens Schwager, der Münchener Landschaftsmaler Max Haushofer
(geboren 1811 zu Nymphenburg, gestorben 1866 zu Starenberg) als Professor an Stelle
des verstorbenen Anton Manes, dann nach dem Abgang des hier nur kurze Zeit
(1843) thätig gewesenen Architekten Gottfried Gutensohn aus Negensburg, der als
Knnstschriftsteller bekannte Architekt Bernhard Grueber als Professor der Architektur
und der Perspective nach Prag berufen wurden, stand das Kunstleben daselbst vollständig
unter dem Einflüsse der damals in München herrschenden Kunstrichtung; auch die jährlichen
Kunstausstellungen des Kunstvereines waren zumeist von München und Düsseldorf beschickt.
Der berühmte Anatom Professor Dr. Josef Hyrtl, von 1837 bis 1845 an der Prager
Universität wirkend, hielt während drei Jahren aus Gefälligkeit Vortrüge für die jungen
Künstler über Anatomie, später Anton Springer, ein geborener Prager, seine ersten
Vorträge über Kunstgeschichte.
Die von Christian Rüben solchergestalt reorganisirte und zur Akademie bildender
Künste erweiterte Prager Kunstschule erfreute sich unter seiner elf Jahre dauernden
Leitung auch jenseits der Grenzen eines vorzüglichen Rufes, der manchen Kunstjünger
ans dem „Reiche" bewog, nach Prag zu kommen, um in die Akademie daselbst einzutreten,
so z. B. Karl Schlesinger aus Lausanne, jetzt in Düsseldorf, Julius Köckert aus
Leipzig, gegenwärtig in München, und Wilhelm Cordes aus Lübeck, welche nach einigen
Jahren wieder nach Deutschland zurückkehrten und als vortreffliche Genremaler wohl-
bekannt sind. Im Gegensatz zu den letzten Jahren, da Kadliks Schüler bei ihrer Arbeit
fromme Lieder anstimmten, namentlich wenn des Meisters Besuch zu erwarten war,
herrschte unter Rüben an der Prager Akademie fröhliches Künstlerleben, große Schaffens -
freudigkeit und Vorwärtsstreben wie nie zuvor. Das frisch pulsirende Kunstleben kam auch
im geselligen Verkehr, zuerst in den regelmäßigen „Künstler-Soireen" beim Grafen Franz
Thun zum Ausdruck, indem diese auch Anlaß gaben zur Gründung der ältesten Prager
Künstlervereinigung „Concordia", welche hier wie dort so ziemlich alle selbständigen wie
auch die jungen aufstrebenden bildenden und dramatischen Künstler, Schriftsteller, Musiker
und Kunstfreunde in seltener Eintracht vereinigte; denn eine Trennung der Gesellschaft
aus sprachlichen Gründen gab es damals noch nicht.
Das erste große monumentale Kunstwerk, welches der Kunstverein für Böhmen aus
den Mitteln seines öffentlichen Fonds unternahm, war ein Cyklus von 14 großen Wand -
gemälden — Darstellungen aus der Geschichte Böhmens — mit welchen der große Saal
des Ferdinand'schen Lustschlosses Belvedere im Prager Schloßgarten geschmückt werden
sollte, nachdem es den Bemühungen des Kunstvereines gelungen war, daß dieses herrlichste
Werk italienischer Renaissance diesseits der Alpen, welches viele Jahre als Artillerie-
Laboratorium, später als Artillerie-Zeugs-Depvt benützt worden war, geräumt wurde.
Böhmen.
Josef Mathias von Trenkwald: „Die Engel" ans der Apsis der Karolinenthaler Kirche.
Christian Rüben, welcher in Prag außer seinem damals viel genannten „Columbus"
nur einige kleinere, aber sehr ansprechende Genrebildchen „Verlassene Klosterzelle",
„Die Sennerin", „Ave Maria", „Der Karthauser-Mönch" gemalt hat, wurde mit dem
Entwürfe des Ganzen und der Cartons betraut, nach denen die Malereien von seinen
begabtesten Schülern Josef Mathias Trenkwald, Karl Swoboda, Ferdinand Lansberger,
Anton Lhota und Franz Cermak, in deren Reihe später auch Einil Lanffcr eintrat,
ausgefnhrt wurden. Um sich mit dem neuen stereochromischen Verfahren, welches bei
diesen Wandmalereien angewendet werden sollte, vertrant zu machen, begaben sich
26
402
Trenkwald und Swoboda nach Berlin, wo sie bei Wilhelm Kaulbach, der eben damals
im großen Treppenhause des neuen Museums seine großen Wandgemälde in dieser Technik
ausführte, diese studiren und einige Proben machen konnten. Die Wandmalereien im
Belvedere, 1848 in Angriff genommen, konnten erst im Jahre 1867 nach öfteren und
längeren Unterbrechungen vollendet werden.
Während der Leiter der Akademie nnd dessen tüchtigste Schüler für Jahre hinaus
mit der Durchführung dieser großen Aufgabe beschäftigt waren, wurde vom Knnstverein
schon ein zweites öffentliches Kunstwerk geplant, mit dessen Ausführung zwei bereits
selbständige junge Künstler, die Bildhauer Josef und Emannel Max, welche ihre
erste Vorbildung an der Prager Kunstschule genossen, hatten, betraut wurden. Diesmal
galt es dem Feldmarschall Grafen Radetzky noch bei dessen Lebzeiten in der Hauptstadt
seines Geburtslandes ein ehernes Denkmal zu errichten. Die beiden Brüder Max theilten
die Arbeit, indem Josef, der ältere, die Soldatengrnppe, die Vertreter aller Truppen -
gattungen, welche ihren siegreichen und geliebten Feldherrn ans den Schild erheben,
dagegen Emannel, der nach zehnjährigem Aufenthalt in Rom heimgekehrt war, die Haupt -
figur, das Standbild des Helden, übernahm. Das Denkmal, in Erz gegossen von Daniel
Bnrgschmiedt in Nürnberg, wurde im November 1858 in Gegenwart des Kaiserpaares
feierlichst enthüllt — zehn Monate nach dem Tode Radetzky's.
Jndeß hatten sich in Prag auch von auswärts tüchtige Künstler eingefunden,
welche hier reichliche Beschäftigung fanden und sich dauernd niederließen. Zu diesen
gehört der vortreffliche Porträtmaler Alexander Clarot und der Landschaftsmaler
Croll, beide aus Wien, dann August Piepenhagen aus Soldin in der Nenmark,
dessen meist kleine, sehr gefällig behandelte stimmungsvolle Landschaften ebenso zahlreiche
Liebhaber fanden wie die hübschen, in Gouache ansgeführten kleinen Landschaften des
heimischen Franz Nawratil (geboren 1798 in Schlau). Als tüchtige Porträtmaler
waren Franz Wiehl (geboren 1815 zu Tremosnic) und der 1814 in Kacerov geborene
Thaddäus Mayer sehr gesucht. Ihr Wirken nnd Schaffen fand einen festen Grund
in der neu geweckten Kunstliebe und dem rege gewordenen Kunstbedürfnisse des wohl -
habenden Mittelstandes. Ein interessantes Beispiel dafür sind die schönen Landschaften,
welche ein kunstsinniger Prager Bürger in seinem an die Neumühlen grenzenden Wohn-
hause durch F. Nawratil direct ans die in große Felder getheilten Wandflächen eines
geräumigen Salons malen ließ, dann die Wandmalereien desselben Künstlers im Schlosse
Liboch des als Kunstfreund bekannten, schon erwähnten Domänenbesitzers Anton Veith.
Unter den zahlreichen und vorzüglichen Schülern Rubens befanden sich auch einige
der schon oben genannten jungen Künstler, welche er von seinem Vorgänger übernommen
hatte und die an dem regen Kunstleben sich freudig betheiligten. Zu diesen gehört
404
Josef Manes (geboren 1821, gestorben 1871 zn Prag), wohl der volksthümlichste
Künstler Böhmens. Ans Grnnd eingehender, ernster Costümstudien, vorzugsweise in den
von Cechoslaven bewohnten Landestheilen von Böhmen, Schlesien und dem nördlichen
Ungarn, in denen sich die Bevölkerung noch unvermischt, die althergebrachten Sitten und
Gebräuche, die Art ihrer Trachten und Gerüthschaften unverfälscht und rein erhalten
haben — Studien, die sich mit außerordentlicher Sorgfalt und Liebe auf die scheinbar
geringsten Einzelnheiten der bei Wäsche, Kleid und Geräthe angewendeten Verzierungen
erstreckten, wußte er wie kein anderer das den Cechoslaven nicht nur im Wesen, sondern
auch im Äußern Gemeinsame und Eigenartige zusammenznfassen. Seine Werke üben noch
heute einen bedeutenden Einfluß ans eine Reihe der jüngeren Künstler ans, an deren
Spitze Mikolas (Nikolaus) Ales, Obmann des Künstlervereines „Manes", steht.
Josef Manes war ein vielseitiger und äußerst fruchtbarer Künstler von unerschöpf -
licher Erfindungsgabe, der die verschiedenartigsten ihm gestellten Aufgaben mit Sicherheit
zn lösen verstand. Seine Illustrationen zur „Königinhofer Handschrift", dann zu „Faust"
in Schwabs „Deutsche Volksbücher" und viele andere zeichnete Josef Manes selbst in
mnstergiltiger Weise ans Holz und überwachte ihre sorgfältige Ausführung; jene zu
den von Karl Bellmann in Prag heransgegebenen Werken sind die ersten in Prag
ausgeführten, den höchsten künstlerischen Anforderungen entsprechenden Holzschnitte,
welche nicht ohne nachhaltigsten Einfluß blieben auf die weitere Entwicklung dieses seitdem
von tüchtigen einheimischen Künstlern zu hoher Vollendung gebrachten Kunstzweiges.
In Öl hat Josef Manes verhältnißmäßig wenig gemalt. Das umfassendste Werk
dieser Art ist seine Kalenderscheibe für die alterthümliche astronomische Uhr am Altstädter
Nathhause mit den Darstellungen der zwölf Monate und den Sternbildern des Thier -
kreises. Diese, sowie seine Cartons und in Aquarell ausgeführten Skizzen zu einem
ans fünfzehn Bildern bestehenden Cyklus „Das Leben und Treiben ans einem großen
Landsitze", welche als Vorlagen für die im Schlosse Horovitz von anderer Hand
ausgeführten Wandmalereien gedient haben, gehören wohl zu jenen Werken, in welchen
Josef Manes seinen Neigungen am zwanglosesten nachgeben konnte. Von Josef Manes
sind die Cartons (im Rudolphinnm) zu den durch die architektonische Umrahmung
vereinigten zwanzig Reliefs am Hauptportale der Karolinenthaler Kirche, welche von
Ludwig Simek modellirt, in der Danek'schen Maschinenfabrik in Bronze gegossen
und von einem Theilhaber derselben, Josef Goetzl, dem Stifter des Kunstwerkes, ciselirt
wurden. Dieses Portal ist der erste in der Neuzeit in Böhmen ansgeführte Knnsterzgnß.
Im Jahre 1851 wurde Franz Graf Thun als Referent für Kunstangelegenheiten in
das k. k. Unterrichtsministerium und bald darauf (1852) Christian Naben zur Leitung der
k. k. Akademie der bildenden Künste nach Wien berufen. Von seinen drei Licblingsschülern,
406
welche Rüben von Prag nach Wien mitgenommen hat, ist Josef Mathias von
Trcnkwald als vornehmster Vertreter der kirchlichen Malerei in Österreich Führichs
würdiger Nachfolger in dessen Knnstrichtnng und seit 1870 in dessen Lehramt an der
Wiener Akademie. Während Swoboda und Laufberger seit jener Zeit, abgesehen von
ihren Studienreisen, in Wien blieben, kehrte Trcnkwald nach dreizehnjähriger Abwesen -
heit, während welcher er einige Jahre in Italien gelebt und in der Gruftkapelle des Baron
Revoltclla zu Triest das Leben des heiligen Pasquale gemalt hatte, in seine Vaterstadt
Prag zurück, um hier die Leitung der Kunstakademie zu übernehmen. Nachdem er noch
die bereits in Angriff genommenen Malereien im Wiener akademischen Gymnasium
vollendet hatte, übernahm er die Ausmalung der großen Apsis in der Karolinenthaler
Kirche. Von Trenkwalds Ölgemälden besitzt Graf Desfours-Waldcrode „Die Schlacht
bei Lipan", eines der ersten Werke, 1849 für den Vater des gegenwärtigen Besitzers
gemalt, und die kaiserliche Gemäldegallerie in Wien wohl sein bedeutendstes „Herzog
Leopold des Glorreichen Einzug nach Wien nach seiner Rückkehr aus dem Krenzzuge
im Jahre 1219". Die Prager Gemäldegallerie besitzt den Carton zu dessen durch den
Stich bekannten „Ablaßprediger Tezel". Edel in der Empfindung und von vollendeter
Schönheit sind Trenkwalds Compositionen im Marienchor der Wiener Votivkirche,
welche die Legenden der Marien-Gnadenorte Österreich-Ungarns darstellen, und seine
Glasfenster in den betreffenden Kapellen daselbst. 1895 wurde der Künstler in den
Adelsstand erhoben.
Karl Swoboda (geboren 1826 zu Planitz, gestorben 1870 zu Wien) malte zumeist
Geschichtsbilder. „Die besiegten Mailänder vor dem Kaiser Friedrich Barbarossa" war
von der „Verbindung für historische Kunst" bestellt, vom Kunstverein für Böhmen als
Teilnehmer derselben im Jahre 1868 gewonnen worden; durch diesen kam das Bild in
die Prager Gemäldegallerie. Zu Karl Swoboda's bekanntesten Werken gehören: „Johanna
von Castilien bei der Leiche ihres Gatten", „Die Gefangennahme des Kurfürsten Johann
Friedrich von Sachsen", ferner „Johann von Sachsen mit Lukas Cranach und Luther"
und „Karl V. nach der Schlacht bei Mühlberg". Außerdem zeichnete er viele Illustrationen
auf Holz, zumeist für böhmische Verleger.
Der dritte der genannten Ruben-Schüler, welcher ebenfalls seit 1852 in Wien
seine Heimat fand, Ferdinand Lanfberger (geboren 1829 zu Mariaschein, gestorben
1881 zu Wien) und Guido Meines, der jüngere Bruder des wiederholt genannten
Josef Manes (geboren 1829 und gestorben 1880 in Prag), welcher in seiner Vaterstadt
blieb und erst in reiferen Jahren längere Zeit in Düsseldorf arbeitete, malten anfangs
geschichtliche Gegenstände, später jedoch mit großem Erfolge gemüthvolle Genrebilder,
welche beide mit einem Anstug von heiterem Humor behandelten. Guido Manes gehört zu
408
den wenigen böhmischen Malern, welche Thierstücke gemalt haben. Ferdinand Lanfberger,
durch seine Studien während seines längeren Aufenthaltes in Italien dazu angeregt,
widmete sich, nach Wien zurückgekehrt, der Monumental-Malerei, worin er Vorzügliches
leistete. In seiner Stellung als Professor an der Kunstgewerbeschule des österreichischen
Museums in Wien hatte er einen hervorragenden Antheil an dem Verdienste dieser
Anstalt um die Hebung der Kunstindustrie in Wien und Österreich.
Jaroslav Cermak, einer der bekanntesten und vorzüglichsten böhmischen Maler
(geboren 1831 zu Prag, gestorben 1878 zu Paris), kann wohl nicht mehr als Schüler
Christian Rubens angesehen werden, obwohl er unter dessen Leitung an der Prager
Akademie studirte, und obgleich sein erstes Bild, welches er daselbst gemalt und 1849 in
Prag ausgestellt hat, „Marius auf den Trümmern von Carthago" sich durch nichts von
den Arbeiten seiner damaligen College» unterschied; denn er war der Erste, welcher sich
dem damals in Prag unter Rüben und Haushofer allein herrschenden Münchener Einfluß
entzog, indem er bald nach Antwerpen übersiedelte, um daselbst in die unter dem Direetor
Gustav Wappers stehende Akademie und dann bei Louis Gallait als Schüler einzutreten.
Schon die ersten Bilder, welche Jaroslav Cermak von Antwerpen aus in Prag
ausstellte, „Simon Lomnickh von Budec auf der Prager Brücke", jetzt in der Gallerie
des Grasen Czernin in Wien, und „Nach der Schlacht auf dem Weißen Berge", im Besitz
der Frau Zang in Wien, überraschten die Prager Künstler und Kunstfreunde durch das
Neuartige und namentlich durch die hohe technische Vollendung, welche Cermak in so
verhältnißmäßig kurzer Zeit in Belgien erworben hatte. Nach einigen Jahren übersiedelte
er von Antwerpen nach Paris, wo er sich ansässig machte und zu den bekanntesten Malern
zählte. Von Paris aus unternahm Cermak große Studienreisen nach der Herzegowina,
Bosnien und Montenegro, wo er sich längere Zeit am Hofe des Fürsten Danilo aufhielt.
Dem Volksleben der Montenegriner und ihrer ebenso kampf- und ranblnstigen Nachbarn
sind die meisten und die bedeutendsten seiner Gemälde entnommen, so die „Kriegsbeute"
(1868) in den königlichen Museen zu Brüssel, und „Verwundeter Montenegriner" (1873),
Eigenthum der südslavischen Akademie zu Agram. Eine groß angelegte Composition
„Gefangene Christenfrauen von Baschi-Bozuks bewacht", welche von der Gesellschaft
patriotischer Kunstfreunde für ihre Gemäldegallerie bestellt war, blieb leider infolge
seines Todes unvollendet. Amnuthig durch die Kinderschaar, welche vor dem Husiten-
führer Prokop um Gnade für die Belagerten bittend erscheint, ist das in Paris befindliche,
1875 gemalte Bild „Die Husiten vor Naumburg". Jaroslav Cermaks Ölgemälde
zeichnen sich durch glänzendes Colorit, durch meisterhafte Technik in Farbe und
Zeichnung aus. Nicht minder gilt dies auch von seinen mit außerordentlicher Vollendung
ausgesührten Aquarellen, von denen im Rudolphinum eine größere Anzahl ausgestellt ist.
410
Einzelne Werke Jaroslav Cermaks, die von Antwerpen und Paris ans gelegentlich in
die Prager Kunstausstellungen gelangten, fanden lebhaften Beifall und die Bewunderung
feiner älteren und jüngeren Cvllegen, deren einige, feinem Beispiel folgend, nach Antwerpen
zogen, um an der dortigen Kunstschule ihre Studien zu vollende«, insbesondere aber
eine größere technische Fertigkeit im Malen, als dies bis dahin in Prag möglich war, zu
erlangen. Bon den älteren waren dies die schon erwähnten Karl ^avnrek und
Franz Cermak, von den jüngeren Gustav Poppe (geboren 1828 und gestorben 1859
zu Prag). Die beiden Bilder, welche dieser begabte, jung verstorbene Künstler im
Jahre 1855 bald nach seiner Rückkehr in Prag malte, „Bürgermeister van der Werff bei
der Belagerung der Stadt Lehden" und „Scene ans der Belagerung von Missvlunghi
(1856) sind ganz unter dem Einfluß der Antwerpen»- Schule gemalt. Außer diesen folgten
seither dem Beispiel Jaroslav Cermaks bis zum heutigen Tage zahlreiche junge Künstler
Böhmens, indem sie ihre Ausbildung in Paris suchten, wodurch der lang anhaltende
ausschließliche Einfluß Münchens in Prag gebrochen wurde.
Nach der Übersiedlung des Grafen Thun und des Directors Christian Rüben
gestalteten sich die Prager Knnstverhältnisse für die beiden nächsten Nachfolger Rubens
wieder sehr ungünstig. Als schaffende Künstler fanden sie leider keinen genügenden
Wirkungskreis und fühlten sich durch die wieder recht kleinlich gewordenen Verhältnisse
in Prag sehr beengt. Kein Wunder, daß Eduard von Engerth, welcher von 1854 bis
1865 und nach ihm Josef Mathias von Trenkwald von 1865 bis 1872 die Leitung
der Prager Kunstschule mit großer Liebe und Hingebung übernommen hatten, die günstige
Gelegenheit ergriffen, nach Wien zu übersiedeln, als ihnen Professuren an der dortigen
Akademie der bildenden Künste angeboten wurden.
Eduard von Engerth war der erste Director der Prager Akademie, welcher grund -
sätzlich das Malen nach der Natur als Lehrgegenstand einführte, eine besondere Classe
dafür einrichtete und damit tüchtige Maler bildete. Engerth sowie Trenkwald hatten als
Lehrer talentirte und ihren Meistern ganz ergebene Schüler, deren viele als Künstler und
als Professoren der Prager Akademie, der k. k. Kunstgewerbeschule und anderer Fachschulen
gegenwärtig hervorragende Stellungen einnehmen. Als Engerth und Trenkwald nach
Wien übersiedelten, folgten ihnen einige ihrer besten Schüler dahin, wie dies schon 1852
bei ihrem Vorgänger Rüben der Fall gewesen war.
Nur einige Jahre, von 1874 bis 1879, wirkte auch der Antwerpen» Maler Jan
Sw erts (ein Schüler Nicaise de Keysers), welcher mit seinem Freunde Godefroy Gnffens
in Belgien die an die nendeutschen Classiker anschließende Richtung vertrat, in Prag als
Director der Akademie. In Belgien hatte er mit Gnffens eine Reihe von Wandgemälden
religiösen und geschichtlichen Inhalts geschaffen; in Prag lieferte er die Entwürfe und
411
Farbenskizzen für die Wand- und Glasmalereien in der St. Anna-Kapelle der Prager
Domkirche, welche der Kunstvcrein für Böhmen nebst dem Altar daselbst aus den „Bütteln
feines öffentlichen Fondes" stiftete. Die Ausführung überließ Swerts zwei selbständigen
Prager Künstlern, Franz Cermäk und Professor Emil Lauscher; ebenso verwendete
er bei den Wandmalereien im Rathhause zu Courtrai seine beiden ehemaligen Prager
Schüler Franz Zenisek und Gottfried Roubalik.
Die größere Freiheit, welche die seit den Sechziger-Jahren vvm Reichsrathe jährlich
bewilligten Reisestipendien den Künstlern in der eigenen Wahl ihres Reisezieles und rhres
Studienganges gewähren, infolge dessen sich dieselben nicht mehr auf Italien allein
beschränken, sondern sich auch nach Wien, München und immer mehr nach Paris wenden,
die in der Neuzeit ungemein erleichterten und darum vielfachen großen Studienreisen, der
Einstich der nach meist mehrjährigem Aufenthalt in anderen Kunststädten heimgekehrten
Künstler, besonders aber das seither gepflegte gründliche Studium der Natur, begünstigten
die freie Entwicklung der individuellen Begabung, im Gegensatz zu den früher herrschenden
Anschauungen, welche so manches frische und keimfähige Talent unter dem Zwange der
„Schule" verkümmern ließen. Die Künstler Böhmens stehen nicht mehr wie vordem
vergessen und abseits vom großen Weltverkehr; gegenwärtig wirken sie mit an der
allgemeinen Kunstbewegung und manche von ihnen nehmen in derselben einen hervor -
ragenden Platz ein. Sie nehmen Theil an dem Wettbewerb mit ihren auf den großen
internationalen Kunstausstellungen vertretenenKuustgenossen aller Nationen und die ihnen
hier von diesen als Preisrichtern zu Theil gewordenen Auszeichnungen und Anerkennungen
kennzeichnen am besten die geachtete Stellung, welche die Maler und Plastiker Böhmens
in der Neuzeit einnehmen. , .
Die schönen und bedeutenden Aufgaben, welche Malern und Plastikern bei Aus -
schmückung von Kirchen (Domkirche auf dem Hradschin, St. Cyrill und Method in
Karolinenthal, St. Wenzels-Basilica in Smichow, bei St. Heinrich) und von anderen
öffentlichen Gebäuden (Rathhäusern, Spareassen, Schulen und Theatern) in Prag und
anderen Städten Böhmens, insbesondere bei den, mit großem Aufwand prachtvoll
ansgestatteten böhmischen Nationaltheater, bei welchem diese Arbeiten grundsätzlich nur
einheimischen Künstlern zur Ausführung übertragen wurden, dann bei Privatgebauden,
wie der Vubentscher Villa des Adalbert Ritter von Lamm, dem palastartigen Wohngebam e
des Banunternehmers Johann Schebek und an vielen anderen Orten zufielen, haben
die monnmentale und decorative Malerei und Plastik außerordentlich gefordert
Der Rau.» gestattet nicht, die große Tätigkeit der böhmischen Maler und Plastiker
ans diesem Gebiet der idealen Kunst, wie auch in den anderen Richtungen während der letzten
Jahrzehnte voll zu würdigen; nur ihre bekanntesten Schöpfungen seien hier kurz erwähnt.
412
Außer dem in Wien ansässigen Josef Trenkwald ist Franz Sequens, Professor an
der Akademie in Prag, als Vertreter der streng kirchlichen Malerei, ein vielbeschäftigter
Künstler. Von ihm sind die Wandmalereien und die Glasfenster der Martinitz'schen und
Waldstein'schen Kapellen der Prager Domkirche, zwei große Glasfenster in der
St. Heinrichskirche und zwei in der Wiener Votivkirche, die Wandgemälde im Hauptschiff
der neu erbauten St. Wenzels-Basilica in Smichov und sämmtliche Glasfenster
daselbst. Die Ausmalung der beiden Apsiden in den Seitenschiffen dieser Basilica
wurden 1893 von Professor Max Pirner und Sigmund Rudl, der Entwurf und die
Ausführung der Cartons für das große Mosaikgemälde in der Apsis des Hauptschiffes
von Professor Josef Trenkwald in Wien übernommen. In der Karolinenthaler Kirche
haben sich nach dem letztgenannten auch Peter Maixner und in den letzten zehn
Jahren Professor Franz Zentsek betheiligt, von welch letzterem auch die Cartons für die
sämmtlichen Glasfenster herrühren. Zu dieser Gruppe der religiösen Maler gehört Felix
Jenewein von der strengeren Richtung seines Meisters Jan Swerts, dann Johann
Mathauser mit seinem figurenreichen großen Gemälde „Christus auf Golgatha" und
seinen Wandgemälden, welche er im Kreuzgange der bekannten Wallfahrtskirche auf dem
Heiligen Berge bei der alten Bergstadt Pribram gemalt hat. Emanuel Liska erhöht den
Eindruck der tief empfundenen religiösen Darstellungen durch eine gute malerische Wirkung
(„Christus im Gebet auf dem Ölberge", „Nater dolorosa", der „Glaube"). Das größte
und bedeutendste Werk Liska's, „Kaiser Maximian erscheinen seine Opfer", ist leider durch
Brand zerstört worden. Eines seiner jüngsten Werke ist der „Traum Michel Angelo's".
Bei der Ausschmückung des mit großem Aufwand errichteten böhmischen National -
theaters fanden viele böhmische Maler und Plastiker reichliche Gelegenheit sich auszuzeichnen.
In den zur königlichen Hofloge gehörigen Prachträumen — Stiegenhaus und Salons —
sind die geschichtlichen Darstellungen von W. Broztk, die Allegorien von A. Hynais und
die ans der Sage oder Geschichte bekannten böhmischen Landschaften von Julius Makak
gemalt, von A. Hynais auch der Hauptvorhang. Die Malereien im Foyer und in den
Lünetten der großen Loggia sind von M. Ales, Franz Zentsek und Josef Tulka.
In dieser Richtung thätig sind auch Max Pirner („Dämon Liebe", Cyklus von
13 Pastellbildern, ,14ois"und „Mythologische Mesalliancen", Cyklus von 12 Ölgemälden),
ehemaliger Trenkwald-Schüler, ferner der Geschichtsmaler Adolf Liebscher (Zizka mit
den Taboriten vor Kuttenberg), welcher sich mit hübschen Skizzen an dem Concurs für
die projectirten umfangreichen Wandmalereien im Kunsthofe des Rudolphinums betheiligt
hat,und V. Masek, Alfons Mncha (in Paris), endlich Karl Klnsacek (Tanz, Musik
und Gesang, Gobelin-Imitation, Kleinstädtischer Kastengeist), dessen colorirter Carton
„Gute Verwaltung" in der Landesausstellung 1891 von Seiner Majestät gekauft wurde.
414
Unter den böhmischen Malern dieser Richtung ist Adalbert (Vojtech) Hynais
wohl der bekannteste und bedeutendste. Im Jahre 1854 in Wien als Sohn böhmischer
daselbst ansässiger Eltern geboren, bewahrt er eine große Anhänglichkeit an Böhmen. Viele
Jahre hindurch in Paris ansässig, betheiligte sich Hynais auch an der Ausschmückung der
Jnnenräume im Wiener neuen Hofbnrgtheater. Von ihm sind die Lunettenbilder mit
den Gestalten der größten dramatischen Dichter aller Zeiten. Die gemalten Skizzen, in
Ein-Fiinftel-Größe der Ausführung, besitzt die Gemäldegallerie im Rudolphinum zu Prag.
Außer allegorischen und mythologischen Darstellungen, für decorative Zwecke im großen
Maßstabe ausgeführt, malt Hynais auch kleinere Genrebilder — meist mit einer Figur
— die sich durch äußerst delieate Behandlung auszeichncn. „Die kleine Leserin", eines
der schönsten dieser Art, „In Verlegenheit" besitzt Seine Majestät.
Ein ganz eigenartiger Künstler, der eine neue Richtung verfolgt, ist Gabriel
Max (geboren 1840 zu Prag), ein Sohn des schon genannten Bildhauers Josef Max.
Nachdem er von 1854 bis 1858 die Prager Akademie unter Eduard Engerths Leitung
und dann einige Jahre jene in Wien besucht und von 1861 angefangen wieder in seiner
Vaterstadt gearbeitet hatte, zog es ihn 1863 nach München, wo er bei Professor Piloty
eintrat. Die heilige Julia, die Märtyrerin am Kreuze, vor welchem ein beim Morgengrauen
heimkehrender Jüngling von Andacht ergriffen seinen Kranz niederlegt, ist eines seiner
ersten Bilder, durch welches er sich sofort großen Ruf erwarb, als es in der Pariser Welt -
ausstellung 1867 ausgestellt war. Dieses, sowie die Mehrzahl seiner zahlreichen Gemälde
sind durch Nachbildungen und Wanderausstellungen bekannt. Wir erinnern an das
„Adagio", an das „Frühlingsmärchen", an „Die blinde Märtyrerin in den Katakomben",
an „Letzter Gruß", als welcher einer den Löwen der Arena preisgegebenen christlichen
Märtyrerin eine Rose zugeworfen wird, an den weitbekannten „Christuskopf auf dem
Schweißtuche der heiligen Veronika" mit offenen und geschlossenen Augen und „Es ist
vollbracht", an „Ahasver an der Leiche eines Kindes", an den „Vivisector", „Christus
heilt ein Kind" (im Besitz der Nationalgallerie in Berlin). In der Gemäldegallerie seines
Geburtsortes Prag ist Gabriel Max durch ein neueres im Jahre 1892 gemaltes Werk
vertreten; es ist dies „Die Seherin von Prevorst im Hochschlafe", das seine bekannte
Eigenart in Bezug auf die Wahl des Gegenstandes und auf die meisterhafte Darstellung
desselben vortrefflich repräsentirt. In Bezug auf technische Vollendung gibt es wenige
Maler, die ihm gleichkommen. Seit dem Jahre 1877 ist Gabriel Max Professor au der
königlichen Akademie zu München.
In erster Reihe der Geschichtsmaler Böhmens steht Vaclav Brvzik (geboren 1851
zu Nenhütten bei Berann), ein ehemaliger Schüler der Prager Akademie unter Josef
Trenkwald, dann jener zu München und Dresden, welcher seit 1876 in Paris lebt.
41Ö
»
Sein erstes Bild „Eva Popelovna von Lobkowitz bei ihrem Vater im Gefängniß" hat
BrVzlk im Alter von 20 Jahren gemalt. Von seinen großen Geschichtsbildern und seinen
historischen Genrebildern erinnern wir nur an die bekanntesten „Brautwerbung der
Gesandtschaft Ladislaus von Böhmen am Hofe Karl VII. von Frankreich im Jahre 1457",
welches 1880 in die Nationalgallerie zu Berlin kam, „Ein Fest bei P. P. Rubens",
„Christoph Columbus", „Der Fenstersturz im Jahre 1618" n. a.
Sein „Johannes Hus vor deni Concil zu Constanz" wurde in Prag durch ein
Comite gekauft, welches für diesen Zweck eine Sammlung veranstaltet hatte, und ist
gegenwärtig im großen Sitzungssaal des Prager Rathhauses aufgestellt. Seit einigen
Jahren hat sich Brozlk mit gleichem Erfolg einer neuen Richtung zugewandt, welche
Julius von Payer: Kaiser Franz Josephs-Land mit dem verlassenen „Tegetthoff".
zuerst von Jules Breton eingeschlagen wurde, indem er das alltägliche Leben der
französischen Landleute in ungeschminkter und darum fesselnder Wahrheit schildert: Feld -
arbeiter, welche am frühen Morgen ihre Arbeit antreten, Schnitter in erdrückender
Mittagshitze auf dem Felde, im kühlen Schatten von der harten Arbeit rastend oder am
Sonntag beim Nachmittagsplansch vor ihrem Hause. Die Prager Gemüldegallerie besitzt
von Vaclav Brozlk eine „Bretagner Gänsehüterin" als Geschenk Seiner Majestät unseres
Kaisers. Durch seine historischen Genrebilder im kleinen Format, mit außerordentlicher
Sorgfalt ansgeführt, und anderseits durch die große Auffassung seiner Porträts, so z. B.
jenes des Kammervirtuosen Ondrieek, bekundet Brozlk seine große und solide Vielseitigkeit.
Eine ähnliche Vielseitigkeit bethätigt auch Franz Zenlsek (geboren 1849 zu Prag),
Professor an der k. k. Knnstgewerbeschnle daselbst, ein Schüler der Akademien in Prag
und Wien unter Engerth und Trenkwald, durch seine Wandmalereien im böhmischen
Nationaltheater, in der Karolinenthaler Kirche, durch andere religiöse und geschichtliche
»
416
Darstellungen („Heilige Nacht", „Die heilige Familie", „Herzog Udalrich und Bozena")
und durch seine ebenso vorzüglichen Porträts.
Leo Lerch, im Jahre 1892 im Alter von 36 Jahren gestorben, malte anfangs
beinahe nur Porträts — davon sehr viele in Pastell; in seinen letzten Lebensjahren
stellte er sich größere Aufgaben; das poetisch schön gedachte „Irrlicht" und die „Pieta"
waren seine letzten größeren Arbeiten, in welchen er seine hohe technische Meisterschaft
zur vollen Geltung brachte.
Vorwiegend religiöse, geschichtliche oder cnlturgeschichtliche Stoffe behandeln Emil
Lauffer („Bekehrung des Bnlgarenfürsten Boris zum Christenthum", „Chriemhildeus
Klage") und Gottfried Roubalik, der in München ansässige Alfred Seifert aus
Horovitz und außer dem bei einer früheren Gelegenheit erwähnten Adolf Liebscher
unter Andern auch Karl Pavlik aus der Schule Professor Max Pirners, welcher
während seiner kurzen Lebensdauer einige große Gemälde schuf („Kleomenes erscheint
Venus im Traum," der „Römische Sklavenhändler" und „Libusa's Gericht"), in
welchen er seine Begabung für Composilion und als tüchtig geschulter Maler bewährte.
Zu den jüngeren Malern dieser Gruppe gehören Johann Ritter von Skramlik mit
seinem „Kaiser Rudolf II. im Laboratorium seines Alchymisten", Johann Gretsch mit
seinem „Galileo Galilei" und seiner „Vision auf dem Prager Altstädter Ring" und
Karl Dite, derzeit in Rom, mit seinem für eine Schulkapelle in Kuttenberg gemalten
Altarbild und mit seinem großen Gemälde: „Kaiser Karl IV. als Erbauer der Hunger -
mauer ans dem Prager Lorenziberge spendet dem Volke während der Hungersnoth Brot
und Almosen."
Die Genremalerei war während der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts
vollständig vernachlässigt: erst die von auswärts eingesandten Genrebilder in den neuen
Kunstausstellungen scheinen zu solchen Darstellungen angeregt zu haben, seit Rüben die
Leitung der Prager Akademie übernommen hatte. Die Genremalerei ist in Böhmen —
abgesehen von den „Conversationsstücken" eines Norbert Grund (geboren 1714,
gestorben 1767) im vorigen Jahrhundert — nicht älter als fünfzig Jahre, hat sich aber
außerordentlich rasch zu hoher Blüte entwickelt und ist in der Gegenwart durch Meister
vertreten, die in der ersten Reihe dieses Kunstzweiges stehen.
Von seiner ernsten Seite schildert das Leben Jakob Schikaneder (geboren 1855
zu Prag, Professor an der k. k. Kunstgewerbeschule daselbst) in der Mehrzahl seiner dem
Volksleben entnommenen Darstellungen; so in seiner „Trübe Heimfahrt", insbesondere in
seinem „Mord im Hause", einem Bilde von ergreifender Wirkung. Rudolf von
Ottenfeld, geboren 1856 zu Verona als Sohn eines österreichischen Officiers von .
böhmischer Abkunft und in Nachod heimatberechtigt, war Schüler der Wiener Akademie,
WWW
R!s
lAÄ
Adalbert Bartonek: Rekruten.
418
bevor er sich in München niederließ, wirkt aber gegenwärtig wieder in Wien. 1882 fand
er Gelegenheit, Land und Leute Dalmatiens und des Occnpationsgebietes genau kennei»zu
lernen. Ottenfeld beschränkt sich nicht wie Jaroslav Cermäk nur auf Darstellungen aus dem
Leben der Montenegriner und der benachbarten Südslaven, sondern erstreckt dieselben auf
die Bewohner der ganzen Balkanhalbinsel (in seiner „Rückkehr albanesischer Räuber mit
ihrer Beute", in seinem „Alter Geiger und seine Tochter" und in den „Zwei Wächter",
als welche ein bewaffneter Tscherkesse und ein angeketteter Löwe den Eingang eines
Palastes bewachen). Sein großes Gemälde „Gerichtet" schildert den tragischen Abschluß
eines Romans aus dem montenegrinischen Volksleben. Das Leben unserer Soldaten
schildern mit großer Wahrheit Karl Tuma, der die Prager Akademie absolvirt, und
Oskar Rex, der sich in Paris gebildet hat und auch dem modernen Leben einen gewissen
Reiz abzugewinnen weiß. Karl Tuma hat als Reserve-Officier die bosnische Occupation
mitgemncht und blieb seitdem dem licbgewordenen Kriegerstande treu.
Julius von Payer, geboren 1842 zu Schönau bei Teplitz, der bekannte Erforscher
der Ortlergruppe, hat sich zuerst als Nordpolfahrer und mit Weyprecht als Entdecker des
Franz Joseph-Landes (1872 bis 1874), sodann als Maler, zu welchem er sich erst später
(seit 1882) an der Münchener Akademie und in Paris gebildet hatte, durch seine lebens -
vollen Darstellungen einzelner Episoden aus der Franklin-Expedition („Die Bai des
Todes") und seiner eigenen Erlebnisse in den arktischen Gebieten in „Nie zurück" (im
k. und k. knnsthistorischcn Musenm in Wien) einen Weltruf erworben; er ist zumeist
in München, Paris und Wien thätig. Friedrich Friedlünder, geboren 1825 zu Kohl-
Janovitz, ein Schüler Waldmüllers, seit seiner Jugend in Wien lebend, der bekannte
Maler der Invaliden, gehört auch der Geburt nach Böhmen an, ebenso einige andere
in Wien lebende Künstler, wie der Führich-Schüler Eduard von Lüttich, geboren in
Prag, die Genrcmaler Franz Rüben aus Prag und Anton Ebert ans Tachan, Eduard
Lebiedzki ans Bodenbach, Louise von Milbacher aus Böhmisch-Brod und Adolf
Werner aus Lissa, die Landschaftsmaler Johann Nowopacky ans Nechanitz, Johann
Chvala ans Prag, sowie der verstorbene Marinemaler Josef Püttner von Ober-Plan
und der Medailleur Wenzel Seidan von Prag, dann die Bildhauer Vincenz Pilz
aus Warnsdorf, Anton Wagner aus Kvniginhof, Adolf Schaff aus Policka u. a. m.
Vertreter des heiteren Genre ist Adalbert Bartonek. Niemand schildert das
Prager Straßcnleben so treffend wie dieser junge Künstler (geboren 1859 zu Prag),
der unter seinen jüngeren College« bald Nachahmer fand. Zu seinen besten Bildern
gehören in dieser Richtung eine „Straßenscene" mit Dienstlenten, Lehrjnngen und anderen,
welche allerlei mit Asche und Küchcnabsällcn gefüllte Gefäße vor ihre Hansthüren gestellt
haben und nun in Erwartung der sammelnden Gemeindefuhre scherzen und klatschen,
410
und die „Rekruten", welche in angeheitertem Zustande singend über den Grünmarkt
zwischen den Standplätzen der Marktweiber ziehen, ein wahres Bild des Prager Straßen -
lebens. Es ist im Besitz des Baurathes Hlävka, dieses werkthätigen Förderers der Kunst
in Böhmen. Ein nicht minder echtes Prager Bild ist Bartoneks „Streit im Hause"
(Rudolphinnm), ein Streit um das Recht, die Wäsche im Hofe anfzuhängen, welcher von
kampfgewohnten Inwohnerinnen ausgefvchtcn wird, wobei die herbeikommenden Nachbar -
leute ihre Schadenfreude nicht verhehlen können. Alexander Jakesch, welcher am
Anfang seiner Künstlerlaufbahn seine Sujets der Legende der Heiligen („Tod der heiligen
Theodosia"), und Josef Douba, der anfangs die Gegenstände seiner Darstellungen
dem alten Testament entnahm („Abisag"), haben sich später ganz dem modernen Genre
zngewendet, jener mit seinem „Eine alte Geschichte" (Rudolphinnm), dieser mit seiner
„Andacht bei der Johannesstatue auf der Prager alten Karlsbrücke" und einer „Scene
ans der Überschwemmung in Prag im September 1890", besonders aber durch seine
„Plauderstunde" (in einem modernen Salon).
Zn den jüngeren Genremalern, welche sich an der seit 1887 reorganisirten Prager
Maler-Akademie durch gründliches Studium der Natur gebildet haben, gehören auch
Jaroslav Spillar („Der erste Besuch der kleinen in der Stadt auferzogenen Enkelin
bei ihrer im Dorfe lebenden Großmutter") und W. Jedlicka („Erinnerung an vergangene
Tage des Ruhmes"), sowie ihre früheren Collcgen Wilhelm Trsek, Franz Slaby
(„Am Mohnfeld", „Am Bach"), welche sich mit Vorliebe im Freien, ans dem Felde, im
Hausgärtchen bewegen.
Wie in Wien, so besteht auch in München eine Colonie böhmischer Künstler,
welche die dortige Akademie besuchen oder besucht und sich dann dort dauernd nieder -
gelassen und einen zahlreiche Mitglieder zählenden Verein „Skreta" gegründet haben.
Außer manchem schon früher Genannten sind in München ansässig Alfred Seifert, der
auch als Genremaler mit seinem „Münchener Leben" (beim Salvatorbier) viel Beifall
fand, und Jaroslav Vesin ans Vrana bei Schlau, der mit gesunder Realistik das Leben
der slovakischen Landbevölkerung in Ober-Ungarn und ebenso die großen Jagden in Böhmen
schildert. Zn ihnen gehört auch Franz Doubek aus Budweis und mancher andere.
Ludwig Marold, der die Münchener Akademie etwa zwei Jahre besuchte, malte sein
bedeutendstes Bild „Am Prager Eiermarkt" (Prager Gemäldegallerie) nach seiner
Rückkehr an die Prager Akademie im Atelier des Professors Max Pirner. Seit einigen
Jahren lebt er in Paris als vielbeschäftigter und geschätzter Illustrator moderner Romane.
Zn diesen jüngeren Künstlern, welche ihre erste Vorbildung der Prager Akademie
verdanken und dann ihrer weiteren Ausbildung wegen noch auswärtige Kunstschulen besucht
haben, zählen Camill Stuchlik in München, welcher seine Genrebilder und seine in
27*
420
Pastell ausgeführten Bildnisse mit feinem Geschmack behandelst und Josef Nolletschek
in Weimar. Durch elegante Behandlung und angenehmes Colorit erinnert der
aus Frauenberg gebürtige Rudolf Vacha in Paris an die gefällige Art Charles
Chaplins. Auch Emanuel Nadherny in Paris bekundet in seinen Gemälden die
vortreffliche Schule, die er bei Jules Lefebre, Benjamin konstant und L. Doucet
genossen hat. Unter dem Einfluß der französischen Malerei steht auch Hermine Laukota,
die außerdem zu den wenigen gehörst welche die Kunst des Radirens pflegen.
Ein vielseitiger Maler in Bezug auf die Wahl der Gegenstände ist Wenzel Sochor
in Paris, welcher die für die Neuzeit so charakteristische, von Paris ausgehende Freilicht-
Malerei in hervorragender Weise vertritt. Nachdem er sich in seinen ersten Gemälden („Nach
dem Bade", ein Mädchen in einem mit weißem Marmor verkleideten Baderaume) als
feiner Colorist und durch seine Bildnisse, namentlich jenes des Colonel W. Daily als
vorzüglicher Bildnißmaler bewährt hatte, trat er in derPariser Ausstellung 1889 mit einem
umfangreichen Gemälde, dem „Frohnleichnamsfest in Böhmen" (im vollen Sonnenschein
und mit zahlreichen Figuren in Lebensgröße) auf, welches er in seinem Geburtsorte
Citolib gemalt hat, wo er für diesen Zweck ein entsprechend eingerichtetes großes Atelier
bauen ließ. In seinem jüngsten Bild, welches in der Prager Kunstausstellung 1893 zu
sehen war, malte So chor zwei Kühe in Lebensgröße, welche am Rande eines Getreide -
feldes von einem jungen Mädchen und ihrem Begleiter gehütet werden.
Im Gegensatz zu den Malern der Neuzeit, welche die Wahrheit im vollen Licht
und in: Hellen Sonnenschein suchen und dabei manchmal das Gegentheil von dem
erreichen, was sie suchen, läßt Hans Schwaiger seiner Phantasie freies Spiel. Er ist
der begabteste und berufenste Maler von Märchen und allerhand Teufelsspuk („Der
Wassermauu", „Die Höhle von Steenfoll"), den er in launiger Weise behandelt. Von
der höchsten Solidität sind seine in Aquarell ausgeführten Architekturen aus belgischen
und holländischen Städten.
Am Anfang der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts gab es in Prag verhältniß-
müßig wenig Porträtmaler; außer dem schon erwähnten Alexander Clarot aus Wien,
der in Prag bis an sein Lebensende blieb, war Johann Brandeis (gestorben 1872)
der gesuchteste, von den vornehmen Kreisen bevorzugte Bildnißmaler; auch Franz
Wiehl (gestorben 1871), Anton Hölperl und Swatawa Jirecek malten gute
Porträts. Neben diesen waren noch einige Künstler beliebt, welche kleine Porträts in
Aquarell ausführten. Eduard Engerth verstand es, durch die vortrefflichen Porträts,
die er während seiner Wirksamkeit als Director der Prager Akademie malte, das Interesse
für diesen in Prag wenig gepflegten Kunstzweig neu zu beleben. Einer seiner ehemaligen
Schüler, Franz Zentsek, ist gegenwärtig der bedeutendste Bildnißmaler in Prag.
422
Leo Lerch war einer der ersten, welcher bei den Bildnissen junger Damen die gegenwärtig
wieder so beliebte Pastellmalerei einführte, eine Technik, welche jetzt stark in Aufnahme
kam und die namentlich Camill Stuchlik, Karl Grund, Helene Eminger, Theodor
Hilser mit Vorliebe, mit Geschick und Geschmack behandeln. In neuester Zeit wird auch
die lang vergessene Miniaturmalerei durch Gnstava Helmessen und Hedwig Höna-
Senft wieder zu Ehren gebracht.
An der Prager Akademie war das Landschaftsfach lange Jahre hindurch ganz
vernachlässigt worden; denn von 1816 bis 1835, somit durch neunzehn Jahre, und dann
wieder nach Haushofers Tode (1866) blieb die Professur für das Landschaftsfach
durch einundzwanzig Jahre — bis 1887 — ans Ersparungsrücksichten unbesetzt.
Max H aushofer, der zur Zeit seines Schwagers Rüben im Jahre 1844 ans München
an die Prager Akademie berufen worden war, wirkte bis zu seinem Tode als Lehrer der
Landschaftsmalerei anregend auf zahlreiche und begabte Schüler. Obwohl während
22 Jahren in Böhmen ansässig, entnahm Haushofer die Motive für seine Landschaften
ausschließlich seinem Geburtsland Baiern und den nachbarlichen Alpenländern. Der
Chiemsee und das Hochgebirge, die schwüle und unheimliche Ruhe, die dem aufsteigenden
Gewitter vorausgeht, wurde von Haushofer mit besonderer Vorliebe und auch mit
Glück behandelt.
Der älteste von Haushofers Schülern, den er schon als den vorgeschrittensten
Schüler seines Vorgängers Anton Manes übernommen hatte, der in seiner Vaterstadt
Prag lebende und unermüdlich schaffende Friedrich Hawränek (geboren 182l) ist einer
der bedeutendsten Landschaftsmaler Böhmens und einer der eigenartigsten überhaupt.
Sowohl in seinen Ölgemälden als auch in Aquarell behandelt Hawränek Laubbäume
und Strauchwerk, vom üppigsten Pflanzenwnchs überwuchertes altes Gemäuer, die mit
Stroh gedeckten Holzbauten alter böhmischer Bauernhöfe und alle die vielen Details
daran mit der liebevollsten und erstaunlichsten Delieatesse, ohne ihnen die Gesammt-
wirkung zu opfern. Zu den besten seiner sehr gesuchten Bilder gehören der „Wasscr-
tümpel in einem alten Buchenwald" (1856), „Bauernhof in den Sudeten" (1860), eine
„kleine Gasse in Krumau", die „Mühle in Dürrenthal" (1872), die „kleine hölzerne
Mühle in einem Eichenwalde" (1875), die „Ansicht des Schlosses Friedlaud" und
„Ruine einer Mühle im Pnnkwathal in Mähren". Als strenger Zeichner leitet und
überwacht er im Auftrag des hohen Autors seit vielen Jahren die Ausführung der
Holzschnitte für die von Seiner kaiserlichen Hoheit Erzherzog Ludwig Salvator-
gezeichneten Illustrationen zu dessen Reisebeschreibungen und hat auf diesem Wege
eine große Anzahl vortrefflicher Holzschneider im Landschaftsfach — wie vordem Josef
Manes im Fignreufach — herangebildet, von denen die meisten in Prag thätig sind.
423
Auch Alvis Bubak (geboren 1824, gestorben 1871), ein vorzüglicher strenger
Zeichner wie die meisten, welche dieser älteren Schule angehören, hatte ein offenes Auge
für die Schönheiten Böhmens und seiner eigenen Heimat, das Jsergebirge und seine
Umgebung („Muzskyberg bei Münchengrätz" in der Prager Gemäldegallerie). Besonders
schön ist sein „Urwald mit dem Plöckensteiner See im Böhmerwald", welcher durch den
vorzüglichen großen Stich von Karl Post (geboren zu Prag 1834, gestorben 1877 zu
Wien, welcher ebenfalls ein Schüler der Prager Akademie war) sehr bekannt geworden ist.
Manche der späteren Schüler Haushofers standen schon mehr unter dem Einfluß
Eduard Engerths. Einer der begabtesten dieser jungen Landschaftsmaler war der
leider früh verstorbene Adolf Kosarek (geboren 1830 zu Heralec, gestorben 1859 zu
Prag). Trotz seiner Studien im Salzkammergut und ans der Insel Rügen, die er nur für
einige bestellte Bilder benützte, fühlte er sich doch immer nur von seiner Heimat angezogen.
Der ernste Charakter des leicht bewegten Hügellandes mit nur dürftigem Pflanzenwnchs
und weit sichtbare waldreiche Ebenen mit wechselnder Beleuchtung bei interessanten
Wvlkenbildnngen übten auf ihn einen mächtigen Reiz ans, den er trefflich zum Ausdruck
brachte. Die „Böhmische Landschaft" im Rndolphinnm, seine „Landschaft mit Bauern -
hochzeit" im Besitz Seiner Majestät des Kaisers und die Landschaft beim Grafen
Rudolf Czernin in Prag, — eine sumpfige, zum Theil mit Knieholz bewachsene Hochebene
des Riesengebirges, über welche tiefgehende, vom Sturm zerrissene Nebel dahinjagen, —
eines der letzten Werke Kosareks, charakterisiren ihn als den ersten Stimmnngsmaler.
Außer Hawränek leben in Prag von den ehemaligen Haushofer-Schülern Alois
Kirnig und Julius Marak, welcher von Wien, wo er 27 Jahre lang thätig war,
1887 an die Prager Maler-Akademie berufen wurde und hier mit großen: Erfolg
als Professor für das Landschaftsfach wirkt. Maräks poetische Stimmungsbilder „Wald -
einsamkeit" sind durch die Heliogravüren nach den, einen Cyklus bildenden zwölf
meisterhaft behandelten Kohlenzeichnungen, zu welchen Vietor von Scheffel den Text
zu schreiben sich angeregt fühlte, einem jeden Kunstfreund bestens bekannt, ebenso die Vier-
Jahres- und Tageszeiten und der ans dreizehn Kohlenzeichnnngen bestehende Cyklus:
„Österreichische Waldcharaktere", welche Marak im Auftrag des Oberstkämmereramtes
auszusühren hatte.
Wilhelm Riedl (gestorben 1876) lebte einige Jahre, nachdem er die Prager
Akademie verlassen hatte, in Düsseldorf als Schüler Oswald Achenbachs, dann viele Jahre
abwechselnd in Italien und Paris. Riedl war der erste böhmische Landschaftsmaler,
welcher sich ganz der eben damals sich geltend machenden Richtung der Impressionisten
anschloß. Ihm folgten später einige der jüngeren Landschaftsmaler nach Paris, darunter
Marie Kirschner, eine Schülerin Adolf Lier's in München, welche bei Jules Dnpre
424
als Schülerin eintrat. Ganz unter dein Einfluß der Impressionisten stand auch Anton
Chitussi (gestorben 1891). In Barbizon, der bekannten Maler-Colonie bei Fontainebleau
in der Umgebung von Paris, und ebenso nach seiner Rückkehr nach Böhmen malte er eine
große Anzahl kleiner Bildchen, meist unmittelbar nach der Natur.
Benes (Benedikt) Knüpfer, geboren 1848 zu Sychrov, welcher erst vor einigen
Jahren mit seinen meist durch Tritonen, Nereiden und Delphinen belebten Marinen
das Interesse der Künstler und Kunstfreunde erweckte und in den Vordergrund trat,
besuchte die Prager Akademie unter Trenkwald, dann die Piloty-Schule an der
Münchener Akademie; Knüpfer begann seine Künstlerlaufbahn als Figurenmaler
(„Das Ei des Columbus") und erst landschaftliche Studien während eines langjährigen
Aufenthaltes in Italien, und der Erfolg, dessen er sich mit seinem „Wellenspiel", „Stürmisches
Meer", „Brandung", ainours äes onäas" und ähnlichen Motiven erfreute,
bestimmten ihn dauernd für diese Richtung. Das Bild „Bewegtes Meer" mit dem
Abglanz des von der untergehenden Sonne durchleuchteten Wolkenschleiers auf den
Wellen, das 1891 wie schon vordem desselben Künstlers „Frühling am Meere" von einem
Kunstfreunde der Prager Gemäldegallerie im Rudolphinum geschenkt wurde, gehört zu
dem besten in dieser Richtung. Sein „Kampf der Tritonen" wurde 1892 in der Wiener
Internationalen Kunstausstellung für die Kunstsammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses
erworben.
Von den jüngeren in Prag lebenden Landschaftsmalern haben während der langen
Jahre, als die Landschaftsschule der Prager Akademie geschlossen war, ihre höhere
Ausbildung Karl Liebscher an der Wiener Akademie bei Professor Ed. von Lichtenfels,
Wenzel Jansa ebenfalls an der Wiener Akademie und Johann Prousek in
Turnau, der seine volle Liebe den alten Holzbauten Böhmens znwendet, an den Akademien
in Wien, München und Karlsruhe gefunden. Der treffliche Architekturmaler Professor
Georg Stibral und Professor Johann Koula haben sich ihre große Fertigkeit im
Aquarellmalen an den beiden technischen Hochschulen in Prag, Koula außerdem auch
an der Wiener Akademie erworben. Erst die der jüngsten Generation ungehörigen Land -
schaftsmaler waren oder sind wieder Schüler der Prager Akademie, nachdem endlich im
Jahre 1887 die Professur für das Landschaftsfach mit Julius Maräk in der glücklichsten
Weise besetzt worden ist.
Blumenmalerei und Stillleben sind durch Jenny Schermaul in Prag und durch
die in Berlin lebende Landschaftsmalerin Marie Kürschner (geboren in Prag-Lochkov),
in neuerer Zeit durch Philippine Gräfin Buquoy und H. Lindner vertreten.
Für die Thätigkeit der Kupferstecher bot Prag während der letzten fünfzig Jahre
keinen günstigen Boden; die hervorragendsten derselben: Alois Petrak aus Königseck,
425
der viel nach Josef Führich, Overbeck u, A. stach, dann Karl Post, Johann Zitek und
Leopold Schmidt, alle drei aus Prag, gingen schon in jungen Jahren nach Wien, wo
sie ihre zweite Heimat fanden. Die schöne Kunst des Radirens wird in Prag nur von
Professor Julius Maral und Hermine Laukota, aber in hervorragender Weise
geübt; dagegen zählt Prag viele tüchtige Holzschneider, welche für illustrirte Pracht -
werke und illustrirte Wochenschriften beschäftigt sind, so Franz Bartel, Josef Holas,
Johann Jass, We nzel Mära, Franz Richter und Johann Simane u. A.
Emanuel Max: Die heilige Ludmila im St. Veitsdom.
Eine Abtheilung für Bildhauer bestand niemals an der Prager Kunstschule uud
besteht daselbst auch in der Gegenwart nicht; erst seit 1885 gibt es eine Fachschule für
Bildhauerei an der in diesem Jahre eröffnten k. k. Knnstgewerbeschule in Prag. Junge
Leute, welche ihre künstlerische Laufbahn bei einem Bildhauer antraten, konnten an der
Prager Akademie nichts als das Zeichnen üben. Doch waren Direktoren wie Professoren
stets bemüht, diese empfindliche Lücke der Anstalt weniger fühlen zu lassen, indem sie
strebsamen jungen Bitdhauern gern Platz zur Ausführung ihrer Studienarbeiten
gewährten. Trotz dieses Mangels einer eigentlichen Schule hat Böhmen Bildhauer von
420
großem Rufe, die theils in Prag, theils in Wien leben, hervorgebracht. Die Thätigkeit
der ältesten in Prag lebenden Bildhauer, Emanuel von Max und seines verstorbenen
Bruders Josef Max, haben wir bereits zum Theil besprochen. Josef Max (geboren
1804, gestorben zu Prag 1855) und sein jüngerer Bruder Emanuel, geboren 1810,
hatten schon in ihrem Geburtsort Bürgstein (im nördlichen Böhmen) bei ihrem Vater,
der ebenfalls Bildhauer war, Gelegenheit, sich eine tüchtige Handfertigkeit anzueignen.
Josef Max trat bei dem Bildhauer Schumann in Prag ein, besuchte Italien, kehrte aber
früher als sein Bruder nach Prag zurück, wo er zunächst die großen Arbeiten für das Kaiser
Franz-Monument auszuführen hatte. Emanuel Max zog nach Italien, nachdem er
einige Jahre an der Akademie in Wien studirt hatte. Nach zehnjähriger Thätigkeit iu Rvm
kehrte er nach Prag zurück, wo er seinen dauernden Aufenthalt nahm und vielfache
Beschäftigung fand, 1876 wurde ihm der Ritterstand mit dem Prädikat von Wach -
stein verliehen. Unter seinen zahlreichen Werken sind hervorzuheben: die Marmorstatuen
der heiligen Cyrill und Method in der Prager Teynkirche und jene der heiligen Ludmila
in der Domkirche zu St. Veit auf dem Hradschin, ferner das Standbild des Feld -
marschalls Karl Th. Fürsten von Schwarzenberg für die Feldherrnhalle des Wiener
Arsenals. Ein Künstler von feinem Gefühl war Wenzel Levy (geboren 1826, gestorben
1870), der durch Vermittlung seines Protectors, des bereits gewürdigten Kunstfreundes
Anton Veit, bei Ludwig Schwanthaler in München ausgenommen wurde und dessen
Lieblingsschüler war. Von Levy sind in der Kapelle des k. und k. Militär-Curhauses
zu Karlsbad Christus am Kreuze mit knieenden Engeln zu dessen Seiten, ferner die
Statue der heiligen Elisabeth im kunsthistorischen Museum in Wien und des heiligen
Jakob iu der St. Jakobskirche zu Policka, eine thronende Madonna in der Hauskapelle
des Bischofs Stroßmayer in Diakovar, alle in weißem Marmor ausgeführt. Die „Umelecka
Beseda" besitzt eine der ersten selbständigen Arbeiten Levy's, die Gruppe „Adam und
Eva", die er noch in München gearbeitet hat.
Ludwig Simek (geboren 1837, gestorben 1886), ein Schüler Emanuels von
Max, hat wie dieser einige Standbilder (Wallenstein, Pappenheim und Johann von
Werth) für die Feldherrnhalle im Wiener k. und k. Arsenal, alle in Marmor, aus -
geführt. Von ihm sind auch die 20 Relief-Medaillons (in Erz gegossen) an dem Haupt -
portal der Karoliucnthaler Kirche und die Bronzestatue des böhmischen Sprachforschers
Jungmann (1878) auf dem nach diesem benannten Platz iu Prag, dann einige Figuren
in Sandstein für die restaurirte Fa^ade des alten Pulverthurms, für das kunsthistorische
Museum (St. Eligius und Jsidorus von Milet) in Wien, für das Rudolphinum in Prag
und die Reliefs an der Lanna-Schebek'schen Gruftkapelle auf dem Wolschaner Friedhof.
Sein erstes selbständiges Werk war ein großes Marmorrelief an der Klarner'schen
427
Familiengruft in Schlau
(l863). Für die Feldherrn -
halle des Wiener Arsenals
hat auchTh.v masSeidan
(gebaren 1830, gestanden
1890) zwei Standbilder
ansgeführt, jene des Mat -
thias Grafen Gallas und
des Grafen Clerfayt, und
für die Stadt Karlsbad die
Kolossalbüste Peter des
Großen.
BohuslavSchnirch,
ein ehemaliger Schüler der
Wiener und Münchener
Akademie, fertigte das
Modell für die große in
Kupfer getriebene Neiter-
statne des Königs Georg
von Böhmen, welche in
dessen GeburtsortPodebrad
errichtet wurde, auch einige
Figuren auf der Balustrade
des cechischen National-
theatcrs und die für dieses
Theater bestimmten großen
Modelle für zwei Trigen,
welche jedoch bisher noch
nicht zur Ausführung ge -
langen konnten.
Wie in Prag, so gab
auch in anderen Städten
Böhmens der Wunsch, die neu zu erbauenden öffentlichen Gebäude in würdiger Weise
künstlerisch zu schmücken, besonders den Bildhauern vielfache Gelegenheit zu Arbeiten, an
denen sich die Vorgenannten, sowie Professor Josef Brander von der k. k. Staats -
gewerbeschule, Bernhard Seeling, Ludwig Wurzel, Anton Popp und Andere,
- -
Josef Myslbeck: Die Ergebenheit.
428
von Wien ans auch der kürzlich verstorbene Anton Wagner (beim böhmischen National -
theater und beim neuen böhmischen Museum) betheiligten.
Der bedeutendste der jetzt in Prag lebenden Bildhauer ist Josef V. Myslbek,
ein Schüler Trenkwalds und gleichzeitig des Bildhauers Thomas Seidan in Prag, dann
während einiger Jahre bei Wenzel Levy, als dieser einige Arbeiten in Wien ausführte.
Von seinen vielen Arbeiten haben seine „Ergebenheit" für das Parlamentsgebäude in
Wien, dann der heilige Josef mit dem Christuskinde für die Josef Danbek'sche Familien -
gruft nächst Liten, ein gekreuzigter Heiland (in Erzguß) für die Gruftkapelle des Freiherrn
von Ringhoffer in Kamenitz und das Modell für ein Reiterstandbild des heiligen Wenzel,
welches auf dem oberen Theil des Wenzelsplatzes vor dem böhmischen National-Museum
aufgestellt werden soll, ihm auf den internationalen Kunstausstellungen in Wien, München,
Berlin und Paris viele Freunde unter den Kunstgenossen verschafft und mehrfache
ehrende Auszeichnungen erworben. Auch hat Myslbek einige treffliche Porträtbüsten
ausgeführt. Seine jüngste Arbeit ist das große Modell zu einem Denkmal für den ver -
storbenen Prager Fürst-Erzbischof Cardinal Fürst Schwarzenberg, welches diesem in einer
Seitenkapelle des St. Veitsdoms von seinem Nachfolger Cardinal Graf Schönborn
errichtet wird. Josef Myslbek, dem berufensten, war es Vorbehalten, die Leitung der
ersten Prager Bildhauerschule an der 1885 neu eröffnten k. k. Kunstgewerbeschule als
Professor und seit Februar 1893 als Director der ganzen Anstalt zu übernehmen.
Über achtzig Jahre lang war die Geschichte der Malerei und Plastik in Böhmen
beinahe identisch mit jener der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde, so lange diese
die von ihr gegründeten Kunstinstitute nicht nur verwaltete, sondern auch fast ausschließlich
aus eigenen Mitteln erhielt. Erst in der neueren Zeit trat darin ein Wandel ein, indem
sich an der Förderung der bildenden Künste in Böhmen auch noch andere neue Elemente
und mächtige Factoren betheiligten.
Vor Allem ist es die Böhmische Sparcasse, welche seit dem Jahre 1870 jährlich
einen hohen Beitrag zu den Verwaltungskvsten der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde
spendet und aus Anlaß ihres fünfzigjährigen Bestehens (1872) den Beschluß faßte, ein
der Tonkunst, den bildenden Künsten und dem Knnstgewerbe gewidmetes monumentales
Gebäude zu erbauen. Das zu Ehren weiland des durchlauchtigsten Herrn Kronprinzen
Erzherzogs Rudolf „Künstlerhaus Rudolphinum" benannte weitläufige
Gebäude, welches mit einem Aufwand von nahezu zwei Millionen Gulden erbaut wurde,
enthält nebst dem großen Concert-Saal und den nothwendigen Schullocalitäten für
das Conservatorium und den Räumen für das von der Prager Handels- und Gewerbe -
kammer gegründete „Knnstgewerbe-Museum" ausgedehnte und zweckentsprechende Räume,
meist mit Oberlicht, welche im August 1884 der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde
429
für ihre Gemäldegallerie und für die Kunstausstellungen des von ihr verwalteten
Kunstvcreines für Böhmen zur unentgeltlichen und dauernden Benützung und Verfügung
übergeben wurden. Für die Ausschmückung des Knnsthofes im Rudolphinum durch
monumentale Wandmalereien hat die Direction der Böhmischen Sparkasse in neuerer
Zeit überdies noch 80.000 Gulden bewilligt und hat sich Vorbehalten, die bedeutenden
Erhaltungskosten des ausgedehnten Gebäudes selbst zu tragen.
Nicht nur, daß mit dieser großartigen Stiftung den genannten Kunstinstitnten ein
würdiges, sicheres und dauerndes Heim geschaffen wurde, hat die Böhmische Sparcasse
als Gründerin desselben dadurch auch vielfach anregend gewirkt. Vor Allem war die
Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde in die günstige Lage versetzt, von ihrem Plane,
ihr eigenes Gallerie- und Kunstausstellungs-Gebäude zu bauen, abznsehen, die Zinsen
des dafür bestimmt gewesenen bedeutenden Kapitals von mm an zur Vermehrung ihrer
Gemäldegallerie, namentlich zum Ankauf von Meisterwerken lebender Meister zu
verwenden. Der in weiten Kreisen bekannte Kunstfreund Ritter von Lanna ergänzte die
Sammlungen der Gesellschaft durch Stiftung eines kostbaren Knpferstichcabinets,
welches zugleich mit der Eröffnung der Gemäldegallerie im Rudolphinum im
Februar 1885 der Öffentlichkeit übergeben wurde. Ein anderer, dem M. Dr. Josef Hoser
in seiner Liebe zum Heimatslande und feinem Kunstsinn verwandter Kunstfreund, der 1805
verstorbene Apotheker August Rzehorz, Mitglied des Landes-Sanitätsrathes, widmete
der Gemäldegallerie in den Jahren 1884 bis 1895 jährlich einige, im Ganzen 50 höchst
werthvolle Gemälde der besten Künstler der Gegenwart, welche er in der Absicht, damit
zugleich die Interessen des Kunstvereines zu fördern,beinahe ausschließlich in dessen Jahres -
ausstellungen kaufte. Während der letzten zehn Jahre (seit 1883) hat das k. k. Unterrichts -
ministerium sechs in den Kunstausstellungen zu Prag und Wien aus Staatsmitteln
angekaufte Gemälde und ein plastisches Werk österreichischer, meist böhmischer Künstler
der Prager Gemäldegallerie zugewiesen, und erst in den letzten drei Zähren bethätigte
der auch in Böhmen begüterte kunstsinnige regierende Fürst Johann U. von und zu
Liechtenstein nach einem Besuche des Rndolphinums sein lebhafte» Interesse für die
Gemäldegallerie durch Widmung einiger kostbarer Meisterwerke; darunter sind da» in
der Versteigerung der berühmten Collection Wilson in Paris erstandene bekannte Bildniß
des Jan Schade van Westrum von Frans Hals, dann zwei Bildnisse von Ter-Borch und
von Gerritz van Cnpp. Neben diesen Widmungen im größten Lllil haben noch manche
andere Kunstfreunde die Sammlungen im Rudolphinum bereichert. Die dadurch so mächtig
geförderte Gemäldegallerie der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde nimmt
gegenwärtig außerhalb der Residenzstadt Wien unter jenen der diesseitigen Reichshälfte
unstreitig den ersten Rang ein.
4M
Diese seit 1796 bestehende Gemäldegalerie, welche während der ersten Jahre
ihres Bestehens im Graf Czernin'schen Palast (jetzt Franz Josephs-Kaserne), dann
von 1814 bis 1871 in ihrem eigenen, ebenfalls auf dem Hradschin gelegenen Hanse
dem Verkehr zu sehr entrückt war, nach dem Verkaufe desselben aber durch 14 Jahre
in gemietheten und ganz ungeeigneten Wohnzimmern zuerst in einem Zinshanse der
Neustadt, dann in einem Privathanse der Kleinseite nur ein nothdiirftiges Unterkommen
gefunden hatte und daher halbvcrgcssen war, kam erst in dem günstigen Licht der großen
Säle des Nndolphinums und durch die übersichtliche Anordnung, welche dem Fachmann
das vergleichende Studium erleichtert, zur vollen Geltung; sie bietet im Verein mit den
sich immer interessanter gestaltenden Kunstausstellungen des Knnstvereins dem Künstler
Anregungen zum Studium und zu neuem Schaffen. Die Ausstellungen, welche in den
ersten Jahren im Grandprioratsgebände des ritterlichen Malteser-Ordens, dann im Graf
Clam'schcn Palais und später abwechselnd bald in den hochgelegenen Räumen der
Kunstschule im Collegium Clementinum, bald in den Restaurations-Localitätcn des
Saalgcbäudes auf der Sophieninscl stattfandcn und nirgends festen Fuß fassen konnten,
haben endlich ebenfalls im Rndolphinum ein dauerndes Heim und entsprechende Aus -
stellungsräume bekommen.
Gleichzeitig mit der Eröffnung des Nndolphinums übersiedelte auch die Kunstschule
aus den seit dem Jahre 1800 inncgehabten alten Räumen des düsteren Collegium
Clementinum in die Hellen Säle des als Ersatz für dieselben dem Rndolphinum gegenüber
vom Staate neu erbauten — leider nicht ausreichenden — Gebäudes. Auch in diesem
Falle gab die Übersiedlung die Veranlassung, die Anstalt zu reorganisiren. Der Landschafts -
maler Julius Maräk (geboren 1835 zu Leitomischl) uud M axPirner (geboren 1854zu
Schüttenhofen), welche viele Jahre lang in Wien ansässig waren, wurden als Professoren
an die Prager Akademie berufen. Im Verein mit dem schon einige Jahre früher daselbst
als Professor wirkenden Maler Franz Sequens wurde die Anstalt nach Maßgabe der
verwendbaren Mittel vorläufig in eine den heutigen Anforderungen entsprechende „Maler-
Akademie" nmgestaltet, welche aber einer weiteren Entwicklung entgegengeht, nachdem
im Herbst 1893 auch W. Brozik und A. Hynais als Lehrkräfte für dieselbe gewonnen
wurden. Erst durch die von Seite des Reiches und des Landes bewilligten Subventionen
wurde es möglich, der längst erkannten Nothwendigkeit eines intensiveren Naturstudinms
und besonders des hier zuerst durch Engerth eingeführten Malens nach der Natur in vollem
Maße Rechnung zu tragen, indem die Schüler unter der Leitung ihrer Professoren auch
auf dem Lande, in jedem Jahre während einiger Wochen, Studien nach der Natur malen,
landschaftliche wie auch figürliche, letztere nicht nur im geschlossenen Raume, wie dies bisher
allein üblich war, sondern auch im Freien, bei jeglicher Beleuchtung und Stimmung.
431
Seit 1885 besteht neben der Maler-Akademie die k. k. Kunstgewerbeschule,
welche „die Erziehung kunstgeübter Kräfte für das Kunstgewerbe" bezweckt; für die
Professuren dieser reich dotirten Anstalt wurden vorzügliche Kräfte berufen, wie der
Bildhauer Josef Myslbek, die Maler Franz Zenlsek, Emanuel Liska, Jakob
Schikaneder und Andere, welche eine Körperschaft von großer Bedeutung für die
Kunstvcrhültnisse Böhmens in der Gegenwart bilden. Auch die Staatsgewerbeschnlen
in Prag und Pilsen, sowie die in vielen Orten Böhmens eingerichteten k. k. Fachschulen,
an welchen tüchtige Maler und Bildhauer als Lehrer erfolgreich wirken, tragen
Vieles dazu bei, die zeichnenden Künste in Böhmen populär zu machen. Und an dieser
Popnlarisirung nimmt auch die Presse dankenswerthen Antheil. Dies gilt namentlich
von den illustrirten Wochenschriften, welche jedes hervorragendere nengeschaffene Kunst -
werk heimischer Künstler in meist vortrefflichen Nachbildungen bekannt machen.
Das gegenwärtige sehr rege Knnstleben Böhmens, welches sich in Prag concentrirt,
äußert sich auch in mancherlei Vereinigungen der bildenden Künstler, meist in Verbindung
mit Schriftstellern und Musikern, welche theils zur Förderung ernster künstlerischer
und wissenschaftlicher Bestrebungen, theils zur Wahrung ihrer Berufsinteressen oder nur
zu geselligen Zwecken gegründet wurden und neben der ältesten beinahe handelt ^ahie
segensreich wirkenden Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde deren Ziele gewissermaßen
ergänzen. Die „Umeleckä Bcseda" vereinigt (seit 1863) in ihren drei Sektionen für
Literatur, für bildende Kunst und für Musik die cechischen, wie die seit 1871 bestehende,
eigentlich wieder erstandene „Concordia" in ähnlicher Organisirung die deutschen
Künstler und Kunstfreunde zu Bcrathnngen, ernsten Besprechungen und zu geselligen
Zusammenkünften in ihren eigenen Lokalitäten und wie der jüngste Verein „Malier
(seit 1887) die jüngeren cechischen Maler und Plastiker und deren Freunde. Im Sauet
Lukas-Vereine, dem unter dem Protektorat Seiner kaiserlichen und königlichen Hoheit des
Erzherzogs Ludwig Salvator stehenden Hilfs- und Pensions-Vereine bildender Künstler,
welcher bereits ein ansehnliches Vermögen besitzt und gegenwärtig (1893) vierzehn Alters -
und Witwcn-Pensionen zahlt, wirken seil seiner Gründung im December 1870 die Künstler
beider Nationalitäten in immer gleicher brüderlicher Eintracht zum Wohle ihrer College,:
und ihrer Familien.
Die vornehmsten Körperschaften, welche nur die hervorragendsten Männer der
Wissenschaft, der Literatur und der Kunst Böhmens und nur in statutenmäßig beschränkter
Anzahl vereinigen, sind: die 1890 von dem Architekten k. k. Baurath festes Hlävka
gegründete, unter dem Protectorate Seiner Majestät stehende Böhmische Franz Joseph-
Akademie für Wissenschaft, Literatur uud Kunst - ,6eskü ukackemie cisaro
IHaritiSüa loselu pro vöck^, slovosnosi, u nmoni« — und die 1891 von
432
Professoren der beiden deutschen Hochschulen in Prag gegründete „Gesellschaft zur
Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen". Diese
beiden Akademien ergänzen sich nur durch Wahl in den Vollversammlungen und gliedern
sich in einige Abtheilungen, deren je eine die Vertreter der bildenden Künste vereinigt;
beide erstreben in ähnlicher Weise die Förderung wissenschaftlicher, literarischer und
künstlerischer Arbeiten durch Gewährung der nothwendigen Geldmittel, durch Zuerkennnng
von Preisen und von Stipendien zu Studienzwecken aller Art und durch Herausgabe
von Jahrbüchern, welche eine Übersicht über die Leistungen böhmischer Künstler bieten.
Die Runftindustrie.
Es ist gewiß keine leichte Aufgabe, die Entwicklung des Kunstgewerbes in der
ältesten Zeit in einem bestimmten Gebiete, im Bereiche eines bestimmten Landes zu ver -
folgen. Die Producte der mittelalterlichen Kunst haben sich in der Regel nur spärlich
erhalten und die Geschichtsquellen geben uns selten Nachricht über die Pflege des Kunst -
gewerbes. Es berührt schmerzlich, daß wir in der Geschichte Böhmens häufiger Nachrichten
über die Vernichtung der Producte des Kunstgewerbes als über seine Pflege begegnen.
Jede bewegte Epoche brachte die Zerstörung kleinerer Denkmäler des Kunstgewerbes
mit sich; schon in den ältesten Zeiten, während der Regentschaft Otto's von Branden -
burg, unter Heinrich von Kärnten, unter Johann von Luxemburg und schließlich zur Zeit
der Husitenkriege wurde eine Unzahl von kleineren Denkmälern der bildenden Künste
in Böhmen vernichtet. Was damals dem Verderben entging oder neu hergestellt wurde,
das ging im dreißigjährigen Kriege zu Grunde, und wie in der ganzen Monarchie, so
reducirten auch in Böhmen die Finanzverordnungen aus den Jahren 1806 und 1809 die
letzten Überreste der Producte der Goldschmiedeknnst auf ein Minimum.
Infolge dieser Schicksalsschläge ist nun das Land, das einst in verschiedenen Zweigen
des Kunstgewerbes berühmt war, verhältnißmäßig arm an alten Producten dieser Art.
Namentlich gilt dies von der ältesten Zeit, der romanischen Periode. Nur Weniges hat sich
in den streng bewachten Schätzen der Kapitel erhalten und Einiges hat in neuerer Zeit der
Boden, der in seinem Schoße noch so manches Denkmal birgt, ab und zu bei zufälligen
Ausgrabungen ans Tageslicht gefördert. Und was ist von dieser so geringen Zahl das
Product fremden, was einheimischen Fleißes? Kleine und tragbare Gegenstände, wie
es die Erzeugnisse des Kunstgewerbes waren, gehörten ja stets zu den Handels- und
Tauschartikeln. Einiges wurde von fremden Geschäftsleuten importirt, Anderes brachte
ein kunstsinniger, angesehener Liebhaber von seinen Reisen in der Fremde als kostbares
Andenken zurück, Anderes wiederum widmete ein fremder Spender. Und beinahe Alles,
433
was sich erhalten hat, gehört in das Gebiet liturgischer Gegenstände, welche in den
ältesten Zeiten so ziemlich in der ganzen christlichen Welt dieselbe Form und dieselbe
Ausstattung aufwiesen.
Es liegt in der Natur der Sache, daß bereits vor der Einführung des Christenthnins
manche Fertigkeiten auf dem Gebiete des Knnstgewerbes unter der einheimischen
Bevölkerung zu finden waren; in der Folge entwickelten sie sich weiter und ans manchen
Ortsnamen können wir schließen, daß sich ganze Gemeinden besonderen Gewerben widmeten
und dafür auch besondere Geschicklichkeiten sich aneigneten, wie es bis jetzt noch in manchen
slavischen Ländern der Fall ist. In den Urkunden finden wir auch nicht selten Namen
von einzelnen Gemeindemitgliedern, die irgend einen Zweig des Kunstgewerbes ausübten,
wie die Töpferei, Schlosserei, Goldschmiedekunst w.
Vor Allem waren es die Vorsteher der Klöster, welche die Fertigkeit ihrer Uuter-
thanen auszunützen wußten, indem sie ihre Kräfte zur Ausschmückung der Kirchen
eoncentrirten. Sie übten zugleich persönlich mit vielen Brüdern zahlreiche Zweige des
Kunstgewerbes aus; durch ihre eigene Thätigkeit brachten sie die Production kleinerer
Gegenstände zu einer bedeutenden Höhe, wie dies namentlich von dem Kloster Sazava
und dessen kunstfertigen Äbten Bozetech, Diethard, Silvester und insbesondere Reginhard
von Metz gilt. Auch die Kirchen Prags, wie der dortige Fürstenhof, wurden nüt Producten
des Knnstgewerbes — darunter solchen aus Elfenbein und Bcrgkrystall — geschmückt. Im
XU. Jahrhundert erglänzte der Prager Hof in einer Pracht, welche die Folge seiner
Beziehungen zu den Königen von Ungarn und den Byzantinern war. Reiche, mit Gold
und Gemmen geschmückte Gewänder, goldene und silberne Gefäße gelangten als Geschenke
an den Hof; überaus kostbar waren auch jene Gegenstände, welche bei dem Zuge nach
Mailand im Jahre 1163 den Böhmen als Beute znfielen. Daran erinnert noch der
prächtige Bronzefuß eines Leuchters, der noch heute im St. Veitsdom aufbewahrt wird.
Gewiß regten diese aus der Fremde gekommenen Gegenstände die heimische Industrie an
und dienten ihr theilweise auch als Vorbild.
Als Geschenke und durch Kauf gelangten zahlreiche Gegenstände aus der Fremde in
den Schatz des St. Veitsdomes und werden hier theilweise noch heute bewahrt. Die Mehr -
zahl derselbe:! sind, soweit sie der älteren Periode angehören, Prodncte fremder Arbeit, wie
z. B. die sogenannten Rolandshörner aus Elfenbein, ältere emaillirte Relignienschreine
und Überreste alter Gewänder. Viele Arbeiten kann man jedoch als einheimische Werke
ansehen, so die Bronzeleuchter und Aquamauilien in Thiergestalt, sowie die zum Theile
emaillirtcn Bronzekrenze, welche in verschiedenen Gegenden Böhmens gefunden wurden.
Zu den Producten des Kunstgewerbes kann man auch die böhmischen Münzen, deren
Prägung im XII. Jahrhundert eine ungewöhnliche Vollkommenheit erreichte, rechnen.
Böhmen. ^
434
In vielen Typen, in den Gestalten der Landespatrone und den Darstellungen der
Christus-Brustbilder läßt sich der Einfluß der byzantinischen Kunst erkennen.
Wie aus der romanischen Periode, so haben sich auch aus der ersten Epoche der
Gothik nur spärliche Denkmäler erhalten. Während in der Architektur der gothische Stil
sich schon in der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts in Böhmen siegreich die Bahn
bricht, kann er bei kleineren Knnstgegenständen nur allmälig aufkommen. Die Motive,
welche die neue Periode brachte und erweiterte, erscheinen freilich schon frühzeitig: mannig-
facheUngethüme, Sirenen und streng stilisirte heraldische Formen. Verfolgen kann man dies
an den minder gelungenen Bracteatenbildern aus der Zeit König Wenzels und Ottokars, an
den mit deutschen Inschriften versehenen Pflasterziegeln, die sich in der Burg Klingenberg
aus der Zeit Wenzels II. erhalten haben und die in der Form mit anderwärts, in England,
Frankreich und Deutschland gefundenen übereinstimmen, und auch an den großen Siegeln
der böhmischen Könige und geistlicher Würdenträger. Ein ganz besonderes Werk der Gold -
schmiedekunst hat sich jedoch in dem Patriarchal-Kreuze, das von Zävis von Falkenstein
dem Kloster zu Hohenfurth gewidmet wurde, erhalten. In den lilienartig endigenden Armen
kündigt sich schon eine neue Periode an; die Fläche wird, so weit sie nicht mit Steinen
besetzt ist, von goldenen Filigranzierathen jener Stilart, die an die Übergangszeit erinnert
und bei der Ausschmückung der Knäufe und Capitäle in der frühen Gothik erscheint, bedeckt
und die Unterseite des Kreuzes ist mit byzantinischem cloisonirtem Email, das viel älter als
das Kreuz selbst ist, besetzt. Obgleich die Benützung des Emails byzantinischer Provenienz in
Böhmen nicht ungewöhnlich wäre, so kann sie doch in diesem Falle auch anders leicht erklärt
werden, da sich Zävis mit der Königinwitwe Kunigunde, welche russischer Abstammung
war, vermählt hatte. Auch nach Ottokar II., dem „goldenen König", hat sich ein Denkmal
der Goldschmiedekunst erhalten: ein mit Edelsteinen und Email reichgeschmücktes, in
Regensburg befindliches Kreuz, das die Aufschrift trägt: „Hex Oltoearrm irre leeit."
Vollends kommt der gothische Stil bei kleineren Gegenständen in: Anfang des XIV. Jahr -
hunderts zum Durchbruch; am Stabe der Äbtissin Kunigunde von St. Georg aus dem
Jahre 1303 äußert er sich ebenso wie in den Miniaturen des Passionales derselben Fürstin,
in welchem sie auf dem ersten Blatt mit dem Stabe in der Hand auf einem gothischen
Throne sitzend abgebildct ist. Als Königstochter ist sie mit einer in Lilien auslanfenden
Krone gekennzeichnet. Vor kurzem wurden nun dem Grabe des Habsburgers Rudolf, der
als böhmischer König im Jahre 1307 starb, Insignien entnommen, die jetzt in dem
Schatze des St. Veitsdoms aufbewahrt werden, und unter denselben befindet sich eine
ganz mit punzirten Ornamenten geschmückte Krone, welche dieselbe Form aufweist.
Ungewöhnlich prachtvoll war das Grabmal des heiligen Adalbert, welches aus
Gold und Silber der Bischof Johann von Drazitz im Jahre 1305 für den St. Veitsdom
435
Herstellen ließ. Leider ist auch dieses
Denkmal zu Grunde gegangen. In
jene Zeiten dürfen wir auch die
Anfänge der Entwicklung der Gold -
arbeitergewerbe versetzen, wie auch
annehmen, daß die damals in Prag
ansässigen Meister sich an gewisse
Statuten hielten. Selbst König
Ottokar II. schenkte ihnen sein Ver -
trauen, indem er ihnen das Recht,
das Silber zu prüfen, einräumte,
und schon die Verleihung dieses
Rechtes, das zwar später wieder
entzogen wurde, setzt eine bestimmte Organisation voraus. Diese wurde erst im Jahre
1324, als die Prager Goldarbeiter sich zu einer Innung vereinigten, fixirt. Wie die
Krystallgefäße und Goldarbeiten aus der Zeit Karls IV.
Goldarbeiter, so bildeten auch die Plattner zur Zeit des ersten Herrschers ans dem Hause
Luxemburg eine besondere Innung, welche schon im Jahre 1328 existirte.
Über die anderen Zweige des Knnstgewerbes erfahren wir bis zur Zeit Karls IV.
nur wenig, umso häufiger hören wir von Werken, die nicht Jndustrieprvducte, sondern
L8»
4M
Erzeugnisse des häuslichen Fleißes waren — nämlich von der Stickerei. Vornehmlich waren
es königliche Prinzessinnen und Jungfrauen aus den vornehmsten Familien, die in Klöstern
weilten und mit kunstfertigen Händen nach dem Beispiel der ersten christlichen Fürstin,
der heiligen Ludmila, die Kirchengewünder schmückten; noch zur Zeit Karls IV. wurde ein
Werk dieser Fürstin, eine große Kirchenfahne, zum Andenken aufbewahrt. Von der letzten
Premyslidin Elisabeth wird ausdrücklich hervorgehoben, daß sie kostbare Gewänder, welche
sie selbst stickte, dem Prager Dom schenkte und die Gemalin ihres Sohnes Karl IV.,
Blanka, eine französische Prinzessin, war nicht weniger freigebig dem St. Veitsdom
gegenüber, dem sie zahlreiche kostbare Gewänder zukommen ließ. So wurden im St. Veits -
dom und in anderen Kirchen prachtvolle, mit Gold und Perlen gestickte Ornate ausgehäuft
und außerdem auch Antipendien, Vorhänge und Baldachine, mit denen bei festlichen
Gelegenheiten Altäre, Gräber, Kapellen und die ganze Kirche geschmückt wurde. An der
Spitze dieser Thätigkeit stand als erste nachweisbare Mädchen-Kunstschule das denkwürdige
Kloster zu St. Georg in Prag, und wenn bis jetzt sein Erbe, das adelige Damenstift auf
dem Hradschin, eine besondere Sorgfalt auf die Herstellung von Kirchenparamenten ver -
wendet, so bewahrt es mit geziemender Pietät altererbte Traditionen.
Von größeren Stickereien hat sich bis auf unsere Zeit leider nur ein einziges
Antipendium und obendrein nicht in Böhmen, sondern in Pirna in Sachsen, von wo es in
das Museum des königlich sächsischen Alterthumsvereines in Dresden gelangte, erhalten.
Pirna gehörte nämlich in den Jahren 1298 bis 1403 zu Böhmen, und das Bild des
heiligen Wenzel beweist, daß das kostbare Antipendium in Böhmen entstanden ist. Die
Mutter Gottes, die Christus zur Seite sitzt, und die Figuren der Heiligen verrathen den -
selben künstlerischen Charakter, den wir auch im Passionale der Äbtissin Kunigunde
bemerken. Neben Arbeiten dieser Art waren namentlich Perlen- und Goldstickereien, die
traditionell bis in das XVII. Jahrhundert gepflegt wurden, beliebt. Etwa aus dem
Anfang des XIV. Jahrhunderts stammt die Mitra des heiligen Adalbert, welche eigentlich
eine Hülle der ursprünglichen Mitra ist, und ebenfalls in dem Domschatze befinden sich
auch andere Perlstickereien mit dem Bilde des Erlösers, der Jungfrau Maria und der
böhmischen Heiligen. Letztere Arbeiten fallen gewiß schon in die Zeit Karls IV., in welcher
neben den verschiedenen Gebieten der Knust auch zahlreiche Zweige des Kunstgewerbes
zu einer bedeutenden Höhe gelangt sind.
Die Person Karls IV. steht bei dieser Entwicklung im Vordergrund. Namentlich
war es eine seiner Eigenschaften, die das Kunstgewerbe förderte; Karl IV., dieser
ruhige, besonnene Herrscher, war ein leidenschaftlicher und vielleicht auch der erste
Sammler überhaupt auf dem böhmischen Throne. Sein unermüdlicher Sammeleifer galt
zwar nicht etwa, wie es bei unseren Museen der Fall ist, den Knnstgegenständen selbst.
438
sondern mannigfachen Reliquien der Heiligen, aber diesen altchrwürdigcn Überbleibseln schuf
sein Kunstsinn Behältnisse aus den kostbarsten Metallen und Stoffen, die überaus prächtig
ausgestattet wurden, so daß auf diese Art ein Museum entstanden ist, dessen Überreste
wir noch heutzutage im Schatze zu St. Veit bewundern. Die ihm befreundeten Herrscher und
die ihm ergebene Geistlichkeit trugen ebenfalls zu dieser bewunderungswürdigen Sammlung
bei; von seinen aus politischen Gründen unternommenen Reisen in Frankreich, Deutschland
und Italien brachte er immer eine reiche Beute dieser Art nach Prag mit sich zurück. Er
bewahrte diese Reliquien in seiner Nähe, ans der Burg zu Prag und auf dem Karlstein,
wohin er auch die Kleinodien des römisch-deutschen Reiches bringen ließ. Manchmal
gewinnt es den Anschein, als ob sich zu diesem aus innerer persönlicher Neigung
entspringenden Streben die Berechnung hinzugesellt hätte, aus seiner Residenzstadt Prag
ein zweites Aachen zu schaffen, wohin Pilger aus allen Gegenden herbeiströmen sollten, um
die kostbaren Reliquien und Schütze zu bewundern. Bei der Einführung des Reliquien -
feiertages, an welchem alle Kleinodien und Reliquien in einer Kapelle, die auf dem Karls -
platze eigens zu diesem Zweck erbaut wurde, zur allgemeinen Bewunderung den von allen
Seiten herbeiströmenden Pilgern ausgestellt wurden, hat offenbar das Beispiel von
Aachen mitgewirkt. Es sei indeß wie immer, jedenfalls hatte dies Streben Karls
einen bewunderungswürdigen Aufschwung der Goldschmiedeknnst in Prag zur Folge, das
auf diesem Gebiete zur Centralstelle von ganz Europa wird. Der Ruf Prags lockt auch
fremde Goldarbeiter herbei, nicht blos aus den Provinzstädten Böhmens, Mährens und
Schlesiens, sondern auch aus Österreich, namentlich aus Wien und aus Baiern, ja wir
finden unter ihnen selbst einen Griechen, der durch einen besonderen Zufall den Namen
des böhmischen Patrons — IVsnoosluus draeeris — trug. Einer von ihnen — Hanus —
hat den Titel eines kaiserlichen Goldarbeiters (uurikaber «kommt imxoratoris) und eine
ganze Reihe Anderer findet ihren Platz unter Malern und Bildschnitzern in jener Maler -
innung, die im Jahre 1348 ins Leben gerufen wurde. Für eine ihnen von Karl geschenkte
Reliquie fertigten die Goldarbeiter ein silbernes Reliquiar in der Gestalt einer gothischen
Mitra au und mit berechtigtem Stolze gravirtcn sie in dieselbe eine Inschrift ein, die da
verkündet, daß im Jahre 1378 der Kaiser selbst die Insel des heiligen Eligius „uns, den
Goldschmieden von Prag", schenkte. Die Zahl der Goldschmiede zur Zeit Karls und in
der darauf folgenden Periode unter Wenzel ist bedeutend; die Mehrzahl hatte ihre Werk -
stätten in der jetzigen kleinen Karlsgasse, welche die Goldarbeitcrgasse hieß. Und von der
nahen Gasse, deren Rest noch heutzutage Plattuergasse heißt, wiederhallten die Schlüge
aus den Werkstätten der Plattner, Helmmacher, Drechsler und Kannengießer.
Von den Goldarbeiten aus der Zeit Karls hat sich au verschiedenen Stellen eine ziem -
lich bedeutende Menge erhalten und zufällige Ausgrabungen, wie z. B. der Fund „am
4M
Wahlplatz" (diu dojSli) in Prag im Jahre 1890 vermehren noch ihre Zahl. Den größten
Theil davon birgt bis jetzt der berühmte Schatz des Sanct Veitsdomes in Prag. Von der
Reichhaltigkeit dieses Schatzes zur Zeit Karls belehren uns zahlreiche Inventars, welche
von seinen Bewahrern mit großem Fleiße angelegt wurden. So zählt zum Beispiel das
Verzeichniß des Dechanten Bohuslav und des Priesters Smil vom Jahre 1387 27
Schreine auf, in denen an 140 Gegenstände, Reliquiarien in Kopfgestalt, Figuren, Hände,
Tafeln, Schreinchen, Monstranzen, Kelche, Ostensorien und Ciborien anfbcwahrt wurden.
In diesen Schatz kamen auch die Krönungsinsignien des Königreiches Böhmen, vor Allem
die Krone, welche Karl IV. im Jahre 1347 verfertigen ließ, — „welche Krone der Kaiser
dem Doni widmete, um damit das Haupt des heiligen Wenzel zu schmücken; dieselbe gab
er zur Aufbewahrung dem Dechant des Prager Domes, dem Custos und dem Sacristan,
welche sämmtlich böhmischer Nationalität und Zunge sein müssen, und mit dieser Krone
werden die böhmischen Könige gekrönt und sollen auch in Hinkunft gekrönt werden", wie
ein Inventar des Dechanten Vratiooj aus dem Jahre 1368 meldet. So verbindet die
heilige Wenzelskrone eigentlich einen doppelten Zweck, sie ist ein Krönungszeichen und
zugleich eine Art Reliqniarium, und zwar ein zweifaches, indem es das Haupt des Landes -
patrons schmücken soll und zugleich einen Überrest der kostbarsten aller Kronen, einen Dorn
aus der Krone des Heilands enthält, der sich im Kreuze an ihrem Gipfelpunkt befindet.
Die Form der Krone ist einfach und stimmt mit jener auf den Groschen des Königs
Wenzel II. und mit der dem Habsburger Rudolf ins Grab mitgegebenen Krone überein: ein
Diadem mit Lilien, dessen einzige Zierde die in hohen Chatons angebrachten und zu regel -
mäßigen Mustern zusammengereihten Rubine, Saphire und Perlen bilden, von denen
manche alte Cameen byzantinischen Charakters sind und vielleicht noch von der ursprüng -
lichen Krone herrühren.
Die Ausschmückung der Gegenstände mit Edelsteinen, die in verschiedenen Farben
erstrahlten, war in Böhmen überhaupt beliebt. Sie beschränkte sich nicht blos auf Arbeiten
der Goldschmiedekunst, sondern wurde auch an den metallenen Deckeln kostbarer Bücher,
ja selbst auf Tafel- namentlich Madonncnbildern angewandt. Manchmal vervollständigt
der Goldarbeiter das Werk des MalerS dadurch, daß er die Bildflüche mit Plättchen aus
gehämmertem Silber umgibt, und wenn sich auf diese Art die Goldschmiedeknnst mit der
Malerei berührt — nicht umsonst waren beide in derselben Innung vertreten —, so wett -
eifert sie in anderen Fällen mit der Kunst des Architekten und des Plastikers. Manche
Reliquiarien, Monstranzen und Ostensorien haben rein architektonische Formen; Stützen,
Fialen und Baldachine ragen empor und wetteifern an Leichtigkeit und Eleganz nnt Werken
des Steinmetzen; kleine Dimensionen und das feste Material ermöglichen so manche origi -
nelle Constrnction und dabei zeichnen sich die Profile, Bogenzierathe (Maßwerk), Rosetten
44«
und andere Blattornamente durch Regelmäßigkeit und Geschmeidigkeit der Formen aus.
Eine oon den Monstranzen des Sanct Veitschatzes trägt auch das Zeichen des Erbauers
dieses Domes Peter Parler und den Charakter seiner architektonischen Richtung.
Zn den mit minutiöser Genauigkeit gegossenen und ciselirten Arbeiten gesellen sich
noch Ornamente in getriebener Arbeit, doch selten zeigen sie sich gleichzeitig an einem
Werke, als ob die Aufgabe des Gießers und Goldschlägers streng geschieden wäre.
Nur großartige Werke, wie das leider vernichtete Grabmal des heiligen Wenzel, enthielten
Alles, was Goldschmiedekunst und Juwelierarbeit zustande bringen konnten. Von dem
großen Reichthum dieses Grabmals, das vom Sohne Karls Sigismund in einer Geld -
verlegenheit verkauft wurde, belehrt uns ein Inventar aus dem Jahre 1387. Neben
Karl IV. haben sich auch der Erzbischof Ernst von Pardubitz und der kunstsinnige Bischof
von Leitomischl Adalbert von Sternberg um die Errichtung dieses berühmten Monumentes
große Verdienste erworben. Auch ein Tragaltar, jetzt im Stifte Admont, ist ein Denkmal
nach dem kunstsinnigen Bischof Adalbert von Sternberg und zugleich ein solches der Prager
Goldschmiedekunst.
Seine Meisterschaft bewährt der Goldschläger bei solchen getriebenen Arbeiten, bei
denen er die Aufgabe der hohen Plastik übernimmt. Es sind dies namentlich Reliquiarien
in Vüstengestalt der Heiligen, in denen diese Meisterschaft ihren Höhenpnnkt erreichte;
eine silberne Büste der heiligen Ludmila aus der Zeit Karls im Sanct Veitsschatze,
die ruhig und einfach stilisirt ist. und die kupfernen Büsten des heiligen Petrus und
Paulus in der Kapelle des erzbischöflichen Palais, die im Ausdruck ungewöhnlich energisch
gehalten sind, zeigen uns. wie weit es diese Technik brachte und wie sich zugleich im Laufe
der Zeit Stil und Charakter änderte; die erwähnten Büsten gehören nämlich in die schon
vorgeschrittene Regiernngszeit Wenzels und tragen den Namen des Erzbischofs Alblk
von Unicov (1412). Neben getriebenen und punzirten Ornamenten zeigt sich an denselben
auch Email, dem wir übrigens auch bei zahlreichen anderen Arbeiten begegnen. Am ver -
breitetsten war das dem italienischen verwandte Email auf einem ausgehöhlten silbernen
Kern; es ist entweder durchsichtig und hat dann eine grüne oder violette Farbe oder
undurchsichtig und besitzt die Farbe des rothen Siegellacks oder es ist schwarz. Dieses
schwarze Email auf silberner Unterlage erscheint noch im XV. Jahrhundert. Ungemein
interessant ist das Besteck der Königin Elisabeth, der vierten Gemalin Karls IV.. im Besitz
der königlichen Leibgedingstadt Königgrätz. nämlich 24 Lössel mit silbernen cmaillirten
Stielen, auf welchen ebenso wie auf dem Gürtel derselben Königin verschiedene fromme und
erotische Sprüche zu lesen sind.
Es ist schwer zu entscheiden, ob manche Arbeiten aus Halbedelsteinen, wie zum
Beispiel der schöne Onyxbecher, der im Jahre 1350 von Karl IV. dem Domschatz
Taufstein in Schwaden (XVl. Jahrhundert).
geschenkt wurde, in Prag verfertigt oder ob sie hier nur niontirt wurden, wahrscheinlich
aber sind die so zahlreichen Krystallgefäße einheimische Products. Schon vor der Zeit
Karls IV. tauchen Nachrichten über Krystallarbeiten auf und aus seiner Zeit hat sich eine
Reihe von Gegenständen erhalten, die unsere Meinung bekräftigen. Einfache Krystalltafeln
dienen als Deckel für Reliquien, indem sie die Function des jetzigen Glases übernehmen,
ab und zu wechseln Stücke geglätteter Kchstalle auch mit farbigen Edelsteinen ab, größere
442
Krystallklumpcn endlich sind das Material für jene Reliquiarien, die zwar die Reliquie
anfzubewahren haben, aber auch sehen lassen sollen. So wurden aus flachen Krystallen
Schüsseln ausgehöhlt und ansgeglättet, von denen die eine als Hülle, die andere als
Deckel dient, wie z. B. bei einem Reliqniarium im St. Veitsschatz, oder dieselben wurde»
zusammengeknüpft, wie bei einem Gefäße des Altbunzlaner Kapitels; aus größeren Massen
konnte eine ähnliche Form geschliffen werden, welche an eine Kannengestalt erinnert,
wie z. B. bei dem großen von Karl IV. dem St. Veitsschatz geschenkten Reliqniarium.
Das Schleifen und Schneiden der Krhstalle, eine Technik, welche, wie es scheint,,
zum Schlüsse der Periode Karls IV. schwindet und dann wiederum zur Zeit Rudolfs, als
analoge Verhältnisse eingetreten waren, auftaucht, war gewiß nur ein Zweig des Glättens
der Steine überhaupt, von dem wir bestimmtere Nachrichten haben und worunter man das
Verarbeiten der Edelsteine und Halbedelsteine zu verschiedenen Zwecken sieht, vor Allem
zum Verkleiden der Wände in der Art, wie wir es in der Burg Karlstein und in der
St. Wenzelskapelle des St. Veitsdoms bemerken. Unter den Hofkünstlern Karls IV. taucht
auch ein »pollitor Inpickum" mit dem Namen Johannes auf (1353).
Die innere Ausschmückung der Kirchen und Kapellen bringt endlich der Glasmaler
zum Abschluß, doch haben sich uns leider nur unbedeutende Überreste der Glasmalerei
erhalten, wie zum Beispiel die Fenster der Slivenecer Kirche, welche jetzt vom Kreuz -
herrenorden im Kunstgewerbemuseum ansgestellt sind. Aber auch ans einem weniger
gebrechlichen Material, wie zum Beispiel Eisen, hat sich verhältnißmäßig nur Weniges
erhalten; die Knnstschlosserei gehörte gewiß zu jenen Beschäftigungen, denen bei allen
Veränderungen, welche der Fortschritt in künstlerischer Hinsicht mit sich brachte, eine
feste, auf alten Traditionen beruhende Grundlage vor Allem zustatten kam. Die aus -
gedehnte Bauthätigkeit gab der Schlosserei stets neue Anregung und brachte sie immer höher.
Neben Constructionsarbeiten erforderten die gothischen Bauten Gitter, Thüren und
Thore, auf welche architektonische und ornamentale Formen übertragen wurden. Das
kostbare Gitter der Kreuzkapelle auf der Burg Karlstein und die schöne Thür der
St. Wenzelskapelle dienen, wie auch hier und da Thüren mit gehämmerten Ornamenten
überhaupt als Beispiel. Auch Namen der Meister, denen man ohne große Schwierig -
keiten ein bestimmtes Werk zuschreiben kann, haben sich erhalten: Franz oder IVonLlirms,
Inder regiZ, der in den Jahren 1353 und 1350 erscheint, war für den Herrscher thätig,
und zwar vielleicht auch auf der Burg Karlstein, die Schmiede- und Schlosserarbeiten bei
dem St. Veitsdome leitete Wenzel oder Wanek/ der in den Domrechnungen aus den
Jahren 1372 bis 1378 vorkommt.
In der Zeit Wenzels IV. geht die Entwicklung dev Kunst auf der früheren Grund -
lage weiter, nur hier und da überschreitet sie das Maß. Die Veränderung der Hoftracht,
44:;
Altar in der Clam-Gallas-Kapelle in Reichenberg (1006).
es sich darum das zu ersetzen, was
vernichtet worden war, und zwar
wurde zuerst das Allernothwendigste hergestellt, später aber tauchte immer Kostbareres
auf, und ehe noch ein Jahrhundert nach den husitischeu Kriegen vergangen war, hatten sich
der Gewohnheiten und Bedürf -
nisse sehen wir ganz deutlich in
den Miniatnrarbeiten dieser Zeit,
namentlich in derBibel, die für den
König Wenzel hergestellt wurde.
Die kirchliche Kunst hat nicht,
soweit wir ans den Denkmälern
der Goldschmiedekunst, die sich
erhalten haben, schließen können,
die frühere Richtung aufgegeben,
nur daß da und dort mehr dem
Realismus gehuldigt wurde, oder
daß man auf den Reichthnm und
die Mannigfaltigkeit des Materials
und der technischen Durchführung
ein größeres Gewicht legte. Eine der
interessantesten Arbeiten dieserZeit
ist der sogenannte Inder plennrius
mit Reliquien der heiligen Mar -
garethe in Brevnov, der im Jahre
1406 vom Sacristan Wenzel unter
dem Abt Divis hergestellt wurde;
er trügt in seiner architektonischen
Ausstattung Perlmutterschnitze -
reien und ist mit Steinen und
Email geschmückt.
Der weiteren Entwicklung
machten die ausgebrochenen husi-
tischen Kriege Plötzlich ein Ende,
aber auch in diesen Unruhen lag
der Keim zu neuer Thütigkeit.
Sobald sie vorüber waren, handelte
444
neuerdings die Kirchenschätze mit Producten des menschlichen Fleißes gefüllt. Doch auch
diese fielen bald demselben Schicksal wie die Werke der vorhergehenden Generationen
anheim.
Die Grundlage zur neuerlichen Entfaltung der Gewerbe und der Kunst wurde
unter Georg von Podebrad gelegt, der mit fester Hand im Lande die Ordnung hergestellt
hatte, den Wohlstand hob und für die Ausübung der Gewerbe sorgte. In dieser Zeit
wurde die Organisation der Arbeit auf der Grundlage der Innungen abgeschlossen; in
der Innung werden alle Forderungen und Verhältnisse der Gewerbsleute, ja sogar auch
ihre intimen Angelegenheiten geregelt; die Aufnahme in ihren Kreis geschah ans Grund -
lage der Nachfolge vom Vater auf den Sohn oder nach Vorlegung eines Meisterstücks,
und selbst nach dem Tode, nachdem die Innung ihren Genossen bis zum Grabe begleitet
hatte, ordnete sie die Verhältnisse seiner Werkstätte. Den Innungen werden zugleich
Privilegien zur ausschließlichen Ausübung des Gewerbes ertheilt; außerhalb derselben
ist es nicht möglich zu wirken, außer durch Schliche oder in der Sonne der Hofgunst.
Auf dieser Grundlage blühen in der nach Georg von Podebrad folgenden Zeit die
Kunst und das Gewerbe rasch empor und unter ihren vorzüglichen Beschützern finden wir
selbst den König Wladislaw; der Friede und der Wohlstand, deren sich das Land erfreute,
vor Allem die glänzenden Einkünfte aus den Kuttenberger Bergwerken ermöglichten
künstlerischen Aufwand. Nach langer Zeit wurden wiederum von einem König die Schütze
des St. Veitsdomes durch kostbare Producte der Goldschmiedekunst vermehrt, indem er
Köpfe der böhmischen Patrone im Jahre 1503 von seinem Goldarbeiter, dessen Namen
unbekannt ist, verfertigen ließ. Die Goldschlägcrarbeit dieser Neliquienbüsten wetteifert
mit dem älteren Meisterwerke, der Büste der heiligen Lndmila. Der Meister dieser Köpfe
gehörte ohne Zweifel zu den bedeutendsten Goldschmieden seiner Zeit, von seiner Meister -
schaft zeugt auch das Majestätssiegel des Königs Wladislaw.
Die Verfertigung der Reliquiarien ist in dieser Zeit eine Seltenheit, das Haupt-
objeet, an dem die Goldschmiedekunst ihre Kräfte prüfte, war die Monstranz, die immer
complicirter wird und kolossale Dimensionen erreicht. Der gothische Stil, der allmälig
vom architektonischen Gebiete zurückwich, hat sich sozusagen in diese silbernen Hüllen, in
denen er sich dann, vermischt mit Renaissance-Elementen, auch weiter erhält, geflüchtet.
Welch riesige Dimensionen die Monstranz jener Zeit erreichte, bezeugt eine Nachricht,
nach welcher man in Kuttenberg eine Monstranz hatte, die „so hoch war, daß ein Mann
von hoher Gestalt, wenn er den Arm emporhob, kaum mit dem Mittelfinger ihre Spitze
erreichte". Bis heute haben sich zahlreiche Monstranzen erhalten, die fast meterhoch sind,
so diejenigen in Sedlec und Bohdanec, welche noch der vorhusitischen Zeit angehören,
in Knttenberg bei St. Jakob, in Hostomitz, in Aussig und in Eger. Ungemein fein
445
und vollständig erhalten ist die Monstranz von Malest!), welche aus den: vom Jahre 1503
herrührenden Nachlaß der Anna Sesranek von Poutnvv, einer Pilsener Bürgerin, her -
gestellt wurde. Neben den Monstranzen gehören in die Zeit der Jagellvnen auch zahlreiche
Kelche, bei denen ebenfalls die gothische Form noch lange in das XVI. Jahrhundert
hinein erhalten bleibt. Noch in der ersten Hälfte des XVIl. Jahrhunderts haben die
Kirchengesäße hier und da Formen des gothischen Stils, welcher überhaupt in Böhmen
das Gebiet der kirchlichen Kunst am spätesten verläßt.
Mit Ausnahme der Kirchengefäße hat sich von heimischen Goldschmiedarbeiten der
jagellonischen, ja der ganzen folgenden Zeit bis auf Rudolf II. beinahe nichts erhalten.
Auf dem Gebiete der profanen Goldschmiedekunst hat die Zeit die größten Verluste mit
sich gebracht. Ein interessantes Inventar in der Lobkowitz'schen Bibliothek zu Raudnitz
hat wenigstens ein Bild dessen erhalten, womit bei großen Gastmahlen der Tisch eines
böhmischen Edelmanns prangte. Nur ein Gebiet hinterließ zahlreichere Denkmäler, das
Gebiet der Graveurkunst, die ein Zweig der Goldschmiedeknnst war. Die Genossenschafts -
ordnung aus dem Jahre 1478 nennt unter den Meisterstücken, die ein dieser Kunst sich
widmender Adept ausführen mußte: ein Siegel, darauf einen Schild und Helm, einen
Kelch und das Einsetzen von Steinen.
In die Jagellonenzeit fallen auch die Anfänge der Medailleurkunst in Böhmen,
welche zuerst bei den neu erstandenen Bergwerken von Joachimsthal gepflegt wurde.
Die dort entstandenen Silbermedaillen, welche zumeist biblische Scenen enthalten und an
die in ihrem Charakter ähnlichen sächsischen Products erinnern, sind von religiösem Geiste
angehaucht; als Urheber treten die Joachimsthaler Stempelgraveure Ulrich Gebhart,
Peter Tunkherr, Nikolaus Milic auf. Dazu gesellen sich in der zweiten Hälfte des
XVI. Jahrhunderts zahlreiche Porträtmedaillen, die in Prag und Kuttenberg von dortigen
Goldschmieden und Stempelgraveuren verfertigt wurden, unter welchen besonders Ludwig
Neufarrer und Michael Hohenauer in Prag unter Ferdinand I. und Georg der Ältere
von Rasnä in Kuttenberg (gestorben 1595), ein berühmter Goldschmied und Graveur,
und der Goldarbeiter Samuel von Budweis, der für den Herrn von Rosenberg arbeitete,
zu nennen sind. Porträtmedaillen und Denkmünzen erfreuten sich auch ferner einer großen
Beliebtheit, namentlich zur Zeit Rudolfs II., unter welchem auf diesem Gebiete in Prag
der berühmte Florentiner Antonio Abondio thätig war.
Während für diese Gegenstände ihr edler Stoff verhüngnißvvll wurde, entgingen
Arbeiten aus minderwerthigem Metall in größerem Maße dem Verderben. Für diese
Zweige war das XV. und XVI. Jahrhundert eine Zeit der Blüte. Arbeiten ans Zinn,
Messing, Bronze, Glockenguß sind sehr verbreitet, und da das Land selbst namentlich
Zinn in großer Menge lieferte, so wurde seine Benützung allgemein. Die Kirchen füllten
446
sich mit Taufbecken, die Küchen mit Zinngeschirrcn und die Genossenschaftslocale mit
Kannen, welche manchmal riesige Dimensionen erreichten.
Bereits in den älteren Zeiten finden wir viele Mitglieder der Kannengießerzunft,
deren erste Artikel vom Jahre 1374 stammen, und schon im Anfang des XV. Jahrhunderts
tauchen datirte Taufbecken aus Zinn auf, wie zum Beispiel das Taufbecken in der Kirche
zum heiligen Geist in Königgrätz aus dem Jahre 1406, welches unter dem Abt
Bartholomäus von Podlazitz gegossen wurde. Die Erzeugung der Taufbecken fällt im
X^ l. Jahrhundert zum großen Theile in das Gebiet der Glockengießer. Nach dem Tauf -
becken ist die Zunftkanne das wichtigste Product der Kannengießerci. Die Gelbgießer
verfertigten vorwiegend nur Gegenstände kleinerer Dimensionen, neben Grabtafeln,
Leuchtern und Hänge-Lampen namentlich auch Bücherbeschläge, welche eine verhältniß-
mäßig bedeutende Größe erreichten, wenn es sich um die Ausschmückung von riesigen
Cancionalien (Gesangbüchern) handelte.
Aber das weiteste Gebiet der Thätigkeit hatte die Glockengießerei, welche im Laufe
des XII. und XXII.Jahrhunderts für die böhmischen Dörfer und Städte eine ungewöhnliche
Menge von größeren und kleineren Glocken erzeugt hat. Schöne Form, reiche Profilirnng
und zum großen Theile auch künstliche plastische Ausschmückung mit Inschriften,
Wappen, Figuren und Leisten reihen im Verein mit strenger technischer Ausführung diese
Glocken, von denen manche durch ihre Größe imponiren, unter die ersten Producte des
Kunstgewerbes ein. Die größten Glockengießereien befanden sich zuerst in Prag und
Kuttenberg, im XII. Jahrhundert auch in anderen Städten wie Königgrätz, Jungbunz-
lau, Leitmeritz, Hohenmauth und schließlich im XVII. und XVIII. Jahrhundert namentlich
in Rauduitz, Pilsen, Aussig, Budweis, Nachod und Klattau. Unter den älteren Glocken -
gießern war namentlich in Prag Johannes Cantarista und zur Zeit Wladislaws Bartos
in der Neustadt (gestorben etwa im Jahre 1532), in Kuttenberg Andreas Ptacek
(gestorben 1513), sein Sohn Jakob (gestorben 1539), ferner Georg Klabal (gestorben
1552) bekannt. In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts erreicht die Glockengießerei
in den Arbeiten des Meisters Thomas Jaros von Brünn und Brikei von Ciuperk und
seiner Nachfolger die höchste Stufe. Im XVII. und XVIII. Jahrhundert stehen infolge
ihrer ausgedehnten Thätigkeit namentlich die Hütten der Löw, Schönfeld, Lisäk in
Prag, der Familie Prickvej in Jungbunzlau und Klattau und die Werkstücke Zeida's in
Hohenmauth im Vordergrund. Bis in unser Jahrhundert reicht die Wirksamkeit der
Bellmann'schen Werkstätte in Prag, der Perner'schen in Budweis uud Pilsen, der
Herold'schen in Komotau.
Wie auf anderen Gebieten der metallurgischen Kunst wird auch iu der Kunstschlosserei
der gothische Stil verhältnismäßig lange bewahrt, bis er durch den technischen Fortschritt
447
verdrängt wird; dieser brachte zugleich mit dem Stabeiseil neue Mvtive in die Schlosserei.
Auch auf diesem Gebiete verdient vvr Allem die Zeit Wladislaws hervorgehoben zu werden,
namentlich was die Feinheit und Reichhaltigkeit der Aormen anlangt, welche wir besonders
an den Gittern des Sanctuariums aus dem Jahre 1492 in der Kirche zum heiligen Geist
in Königgrätz bewundern.
In der jagellvnischen Periode nimmt der gothische Stil zum großen Theile vvn den
Werken der Schnitzerei Abschied. Zu den vorzüglichsten Arbeiten der Schnitzerei in Böhmen
gehören die Kirchenbänke (Chorgestühl), welche sich in Kuttenberg in der St.
Barbaraknche und in der dortigen Decanalkirche zum heiligen Jakob erhalten haben.
Auch manche Kanzeln und Altäre aus dem Xl. und Ansang des XVI. Jahrhunderts zeigen
eine ähnliche architektonische Ausschmückung. In der vorgeschrittenen jagellvnischen Zeit
weicht manchmal die plastische Schnitzerei der flachen, die der Architektur keine Motive mehr
entnimmt, indem dieselben durch das flache Ornament, welches in der Malerei herrscht,
verdrängt werden. Und schließlich in der zweiten Halste des XVI. Jahrhunderts schwindet
beim Hausgerüthe und bei den Arbeiten der Bautischlerei, wie Thüren und dergleichen, die
Schnitzerei überhaupt und ihre Stelle nimmt das Getäfel ein.
In innigem Verhältniß zur Architektur hat sich in einem Gebiete des nördlichen
Böhmens im Laufe der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts eine eigenartige deeorative
Plastik entwickelt, welche, da sie anscheinend gewerbemäßig betrieben wurde, auch hier
Erwähnung verdient. Nördlich von Leitmeritz trifft man in den nicht weit von einander
entfernten Ortschaften Schwaden, Waltirsch und Schönpriesen reich ansgestattete Kirchen
an, welche durch den einheitlichen Charakter der inneren Ausschmückung und durch das
mitunter künstlerisch durchgebildete Detail anziehend wirken. Altäre und Grabmale, auch
die Kanzel und das Taufbecken haben von der Hand des Steinmetzen reichen plastischen
Schmuck erhalten, in welchem der Stil der holländischen und norddeutschen Renaissance
mit der italienischen Kunstrichtung ineinandergreifen und wie an dem prächtigen mit
reizenden Putten geschmückten Taufbecken zu Schwaden tauchen hier und da bereits
zum Barocken hinneigende Motive auf, wie sie eben der fortgeschrittenen Nudolfinischen
Periode eigen waren. Die Kirchen, beziehungsweise ihre Ausstattung stammen aus der
Zeit der Herren von Salhausen, welche überall, wohin ihr Besitz reichte, Zeugnisse ihrer
Kunstliebe hinterließen. Ein Seitenstück zu diesen Steinmetzarbeiten bilden die prächtigen
Holzschnitzereien der in den Jahren 1604 bis 1606 entstandenen Schloßkapelle zu
Reichenberg, welche ähnlichen Geist und Stilcharakter offenbaren.
Im östlichen und mittleren Böhmen wurden nicht selten als architektonisches Zier -
werk Arbeiten in Terraeotta verwendet und es ist auch vorgekommen, daß hierbei dieselben
Hohlformen benützt wurden, welche auch zur Herstellung von Ofenkacheln dienten.
448
Wie viele andere Zweige des Gewerbes entfaltet sich die Töpferei namentlich in
Kuttenberg, nnd ihre zahlreichenDenkmüler,insbesondereinKuttenberg selbst gefundeneOfen-
kacheln besitzen einen orginellen Charakter. Außer in Knttenberg blüht seit dem XVI. Jahr -
hundert die Töpferei nebstbei in Berann und auch anderorts. In größerer Zahl haben
sich aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert Kachelöfen erhalten, bunt gefärbt oder grün, von
den entsprechend kleinen Öfen der Palastgemächer bis zu den riesigen Refectorienöfen in den
Klöstern, wie zum Beispiel der kolossale Ofen im Refectorium des Clcmentinums in Prag.
Von Zweigen, deren Anfänge in eine ältere Periode reichen, blüht die Stickereikunst
das ganze XVI. nnd XVII. Jahrhundert hindurch, indem sie theils von Krämplern
gewerbsmäßig betrieben, theils von Damen adeliger Abstammung als Zweig der Haus -
industrie gepflegt wird. Auf den Ornaten nnd anderen erhaben gearbeiteten Werken wett -
eifert sie mit der Malerei und der plastischen Kunst; sie verlegt sich sogar auf so umfang -
reiche Arbeiten, wie es der zusammenlegbare Altar aus dem Jahre 1572 ist, welcher auf
Kosten und unter Mitwirkung der Frau Anna von Lobkowitz, gebornen Vitzthum, her -
gestellt wurde nnd bis jetzt in den Sammlungen zu Raudnitz aufbewahrt wird.
Und noch ein Zweig des XVI. Jahrhunderts verdient erwähnt zu werden —
nämlich die Buchbinderei, welcher der Aufschwung der Literatur und die Buchdrnckerknnst
forderlich waren. Eine aus Leder geschnittene Arbeit weist Böhmen schon im XIV. Jahr -
hundert auf: das geschnittene und polychromirte Behältniß der St. Wenzelskrone. Doch
kam hierzulande in der Buchbinderei kaum diese Technik, sondern vielmehr nur die gepreßte
Arbeit in Anwendung. Zu Ende des XV. Jahrhunderts wurden namentlich die Bibliotheken
der südböhmischen Klöster mit reich gepreßten Einbänden versehen, und in der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts entsteht eine ganze Reihe von aristokratischen Bibliotheken,
welche ebenfalls auf einen schönen Einband, in Gold gepreßt nnd mit ciselirtcm Schnitt,
großes Gewicht legen. Als Beispiel mögen namentlich die Einbände der Bibliothek zu
Raudnitz dienen, welche der Zeit des Zdcnko Popel v. Lobkowitz, Kanzlers des König -
reiches Böhmen (gestorben 1624), angehörten. Im Laufe des XVII. Jahrhunderts geht
es mit der böhmischen Buchbinderei rasch bergab und auch im XVIII. Jahrhundert wird
der künstlerische Werth stets geringer.
Im Gegensatz zu den bisher besprochenen Zweigen, deren Pflege im Mittelalter
ihren Anfang nahm und die fortwährend mit größerem oder kleinerem Erfolge gepflegt
wurden, lenkte das Knnstgewerbe unter Rudolf II. in neue Bahnen ein. Rudolf II., der
zwar seinem Charakter nach grundverschieden von Karl IV. ist, nähert sich ihm doch ans dem
Gebiete der Kunst, nur sind Ziel und Erfolg verschieden. Die Kunst der Rudolfinischen Zeit
trügt immer den Stempel der Hofknnst, deren Wirksamkeit bis ans kleine Ausnahmen
nicht über die Hofkreise hinausreicht und welche wie eine ephemere Erscheinung verschwand,
449
sobald sich die Verhältnisse am Hofe geändert hatten. Nur dort, wo sie sich wirklich den
älteren Traditionen oder den allgemeineren Verhältnissen anpaßte, wurde sie auch für
die künftige Zeit fruchtbar. Für Prag selbst war die Richtung des Rudolfinischen Hofes
freilich auf längere Zeit hinaus entscheidend, aber auswärts konnte sie nicht Wurzel fassen.
Allerdings waren hierin auch die frühzeitig ausgebrochenen Unruhen und Kriege hinderlich.
Die Gegenstände, welche das Kunstgewerbe Rudolf und seiner Zeit zu verdanken
hatte, sind verschieden. Rudolf II. ist vor Allem ein eifriger Sammler, nach Karl IV.
Standuhr in Silber und Email (von Michael Sneeberger, 1606).
der zweite große Sammler ans dem böhmischen Throne. Doch andere Zeiten, andere
Bestrebungen. Die Reliquien der Heiligen beschäftigen längst nicht mehr den verweltlichten
Sinn; die Kunst vergangener Zeiten und die Natur mit ihren wunderlichsten Producten
und Gebilden sind jetzt die Quellen, aus denen die Sammler schöpfen. Kokosnüsse und
Straußeier, Nautiken, Muscheln, Korallen und Bernstein, eigenthümlich geformte Perlen
und anderes kostbares Material spielt jetzt die Hauptrolle auf dem Gebiete der Goldschmiede -
kunst, der die Aufgabe zufüllt, die verschiedenen Gebilde entsprechend auszunützen, sie in ein
Ganzes zu vereinigen und mit einer entsprechenden Einfassung ans Edelsteinen zu versehen.
Böhmen. 29
450
Auch wenn es sich darum handelt, aus bloßein Metall ein Gefäß herzustellen, bekommt
dieses sonderbare, oft bizarre Formen; in der Regel dient jedoch das Metall, Gold und
Silber nur als Unterlage, welche Perlen, Cameen aus Muscheln und verschiedene
Edelsteine trägt. Darunter erscheint nicht selten der böhmische Granat; neben getriebener
und gravirter Arbeit kommt hier namentlich auch das Email vor. Das glänzendste Beispiel
ähnlicher Arbeit ist die Hanskrone der Habsburger, welche Rudolf II. im Jahre 1602
höchst wahrscheinlich von Prager Goldarbeitern verfertigen ließ, dann der Reichsapfel und
das Scepter unter den Krönungskleinodien des Königreiches Böhmen und manche andere
Gegenstände, welche in den Sammlungen des Allerhöchsten Kaiserhauses aufbewahrt
werden. Zum Custos seiner Sammlungen wählte Rudolf U. einen Goldarbeiter, Jakob
Strada, dem nach seinem Tode im Jahre 1585 sein Sohn, ebenfalls Goldarbeiter,
Octavian Strada, von Rudolf II. mit dem Prädicate „von Roßberg" im Jahre 1598 in
den Adelstand erhoben, folgte. Dieser zeigt in seinen Arbeiten und in den Entwürfen,
die sich von ihm erhalten haben, große Vorliebe für absonderliche Formen.
Es ist nicht zu wundern, daß zu einer Zeit, in welcher der Herrscher und nach seinem
Beispiel viele Adelige sich mit Vorliebe mit Astronomie und Geometrie beschäftigten,
auch die dazu dienenden Instrumente, wie verschiedene Uhren, Maße, Sextanten prächtig
ausgestattet wurden und so in das Gebiet des Kunstgewerbes geriethen. Für Uhren mit
complicirtem Mechanismus zeigten schon die früheren Zeiten eine große Vorliebe; das
größte Werk dieser Art in Böhmen, die astronomische Uhr auf dem Altstädter Rathhanse,
dient als Beleg. Die Reparatur dieser Uhr erforderte immer tüchtige Mechaniker, und
böhmischen Uhrmachern oder solchen, die in Böhmen wirkten, begegnen wir nicht selten.
In Prag selbst war schon unter Ferdinand I. mit der Erzeugung künstlicher Stand- und
Reiscuhren der deutsche Meister Hans Stcinmcisel beschäftigt, dessen Arbeiten wir im
Kunstgewerbemuseum in Prag und in der Sammlung des Herrn A. Ritter v. Lanna
ebendaselbst finden, sowie ein gewisser Casparus Bohemus, der in Wien lebte und sich im
Jahre 1568 auf der freien Replik einer der prächtigsten Standuhren aus der Renaissance -
zeit, verewigte, welche anderswo den Namen des Augsburger Meisters Metzger tragen.
Zur Zeit Rudolfs II. wird die Zahl fremder und einheimischer Meister immer großer. Die
Mechaniker Georg Ramhoufsky und Erasmus Habermel, dann der Schweizer Justus Bürgt
und M. Sneeberger sind die ersten Meister, welche für Rudolf II. Uhren und Instrumente
erzeugten. So faßte die Uhrmacherkunst und die Erzeugung mechanischer Instrumente in
Prag tiefe Wurzeln und blühte dann das ganze XVII. und XVIII. Jahrhundert hindurch.
Die Vorliebe für kostbares Material belebte wieder ein Gebiet, welches schon unter
KarlIV. geblüht, nämlich das Schleifen und Glätten der Krystalle und der Edelsteine
überhaupt. Ans diesem Gebiete war unter Rudolf II. die Familie der Miseroni thätig,
452
die aus Mailand stammte, sich in Prag niederließ und hier das ganze XVII. Jahrhundert
hindurch wirkte. Neben den Miseroni tauchen auch andere Künstler dieser Art auf, zum
Theil Italiener, wie T. Tortori, zum Theil Deutsche, wie Kaspar Leman, Zacharias Belzer
und Andere. An der Spitze der erwähnten Familie stand Dionys Miseroni, Graveur und
Schleifer von Edelsteinen, welcher vom Jahre 1600 die Schatzkammer Rudolfs verwaltete.
Sein Sohn Dionys Miseroni junior war Zeuge jener schrecklichen Zeiten, in welchen ein
Theil der Sammlung den Sachsen im Jahre 1631 als Beute in die Hände siel. Aber noch
im Jahre 1644 zählte die Rudolfinische Sammlung neben Statuen, Bildern, Münzen über
900 kostbare Gefäße, eine Menge Edelsteine und Hunderte von astronomischen und mathe -
matischen Gerätschaften und Musikinstrumenten. Doch der größte Theil dieser Schätze
gerieth abermals als Kriegsbeute den Feinden in die Hände, als im Jahre 1648 der
Hradschin von den Schweden erobert wurde.
Sobald nach dem westphälischen Frieden eine Zeit der Erholung folgte, kehrten die
Krystallschleiser zu ihrer Arbeit zurück; sie arbeiteten von neuem für den Hof und für den
Adel. Namentlich Ferdinand III. hatte eine besondere Vorliebe für Krystall- wie für
Juwelierarbeiten. Für ihn verfertigte Girolamo Miseroni im Jahre 1653 eines der
größten Krystallvbjecte, die sogenannte „Pyramide", welche in den kaiserlichen Samm -
lungen aufbewahrt wird und von den Zeitgenossen auf 20.000 Reichsthaler geschätzt
wurde. Dem Kaiser Ferdinand wurde auch eine ungeheure Kanne gewidmet, welche aus
einem im Jahre 1652 in der Schweiz gefundenen Krystallstück geschliffen und in Prag
im Jahre 1655 hergestellt wurde. Großartig waren die Schleifereiwerkstätten in Prag;
mehrere Schleifsteine, die von großen Rädern in Bewegung gebracht wurden, waren stets
in Thätigkeit und ihnen entstammten jene bewunderungswürdigen Erzeugnisse, der Stolz
der Schatzkammern. Ein interessantes Bild von Karl Skreta, das sich in der Bildergallerie
der Gesellschaft patriotischer Kunstfreunde befindet, stellt die Familie eines hervorragenden
Schleifers, wahrscheinlich des Girolamo Miseroni, dar und bringt im Hintergrund auch
seine Werkstätte zur Anschauung.
Es scheint, daß gerade die Krystallschleiferei der böhmischen Glasindustrie neue
Anregung gab, so daß sie die größte Vollkommenheit erreichte und sich nun eines Weltrufes
erfreut. Schon im XV. Jahrhundert tauchen Nachrichten über Glashütten auf und im
XVI. Jahrhundert werden sie immer häufiger; zu jener Zeit gab es in den waldigen
Gegenden an der Grenze, im Riesengebirge, Erzgebirge und im Böhmerwald eine Menge
von Glashütten, aber auch in den Forsten im Innern des Landes, wie z. B. bei Pürglitz,
wurden neue Glasetablissements errichtet. Wie beschaffen der künstlerische Charakter des
älteren böhmischen Glases war, das erfahren wir nicht; die ältesten böhmischen Arbeiten,
die sich bis jetzt erhalten haben, stammen aus der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts.
Es sind dies hohe walzenförmige Becher, die mit Familien -
wappen in Emailfarben geschmückt und ab und zu mit
einem Ornamentstreifen, der zum Theil vergoldet oder mit
Diamant gravirt war, versehen sind. Die emaillirte Ver -
zierung ist auch fernerhin beliebt, und zwar, wie es den
Anschein hat, namentlich in den Glashütten Nordböhmens,
insbesondere in der Glashütte Schürers in Falkenau, die schon im Jahre 1443 gegründet
wurde. Während die ersten Becher nur mit Wappen geschmückt sind, sind jene ans dem
XVII. Jahrhundert mit figuralem Schmuck versehen, und zwar sind es Scenen aus der
biblischen Geschichte und nebstbei auch Blumenornamente. Seltene Beispiele bewahrt
namentlich die Sammlung des Herrn Lanna in Prag, in welcher sich der besonders
interessante Becher aus dem Jahre 1647 mit der Inschrift: „Simon Wolfreidt Schürer
von Waltheimb, Glashüttenmeister zu Falkow", „Stanislaus Fritz Primator, Glocken -
gießer zu Naudnitz", befindet.
Aber die Emailverzierung wird in der böhmischen Glasindustrie frühzeitig von dem
Schliff verdrängt. Die Einführung der Glasschleiferei in Böhmen wird Caspar Leman
zugeschrieben, der unter Kaiser Rudolf in Prag wirkte und hier auch im Jahre 1622 starb.
XVII. und XVIII. Jahrhundert.
454
Ein kostbarer Becher im Besitz des Fürsten von Schwarzenberg in Frauenbcrg, der mit
dem Namen C. Leman und mit der Jahreszahl 1605 versehen ist. bezeugt, daß Leman
wirklich meisterhaft die Glasgravirkunst handhabte. Ter Schliff ist ziemlich flach, aber
die Modelation der Figuren und Gegenstände ungewöhnlich glücklich vollführt. Leman
hat hier als Vorlage einen Kupferstich der I. und G. Sadeler benützt und nur die
ornamentalen Zuthaten, die für ihn charakteristischen Festone und Blumen sind seine
eigene Arbeit. Sein Schüler Georg Schwanhart hielt sich gleichfalls einige Zeit hindurch
in Prag auf und war auch später für Ferdinand III. thätig. Nachhaltig war der Einfluß
jener Krhstallschleifer, die auch fernerhin in Prag wirkten; wir sehen, daß zuerst auch die
Krystallformen nachgemacht werden, Formen, die von der verschiedenen Größe und
Gestalt der Krystallstücke beeinflußt wurden; auch durch seine Schwere und durch die
Dicke der Wände nähert sich das ältere Glas des XVII. Jahrhunderts der Krystall-
masse. Aber schon in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts emancipirt sich das
Glas, die Formen werden schlanker und mannigfaltiger, die Verzierungen complicirter;
manchmal werden die Formen des venetianischen Glases nachgeahmt und in der ersten
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts waren besonders Gefäße aus zweifachem Glase, welche
goldene und gemalte Bilder trugen, beliebt. Die Mehrzahl jener Glashütten, welche
die künstlerische Richtung einschlugen, befand sich in den Händen hoher aristokratischer
Familien, wie der Harrach, Kaunitz, Kinsky und Buquoi. Neben diesen blieb auch die
uralte Familie der Schürer von Waldheim im Besitze der Glashütte zu Falkenau und
vieler anderen. Namen hervorragender Glasschleifer in der zweiten Hälfte des XVII.
und im XVIII. Jahrhundert begegnen wir selten, Alles ist das Werk jener anonymen
Künstler, deren Namen in dem guten Rufe der Glashütte selbst aufgehen. Wesentlich
beigetragen zu dem Weltrufe des böhmischen Glases haben jene, meist aus Nvrdböhmen
stammende Männer, welche, wie Kaspar Kittel, die Kreybichs von Steinschönau, die
Schwans von Gablonz u. a. m. vor keiner Mühe zurückschreckend dein böhmischen Glas-
Handel den Weltmarkt erobern halfen.
Auf den Traditionen der Rudvlfinischen Zeit beruht bis zu einem gewissen Grade eine
besondere Abart der Knnstschnitzerei, die in Prag und Eger im XVII. und XVIII. Jahr -
hundert gepflegt wurde, nämlich die Reliefschnitzerei, wobei Hölzer verschiedener Gattung
und Farbe in Anwendung kamen. Zahlreiche Cabinette, die sich in einheimischen und
fremden Sammlungen befinden, Kästchen und Schachbrette wie auch selbständige Bilder
sind auf diese Art ansgeführt, und an manchen finden wir auch die Namen der Meister,
namentlich der Familie Fischer in Eger. Wie das künstlich geschliffene Glas dienten auch
diese Gegenstände zur Ausschmückung der Gemächer des prunkliebenden Adels. Von diesem
begünstigt, erhob sich noch ein anderer Zweig gerade im XVII. und XVIII. Jahrhundert
455
in Böhmen zu einer bedeutenden Höhe, nämlich die Büchsenmacherei. Die Zeit Leopolds
und Karls VI. war das goldene Zeitalter der Jagdkunst in Böhmen. Die Jagd selbst bot
Decorntionsmotive dar; Jagdscenen begegnen wir überall, auf geschliffenen und doppel -
wandigen Gläsern, in der Bekleidung der Kästchen und auch der Jäger selbst schmückte sich
Brunnen in Neuhaus (XVI. Jahrhundert).
mit einer prächtigen Ausrüstung, namentlich mit einer prachtvoll ausgestattelen Büchse. Im
Anfang des XVII. Jahrhunderts wiegen hierbei die Perlmutter- und Elfeubeineinlagen vor,
zu Ende des XVII. und im XVIII. Jahrhundert ein reicher silberner oder aus vergoldetem
Messing hergestellter Beschlag mit geschnitztem oder gravirtem Schloß. Prag ist der Central -
punkt der Büchsenmacherei; hier ist im XVII. und XVIII. Jahrhundert die Familie der
Stifter, Poser, Neireiter, Knbik, Marek thätig, ferner Johann Deplan, Josef Sella und
456
viele Andere. Aber auch auf dem Lande in Frauenberg (Benda), in Karlsbad (Breitfelder,
Kaiser), Raudnitz (Johann Lackner), Falkenan (Ignaz Hanl) und sonst wirken zahl -
reiche Büchsenmacher und jetzt noch stehen die Nachkommen der Büchsenmacher aus dem
XVIII. Jahrhundert an der Spitze ähnlicher Etablissements.
Neben der Profankunst tritt in der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts die
kirchliche Kunst wiederum in den Vordergrund. Der freigebige Adel und die reiche
Bürgerschaft ermöglichen die glänzende Ausstattung der Kirchen und die Anschaffung
prachtvoller Gefäße und Gewänder. Abermals werden die Schätze des St. Veitsdoms und
einzelner Klöster vervollständigt und es entstehen auch neue, wie jener der Lorettokapellc in
Prag oder der Schatz der Wallfahrtskirche in Altbnnzlau. Der Kelch und die Monstranzen,
letztere jetzt von strahlenförmiger Gestalt, sind mit böhmischen Granaten und anderen
Edelsteinen, im XVIII. Jahrhundert mit Emailplättchen und Silber-Filigran besetzt. Mit
der Pracht der Kirchengeräthschaften wetteifern kostbare, mit schwerem Gold gestickte
Gewänder, zum großen Theile Geschenke frommer adeliger Damen. Prächtig sind die
Gewänder der Marienstatuetten. Sie wurden nicht selten aus bürgerlichen und Dorfkreisen
gestiftet und enthalten oft Motive der Volksornamentik.
Die Ausschmückung der Kirchen brachte wiederum zwei Zweige des Kunstgewerbes
in die Höhe, nämlich die Tischlerei und Schlosserei. Barockaltäre, Bilderrahmen, Bänke,
Beichtstühle, Kanzeln, die wir namentlich in den Klosterkirchen zu Prag bei St. Nikolaus
und Ägidius, auf dem Lande in Sedlec, in Hohenfurth, Plaß, Klattau, Osek und sonst
bemerken, sind mannigfach gestaltet und reich geschnitzt. Manche Klöster haben unter
den Klosterbrüdern ihre eigenen Künstler, die für sie arbeiten; die Pfarr- und Decanats-
kirchen werden von Künstlern aus Prag und vom Lande versorgt. Darunter sei Markus
Nonnenmacher genannt, der im Jahre 1710 das Buch „Der architektonische Kunsttischler
oder Pragerisches Säulenbuch" herausgab und von welchem neben anderem die Architektur
der Altäre in der Kirche zu Laun herrührt.
Aber bedeutender als die Tischlerei und Schnitzerei ist die Kunstschlosserei,
für welche bereits mit dem Ende des XVI. Jahrhunderts eine neue Periode beginnt.
Selten wurde das Schmiedeeisen so bearbeitet, zu Spiralen gedreht und zu Ornamental -
blumen nmgewandelt wie am Ende des XVI. Jahrhunderts. In Prag und im südlichen
Böhmen begegnen wir glänzenden Arbeiten dieser Art, wie dem Gitter am Mausoleum
Ferdinands I. und Maximilians II. im St. Veitsdom, das nach dem Jahre 1568
von dem Prager Meister Jörg Schmidthammer hergestellt wurde, und dem Brunnen -
kasten im Schloßhofe zu Neuhaus, der aus der Zeit des H. Adam von Neuhaus
(gestorben 1602) stammt. Im Laufe des XVII. Jahrhunderts haben fleißige Hände
eine Unzahl von Schmiedeeisen-Arbeiten, Brüstungs- und Oberlichtgitteru zustande
458
gebracht und die erste Hälfte des XVIII. Jahrhunderts fügt neue Werke hinzu, aus
viereckigen und runden Eisenstangen zusammengesetzte Gitter, mit Zierrosetten beschlagene
Thore, Schlösser von riesigen Dimensionen, geschmiedet und gravirt. Eine große
Zahl der Schlosserarbeiten, welche die Dinzenhofer'schen Werke zieren, tragt auch das
Merkmal seines Geistes, so die Schlosserarbeiten zum heiligen Nikolaus in der Altstadt,
bei St. Thomas auf der Kleinseite, St. Karl Borromäns in der Neustadt und sonst
noch häufig.
Aber schon zu Ende des XVIII. Jahrhunderts sinkt die Kunstschlosserei, indem
einerseits das Schmiedeeisen vom Gußeisen verdrängt wird, anderseits auch Messing und
Bronze-Arbeiten, die zu Anfang unseres Jahrhunderts beliebt waren, über das bis jetzt
dominirende Eisen die Oberhand erlangten. Und wie dieser Zweig der Kunst, so sinken
auch andere Kunstzweige zumeist zu Fabriksarbeiten herab. Die böhmischen Glashütten
behaupten ihre technischen Errungenschaften und ihren Markt, aber die Formen werden
geschmacklos; die Fayence-Fabriken in Prag und Teinitz gehen, kaum ins Leben gerufen,
wieder ein und es entwickelt sich allmälig die Porzellanfabrikation, welche eine größere
Lebensfähigkeit in sich trug.
Die Gründung der gegenwärtig zur hohen Vollendung gediehenen Etablissements in
dem ehemaligen lMogner Kreise, in Elbogen, Schlackenwald, Pirkenhammer, Altrohlan,
Dalwitz, u. a. m., jene der gräflich Thun'schen Fabrik zu Klösterle im Saatzer Kreise fällt
bereits in den Schluß des XVIII. und in die erste Hälfte des XIX. Jahrhunderts.
Die Bauthätigkeit der Vierziger- und Fünfziger-Jahre, welche zum großen Theile
die Pfade der alten Stile einschlug, kam wenigstens manchen Industriezweigen zustatten.
Doch aus denKünstlerkreisen kommt seltenJemand den Bedürfnissen der Industrie entgegen.
Einen für jene Zeit seltenen Sinn für die Kunstindustrie zeigt Joseph Manes, der zuerst in
seinem aus romanischen und volksthümlichen Motiven abgeleiteten Ornamente eine strenge
Stilisirung berücksichtigt, wie wir sie überhaupt an den Entwürfen, die er der Kunst -
industrie bot, bemerken. Aber alle diese und ähnliche Erscheinungen der Fünfziger- und
Sechziger-Jahre sind mehr individuell und dringen nicht durch.
Unterdessen machte sich zur selben Zeit, als in London unter dem Namen Tiro Vioirna
tVIrrsouirr die letzten Reste der Rudolfinischen Sammlungen, die einst (im Jahre 1782)
auf dem Licitationswege der Buchdrucker Johann Schönfeld erworben hatte, verkauft
wurden, die Parole immer mehr geltend, man solle die Denkmäler des Knnstgcwerbes
erhalten und sie als Vorbilder für die moderne Industrie benützen. Bald nachdem das
österreichische Museum in Wien gegründet war, dachte man daran, ein Kunstgewerbe -
museum in Prag zu gründen, was jedoch erst im Jahre 1885 geschah, und im Jahre 1868
wurde von der Prager Handelskammer im Verein mit dem österreichischen Museum die
459
erste Kunstindustrie-Ausstellung in Prag mit einem auf die Pflege des Kunstgewerbes
hinzielenden Programme veranstaltet. Die Gründung von Gewerbe-Museen kam auch
der Kunstindustrie zustatten; schon in den Sechziger-Jahren wird von einem Privatmann
Vojta Naprstek, das „Böhmische Gewerbe-Museum" in Prag errichtest welches für
die Kunstindustrie, insbesondere durch die darin niedergelegten Schätze der böhmischen
Volkskunst hervorragende Wichtigkeit erlangte, und im Jahre 1873 hat es eine Gesellschaft
in Reichenberg unternommen, das „Nordböhmische Gewerbe-Mnsenm" zu gründen,
welches rasch emporblühte und zur Förderung der Kunstindustrie Nordböhmens wesentlich
beiträgt. In neuerer Zeit haben sich zu diesen älteren Gründungen die Gewerbe-Museen zu
Pilsen und Budweis gesellt.
Frühzeitig reichte der Sammelgeist auch in Privatkreise und in dieser Beziehung
ist in der „Sammlung Lanna" in Prag eine Privatcollection entstanden, welche,
was Reichhaltigkeit und Mustergiltigkeit betrifft, vielen öffentlichen Anstalten den Rang
abgewonnen hat.
Durch die Gründung der Gold arbeiterschule in Prag und der christlichen Akademie
wird bereits in den Siebziger-Jahren gesucht die Kunst und den Geschmack theoretisch und
praktisch zu heben, bis man schließlich durch die Gründung der Kunstgewerbe-Schule in
Prag und durch die Ergänzung des Netzes der Fachschulen auf dem Lande für die sorg -
fältige Erziehung der neuen Generationen sorgte.
Die Arbeiten dieser Schulen zeigten in systematischer Übersicht auf der Landes-
Jubiläumsausstellung in Prag im Jahre 1891 die ersprießlichen Resultate dieses modernsten
Zweiges des Schulwesens.
Und Schritt für Schritt entwickelt sich auch feit den Sechziger-Jahren die
Production des Handwerkerstandes und der Fabriken; die Glasschleifereien im nördlichen
Böhmen und im Böhmerwalde beleben den vergangenen Ruhm der böhmischen Glas -
industrie und keramische Etablissements im nördlichen und südlichen Böhmen, sowie auch
die Textilindustrie Nordböhmens vermehren die Reihe jener Industriezweige in Böhmen,
die seit jeher hier gepflegt wurden, um neue Gebiete. Die Edelsteinschleiferei von Tnrnau,
die Quincaillerie zu Gablonz und Umgegend werden, ans alten Traditionen fußend,
gleichwie die Spitzenklöpplerei des Erzgebirges als Hausindustrie von den breitesten
Schichten der Bevölkerung betrieben.
Die Prager Goldschmiedeknnst bewahrst namentlich auf dem Gebiete der kirchlichen
Kunst und der Juwelierarbeiten, ihren guten Ruf, sowie die Erzeugung der Kirchenparamcnte
und anderer Arbeiten aus dem Gebiete der Stickerei; auch die Buchbinderei hat sich,
namentlich in Prag, bedeutend vervollkommnet, indem sie sich jegliche Technik in der
Lederarbeit anzneignen wußte. Die Bauthätigkeit fördert die Kunst- und Bautischlerei
460
Glas von C. Leman aus dem Jahre IMS.
und belebt neuerdings die Kunstschlosserei, wie auch die Arbeit des Metallgießers und
Metallschlägers aus der hohen Plastik neue Belebung schöpft. Diese directe Verbindung
mit der Kunst einerseits, andererseits das in weiteren Kreisen stets zunehmende Interesse
für künstlerische Production sichert der weiteren Entwickelung des Kunstgewerbes in
Böhmen vollen Erfolg.
Denlmal der Erfinder des Ruchadlo-Pfluges in Pardubitz
Volkswirtschaftliches Leben in Böhmen.
Landwirtschaft.
s dürfte kaum ein zweites Land in Europa geben, das von der Natur
selbst zu einem so eigentümlichen, ein selbständiges Ganzes bildenden
landwirtschaftlichen Gebiete geschaffen ist wie das Königreich Böhmen.
Ringsum von hohen Gebirgszügen, im Südosten von Hochland ein -
geschlossen. ist Böhmen von einer stattlichen Anzahl von Flüssen und
Bächen durchzogen, die sämmtlich. mit einer unbedeutenden Ausnahme, ihren Ursprung in
den Grenzgebirgen haben und ihren Laus dann nach dem Innern des Lande» richten,
um schließlich vereinigt in einem Flußbett, der Elbe, das Land in nördlicher Richtung zu
verlassen.
Dieser Umstand, daß alle Gewässer Böhmens schließlich dem Norden zneilen, hat
seinen Grund in einer zweiten Eigentümlichkeit des Landes, die von hoher wirtschaftlicher
Bedeutung ist, nämlich darin, daß die nördliche Hälfte Böhmens eine tiefere Lage (über
dem Meere) hat als die südliche, so daß man hier die seltene Wahrnehmung macht, daß
die südlichen Landestheile die kälteren, die nördlichen dagegen die wärmeren sind, wodurch
Böhmen von den meisten Ländern Enropa's, zunächst namentlich voni Schwesteilande
462
Mähren sich unterscheidet, dessen Norden der kältere, dessen Süden hingegen der wärmere
Theil ist. Unser Kärtchen zeigt gleichsam aus der Vogelperspective, wie in Böhmen Gebirge
und Gewässer vertheilt sind, und es sind zu den letzteren nebst Flüssen und Bächen
insbesondere auch die Teiche zu zählen, deren Anzahl vormals im ganzen Lande eine ganz
bedeutende war und noch gegenwärtig, hauptsächlich im Süden, eine große ist. Das Kärtchen
läßt das Königreich Böhmen wie eine von Süden gegen Norden geneigte Tasse erscheinen,
deren innere Flüche indeß keine Ebene bildet, sondern von ausgedehnten und beträchtlich
hohen Gebirgsmassen durchzogen ist. Bon den Gewässern, da sie mit Ausnahme der Neisse,
die dem Baltischen Meere zufließt, in die Elbe münden, gelangt somit sämmtliches Wasser
— und die von demselben fortgetragenen Erdtheilchen — in die Nordsee; nur zwei Punkte
des Landes bieten die Möglichkeit, einiges Wasser auch dem Flußgebiete der Donau, sonach
dem Schwarzen Meere zuzuleiten, das ist der Schwarzenberg'sche Holzschwemmkanal im
Böhmerwalde, wo durch eine künstliche Vorrichtung das Wasser der oberen Moldau nach
dem Süden gelenkt wird, und der Teich Bor bei Pocätek im Südosten des Landes, der bei
normalem Wasserstande nach dem Innern Böhmens — zur Elbe — abfließt, im Frühjahr
jedoch bei einer gewissen Höhe des Wasserspiegels auch der Donau Wasser abgibt.
Das ganze Land nimmt eine Fläche von 902'8 österreichischen Quadratmeilen
oder 51.948 Quadratkilometer ein und liegt zwischen dem 48° 34' — 51° 3' nördlicher
Breite und dem 29° 27' — 34° 3' östlicher Länge, hat somit eine Breite von 37 und
ein Länge von 44 geographischen Meilen.
Die höchsten Punkte des Landes, wo die landwirthschaftliche Production nur in
kümmerlichem Graswuchs und in Holznutzungen besteht, sind die Schneekoppe (LusLIru)
im Riesengebirge (1600 Meter über dem Meere) und der Arber (luvor) im Böhmerwalde
(1450 Meter über dem Meere). Der tiefste Punkt ist die Elbe bei Herrenskr-etschen
(klrkirsüo), deren Wasserspiegel dort nicht mehr als 105 Meter über dem Meere liegt.
Aus dieser Gestaltung der Erdoberfläche ergeben sich jene Verschiedenheiten im Klim a
des Landes, die in neuerer Zeit dahin führten, Böhmen in landwirthschaftlicher Beziehung
in elf verschiedene Prodnctionsgebiete einzutheilen, und zwar: 1. Das böhmische Tief -
land, 8248 Quadratkilometer Flächenraum, umfassend die tiefgründigsten, fruchtbarsten
Ebenen. 2. Die südlichen Vorlagen der Sudeten, 4625 Quadratkilometer Flächeu-
raum, meist Hügelland mit weniger warmem Klima. 3. Das untere Egerland mit
dem Mittelgebirge, 3049 Quadratkilometer umfassend, sehr fruchtbar und mit zum
Theile sehr warmen Lagen. 4. Das obere Egerland mit dem Tepler Gebirge,
3289 Quadratkilometer groß, zumeist kältere Lagen. 5. Das Bergland des Berauu-
gebietes und des Brdywaldes, 4362 Quadratkilometer, meistens kalkreiche Boden.
6. Das Pilsener Becken, 3260 Quadratkilometer, hügliges, minder fruchtbares
463
Ackerland. 7. Das Becken vvn Budweis nnd die böhmische Teichplatte, bei
3992 Quadratkilometer, ein hochgelegenes, wasserreiches Flachland. 8. Das böhmisch-
mährische Hochland 10.039 Quadratkilometer umfassend, vorwiegend der Forstcultnr
gewidmet. 9. Das Gebirgsgebiet der Sudeten mit 4325 Quadratkilometer Fläche,
zumeist kältere Gegenden. 10. Das Gebirgsgebiet des Erzgebirges, 1185 Quadrat -
kilometer messend, vorwiegend humusarme Waldregion. 11. Das Gebirgsgebiet des
Karte der Gebirge und Flüsse Böhmens.
Böhmerwaldes, 5582 Quadratkilometer, die waldreichen Grenzdistricte zwischen
Böhmen nnd Baiern bildend.
Neben dieser, die „Productionsgebiete" darstellenden Eintheilung des Landes besteht
eine zweite, das Ganze in sieben Regionen scheidende Eintheilung, nach welcher die im
Lande periodisch wiederkehrenden land-und forstwirthschastlichen „Regional -Ausstellungen
veranstaltet zu werden pflegen. Es sind dies: 1. die Eentralregion, 2. die nordwestliche,
3. die nördliche, 4. die nordöstliche, 5. die östliche, 6. die südöstliche und 7. die
südwestliche Region.
464
Ehedem, wo Böhmen noch schwach bevölkert war, haben die weit größeren Wald -
flächen und die zahlreichen Teiche das Klima des Landes in einer die Feuchtigkeit fördernden
Weise beeinflußt; mit der Zunahme der Volksdichtigkeit wurden aber die Waldregionen
immer geringer, und als die Reihe auch an die Teiche kam, von welchen man eine große
Zahl in Äcker und Wiesen umwandelte, wurde das Klima allmälig ein ziemlich trockenes,
so daß gegenwärtig insbesondere das Centrum Böhmens, die Region um die Landeshaupt -
stadt herum, zu den mindest feuchten Gebieten Europa's gehört.
Im Ganzen sind, was Feuchtigkeit betrifft, sämmtliche Gebirgsgegenden, wenn
auch an Humus nicht reich, doch reicher an Feuchtigkeit, da sie zumeist von ausgedehnten
Wäldern bedeckt sind; im Innern des Landes, das von Flüssen und Büchen nicht allzu
reichlich durchzogen ist, mangelt es vielfach an Feuchtigkeit, und es ist nur dem Neichthum
an angehäuftem Humus zu danken, daß die zumeist von Äckern und Wiesen gebildeten
Flächen eine für den Getreide-, für Hackfrucht- und Fntterbau genügende Fenchtigkeits-
menge aufweisen. In neuerer Zeit, wo infolge geregelter Forstwirtschaft die Wald -
flächen, und wegen besserer Fischpreise die Teichwirtschaft wieder an Ausdehnung
gewinnt, ist Hoffnung vorhanden, daß auch die Feuchtigkeitsverhältnisse Böhmens im
Innern des Landes sich bessern werden.
Eigenthümlich verhält es sich in Böhmen mit der Wärmevertheilung. Hier
ist, wie bereits erwähnt, im Gegensätze zu den meisten Ländern Europa's der Süden der
kältere, der Norden der wärmere Theil; der Norden wird durch die hohen Grenzgebirge
vor rauhen Nord-, Nordost- und Nordwestwinden geschützt, welche dagegen über das Innere
des Landes, sowie nach Süden ungehindert streichen und die Temperatur dieser Landes-
theile Herabdrücken.
Während in dem Bergland der Waldbau vorherrscht, daneben Wiesen, und nur in
geringerem Maße Äcker vorhanden sind, sehen wir im Flachland den Ackerbau vorherrschend,
die Wiese daneben nur in den Niederungen, im übrigen aber ziemlich spärlich, mitunter
gar nicht vertreten, den Wald aber nur dort, wo der Boden für den Anbau von Wirthschafts-
gewächsen ungeeignet, blos der Holzproduction zusagt, oder wo es Anhöhen gibt, deren
Benützung zur Waldcnltur einträglicher und ans klimatischen Rücksichten vortheilhafter ist
als zum mühevollen und nur wenig lohnenden Ackerbau.
Von den 5,837.603, somit nahezu sechs Millionen Einwohnern des Königreiches
(die Einwohnerzahl betrug 1796: 2,997.824, hat sich somit seither verdoppelt) beschäftigt
sich ungefähr ein Drittel mit dem Landbau.
Der Grundbesitz ist in Böhmen zu einem Drittel landtäflich (33'99 Procent) und
zu zwei Dritteln nicht landtäflich (66 01 Proeent). Ungefähr dasselbe Verhältniß besteht
in Bezug auf den Unterschied zwischen Groß- und Kleingrundbesitz. Von jenem gibt
465
es 1778 Bestände im Ausmaße von 1,939.634 Hektar; der Kleingrundbesitz, in
638.226 Beständen, umfaßt 3,254.404 Hektar. Von den landtäflichen Gütern sind wieder
ein Drittel (11'24 Procent) Fideicommiß- und zwei Drittel (22'75 Procent) Allodialbesitz.
Besitzstände über 115 Hektar gibt es 702, dagegen solche unter 0 6 Hektar: 298.860.
Nach den Culturarten gibt es gegenwärtig von der Gesammtfläche:
Äcker 50 54 Procent, das ist 2,625.402 Hektar
Wiesen 10'05 „ „ „ 522.014 „
Gärten 1'36 „ „ „ 70.814 „
Weiden 5 04 „ „ „ 261.951 „
Waldungen . . . 2902 „ „ „ 1,507.325 „
Teiche rc 0'74 „ „ „ 38.598 „
Productives Land 9675 Procent, das ist 5,026.104 Hektar
Unproductives. . 3 25 „ „ „ 168.714
Gesammtfläche . 100'— Procent, das ist 5,194.818 Hektar
Von den landwirthschaftlich bearbeiteten Flächen entfallen volle 96 Prvcent ans die
Cultur und nur 4 Procent auf die Brache, welche überdies in Abnahme begriffen ist.
Die Cultur der einzelnen Wirthschaftspflanzen hat folgende Ausdehnung:
Es entfallen auf Getreide und Hülsenfrüchte nahezu zwei Drittel, das ist 63'61
Procent, und zwar ans den Weizen 9'73 Procent, den Roggen 23'33 Procent, die Gerste
10 99 Procent, den Hafer 17 98 Procent, die Hülsenfrüchte 1'58 Procent und auf die
Hackfrüchte 24'59 Procent (davon auf Kartoffeln 12'59 Procent, auf Zuckerrüben
5'6 Procent, auf Raps 6'4 Procent), auf den Kleebau 9'7 Procent und auf Gespinnst-
pflanzen 1'38 Procent).
Bei der großen Vvlksdichtigkeit (es leben in Böhmen 107 Menschen auf einem
Quadratkilometer, somit doppelt so viel als in Steiermark und dreimal so viel als in
Tirol und Dalmatien) bildet der Körner- und der Hackfruchtbau die vorwiegenden Culturen.
Dagegen ist neben der nicht allzu ausgedehnten Wiesencultur der Futterbau (Kleearten)
seit fast einem Jahrhundert der nothwendige Ersatz für den Bedarf an Viehnahrnng.
Bis zur Mitte des XVIII. Jahrhunderts bildete der Getreidebau die vorwiegende,
nicht allzu anstrengende Beschäftigung des böhmischen Landwirthes, der dabei seinen
Viehstand ziemlich karg ernährte. Als aber die Kartoffel als Nahrungsmittel für Menschen
und Vieh und später der Kleebau Verbreitung fand, wurde infolge des Kartoffelbaues
die Hand- und Zugarbeit zwar anstrengender, aber es hob sich die Viehzucht, ohne daß
infolge Entziehung der Ackerflächen die Körnerproduction beeinträchtigt worden wäre. Die
Wirthschaftsthiere nahmen sowohl an Zahl als an Körpergröße zu. und mit der späteren
Aufnahme der Rübencultur entwickelten sich Ackerbau und Viehzucht allmälig zu jener
achtunggebietenden Höhe, die heute den Stolz der böhmischen Landwirthschaft bildet.
Böhmen. 3i>
466
Nicht allein der Großgrundbesitz, sondern auch der kleine Landbauer betreibt seit
Jahrhunderten sein Geschäft mit hervorragendem Eifer und sucht dem Boden um so
reichlichere Pflauzenernten abzugewinnen, jemehr die Anforderungen der Neuzeit, haupt -
sächlich die Volkszunahme dazu ansporneu. Dies ist insbesondere auch an dem Fleiß wahr -
nehmbar, mit dem die Landwirthe auf die Vervollkommnung ihrer Geräthe bedacht sind.
Schon zu Anfang dieses Jahrhunderts hatten zwei schlichte Landleute aus der
Gegend von Pardubitz, Namens Veverka, jenes eigeuthümliche Ackergeräthe ersonnen, das
unter dem Namen Ruchadlo heute über ganz Europa verbreitet ist und mit dem die
empirischen Constructeure den Boden tiefer zu ackern und gründlicher zu wenden und zu
lockern mit bestem Erfolge bestrebt waren. In neuerer Zeit wurde diesen Erfindern von
ihren dankbaren Landsleuten ein schlichtes Denkmal, ein Werk Strachovskhs, auf dem
Stadtplatze in Pardubitz errichtet.
An geschickten Verbesserern alter und glücklichen Erfindern neuer Geräthe und
Maschinen für den Landbau hat es in Böhmen nie gemangelt; es sind da nicht blos
Namen von Großwirthen wie Horsky, Heiligstem und Andere anzuführen, sondern auch
eine Reihe einfacher Landwirthe, Dorfwagner, Schmiede und Schlosser, deren technisches
Genie sich in der geschickten Herstellung neuer zweckmäßiger Geräthe kundgab und auch
gegenwärtig noch bethätigt. Nicht wenige dieser „kleinen Gewerbsleute" haben sich durch
Fleiß und Tüchtigkeit zu Fabrikanten emporgeschwungen und können heute mit patriotischem
Stolz genannt werden, da sie mit ihren Erzeugnissen nicht nur den heimischen Markt
beherrschen, sondern selbst dem Auslande die Fabrikate ihrer Werkstätten in großer
Menge zuführen.
Der Getreidebau. Der böhmische Weizen nimmt dadurch, daß sein Korn das
feinste, an Weiße und Schwere unübertreffliche Mehl liefert, den ersten Platz unter den
Halmfrüchten ein, und es ist noch immer der „gemeine" Weizen (Iritieunr vul^aro), der
den guten Ruf dieses Produetes — und des aus ihm bereiteten Gebäckes — ausrecht
erhält. Daneben werden wohl auch manche Sorten ausländischen Ursprungs und selbst
Varietäten eigener einheimischer Aufzucht angebaut; sie sind aber noch lauge nicht zu einer
solchen Bedeutung gelangt, wie der nackte und der ihm im Korn ähnliche Bartweizen, die
sowohl als Winter- und Sommerfrucht, wie auch unter der Benennung „Wechselweizen"
(in-osivka) gedeihen und in allen Weizengegenden Böhmens anzutreffen sind. Solche gibt
es nun nicht nur in den gesegneten Niederungen, sondern überall mit Ausnahme der rings
das Königreich Böhmen einschließenden Gebirgsgegenden, deren rauheres Klima der zarte
Weizen mcht verträgt.
Dagegen ist die zweite Halmfrucht, der Roggen (Soeala eereals), das eigentliche
Hauptgetreide Böhmen», dessen Eultur bis in die kalten Gebirgsgebiete hinanreicht und
Dampfpflugarbeit.
468
fast das Dreifache des Areales des Weizens in Anspruch nimmt. Sein Korn liefert infolge
der Nahrhaftigkeit seines Mehles nicht nnr das althergebrachte unschätzbare Brot -
materiale für Arm und Reich, sondern das Stroh übertrifft auch durch seine Länge und
seine große Festigkeit alle anderen Strohgattungen. Es ist allgemein nicht nnr das Material
für Strohbänder, sondern dient, soweit die bestehende Bauordnung dies überhaupt noch
zuläßt, auch zur Dachdeckung der ländlichen Chaluppen mittelst Strohscheibeln, die zwar
nicht ohne Feuergcfährlichkeit, indeß sehr billig, dauerhaft und leicht hcrzustellen ist.
Der böhmische Roggen, auch schlechthin Korn genannt, hat seit uralten Zeiten dem
Lande den Beinamen einer „Kornkammer Deutschlands" verschafft, der freilich heutzutage
nicht mehr die alte Geltung hat, seit die Eisenbahnen die Zufuhr russischen Roggens
ermöglichen. So wie beim Weizen ist auch bei dieser Brotfrucht die Zahl der Sorten, die
im Lande angebaut werden, eine geringe, weil die neu eingeführten, mitunter sehr ange -
priesenen fremdländischen Varietäten zumeist in kurzer Zeit entarten, während der
böhmische Winter- und Sommerroggen, seit Jahrhunderten acclimatisirt, sich siegreich
behaupten.
Die dritte Getrcideart, die Gerste, und zwar die zweizeilige (kkoiäonm ckMolion)
hält gleichfalls ihren uralten Ehrenplatz unter den böhmischen Halmgewächsen aufrecht,
hauptsächlich als Sommerfrucht, deren kurzer Vegetationslauf sie befähigt, selbst in rauhem
Klima bei mäßiger Sommerwärme fortzukommen. Sie gedeiht, wenn nur der Boden
nicht allzu arm, selbst in hohen Gebirgslagen.
Die vierzeilige und die sechszeilige Gerste haben sehr geringe Verbreitung, die
zweizeilige dagegen überragt an Ausdehnung noch etwas den Weizen und liefert das
unschätzbare Materiale für die Bierbrauerei, das Malz, zu dessen Erzeugung sich
insbesondere die blassen stärkereichen und kleberärmeren Körner der hackfruchtbauenden
Gegenden eignen, während die glasigen kleberreichen Körner jenes ausgezeichnete
Graupenproduct liefern, das mit Recht ein nationales Nahrungsmittel genannt werden
kann, denn sein Verbrauch ist ein allgemeiner. Es hat auch in der häuslichen Verwerthnng
des Schweinefleisches, als beliebter Zusatz zu Blutwürsten, seine volkswirthschaftliche
Bedeutung. Fremde Gerstenarten werden in Böhmen neuerer Zeit auch angebaut,
namentlich die beliebte und für Brauereizwecke vorzüglich geeignete Hannagerste, dann die
Chevalier- und andere Gerstenvarietäten; doch ist — sorgfältigste Auswahl des Saat -
gutes vorausgesetzt — die einheimische, weil an das Klima längst gewöhnte zweizeilige
Gerstensaat allen anderen vorzuziehen. Das Stroh der Gerste, obwohl kurz, ist nicht ohne
Nährwerth für das Vieh und findet zumeist zu Hecksel geschnitten allgemeine Anwendung.
Der Hafer (avoiin sntiva), die anspruchloseste Halmfrucht in Bezug auf Klima
und Boden, wird (zumeist Rispen-, weniger Fahnenhafer) nicht nnr überall angebaut und
Bodenproducte aus Böhmen.
470
als werthvollstes Pferdefutter verwendet, sondern war vormals auch nicht ohne Bedeutung
als Nahrungsmittel für Menschen, und heute noch ist die aus seinem Korn bereitete
Grütze als kräftige Nahrung für Kinder beliebt. Obzwar er gleich der Gerste eine
Sommcrfrucht ist, so ist seine Vegetationsdauer doch etwas länger, und es geschieht daher
im Gebirge nicht selten, daß die reife Hafersaat im Herbst verschneit und die Frucht erst
im nächsten Frühjahr geerntet werden kann. Das Stroh wird Wohl auch als Futter
verwendet, ist jedoch minder nahrhaft als das Gerstenstroh. Mit neueren Hafersorten
werden zahlreiche Anbauversuche gemacht, um zu ergründen, ob nicht schottische,
Kamtschatka- oder australische und dergleichen Hafervarietäten bessere Erträge liefern; es
ist aber dadurch dem einheimischen Rispenhafer bisher der Boden noch nicht ernstlich
streitig gemacht worden.
Zu den Halmgewächsen Böhmens ist auch die Hirse (?ameum miliaooum) zu
zählen, deren Samen zu einem beliebten Gericht, dem Hirsebrei Verwendung findet. Sie
wird mehr im Nordosten als in den übrigen Theilen des Landes angebaut und liefert nebst
dem schmackhaften Korn für den Menschen ein nahrhaftes Stroh für das Vieh.
Auch der Mais oder türkische Weizen (2sa Nais) muß heute zu den Halmgewächsen
Böhmens gezählt werden, und zwar als eine der modernen Pflanzen, die, aus wärmerem
Klima stammend, hier eingebürgert wurden. Es steht jedoch dem Mais in Böhmen die für
das vollkommene Gedeihen und Ausreisen seiner Körner erforderliche Wärmemenge nicht
jeden Sommer zur Verfügung, und deshalb ist auch seine Cultur als Saatfrucht von sehr
geringer Bedeutung. Dagegen wird er als Grünmais mit Vorliebe gebaut, denn manche
Sorten, wie der „Pferdezahn" u. a. entwickeln so reiche, große und saftige Blätter und
Halme, daß sie ein köstliches Futter (insbesondere für Melkkühe) abgeben, weshalb heute
der Anbau von Mais als Futtergewächs ein sehr verbreiteter ist.
Hülsenfrüchte. Seit undenklichen Zeiten gehören einige Hülsenpflanzen zu den
in Böhmen allgemein verbreiteten Wirthschaftspflanzen, während andere erst in neuerer
Zeit in die Feldwirtschaft Eingang gefunden haben und bis heute nur in geringer
Ausdehnung angebaut werden.
Es sind vorzugsweise die Erbse (Lisum sativum und arvoriso) und die Linse
(blrvum Ions) die längst einheimisch gewordenen Hülsengewächse. Beide, beliebt als die
nahrhaftesten Körnerfrüchte, sind ziemlich stark verbreitet, indem sie zusammen ans etwa
30.000 Hektar Acker, neuester Zeit etwas weniger, angebaut werden, woran zunächst
jene Gegenden betheiligt sind, die vorzügliche Kochwaare liefern, wie insbesondere die
durch ihre kalkreichen Böden hervorragenden filmischen und Kreideformationsgebiete, die
einen großen Theil von Mittel- und Westböhmen bedecken. Das Stroh dieser beiden
Pflanzen ist hochgeschätzt als Dörrfutter, das nahezu gutem Wiesenheu gleichkommt.
An diese vorzugsweise zu menschlichem Genuß dienenden Hülsenfrüchte reiht sich
auch noch eine der Familie nach ihnen nicht ähnliche Körnerfrucht, der Buchweizen
(?ol^ssonwri und tai-taricmm), welcher durch seinen raschen Wuchs und
kurze Vegetationsdauer zur Stoppelfrucht geeignet und dessen Frucht nicht allein als
Menschennahrung beliebt geworden ist, sondern auch, sowie die Hülsenfrüchte, ein
geschätztes Stroh als Futter gewährt. Daneben ist seine honigreiche Blüte eine gute Weide
für Bienen, und es wird hier und da Buchweizen hauptsächlich als Bienenfutter angebaut.
Von den im Feldbau minder verbreiteten, vermöge ihrer Nahrhaftigkeit aber
beliebten Hülsenfrüchten ist die Bohne, auch Fisole genannt (Lbassoius iminrs) zu
erwähnen, deren Frucht in gekochtem, in gesäuertem und wohl auch in gemahlenem
Zustande genossen wird und die hier und da aus der ehemaligen Gartenpflanze ein
Feldgewächs geworden ist. Daneben gibt es aber in neuerer Zeit auch Hülsenfrüchte, deren
Samen ausschließlich als kräftiges Viehfutter Verwendung findet, und da nimmt den
ersten Platz die Wicke (Vieia sativu), die jüngere Stelle die Acker- und Pferdebohne
(View tabu) und die jüngste die Lupine in ihren drei Arten (bup'mus lntons, albus
und auAustitoiius) ein. Während die Wicke bei uns längst schon als Pferdekraftfutter
bekannt ist und selbst in Volksliedern besungen wird, sind die Bohnen im Feldbau Ein -
dringlinge neuerer Zeit und werden als solche zumeist auf Großgütern angebaut. Die
Lupine aber fängt erst an, sich Bahn zu brechen, dürfte aber vermöge ihrer neuestens
entdeckten Eigenthümlichkeit, den Boden mit ihren Wurzelknöllchen an Stickstoff zu
bereichern, recht bald auch dort Freunde finden, wo man bisher von ihr die Meinung
hegt, daß sie sich nur für ärmliche Sandböden empfiehlt. Dieses, nicht nur den Lupinen,
sondern allen Hülsenpflanzen innewohnende Vermögen eröffnet diesen Blattgewächsen
eine neue Zukunft in Böhmen, so daß man vermuthen darf, daß sie an Verbreitung in der
Landwirthschaft gewinnen werden.
Futterpflanzen. Eine hohe Bedeutung für den böhmischen Landwirth haben
jene Futtergewüchse, deren Anbau aus Äckern erst im vorigen Jahrhundert angeregt,
nunmehr derart verbreitet ist, daß selbst aus dem kleinsten Grundbesitz in den ärmsten
Landestheilen Einiges davon anzutreffen ist. Es sind vorwiegend Kleearten und kleeartige
Pflanzen, die heutzutage an 10 Procent der gesammten Feldarea in Anspruch nehmen.
Darunter findet man die verschiedenen Arten des Klee's (Drikoliuin), zumeist Roth- und
Weißklee, in die Fruchtfolgen der Wechselwirthschaft als wohlthätige Blattpflanzen ein -
gereiht, während deren Verwandte, der Luzernklee (Mäioago) und der Esparsetteklee
(Onobr^ebis), ihrer langen Lebensdauer nach sich für Fruchtfolgen mit alljährigem
Wechsel zwar nicht eignen, dagegen auf besonderen Ackerparcellen, sogenannten Futter -
schlägen, überall anzutreffen sind und sich vermöge ihres Blattreichthums und dem
472
hohen Eiweißgehalt als vorzügliches Grün- und Dörrfutter längst bewährt haben. Der
Luzernklee, der in guten tiefgründigen Lagen selbst 15 bis 20 Jahre und darüber aus -
dauert, ist deshalb namentlich in den Hopfen bauenden Gegenden als Wechselfrncht
beliebt, da auch diese edle Gewürzpflanze beste Bodenmischungen fordert, von ähnlicher
Lebensdauer ist und als Nachsrucht der Luzerne sehr gut gedeiht. Eine ebenso nützliche
als durch ihren Blütenstand und ihre Farbe schöne Ackerpflanze ist der Esparsetteklee,
der in Böhmen insbesondere in kalkreichen Böden zu hohen Ernten gedeiht und dessen
Heu zu den ausgiebigsten Dörrfutterarten gezählt wird. Neuerer Zeit werden hier und dort
auch Jncarnatklee, ferner Gemenge von Roth-, Weiß- und Esparsetteklee mit Gräsern
gebaut. Diese Futterbestände sehen künstlichem Wieswachs gleich und sind ob des aus -
gezeichneten Futterertrages sehr beliebt. Endlich gehört zu den im ganzen Lande verbreiteten
Futterkräutern auch das Mischlingsfutter, gewöhnlich Roggen oder Hafer mit Erbsen
oder Wicke, Mengsaaten, die nicht nur der Ernährung des Viehes zugute kommen, sondern
auch den allmäligen Übergang von der vormaligen Zwei- und Dreifelder- (Körner-)
Wirthschaft mit Brache zur Wechselwirthschaft ohne Brache in nützlicher Weise fördern.
Die Hackfrüchte. Zwei Gewächse, vor hundert Jahren in Böhmen kaum dem
Namen nach bekannt, liefern heute Millionen seiner Einwohner Nahrung und Gcnußmittel,
dem Staatsschatz aber Millionen von Steuergulden: es ist dies die Kartoffel und die
Zuckerrübe.
Für den Anbau der elfteren sind mit Ausnahme schwerer Thonböden fast alle
Bodenarten, ganz besonders aber die leichten Lehm- und Sandböden geeignet; dazu kömmt,
daß die Kartoffel auch gegen rauheres Klima nicht allzu empfindlich ist und, sobald sie die
Spätfröste glücklich überstanden, zu einer ansehnlichen Knollenfrucht von ausgezeichneten
Qualitäten gedeiht. Sie nimmt gegenwärtig an 13 Procent des Ackerlandes ein und ihre
Gesammternte erreicht an 25 Millionen Hektoliter. Wiewohl die Kartoffel dem Armen
zum täglichen unentbehrlichen, dem Wohlhabenden zum beliebten Nahrungsmittel gewor -
den ist, so dient doch nur der kleinere Theil ihrer Gesammternte zu directem Genüsse des
Menschen; bei weitem der größte Theil wandert in die Spiritusbrennereien, wo das
Stärkemehl der Kartoffel zu Alkohol umgewandelt wird, während alles Übrige, Schlempe
genannt, ein ausgezeichnetes Mastfutter für das Hornvieh bietet, dessen Verwendung wir
jenes zarte, überaus wohlschmeckende und daher beliebte Rindfleisch und jene Massen Talg
verdanken, welche die 203 Kartoffeln verarbeitenden Brennereien des Landes mit einem
Steuererträgnisse von circa 7 Millionen Gulden liefern.
Die Zahl der Kartoffelvarietäten, die in Böhmen gebaut werden, beträgt mehrere
Hunderte, doch sind darunter auch viele nur Curiositäten, die von Liebhabern gebaut werden.
Graf Berchtold schätzt in seiner bekannten Monographie die bestehenden Spielarten auf
473
mindestens 1000. Zu Zwecken der Spiritusfabriken dienen die stärkereichsten, zur Vieh-
fiitterung die albuminhaltigsten Abarten; zum menschlichen Genuß eignen sich und sind
meist verbreitet die sächsische Zwiebelkartoffel und andere früh- und spätreifende, meist
nicht allzu große Knollen liefernde Spielarten.
Die zweite der Hackfrüchte, die Rübe, hat sich aus einer vormals nur als Küchen -
gewächs bekannten Gartenpflanze im Laufe des XlX. Jahrhunderts zu jener Hauptpflanze
Böhmens emporgeschwungen, mit welcher das Land weit mehr als seinen eigenen jährlichen
800.000 Metercentner betragenden Zuckerbedarf deckt, den: Staate aber an 36 Millionen
X Bauern-Actien-Zllckerfabrik in Chrudim.
Gulden Steuer abführt. Sie kann sich allerdings an Verbreitung im Lande mit der Kartoffel
nicht messen, denn wenn ihr auch die Bodenbcschaffenheit in den meisten Gegenden des
Landes Zusagen würde, so ist sie in Bezug auf die zweite Bedingung des Gedeihens, das
Klima, weit wählerischer als die Kartoffel, indem sie einen lohnenden Zuckergehalt nur
in warm gelegenen Niederungen erreicht. Da indeß Böhmen auch au diesen gesegneten
Fluren keineswegs arm ist, so ist es in der Lage, auf seinen 120.000 Hektar Rübeuland
alljährlich circa 38 Millionen Metercentner Zuckerrübe zu erzeugen, welche insgesammt
den Zuckerfabriken zugeführt werden.
Ein eigenthümlich reges Leben und Treiben gibt es im Herbst in den Znckerfabriks-
gcbieten, wenn die Zeit der Rübcuernte herangcrückt ist. Da wimmelt es auf den Feldern
474
von Arbeitern und Arbeiterinnen, welche die Hackfrucht aus dem Boden ziehen, um sofort
mit Messern jene oberen Theile abzusondern, die an Zucker ärmer, dagegen reich an „Nicht -
zucker", die chemischen Proceduren in der Fabrik nur erschweren würden, während sie ein
willkommenes Futter für Melkvieh abgeben. Zahlreiche Pferde- und Ochsenzüge sind hierauf
damit beschäftigt, die abgewogenen Rübenmassen den „Mieten" zuzuführen, die in der Nähe
einer jeden Zuckerfabrik auf Feldern angelegt zur Einlagerung der Rübe dienen. Um diese
Zeit befördern Eisenbahnen Tausende von Waggons Zuckerrübe und nicht selten geräth
darob aller übrige Wagenverkehr ins Stocken. Kaum hat der Monat September begonnen,
so sieht man auch schon die hohen Fabriksschlote rauchen und Hunderte geschäftiger
weiblicher und männlicher Arbeiter besorgen in emsiger, wohlgeregelter Eile die Zustreifung
der Rübe zur Fabrik, wo aus der rohen Knollenfrucht in wenig Stunden jener dickflüssige
Saft erzeugt wird, in welchem schon winzige Zuckerkrystalle wimmeln, die dann in Formen
gebracht, in wenig Tagen nach dem Abtropfen des Saftes zu Roh- und Hutzucker erhärten.
Wiewohl Zuckerfabriken hauptsächlich dazu errichtet werden, um mit ihrem Product
das Leben der Menschen zu versüßen, so sind dieselben nebstbei auch Quellen einer Reihe
höchst nützlicher Nebenproducte und Abfälle geworden, die insgesammt in dem wirth-
schaftlichen Leben Böhmens eine hervorragende Rolle spielen. Dazu gehört als haupt -
sächliches Nebenproduct die Melasse, die vermöge ihres hohen Zuckergehaltes ein zur
Spirituserzeugung vorzüglich geeignetes Rohmaterial bietet, das seinerseits wieder ein
technisch wichtiges Nebenproduct, die Melasscnschlempe, liefert, aus welchem Tausende
Metercentner Pottasche erzeugt und dem Handel, zumeist für Zwecke der Glasfabriken,
zugeführt werden. Ein nicht minder wichtiger Abfall der Rübenzuckerfabrikation sind die
Schnittlinge, deren Millionen Centner in frischem Zustande eingelagert zu einem
werthvollen, dem Sauerkraut nicht unähnlichen Futter werden, mit dem die rübenbauenden
Landwirthe im Winter und Frühjahr ansehnliche Herden von Rindern zu ernähren
vermögen. Endlich gibt eine jede Zuckerfabrik auch noch eine Reihe von zur Düngung
dienenden Abfällen an die Landwirthschaft ab, kalkreichen Preßschlamm, Knochenkohlestaub,
Waschwässer und dergleichen. Da der Zucker, das Hauptproduct dieser Industrie, genau
so wie die Stärke der Kartoffeln, nur aus Luftstoffen gewebt ist, während alles Übrige,
das heißt alle Nebenproducte und Abfälle der Zuckerfabrikation, überaus reich an
Bodensubstanzen sind: so kann man ermessen, welchen segensreichen Einfluß diese Industrie
auf das Gedeihen des Ackerbaues äußert. Sie entzieht dem Boden lediglich die aus der
Luft stammenden Substanzen, beläßt ihm dagegen alle (Mineral-) Substanzen der Rübe,
führt ihm aber überdies noch jene reichhaltigen und wirksamen Zusätze zu, deren die
Fabriken behufs Zuckerausscheidung bedürfen und die als Dungmittel eine wesentliche
Bereicherung des Bodens bedeuten.
Hopsenranken.
Die segensvolle Wirksamkeit der
Zuckerfabrikation halte es bald — in den
Sechziger- und Siebziger-Jahren —
bewirkt, daß neben dem Großgrundbesitz
auch der kleinere Landmann sich das
Aufblühen dieser wohlthätigen Industrie
angelegen sein ließ. Eine große Zahl
Bauern - Acti enzuck erf ab riken ward
da mit vereinten Kräften ins Leben gerufen,
und hätten nicht Mangel an Erfahrung in
finanziellen Angelegenheiten und wirth-
schaftliche Mißgriffe störend auf den Fort -
bestand dieser großartigen Gesellschafts -
unternehmungen eingewirkt, so wären
heute mehr als die Hälfte der in Böhmen
vorhandenen 164 Zuckerfabriken noch
Eigenthum der bäuerlichen Gründer.
Leider ist dies zum großen Theile
nicht mehr der Fall, da viele dieser
wohlsituirten, aber nnwirthschaftlich
verwalteten Objecte in kapitals -
kräftigere und sachkundigere Hände
Einzelner übergegangen
sind, so daß neben 86
Privatfabriken nur noch
48 Bauern-Actien-Zucker-
fabriken fortbestehen.Unser
Bild liefert den Anblick
476
einer solchen von Bauern gegründeten Zuckerfabrik (Chrndim). Es werden in Böhmen
im Ganzen über drei Millionen Metercentner Rohzucker erzeugt, wobei über neun
Millionen Metercentner Kohle verbraucht und ungefähr 42.000 Arbeiter beschäftigt
werden. Den Aufschwung der böhmischen Zuckerindustrie möge am besten die Thatsache
beleuchten, daß die Zuckermenge, welche vor 50 Jahren alle böhmischen Fabriken zusammen
erzeugten, heute von einem jeden einzelnen der 134 in Betrieb stehenden Etablissements
prodncirt wird!
Neben der Zuckerrübe erzeugt die Landwirthschast Böhmens auch noch ansehnliche
Mengen von Futterrüben, die au Zucker zwar nicht arm sind, zugleich aber an Eiweiß -
körpern so viel enthalten, daß sie ein werthvolles Winterfutter für das Vieh bilden.
Auch die Ölgewächse (Raps, Mohn, Sonnenblumen) sind in Böhmen nicht ohne
Bedeutung, wenn auch, was den Raps (Orassica raxm) betrifft, dessen Cultur vormals,
wo weder das Leuchtgas, noch das Petroleum im Gebrauche war, eine ausgedehntere
gewesen ist als heute, nicht nur diese modernen Leuchtmittel, sondern auch die Einfuhr
überseeischer Ölsamen (wie Baumwollsaat, Erdnüsse u. a.) eine den Rapsbau drückende
Concurrenz machen. Diese Pflanze hat aber die nützliche Wirkung geübt, in Böhmen die
Drill- oder Reihencultur nebst einer Menge neuer Hackgeräthe und Maschinen einzu -
bürgern, was später der Zuckerrübencultur zugute kam. Raps wird gegenwärtig auf etwa
18.000 Hektaren bester Ackerböden gebaut.
Mit Mohn (Lnxavor sornmkcimm) werden, da er nicht allein ein geschätztes Öl
für die Malerei liefert, sondern auch ein beliebtes volksthümliches Genußmittel ist,
immernoch ausgedehnte Flüchen bebaut. Die Sonnenblume (IloliMttms nimuus)
findet hingegen bisher nur als Bienenfutter Verwerthung, denn die Gewinnung des
schmackhaften Öls ihrer Samen stößt bisher aus Mangel an Ölmühlen, denen die
Besteuerung unüberwindliche Hindernisse bereitet, auf Schwierigkeiten. Man findet sie
daher wohl überall im Lande, jedoch mehr als Gartengewächs und Zierpflanze, denn als
Object des Feldbaues.
Leinbau. Keine Wirthschaftspflanze hat in der Neuzeit solche Wandlungen
erfahren wie der Lein (lümiin usitatiZsimnm), der noch vor einem halben Jahrhundert,
allenthalben in Böhmen gebaut, Tausende fleißiger Frauenhände beschäftigte. Heute
macht seinem Anbau die Einfuhr der Baumwolle, und seiner häuslichen Verarbeitung die
mechanische Spinnerei und Weberei derart Concurrenz, daß ein Wiederaufblühen seiner
ehemaligen sehr sorgfältigen Cultur kaum mehr zu gewärtigen ist.
Spinnrad und Rocken, heute nur noch im Theater sichtbar, wenn Gleichen spinnend
ihr wehmüthiges Lied singt, dieses liebliche Geräthe fehlte ehedem in keinem ländlichen
Hauswesen und beschäftigte die langen Winterabende hindurch Frauen und Mädchen,
477
welche unter Gesang und Erzählungen ihre schnurrenden Räder mit dem Fuß bewegten,
während die Finger den Flachs zu feinen Fäden spannen.
Jin Sommer gab der Lein nicht weniger Arbeit als im Winter, denn er erfordert,
soll er gedeihen, außer fettem Boden fleißiges Jäten; im Herbst, wo die Thau- oder
Wasserröste und die ganze Reihe Zubereitungsarbeiten mit dem Flachs ihren Lauf nimmt,
gab es wieder Verdienst für das Volk. Es war und ist die Leincultur vorzugsweise in
den feuchteren Gebirgsgegenden einheimisch, indeß auch im flachen Lande nicht unbekannt.
Moderne Hopfendrahtalllage zu Michelob (Mecholupy).
Neben dem Lein wurde und wird auch Hanf ((lanimbis sativa) gebaut; gleich dem Lein
wird indeß auch dieser um so seltener, je mehr ausländische Gespinnstpflanzen auftauchen
und ihre Fasern nach Böhmen gelangen, um infolge ihrer Billigkeit und Brauchbarkeit
unsere althergebrachten Gespinnstgewächse zu verdrängen.
Zwar hat die Leincultur deshalb nicht ganz aufgehört, denn noch immer werden
von ihr 27.660 Hektar Ackerland in Anspruch genominen, welche 164.540 Metercentner
Flachs liefern, die Cnltur hat aber aufgehört eine Quelle zahlreicher gewinnbringender
Gewerbe zu sein. Dort, wo vormals Hunderte wohlhabender Pflanzer und Weber
Erwerb fanden, sehen wir heute die Wohlhabenheit concentrirt in wenigen Fabriken,
478
die zwar Tausende mittelloser Spinner und Weber beschäftigen, ihnen aber nur ein
kümmerliches Dasein bieten, auch dem Landwirth nur karge Preise für den Flachs
zugestehen.
Unter den Handelsgewächsen besitzt Böhmen in seinem Hopfen (»umnlus
luprüns) ein Product, dem vorzügliche Eigenschaften nicht nur in Europa, sondern
nahezu auf dem ganzen Erdball den Ruf einer Waare ersten Ranges gesichert haben.
Der Hopfen bildet den Reichthnm ganzer Districte und wird mit Recht der Stolz der
böhmischen Landwirthschaft genannt. Derselbe nimmt heute etwa 10.420 Hektar des
fruchtbarsten Ackerlandes ein und ist im Handel als Roth- und Grünhopfen bekannt.
Die vorzüglichste Waare ist der Rothhopfen, dessen Culturgebiet sich hauptsächlich über
die Gegenden des Nordwestens, um die Städte Rakonitz (Unkovnik.), Saaz (2n1ee) und
Auscha (Oustsk) erstreckt, wo der Hopfen nicht weniger als 8064 Hektar einnimmt. Es
sind dort insbesondere die Gebiete der permischen Formation mit ihrer eigenthümlichen
Rotherde nebst einigen humusreichen tiefgründigen Alluvien die Pflanzstätte des welt -
berühmten feinsten Rothhopfens, neben dem der Grünhopfen in den nördlichen Gegenden
von Dauba (vukü) die zweite Rolle spielt, da er sich blos auf 875 Hektar Landes
ausbreitet und im Handel, wie auch im Preise, dem Rothhopfen nachsteht.
Vormals gab es im Lande fast überall einzelne Hopfengärten, deren Producte wohl
den Bedarf der nächsten Brauereien zu decken hatten; es finden sich davon noch allent -
halben Spuren in den Flurenbenennnngen, und im Westen Böhmens, in der Gegend von
Klattau (Xlntov^) war im XVI. Jahrhundert nicht nur die Cultur dieser Pflanze volks-
thümlich, sondern auch ihr Export ein schwunghafter, wie dies ein lateinisches Gedicht
aus jener Zeit mit den Worten bezeugt: „Ollntovin Inpulum ooüt. qnsrn xrnosto Lnvarns
ankert" (Klattau baut Hopfen, den der Baier schleunig davonträgt). Im Stadtmuseum
zu Klattau wird ein silbernes mit dem Stadtwappen versehenes Petschaft der dortigen
Hopfenhalle aus dem Jahre 1553 aufbewahrt mit der Inschrift: „^narnern olmaelove
m. Xlatorv" (Hopfenzeichen der Stadt Klattau).
Bei dem Reichthum an dem besten Hopfen der Welt, wie nicht minder an der
vorzüglichsten Gerste, deren sich Böhmen erfreut, ist es selbstverständlich, daß in seinen
Städten die Bierbrauerei zur Blüte gelangte. Ein alter Spruch kennzeichnet die aus -
nehmende Güte böhmischen Bieres mit den Worten: Urins papa klomae, nun eerevisia
Uneonae (Ein Papst in Rom, Ein Bier in Rakonitz).
Unser Bild einer modernen Hopfendrahtanlage (auf der Dreher'schen Domäne
Michelob, Neellolnp^, an der Buschtehrader Bahn) läßt das Geschäft des Landwirthes
zur Zeit der „Hopfenpflücke" im August wahrnehmen; dieser geht eine Reihe sorgfältiger
Arbeiten voran, deren Zweck die Förderung einer möglichst reichlichen Entwicklung der
Culturen bei Melnik.
480
weiblichen Blutendolden und des darin angehäuften gewürzigen Lupulins ist. Gepflückt
und wohlgetrocknet werden die Dolden in Säcke fest verpackt und in den Handel gebracht.
Es ist fortan Sorge der Landwirthe, ihr vorzügliches Product vor Verfälschungen mit
minderer Waare zu schützen, weshalb in den vorgenannten Städten besondere „Hopfen-
signirhallen" eingerichtet sind, welche sich bemühen, die Echtheit der Provenienz eines
jeden Hopfenballen zu documentiren.
Wenige Länder können sich rühmen, eine so günstige klimatische Lage und so vor-
theilhafte Bodenmischungen für den Obstbau zu besitzen als Böhmen. Dazu kömmt die
den Böhmen sowohl slavischer als deutscher Zunge angeborene Liebe zum Obstbaum,
dessen segensreiches Wesen in Volksliedern gepriesen wird. Es kann daher nicht auffallen,
daß Fremde in Prag und auf dem Lande den ungewöhnlichen Obstreichthum des Marktes
bewundern, und daß von den 16 V? Millionen Obstbäumen jahraus jahrein ansehnliche
Ladungen Obst über die Landesgrenzen wandern. In Lobositz werden z. B. au 68.400
Metercentuer frisches und au 14.830 Metercentner Dürrobst die Elbe hinab geführt.
Nicht minder bedeutende Mengen passiren im Norden und Südwesten die Grenzen. An
der Ausfuhr nehmen insbesondere jene Gebiete Antheil, die, wie das Elbethal, den
Transport zu Wasser benützen können, da die empfindliche Waare durch Erschütterungen
leidet, die Wasserstraße aber die schonendste und zugleich die billigste ist.
Böhmisches Obst, wie die vorzüglichen Mischensker u. a. Äpfel, sowie zahlreiche
Birnensorten mit althergebrachten Benennungen werden im Norden Europa's, besonders
dort, wo Wasserwege hinführen, häufig auf den Tafeln Wohlhabender gefunden. Zur
Pflege und Verbreitung dieser einträglichen Cultur für den Export wird immer mehr
angeeifert, sotvohl durch Fachschulen, deren es drei gibt (zu Troja bei Prag, ferner Melnik
und Leitmeritz), als auch durch zahlreiche Vereine, denen der sorgsame Landesculturrath
alle Förderung angedeihen läßt. Auch die Kunst, Obst zu conserviren, vormals ausschließlich
mittelst gewöhnlicher Dörröfen prakticirt, wird seit einiger Zeit emsig gehoben. Auch die
Obstweinbereitung beginnt an Boden zu gewinnen.
Es kann heute behauptet werden, daß es im Lande keine Gegend mehr gibt, in
welcher jeder Obstbau fehlen würde, was insbesondere seine Geltung hat, seitdem es
gelungen ist, selbst die Vogelbeere, diesen Obstbaum der rauhen Gebirgsregionen, zu
einer genießbaren Frucht zu veredeln.
An den Obstbau reiht sich unmittelbar der Weinbau. Zwar finden sich in den
Flurenbenennungen im ganzen Lande noch zahllose Spuren vormaliger Weincultur und noch
vor hundert Jahren gab es 2578 Hektar Weinland; heute jedoch wird der Weinbau nach
den klimatischen Verhältnissen des Landes in beschränkterem Maße, im Ganzen nur noch
auf 860 Hektar Grund (etwa 0 1 Procent der productiven Flächen Böhmens) betrieben.
481
Es sind hauptsächlich die südlich abfallenden Lehnen an den Ufern der unteren Moldau
und Elbe, welche wegen ihrer warmen Lage und der Gesteinsformationen dem Gedeihen
der Rebe günstig sind und den vorzüglichen Ruf der böhmischen Weine von altersher
begründet haben. Melnik verdankt die Güte seiner Burgunder Rebe der Plänerkalk -
formation und ist die Heimat des berühmten granatrothen „Melnikers", der wegen seiner
milden Herbheit und seines starken Phosphorgehaltes zu den geschätztesten Getränken
zählt. Unser Bild der Stadt Melnik mit den nächsten Umgebungen und dem Schloß des
Fürsten Lobkowitz läßt die günstige Lage der Weingärten, von Süden gesehen, erkennen;
doch reicht das Gebiet des Melniker Weines weit hin bis Berkovitz und Naudnitz,
Böhmen. st
Portal des Kellereinganges in Czernosek iHernosekt,).
482
wo ein 20.000 Eimer fassender Weinkeller aus dem XVII. Jahrhundert besteht. Auch sind
noch hierher zu reihen die Gegend von Troja unmittelbar bei Prag an der Moldau
gelegen, wo ein leicht verwitterbarer Thonschiefer den Boden bildet, und die kalkreichen
Lehnen am rechten Ufer der Chrudimka bei Chrudim, wo nach den Annalen des
böhmischen Weinbaues einzelne Weingärten schon zu Zeiten Karls IV. bestanden, die
neuester Zeit sowohl mit rothen als auch mit weißen Rebsorten wieder bepflanzt werden.
Eine nicht minder bedeutsame Weinregion ist jene von Czernosek iXerirossü^), von
Leitmeritz ab an beiden Elbe-Ufern mit Umgebungen, wo eruptive Gebirgsgesteine (Basalte,
Phonolithe, Trachyte) das fruchtbare Erdmaterial liefern, welchem der aus weißen
Traubensorten (vorwiegend Traminer und Zierfahnler) bereitete Wein seit Jahrhunderten
seinen Wohlgeschmack verdankt.
Als Erinnerung an den ehemaligen Stand und Umfang des böhmischen Weinbaues
kann der noch bestehende größte Weinkeller im Lande gelten, jener von Czernosek, der,
jetzt dem Grafen Sylva-Tarouca gehörig, im XIII. Jahrhunderte erbaut, 50.000 Eimer
Wein zu bergen vermag. Bemerkenswerth ist auch die Thatsache, daß schon vor mehr als
500 Jahren Karl IV. befahl, Weingärten in der ganzen Umgebung von Prag aus
3 Meilen im Umkreise anzulegen, von denen allerdings meist nur noch geringe Spuren
sich erhalten haben.
Wiesenbau und Melioration. Obgleich die Grasflächen Böhmens zur Ackerarea
in keinem besonders günstigen Verhültniß stehen, indem die Wiesen und Weiden zusammen -
genommen nur etwa 15 Procent, die Äcker dagegen über 50 Procent der Gesammtflüche
betragen, so könnten doch die Wiesen in ihrem Gesammtansmaße von 522.014 Hektar
und auch ein guter Theil der Weiden, die 261.951 Hektar ausmachen, beträchtlichere
Mengen Futter liefern, wenn sie sich durchwegs in angemessenem Culturzustande befänden.
Dies ist nun leider nicht überall der Fall, denn eine gar große Wiesenfläche ist bis heute
entsprechender Heuertrüge deshalb nicht fähig, weil an die Beseitigung der natürlichen
Hindernisse der Production noch wenig oder gar nicht Hand angelegt worden ist, ja es gibt
Gegenden, wo der kleinere, minder aufgeklärte Grundbesitzer versumpfte Wiesen für eine
Art Naturnothwendigkeit hält und nicht daran glauben mag, daß da menschliches
Bemühen im Stande und berufen wäre, Hilfe zu schaffen. Zwar hat schon vor einem
halben Jahrhundert die k. k. patriotisch-ökonomische Gesellschaft das Bestreben bekundet,
diesem Übelstande abzuhelfen, indem sie einen eigenen Wiesenbau-Ingenieur für das Land
anstellte, dessen Thätigkeit nicht ohne wohlthätige Folgen geblieben ist. Jndeß ist erst in
den letzten Decennien das Streben nach Hebung der Grasproduction durch Meliorationen
des Bodens ein erfolgreicheres geworden, seit der Landesculturrath für ein eigenes
„cultnrtecbnisches Bureau" sorgt, in welchem eine stattliche Anzahl tüchtiger Ingenieure
483
mit umfassenden Vorerhebnngen und Arbeiten zum Zwecke von Bodenmeliorationen
beschäftigt ist, deren Durchführung zu leiten und zu beaufsichtigen zu den Aufgaben des
Burean's gehört. Für solche ausgedehntere Bodenverbessernngen überhaupt und für
Grasland insbesondere gibt es in Böhmen in allen seinen Theilen reichliche Gelegenheit: es
ist von Fachleuten berechnet worden, daß von Böhmens verbesserungsbedürftigen Grund -
flächen bisher kaum mehr als drei Procent in entsprechenden Cnlturzustand gebracht sind,
daß somit dem neuen Zweige technischer Kunst, der Landesculturtechnik, noch ein weites
Feld der Thätigkeit offen steht.
Zu dieser Thäligkeit finden sich in neuerer Zeit die Grundbesitzer Böhmens besonders
durch die Aussicht auf Staats- und Landesunterstützungen angeeifert, welche die Negierung
aus dem Reichsmeliorationsfondc, der Landesausschuß ans Landesmitteln zu bewilligen
bereit sind, sobald das Unternehmen infolge der vorgeschriebenen Vorarbeiten ernste
Bürgschaften des Gelingens zu leisten vermag. Bereits sind im Lande — der zahlreichen
vom Großgrundbesitz ans eigene Kosten durchgeführten Wiesenban-Anlagen und Boden-
81*
484
Verbesserungen nicht zu gedenken — mehrere großartige Wiesenmeliorationen mit Staats -
und Landeshilfe vorgenommen und in zufriedenstellender Weise dnrchgeführt worden.
Eine zweite Einrichtung zur Hebung des Wiesenbaues, die nicht weniger erfolgreich
wirkt, sind ambulante Wiesenbaucurse, deren Abhaltung in Böhmen seit einer Reihe
von Jahren aus Landesmitteln besorgt wird. Vor einigen Jahren ward damit auf der
Domäne Nachod der Anfang gemacht; gegenwärtig ist die höhere landwirthschaftliche
Landeslehranstalt Tabor damit betraut, indem sie alljährlich im Sommer in Gegenden, die
sich dazu eignen, Wiesenbaucurse von vierwöchentlicher Dauer abhalten läßt, für deren
Theilnehmer das Land eine Anzahl Stipendien gewährt. Die Curse sind indeß nicht nur
von diesen Stipendisten gut besucht, sondern auch von jungen Landwirthen, die auf eigene
Kosten Belehrung und Unterweisung suchen. Nach jedem der bereits abgehaltenen Curse
wurde ein Stück Wiese in entsprechend meliorirten Zustand gebracht, zur Aufmunterung
Aller, die das Grundstück in seinem früheren verwahrlosten Zustand kannten und nunmehr
die Erfolge der Bodenverbesserungen zu betrachten Gelegenheit haben.
Es unterliegt keinem Zweifel, daß Böhmen mit besten Aussichten auf eine namhaste
Steigerung seiner bisherigen Grasprodnction lossteuert; die Erfolge, die fast überall,
und zwar schon kurze Zeit nach Vollendung der Meliorationsarbeiten zu Tage getreten
und für Jedermann sichtbar geworden sind, lassen das Beste für die Zukunft des heimischen
Wiesenbaues erhoffen.
Etwas älterenDatums sind die Bemühungen der böhmischenLandwirthe, insbesondere
der Großgrundbesitzer, nasse Grundstücke mittelst Trockenlegung zu verbessern. Hier galt
es nicht allein Wiesengründe, sondern auch bedeutende Ackerflächen durch Drainage der
Verwahrlosung zu entreißen. Auch diesem wichtigen Zweige des Meliorationswesens
widmet das culturtechnische Bureau des Landesculturrathes große Aufmerksamkeit und es
sind heute wohl schon Millionen von Cnrrentmetern Drains, mit entsprechenden Thon -
röhren versehen, in Thätigkeit.
Die Thicrprodnction. Wiewohl es Böhmens Landwirthen nie an Sinn für
die Thierzucht gemangelt hat, so ist doch erst in der Neuzeit dieser Theil der landwirthschaft-
lichen Production zu einer achtunggebietenden Bedeutung herangereift, seitdem einerseits
die Mittel zur Erhaltung der Thiere in reichlicherer Menge als vormals beschafft werden,
anderseits auch zweckmäßige und erprobte Znchtregeln immer mehr zur Kenntniß und
Gewohnheit der ländlichen Bevölkerung gelangen. Es gab in Böhmen, bei der nur mäßigen
Verbreitung von Wiesen und Weideflächen, sogar eine geraume Zeit, wo die mangelhafte
Ernährung der Wirthschaftsthiere ein fast allgemeines Herabkommen derselben in Größe
und Gestalt zur Folge hatte, ein Übelstand, der erst zu weichen begann, als der Klee- und
Futterbau auf Äckern aufkam und es ermöglichte, für das Vieh kräftigere und ausgiebigere
485
Nahrung zu schaffen. Für die Zucht jener Thiergattungen, deren Gedeihen ausgedehnte
Weidcflächen erfordert, ist Böhmen in geringerem Maße geeignet als andere Länder, wie
namentlich für die Pferde-, hauptsächlich aber für die Schafzucht. Dagegen bilden die Zucht
der Rinder, die auch ohne stetige Sommerweiden bei Stallfütterung gut gedeihen, daneben
die Borstenviehzucht ansehnliche Zweige der Production.
Böhmen zählte an Wirthschaftsthieren, und zwar:
Im Jahre 1805 Pferde 164.161, Rinder 989.204, Schafe
" " 1880 „ 197.602, „ 2,092.388, „
„ „ 1837 Ziegen 100.732, Schweine 244.272,
» » 1880 „ 307.555, „ 322.055,
1,297.816
761.264
wenngleich die Pferdezucht des Landes wegen Mangels ausgedehnter Weiden-
und Tummelplätze lange nicht jene Ausdehnung erreichen kann wie in grasreichen Ländern
mit weiten Ebenen, so wird doch in Böhmen das Pferd mit viel Sorgfalt gezüchtet und
gepflegt; für die Güte des Materiales liefern die stark besuchten Pferdemärkte, insbesondere
im Süden Böhmens und in Chrudim, seit Jahrhunderten einen sprechenden Beweis.
Daselbst gelangen nicht nur kräftige Wirthschafts- und schön gestaltete Luxuspferde
einheimischer Zucht in bedeutender Anzahl zum Verkaufe, sondern es werden auch zahlreiche
Fohlen dem Anslande zugeführt, um hauptsächlich in den grasreichen Niederungen Nord -
deutschlands zu tüchtigen Zug- und Reitpferden herangezogen zu werden, die dann nicht
selten als „Holsteiner" wieder in ihr Heimatland Böhmen zurückkehren. Die Zahl der
Pferde hat neuerer Zeit hauptsächlich dadurch eine Vermehrung erfahren, daß im Betriebe
der Landwirthschaft wegen des sich immer mehr ausbreitenden Hackfrüchtebaues Pferde -
züge in bedeutenderer Anzahl benöthigt werden als vormals bei vorherrschendem Getreide -
bau, auch deshalb, weil seit dem Aufschwung des Schiffahrts- und Eisenbahnwesens
der Frachtenverkehr auf dem Lande stark zugeuommen hat.
Die Zucht des Pferdes war in Böhmen bis zu Ende des XVIII. Jahrhunderts
Sache des Großgrundbesitzes, es bestand eine stattliche Anzahl von Pserdegestüten auf
dessen Domänen. Erst 1781 ging diese Aufgabe vorwiegend in militärische Hände über.
Es wurden immer mehr, ürarische Hengste in Verwendung gebracht, über die von den
bäuerlichen Eigenthümern gepflegten Fohlen amtliche Erhebungen gesammelt und danach
die geeignetsten jungen Hengste zur Aufzucht auserkoren. Bis zum Jahre 1861 war -
dst Belegung der bäuerlichen Stuten durch ärarische Hengste ganz unentgeltlich, da erst
wurde eine Sprunggebühr eingeführt und gegenwärtig werden über 500 Hengste im
Lande gehalten, von denen jährlich im Ganzen an 30.000 Thiere bedeckt werden, so daß
auf einen Hengst 50 bis 60 Stuten entfallen. Zum Zwecke der Veredlung, das heißt zur
Erreichung wünschenswertster Eigenschaften der Pferde, wurden ausländische Thiere,
486
Pinzgauer, Percherons, englische, belgische und norddeutsche Hengste angeführt. Für-
vorzügliche Fohlen werden nun Prämien in Dukaten (an 1300 Stück jährlich) zugesprochen,
zu denen vom Ackerbanministerium und vom Landesausschuß beigesteuert wird, sowie
auch einzelne Bezirksvertretungen, insbesondere des südlichen und östlichen Böhmens
namhafte Geldbeträge zur Hebung der Pferdezucht durch Belohnungen spenden.
Außer den staatlichen Belegstationen gibt es im Lande Privatgestüte, wie namentlich
zu Neuhof, Chlumec, Cimelitz, Caslan, Friedland, Neuschloß, Hermanmestec, Turnau,
Slatinany und Styskal, die vom Großgrundbesitz unterhalten werden.
Die Rindviehzucht würde in Böhmen heute kaum ihre bedeutungsvolle Stelle
einnehmen, wenn das Vieh, sowie in den Alpenländern, nur auf den natürlichen Gras -
wuchs angewiesen wäre und nicht der Futterbau auf Äckern und die landwirthschaftliche
Industrie, vornehmlich die Zucker- und Spiritusfabrikation, dann die Bierbrauerei und
Stärke-Erzeugung einem großen Theile des Landes jene Massen von Futtermitteln liefern
würden, die gegenwärtig die Ernährung der Viehherden erfordert.
Die Ernährung der Thicre war noch vor einem Jahrhundert durchwegs eine
überaus karge, eine wahre Hungcrwirthschaft. Die Futterrationen, über die aus älteren
Zeiten Ausschreibungen bestehen, waren ehedem so kümmerliche, daß es heutzutage kaum
glaublich erscheint, wie dabei doch Viel,stünde erhalten werden konnten. Daher gab es auch
im Lande kaum Thiere von so ausgeprägten Körperformen, daß man von besonderen Land-
racen Hütte sprechen können. Neben dem Futterbau gestaltete sich die in unserem Jahr -
hundert aufgekommene Zuckerindustrie zu einer überaus wohlthätigen Fördererin der
Rindviehzucht, denn nicht nur daß sie große Massen Futter an die Viehzucht abgibt,
veranlaßt sie auch die Einführung rationeller Fruchtwechselwirthschaft, bei welcher,
entgegen der alten Körnerwirthschast mit viel brachliegenden Grundstücken, durch weise
Einschaltung von Futterpflanzen zwischen die Halmfrüchte Frnchtfolgen in Aufnahme
kamen, die der Viehhaltung früher nicht für möglich gehaltene Grün- und Dörrfuttcr-
mengen zur Verfügung stellten.
Nicht minder den Aufschwung der Rindviehzncht fördernd ist auch die in Böhmen
blühende Spiritusindustrie, welche, abgesehen davon, daß auch sie durch den nothwcndig
gewordenen Kartoffelbau den Anstoß zum Auflassen der Dreifeldcrwirthschaft und Über -
gang zum Fruchtwechsel gegeben, große Massen Schlempe liefert, die insbesondere als
Mastfutter für Rinder von unschätzbarem Werthe sind. Was die Bierbrauerei betrifft, die
zwar kein modernes, sondern ein bereits seit Jahrhunderten betriebenes Gewerbe in Böhmen
ist, so hat doch ihre in neuerer Zeit erfolgte bedeutende Ausdehnung einen nicht geringen
Antheil an der gegen frühere Zeiten besseren, kräftigeren Ernährung der Rinder, und so
kann mit Recht behauptet werden, daß die Landwirthschaft Böhmens für den Reichthum,
487
den die Alpenländer an natürlichem Viehfntter besitzen, in seinem künstlichen Fntterbau
und seinen Fabriksabfällen einen ausgiebigen Ersatz zu finden bestrebt ist.
Die Rindviehzucht Böhmens hat indeß noch eine Maßregel kräftig gefördert: die
Abschaffung der vormals allgemein üblichen Verpachtung der gesummten Milchnutzung
an die sogenannten Schaffersleute, da infolge dieses Systems weder die Ernährung,
noch die Zucht der Thiere nach zweckmäßigen Grundsätzen erfolgen konnte.
Wenn von der Hebung der Rindviehzucht Böhmens in den letzten Decenuien
gesprochen wird, so soll damit gesagt werden, daß die Rinder des Landes besser genährte,
wohlgestaltete und im Körpergewichte namhaft schwerere Thiere sind als sie vor
60 bis 100 Jahren waren. In der Thal ist von altböhmischen Rinderracen nur noch
wenig vorhanden. Es sind die Raceneigenschaften der Rinder zumeist Ergebnisse der
Mischung fremden Blutes mit den einheimischen Thieren. Vielfach, insbesondere durch
den Großgrundbesitz, wurden Stiere und Kühe zunächst aus den Alpenländern, in neuerer
Zeit auch aus Norddeutschland und England in Böhmen eingeführt, und aus den
Egerländer Zuchtstier.
488
Mischungen dieser mit den einheimischen Rindern haben sich im Laufe der Zeit „Schläge"
herausgebildet, die heute mit vielen besonderen Eigenschaften auftreten und als Landracen,
Landschläge, angesehen werden, deren einige an Constanz wohl schon Wesentliches aufzu -
weisen haben.
So ist in dem Gebiete des böhmischen Mittelgebirges, im Nordwesten des Landes,
der „Brüxer" Schlag einheimisch geworden, dessen Exemplare sich durch bedeutendes
Körpergewicht, die Ochsen von 500 bis 700 Kilo, die Kühe von 400 bis 500 Kilo aus -
zeichnen. Die mittlere Milchergiebigkcit der letzteren wird auf 1500 bis 1900 Liter im
Jahre geschätzt. Sie sind von Farbe braunroth und liefern auch kräftige Zugthiere. Im
Osten von Böhmen finden wir unter der Benennung „böhmisch-mährisches Gebirgs-
vieh" ein gelbrothes, wcißgeflecktes Rind, das seine Formen Berner und Kuhländer
Stieren verdankt, während das wegen seiner vortheilhaften Eigenschaften sehr beliebte
.Opocnoer" Rind im Nordosten Böhmens durch Einfuhr von Schwyzer und Mürzthaler
Stieren herangebildet wurde. Ein anderer nicht minder verbreiteter Schlag ist der roth-
braune des Böhmerwaldgebietes; es sind Abkömmlinge der alten böhmischen Kühe und
eingeführter Berner und Pinzgauer Stiere, die sich sowohl durch bedeutendes Körper -
gewicht als durch ziemlichen Milchreichthum — circa 1800 Liter jährlich auszeichneu.
Auch das Egerland, im Westen Böhmens, hat seinen besonderen Viehschlag, Abkömmlinge
von Voigtländer und Tiroler Stieren und altböhmischen Kühen. Dieser Schlag steht an
Körpergröße dem übrigen Landvieh etwas nach und ist auch minder milchergiebig.
Nach den gegenwärtig in Übung bestehenden Züchtnugsmaßnahmen ist zu erwarten,
daß einzelne Regionen Böhmens in kurzem zu wohlausgeprügten Rinderschlägen gelangen
werden, insbesondere da ein Landesgesetz dahin wirkt, daß fortan zur Zucht nur wohl -
geeignete Stiere in Verwendung kommen, eigene „Licentirungs-Commissionen" in Tätig -
keit sind und der Landesculturrath es sich angelegen sein läßt, durch Einfuhr von Stieren
bewährter Race und durch Auswahl solcher, die bereits im Lande selbst herangezogen
worden sind, dem Kleingrundbesitz tüchtige Vaterthiere zuzuführen. Auch werden für
gelungene Zucht und Pflege namhafte Preise bei den „Regionalausstelluugen" und Aus -
stellungsmärkten als Prämien geboten.
Ein wesentliches Mittel zur Förderung der Rindviehzucht ist die Anlage des
„Böhmischen Herdbuches", welches, seit dem Jahre 1867 bestehend, das Ziel ver -
folgt, die Provenienz reinblütiger Rinder urkundlich nachzuweisen. Es wurde von der
k. k. patriotisch-ökonomischen Gesellschaft begründet und wird von der landwirthschaftlichen
Centralgesellschaft für das Königreich Böhmen weitergeführt.
Nachdem die Hauptnutzung der Rindviehhaltung, die Milch, durch Auflassung
des jedem Fortschritt abträglichen Pachtsystems zum Gegenstand der Eigenverwaltung
489
geworden, ist neuerer Zeit auch in dieser Richtung mancher Fortschritt zu beobachten.
Die alten Methoden der Rahm-, Butter- und Käsegewinnung weichen den Einrichtungen
der Neuzeit. Wahrend der Großgrundbesitz bemüht ist die Milch in wohlverwahrten
Metallgefäßen mittelst der Eisenbahnen dem Consnm der Städte zuzuführen und die
Städte ihrerseits dafür sorgen, den Milchmarkt von der Gasse in säuberlich eingerichtete
Laden zu verweisen, ist auch die Erzeugung von Butter ein Geschäft geworden, das selbst
von dem kleinen Landwirth nicht mehr im Kleinen betrieben wird. Es bilden sich
Genossenschaften, deren einzelne Mitglieder das tägliche Milchquantum zusammenthnn,
um Butter und Käse daraus zu erzeugen und diese Producte in größeren Quantitäten
dem Handel, wohl auch dem Export zu liefern. Mit diesem genossenschaftlichen Betriebe
geht eine entsprechende Verwerthung des Abfalls, der Molken, zur Fütterung von
Borstenvieh Hand in Hand.
Die Schafzucht Böhmens, die vor wenig Jahrzehnten noch einen Ehrenplatz in der
europäischen Thierproduction einnahm, da sie hochfeine Wolle an die Tuchfabriken und
die feinstwolligen Zuchtwidder zum Theil auch an das Ausland zu liefern vermochte, ist
heute der Zahl der Thiere nach ans die Hälfte ihrer vormaligen Höhe herabgesunken. Noch
leben zahlreiche Personen, die jene Merino-Stammschäfereien kannten, welche, ursprünglich
von Böhmens Magnaten unter directem Einfluß der Kaiserin Maria Theresia gegründet
und später namhaft vermehrt und erweitert, bis über die Mitte unseres Jahrhunderts
durch hohe Feinheit ihrer Electoral- und Negretti-Merinowolle sich anszeichneten und
Tausende edler Widder um Preise absetzten, die heutzutage fabelhaft klingen; so wurden z. B.
sechs- bis achttausend Gulden für einen dreieinhalbjährigen Znchtstöhr der Fürst Schwar-
zenberg'schen Herrschaft Vorlik im Jahre 1818 gezahlt. Noch kann man die großartigen
Schafstallungen sehen, die aus einer Zeit stammen, wo ganze Herrschaften, wie z. B.
Horovitz, ihre Betriebseinrichtung der Merinoschafzucht untergeordnet hatten und ein
wohlgeschultes Schäfereipersonal die Pflege der werthvollen Thiere besorgte. Unter dem
Einfluß so edlen Zuchtmateriales wurde in Böhmen das Banernschaf allmälig verdrängt;
es haben sich in bäuerlichen Stallungen feinwollige Mischlinge der alten Race mit
Merinoblut derart verbreitet und einheimisch gemacht, daß heute das alte böhmische
Bauernschaf wohl nirgends mehr zu finden und seine zwar nicht schlechte, aber doch grobe
Tuchwolle kaum mehr bekannt ist.
Von den zahlreichen Stammschäfereien, die Böhmen zur Zeit der Blüte seiner
Merinoschafzucht — in den Vierziger-Jahren — besaß, wurden infolge der überseeischen
Wolleconcurrenz viele aufgelassen oder zur Verringerung ihrer Herden gezwungen, so
daß der damalige mit 1,516.901 Stück berechnete Schafstand heute ans 761.264 Stück,
die Hälfte, herabgemindert ist. Es mußte von dem Streben nach höchster Wollfeinheit,
490
vormals das Hauptziel der Schafzüchter, zur Pflege größeren Körpergewichtes und
dichteren Wollwuchses übergegangen werden. Hierzu waren Anfänge schon zu Beginn
des Jahrhunderts in Vorlik mit französischen Rambouilletschafen gemacht worden,
nachdem König Ludwig XVI. dem Fürsten Schwarzenberg Originalzuchtthiere seiner
Domäne Rambouillet geschenkt hatte, was kurz nachher Napoleon I. wiederholte, indem
er eine Rambonilletherde von Widdern, Müttern und Lämmern dem Erzherzog
Ferdinand III. von Toscana für die Herrschaft Jene bei Prag zum Geschenk machte.
Da bei stetig sinkenden Wollpreisen das Schaffleisch etwas im Preise gestiegen war,
trachtete man das Schafvieh auch zu größerer Mastfähigkeit heranzubilden, und es wurden
zu diesem Zweck hochbeinige englische Mastschafe, wie die Southdowns, Cotswold, Leicester
eingeführt, deren Nachkommen nun immer mehr Verbreitung finden, während das reine
Merinoschaf zurücktritt und nur noch in wenigen der vormals bestrenommirten Stamm -
schäfereien zu finden ist, vornehmlich in jenen der Fürsten Schwarzenberg in Libejitz,
Kinsky in Zlonitz und Lobkowitz in Unter-Berkovitz, dann der Grafen O. Thun in
Zehuschitz, F. Thun in Perne, Clam-Martinitz in Smecna und Schönborn in Lukavitz.
Es ist das Schaf in Böhmen nunmehr gleich dem Rinde in immer höherem Maße
auf die Stallfütterung angewiesen, da es an Hutweiden umsomehr gebricht, als sich in
der Landwirthschaft die Cultur der Hackfrüchte verbreitet. Dennoch ist es unzweifelhaft,
daß die Schafzucht den raschen Niedergang nicht erfahren würde, wenn sich bei der
Bevölkerung Böhmens das Schaffleisch einer eben solchen Beliebtheit erfreute wie bei den
westeuropäischen Völkern. Auch diese können ihren Schafen nur jene karge Weide ver -
gönnen, die der Ackerbau übrig läßt; nichtsdestoweniger obliegen sie, mit Rücksicht auf den
entschiedenen Nutzen, den das Schaf infolge der Verwerthung selbst geringen Dörr -
sutters und Strohes zu liefern vermag, seiner Zucht und Pflege ungleich eifriger.
Im Gegensatz zu den Schafen können die Ziegen, dieses Milchvieh des kleinen
Mannes, als stetig zunehmende Wirthschaftsthiere bezeichnet werden, denn in demselben
Zeiträume, wo, wie oben bemerkt, die Zahl der Schafe in Böhmen auf die Hälfte herab -
gesunken ist, hat sich jene der Ziegen mehr als verdreifacht. Sie betrug
im Jahre 1837 100.723 Stück
„ „ 18S7 136.911 „
„ „ 1869 154.273 „
„ „ 1880 307.555 „
Es ist vorauszusehen, daß diese Zunahme noch andauern wird, ja es scheint, daß
die Ziege, die dem Schafe am nächsten steht, in ihren Ansprüchen ungleich bescheidener,
dagegen in ihren Leistungen, von der Wolle abgesehen, werthvoller als das Schaf ist,
überall dort das letztere zu verdrängen vermag, wo es viele geringe landwirthschaftliche
491
Anwesen gibt, die nur einen geringen Viehstand erhalten können, oder wo es felderloscn
Häuslern und ärmlichen Handwerkern möglich gemacht wird, für ihre Ziegen das karge
Futter pachtweise oder unentgeltlich zu gewinnen. Wäre die Ziege nicht ein schonungsloser
Schädiger und Verwüster aller belaubten Pflanzen, so würde sie sich wohl auch bei dem
bemittelteren Landmann und selbst beim Großgrundbesitz einheimisch machen, da sich
ihre Milch durch Menge und starken Fettgehalt — wenn auch nicht durch angenehmen
Geruch — auszeichnet und die Fruchtbarkeit dieser Thiere bedeutend ist, auch der
Zickelbraten besonders zur Osterzeit dem Lammbraten eine gefährliche Coneurrenz macht,
so daß es an Absatz für Zicklein selten mangelt. Allein beim größeren Grundbesitz findet
man stets so viel Vorliebe für Bäume und Gestrüucher, die den Reiz der Landschaften
erhöhen, mit deren Laub aber die Ziege auf ewigem Kriegsfuße steht, daß sie in größeren
Anwesen wenig oder gar nicht anzutreffen ist.
Umsomehr Sorgfalt wird dagegen dem Borstenvieh zugewendet, und hat die
Schweinezucht Böhmens mit Recht einen vorzüglichen Ruf. Während in den übrigen,
namentlich den südlichen Ländern der Monarchie die Borstenviehhaltung zumeist mittelst
freier Sommerweide betrieben wird, lebt in Böhmen das Schwein zwar nicht ohne
jeden Weidcgang, wächst aber doch vorzugsweise in häuslicher Pflege und Wartung auf,
und diese Sorgfalt ist es, die das Gedeihen des Schweines, das rasche Wachsthum und
den Fettansatz so sehr fördert, daß „böhmische", insbesondere „Prager Schinken" ob
ihres mürben, feinfaserigen Fleisches zu gesuchten Leckerbissen im In- und Auslande
geworden sind.
Es ist durchgehends, selbst auf Großgrundbesitzen, Sache der weiblichen Land -
bevölkerung, die Schweinehaltung zu besorgen, und die Frauen verwenden viel Sorgfalt
auf die Sammlung und Zubereitung des Futters, das meistens in breiförmigem und
erwärmtem Zustande geboten wird. Ganz besonders gehoben hat sich die Schweinezucht
in neuerer Zeit, seitdem die alte Landrace, hochbeinige Thiere mit etwas kurzem Rumpfe
und aufrecht gestellten Ohrlappen, durch Zulassung von englisch-chinesischen Ebern
bedeutend an Körperlänge, Feinknochigkeit, Größe der Formen und selbst auch an Frucht -
barkeit gewonnen hat. Man findet bereits überall, selbst in den entlegensten Dörfern
Böhmens, zahlreiche Abkömmlinge der vortheilhaften Mischungszuchten, zu denen die
Einfuhr weißer Aorkshire-, schwarzer Essex-, brauner Berkshire- und anderer von England
stammender Vaterthiere Anstoß gegeben hat.
Wenn auch eine allgemeine Zählung der Schweine ans dem Lande mit vielfachen
Hindernissen zu kämpfen hat und demnach verläßliche Ziffern kaum geliefert werden
können, ist es doch immerhin bemerkenswertst daß in Böhmen im Jahre 1837 244.272,
1857 577.274, 1869 228.180 und 1880 322.005 Stück Borstenvieh gezählt worden sind,
492
welche das Materiale für ländliche „Familienfeste", sowie für die zahlreichen allenthalben
blühenden Selchereien liefern, deren Erzeugnisse sich des besten Rufes und eines überaus
schwunghaften Absatzes erfreuen.
Auch das Kaninchen ist ein im ganzen Lande wohlbekannter Vierfüßler, dessen
Pflege indeß nur eine beschränkte und selbst in neuerer Zeit, wo die Zucht größerer
Individuen angestrebt wird, nur von untergeordneter Bedeutung ist, indem zu seiner
Ernährung blos die Abfälle des Pferde- und Rinderfuttcrs dienen, auf seine Zucht aber
wenig oder gar keine Sorgfalt verwendet wird.
Die Geflügelzucht. In einem Lande wie Böhmen, dessen Hälfte Ackerboden,
somit zum großen Theile Getreideland, und das überdies reich an Forsten ist, dem es auch
nicht an Gewässern fehlt, findet jede Art von Federvieh hinreichend natürliche Nahrung
und ist hiedurch die Grundlage für einen wichtigen Zweig der Thier-Production
geboten. Dies gilt sowohl von den Scharrvögeln, vornehmlich den Hühnern, als auch
von den Schwimmvögeln, namentlich den Gänsen und Enten. Jeder Gattung dieser Hans-
thiere wird in Böhmen seit Jahrhunderten viel Sorgfalt gewidmet, und es ist daher auch
die Production von Geflügel, Eiern und Federn stets eine bedeutende gewesen und bis
ans die Gegenwart geblieben.
Die Hebung der Hühnerzucht wird neuerer Zeit auch durch Einfuhr ausländischer
Racen angestrebt, doch ist es sehr zweifelhaft, ob diese Fremdlinge das einheimische Huhn
an Nutzungen übertreffen; es ist vielmehr anzunehmen, daß das alte Landhuhn, wenn
ihm die nämliche Sorgfalt und Fütterung zutheil wird wie den fremden Thieren, diesen
sowohl im Fleisch- als auch im Eierquantnm gleichkommt, wo nicht dieselben übertrifft,
und daß bei kräftiger, reichlicher Fütterung insbesondere die Eier des böhmischen
Landhuhnes an Gewicht, der wichtigsten Eigenschaft des Eies, den schwersten Eiern
fremder Racen nicht nachstehen. Die mitunter imposante Körpergröße der Cochinchina-,
Brahmaputra-, die Schönheit des bunten Gefieders anderer Hühnerracen ist wohl für den
Anblick verführerisch geworden, nicht aber auch zugleich nutzbringender als mit seinem
bescheidenen Äußern unser Haushuhn, dessen Haltung sich überall als eine sehr dankbare
erweist, wo immer für entsprechende Fütterung, insbesondere aber auch für warme
Unterkunft in der rauhen Jahreszeit gesorgt wird. Ihm gebührt ohne Zweifel schon mit
Rücksicht auf seine Jahrhunderte alte Acclimatisation bei allen berechnenden Landwirthen
der Vorzug vor den meist nur zur Zierde der Höfe dienenden Racen.
Dennoch gibt es nicht wenige Liebhaber ausländischen Geflügels und ebenso auch
Vereine, die für Hebung der einheimischen Geflügelzucht wirken. Der größte darunter ist
der an 500 Mitglieder zählende „Kleinthier-Zuchtvcrein für das Königreich Böhmen",
welcher im Lande an 30 Zuchtstationen unterhält, so daß fast jede der erwähnten sieben
493
Regionen, die im Herbst Ausstellungen veranstalten, einigen Stationen Gelegenheit
bietet, ihre fortschrittlichen Producte zur Schau und zum Verkauf zu bringen. Es sind
namentlich folgende Orte, wo Kleinthier-Zuchtstationen bestehen: Bulovka, Eisenhütte!,
Goltschjenikov, Gradlitz, Hrabacov, Chrudim, Josefstadt, Jungbunzlau, Koterov, Kourim,
Kuklena, Ledec, Manetin, Meziles, Nemyschl, Neustupov, Nimburg, Patek, Pecek, Pisek,
Pluzna, Podebrad, Prag, Slotava, Sumbor, Tetin, Velin, Vyserovitz. Als Musterstation
ist jene von Manetin zu betrachten, deren Besitzer, I. Graf Lazansky, derzeit Präsident
des Landesvereines ist.
Die Statistik bietet bisher kaum Anhaltspunkte selbst für annähernde Schätzungen
der Zahl des Geflügels. Die größten Geflügelhöfe bestehen aus Großgütern, wo ihre
Haltung, oft mit Kapauneraufzucht verbunden, meist dem Bedarf der Besitzer dient. Jndeß
halten auch bäuerliche Grundbesitzer, ja selbst grnndbesitzlose arme Familien in größerer
oder geringerer Anzahl Hühner für den eigenen Bedarf. Die zahmen, genügsamen und
findigen Thiere werden fast ohne Aufwand ernährt, da ihnen die freigebige Natur
Millionen von llnkrautsamen und Jnseeten zu jeder Jahreszeit zu credenzen nicht müde
wird, so daß auch die ärmeren Leute solcherart Eier, Fleisch und Federn prvdneircn,
für deren Verkauf mancher Gulden erworben wird. Hieraus ist zu schließen, daß das
Hühnervolk in Böhmen viele Millionen zählen muß.
Was die Zahl der Gänse betrifft, so wird dieselbe ans sechs Millionen geschätzt.
Doch wird hiervon bei dem Umstande, als die Landbevölkerung nur wenig Rindfleisch
verzehrt, aber zur Kirchweih- und Winterszeit der Gänsebraten, namentlich jener der
Martinigänse, zu den volksthümlichsten Genüssen gehört, der größte Theil von den
Produeenten selbst verbraucht und werden dem Handel nur etwa eine halbe Million Gänse
zugcführt. Von diesen gehen viele nach Baiern, Sachsen und Preußen, wie auch nach
Ober- und Niederösterreich, wo sich die böhmischen Gänse umsomehr eines guten Absatzes
erfreuen, als die Landwirthe dieser Nachbarländer selbst zwar viel Geschmack am Braten,
aber wenig Vorliebe für die mühsame Aufzucht der Gänse hegen. Am wenigsten Gänse
findet man im Norden von Böhmen, dagegen die meisten in den südlichen Gegenden
von Budweis, Klattau, Tabor, Kourim und Pilsen, dann in Mittelböhmen in den Gebieten
von Beroun, Bydzov, Jungbunzlau und Rakonitz. Von Federn und Federflanm werden
an 800 Centner abgesetzt.
Neben der Gans ist der nächst wichtige Schwimmvogel die Ente. Es gibt kaum ein
Dorf, ja kaum eine Einschichte im Lande, wo immer sich ein Teich, ein Bach oder ein
Tümpel vorfindet, wo nicht Enten auzutreffen wären; denn diese Thiere, denen die Natur
Verdaunngswerkzcuge für jedwede pflanzliche und thierische Nahrnngssubstanz verlieh,
sind geeignet, die scheinbar werthlosesten Abfälle von Hof und Küche, namentlich aber die
494
zahlreichen Bewohner von Gewässern und Tümpeln, in schmackhaftes Fleisch umzuwandeln,
und schaffen sonst auch durch ihr Gefieder Nutzen.
Truthühner werden mit Vortheil vorzugsweise in der Nähe von Waldungen
gezogen und bilden daher überall den Kleinviehstand der zahlreichen Forst- und Hegers -
leute, von denen, da der Wald mit seiner Jnsectenfauna dem Scharrvogel reichliche Nahrung
bietet und die Frauen sich auf die Mastfütternng wohl verstehen, die feistesten „Indianer"
zu Markt gebracht werden.
Was schließlich die Taube betrifft, so gibt es auch für diese Thierchen Tausende
von Liebhabern auf dem Lande und noch mehr in Städten und gehört der -rauben -
braten zu den allerhäufigsten Gerichten, die ans den Speisekarten der Gasthäuser, ebenso
wie in der Hausmannskost anzutreffen sind. In Städten pflegt die Taube allerdingv
nicht zu den Reizen monumentaler Bauwerke beantragen, da sie alle Ornamente
verunreinigt und daher nicht gerne gesehen wird.
Gänse und anderes Geflügel von vorzüglichster Oualitüt und in erstaunlicher Anzahl
liefert die Gegend von Sadska an der Elbe, wo die Frauen mit äußerster Sorgfalt
die jungen Gänslein zu pflegen und sodann hochfein zu mästen verstehen, welchem
Geschäft sie bei Tag und des Nachts beim Licht von Kienspänen obzuliegen nicht müde
werden. Aus dieser berühmten Gegend, deren Name allen Prager Hausfrauen in vortheil-
haftester Weise bekannt ist, wurden im Jahre 1890 über 45.000 Stück Gänse, über 2000
Stück Truthühner und 2300 Stück Enten, 2200 Stück Kapauner, 4600 >Ltück Hühner,
10.000 Schock Eier und 1500 Stück Hennen, außerdem Federn, Alles zusammen im
Werthe von 180.000 Gulden ausgeführt.
Die Fischzucht. Tausende von Felder- und Wiesenbenennungen, wie „ober dem
Teiche", „unter dem Teiche", „im Teiche", denen man allenthalben im Lande begegnet,
legen ein sprechendes Zeugniß dafür ab, daß die Zahl der Teiche im Lande vormals eine
viel größere gewesen sein muß als heute, und zahlreiche, theils noch erhaltene, theils
zerstörte Dämme lassen auf den großen Umfang der Wasserflächen schließen, die einst
das Land bedeckten. Diese zahllosen Teiche waren ebensoviele Quellen einheimischen
Fischreichthums. Nicht minder fischreich waren die Bäche und Flüsse Böhmens, denn es
hatten einerseits noch nicht jene mannigfachen mit Wasserkraft betriebenen Industrie-
Etablissements ihre dem Fisch ungenießbaren, ja mitunter ihn selbst vergiftenden Ausflüsse
den Wasserlüufen zugeführt, anderseits hatte auch die Dampfschiffahrt mit ihrem die
Wässer beunruhigenden Betriebe noch nicht dazu beigetragen, den Flußfisch zu verscheuchen.
Wenn es nun mehr einer Fabel als verbürgter Wahrheit ähnlich klingt, so ist es
immerhin für den großen ehemaligen Fischreichthum Böhmens bezeichnend, daß berichtet
wird, es habe in Prag das Stadtoberhaupt einst strenge anordnen müssen, daß man das
495
Gesinde nicht verhalten dürfe, mehr als zweimal in der Wache Fische zu essen, ja sogar,
daß dieses Gebot sich auf den Lachs bezogen habe. Heutzutage gehört der häufigste Teich -
fisch, der Karpfen, nicht zur ständigen Kost für Gesinde, sondern zählt zu den beliebten
Speisen Wohlhabender, die dafür bis 30 Procent mehr zahlen als für Rindfleisch.
Was aber den Lachs betrifft, so erreicht dessen Preis die sechs- bis siebenfache Höhe der
Rindfleischpreise.
Solche Preise hat es allerdings nicht zu allen Zeiten gegeben; in früheren Jahr -
hunderten, wo die Bevölkerung Böhmens nur ein Drittel, ein Viertel, zu Zeiten sogar
nur ein Fünftel ihrer gegenwärtigen Höhe betrug, und wo wegen Mangels an Eisenbahnen
die Versendung von Fischen nur eine sehr beschränkte war, konnten Fische leicht zur
häufigsten Kost der gestimmten Bevölkerung gehören und dazu auch hingereicht haben.
Seither aber hat die Einwohnerzahl stetig zugenommen, dagegen jene der Teiche stark
abgenommen, da ihre Flächen zu Wiesen und Äckern umzuwandeln, für einträglicher
befunden wurde. Erst in neuerer Zeit gestaltet sich das Schicksal der Teiche anders, und
zwar entschieden günstiger, denn während zu Anfang dieses Jahrhunderts in den Teich -
gebieten des südlichen Böhmens für 100 Kilogramm Fische 7'/^ Gulden österreichischer
Währung gezahlt wurden, stieg der Preis seither unaufhaltsam bis auf 52 >/? bis 60 Gulden,
an einzelnen Orten sogar bis 70 und 80 Gulden, somit über das Zehnfache des Preises vor
hundert Jahren. Dies hatte zur Folge, daß gegenwärtig nicht nur die Erhaltung der
bestehenden Teiche, sondern eine Wiederaufnahme der aufgelassenen und Anlage ganz
neuer Fischteiche zu den einträglichen Anlagen gezählt werden kann, auf die insbesondere
im Süden Böhmens, obenan auf dem ausgedehnten Grundbesitz des Fürsten Schwarzen -
berg, viel Sorgfalt verwendet wird.
Zur Hebung der Fischzucht tragen aber nicht nur die günstigeren Preise bei, sondern
auch die namhaften Fortschritte in der Ernährung der Fische. Insbesondere der Karpfen,
der Hanptbewohner unserer Teiche, wird nun rationeller ernährt, zumal seit Director
Susta zu Wittingau die zweckdienlichste Nahrung des Karpfens, der früher allgemein nur
für einen Pflanzenfresser galt, in der aus den Zersetzungsproducten entstehenden niederen
Thierwelt erkannte.
Die Gesammtarea der Fischteiche in Böhmen wird mit etwa 10 Quadratmeilen
veranschlagt und hat der Süden Böhmens nicht nur die meisten, sondern auch die größten
Teiche. Die Herrschaft Wittingan allein besitzt 626 Teiche im Gesammtausmaße von
8317 Hektar; Neuhaus hat 98 Teiche von 1273 Hektar Gesammtfläche. Die größten
Teiche Böhmens sind der Rosenberger mit 490 Hektar, der Holensky mit 245 Hektar
und der Sv et mit 201 Hektar Flüche, sämmtlich im Süden des Landes. Der Ertrag der
Teichfischzucht ist je nach der Güte des Bodens und der Znflnßwässer ein verschiedener;
496
es wird von Susta per Hektar Fläche folgender Zuwachs an Karpfengewicht jährlich
veranschlagt:
In schlechten Teichen 20 bis 3b Kilogramm
„ zufriedenstellenden Teichen 40 „ 60 „
^ guten großen Teichen .......... 60 „ 80 „
„ guten kleinen Teichen 120 „
„ sehr guten kleinen Teichen 150 „
„ besten Dorfteichcn . 200 „ 400 „
In neuerer Zeit ist in Böhmen auch schon mancher fremde Fisch mit Erfolg ein -
geführt worden, so die europäische und amerikanische Maräne, der amerikanische Forellen -
barsch u. a., die ihres schmackhaften Fleisches wegen guten Absatz finden und nun schon
zu den acelimatisirten Fischen der Wittinganer Teiche gezählt werden können.
Biel ungünstiger ist die Lage der Flußfischerei; hier hat die Industrie im
Allgemeinen, namentlich die chemische, der Fischproduction großen Schaden zugefügt und
manche Bäche geradezu entvölkert. Wo dies nicht der Fall, ist die junge Brut tausenderlei
Gefahren ausgesetzt. Erst in neuerer Zeit wird dem Flußfisch, besonders zur Laichzeit,
gesetzlicher Schutz gewidmet. Hierdurch und ferner durch die vor mehreren Jahren in Angriff
genommene künstliche Zucht werden besonders gewisse Edelfische, wie der Lachs und
die Forelle, stärker vermehrt. Die guten Erfolge einiger in den Gebirgsgegenden
angelegten und unter dem Schutze des Laudesculturrathes gedeihenden Zuchtstationen
äußern sich schon in dem merklich häufigeren Vorkommen des Elbe-Lachses, der seine erste
Lebensperiode in Gebirgswässern, die Zeit seines mehrjährigen Wachsthums aber im
Meere zubringt, um später vor der Laichzeit wieder die Flüsse aufznsuchen, wobei er
stromaufwärts schwimmend festgenommen wird.
Bienenzucht. Wenige Länder dürfen sich einer so hochentwickelten Bienenzucht
rühmen als Böhmen. Hier ist dieselbe vor Allem ein Gegenstand der besonderen Vorliebe
der Pfarrgeistlichkeit. Daneben gibt es aber noch zahlreiche andere Freunde der Biene,
und zwar nicht nur auf dem Lande, sondern auch in kleineren und selbst größeren Städten,
die theils zum Vergnügen, zumeist jedoch des bedeutenden Nutzens halber Bienenzucht
treiben. Ist doch dieser Zweig der animalischen Production von allen anderen insoferne ver -
schieden, als er der einzige ist, der von Jedermann, auch ohne eigenen Grundbesitz, betrieben
zu werden vermag, indem die Biene von Blüte zu Blüte frei zu wandern berechtigt ist. Seit
undenklichen Zeiten ist diese Zucht in Böhmen einheimisch; sie hat sich aus dem vormals
primitiven Zustande in unserem Jahrhundert zu einer achtunggebietenden Höhe empor -
geschwungen. Es gibt heute Stationen, wo Hunderte von Bienenstöcken neuerer Ein -
richtung zu finden sind, bedeutende Centren, in denen der süße Saft von Millionen Pflanzen
zusammengetragen wird, um schließlich zum nicht geringen Theile in den Handel zu gelangen.
497
Die moderne Bienenzucht ist in Böhmen vorzugsweise durch das rastlose Bemühen
eines Pfarres, ?. Öttl, emporgekommcn, welcher durch belehrende Worte und Schriften,
sowie durch eigenes Beispiel alte Vorurthcile zu beseitigen und die große Nützlichkeit der
Bienenzucht darznthun
bestrebt war; ihm sind die
an Stelle der alten aus -
gehöhlten Baumstämme
getretenen Strohstöcke zu
verdanken. Auch Dzier-
zons Methoden, nach
denen die Arbeiten der
Bienen jederzeit beob -
achtet und nach Bedarf
und Wunsch geregelt
werden können, haben
in Böhmen vielfach Auf -
nahme gefunden.
Gegenwärtig besteht
im Lande eine stattliche
Anzahl landwirthschaft-
licher Fachschulen, und
es wird an jeder der -
selben auch der Bienen -
zucht Aufmerksamkeit ge -
schenkt; an allen Volks -
schulen werden die
Schüler über die große
Nützlichkeit der Biene
unterrichtet, so daß die
Böhmischer Bienenstock. ländliche Jugend immer
mehr für die Hebung der
Honig- und Wachsproduction gewonnen und eingenommen wird, was nicht allzu schwer
fällt, da es nachweisbar ist, daß ein Bienenstock bis 8 Gulden Reinertrag jährlich
abzuwerfen vermag.
Im Jahre l869 zählte man im Lande 140.892 Bienenstöcke; ungefähr zehn Jahre
später (1880) wurde deren Höhe schon mit 175.868 angegeben und die Produetion
Böhmen.
32
498
ergab 7382 Metercentner Honig und Wachs. Fünf Jahre später (1885) betrug dieselbe
bereits 12.179 Metercentner.
Gegenwärtig verbreitet außer dem „Central-Landeszuchtverein" auch noch eine
ansehnliche Reihe kleinerer böhmischer und deutscher Kreis- und Bezirksvereine die
Kenntniß der rationellen Bienenzucht; in jeder landwirthschaftlichen Ausstellung, sie
mag groß oder klein sein, sieht und bewundert man die erfreulichen Erfolge sowohl
der böhmischen als auch der deutschen Freunde der Bienenzucht. Der Fortschritt, der
stetig stattfindet, wird neuester Zeit auch durch Verbreitung italienischer Bienen und
Acclimatisirung derselben gefördert.
Seidenraupenzucht. Obgleich Böhmen die Bedingungen des Gedeihens der
Seideproduction nicht entbehrt, so hat doch die einheimische Erzeugung bisher nur einen
verhältnißmäßig geringen Antheil an der Beschäftigung der Landbevölkerung. Das ist
der Fall, trotzdem schon vor mehr als dritthalbhundert Jahren (1627) Albrecht von
Waldstein Maulbeerbäume anzupflanzen und Seidenraupen zu cultiviren angeordnet hat
und auch unter Kaiserin Maria Theresia auf einigen Herrschaften Böhmens ausgedehnte
Maulbeerbaum-Pflanzungen stattgefunden haben, sonach das Geschäft als ein im Lande
längst bekanntes angesehen werden kann. In der nächsten Umgebung Prags, dort wo sich
gegenwärtig der Stadtpark ausdehnt, bestand noch um die Mitte dieses Jahrhunderts
eine schon 1749 von Italienern begründete Anlage von Maulbeerbäumen, welche lange
Jahre hindurch das Futter für Seidenraupen zu liefern hatten und in letzter Zeit vom
Kaufmann Rangheri mit großer Vorliebe gepflegt wurden.
Die Ursache des sporadisch zwar vorkommenden, im Ganzen aber geringen Betriebes
der Seidenraupenzucht muß in dem Umstande gesucht werden, daß sich Klima und Boden
in Böhmen jeder Art von Nutzbäumen günstiger erweisen als dem Maulbeerbaum.
Trotzdem hat auch Böhmen seine Freunde des Seidenbaues und seit Jahren
einen an Mitgliederzahl keineswegs geringfügigen „Seidenbauverein für das Königreich
Böhmen". Dieser trachtet durch Aneiferung zum Anpflanzen von Maulbeerbäumen und
durch Vertheilung von Grains (Seidenraupeneiern) die Zucht der Raupe volksthümlich
zu machen und in dieser Richtung insbesondere auf die Jugend der Volksschule ein -
zuwirken, in welchem Bestreben ihm manche Volksschullehrer bereitwillig entgegenkommen.
Durch diese Bemühungen wurde bewirkt, daß Maulbeerbäume, die in jeder Gegend des
Landes fortkommen,in einer Anzahl von etwa 300.000 Stück angepflanzt sind und daß man
die jährlich erzeugte MengeCocons auf drei Metercentner veranschlagen kann, ein allerdings
nur sehr bescheidenes Resultat, das indeß dennoch ermöglichte, der Kaiserin Elisabeth
im Jahre 1878 zur Feier der silbernen Hochzeit eine blaßgraue Seidenrobe böhmischer
Provenienz anzubieten, welches Patriotische Geschenk auch huldvollste Annahme gefunden hat.
Vereinsleben, Schulwesen
und Fachliteratur. Sowie die
Landwirthschaft Böhmens durch
emsige materielle Production hervorragt, so auch
durch die geistigen Förderungsmittel, wie dies am
deutlichsten aus dem landwirthschaftlichen Vereins-
lebeu, aus dem Schulwesen und der Fachliteratur
hervorleuchtet.
Böhmen hatte schon im vorigen Jahrhundert seine
eigene, unter Maria Theresia's glorreicher Regierung
gegründete „Gesellschaft des Ackerbaues und der freien
Künste im Königreich Böhmen", in welcher die
hervorragendstenAdclsgeschlechterihreVertreter
hatten und die in der Folge als „k. k. Patriotisch-
ökonomischeGesellschaft" eine fast hundertjährige
Thätigkeit entwickelte. An ihrer Spitze finden
wir die Namen jener Großgrundbesitzerfamilien, die seither in Allem, was landwirth-
schaftlicher Fortschritt heißt, mit edlem Beispiel vorangingen und persönliche Opfer zu
32*
500
bringen jederzeit bereit waren, voran das Haus der Fürsten Schwarzenberg, der größten
Grundherren Böhmens, sowie die Thun, Lobkowitz, Czernin, Elam-Martinitz, Chotck,
Lazansky, Riese u. a. Im Jahre 1872 wurde die Gesellschaft in jene Körperschaft
umgewandelt, die heilte als „Landesculturrath für das Königreich Böhmen" wirkt und
neuestens (1891) reeonstruirt und in zwei nationale Sectionen, eine böhmische und eine
deutsche, geschieden, ihre volkswirthschaftliche Thätigkeit fortsetzt.
Neben dieser nunmehr officiellen Vertretung der Landesenlturinteressen haben
die strebsamen Land- und Forstwirthe Böhmens gegenwärtig noch drei große Landes -
gesellschaften für die Interessen der Land- und Forstwirthschaft und daneben eine stattliche
Anzahl Vereine auf dem Lande. Es waren bis znm Jahre 1848 im Vereinswesen fast
ausschließlich Großgrundbesitzer und deren Beamte thätig und wurde durch Ver -
sammlungen, Herausgabe von Kalendern und Fachschriften in beiden Landessprachen,
sowie durch Einführung einigen Fachunterrichtes dafür gesorgt, landwirthschaftliche Bildung
auch in weitere Kreise zu tragen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts jedoch, seitdem
die Kleinwirthe durch die Grundentlastung in den Vollbesitz ihrer Anwesen gelangt und
frei von jeder Dienstleistung an ihre ehemaligen Herrschaften geworden sind, ent -
wickelte sich neben dem materiellen Aufschwung des Bauernstandes, der zwei Drittel
des Grundbesitzes im Lande sein eigen nennt, rasch auch eine große geistige Rührigkeit, so
daß heute im Lande au 700 land- und forstwirthschaftliche Vereine bestehen, deren
Thätigkeit in gemeinschaftlichen Berathungen, in Veranstaltung von Schaustellungen,
Märkten, Excursionen, corporativen Anschaffungen von Geräthen, Sämereien, Dünge -
mitteln und dergleichen sich geltend macht.
Was das Schulwesen betrifft, so hatte das Königreich Böhmen schon vor
hundert Jahren (1790) die erste in der Monarchie ins Leben gerufene Lehrkanzel der
Landwirthschaft, und zwar an der Prager Universität, später an der technischen Hoch -
schule, wo dieselbe bis heute noch besteht. Diese Lehrkanzel war schon damals, bei ihrer
Gründung, mit einer nicht unbedeutenden Geldsumme „für Versuchszwecke" dotirt. Später
hat es das Streben der Landwirthe nach Verbreitung tüchtiger Kenntnisse dahin gebracht,
daß, und zwar um die Mitte dieses Jahrhunderts, zwei „Ackerschulen" ins Leben traten,
eine böhmische, vom Fürsten Schwarzenberg in Rabin gegründet und von Franz Horsky
Ritter von Horskhsfeld geleitet, und eine deutsche, vom Grasen Thun zu Liebwerd errichtet
und der Leitung Komers' anvertraut.
Von da angefangen nahm mit der Zunahme des Wohlstandes der bäuerlichen
Bevölkerung auch deren Streben nach Aufklärung immer mehr zu; es wurden landwirth -
schaftliche Fachschulen von Vereinen, Stadtgemeiflden und Einzelnen gegründet und mit
mehr oder weniger entsprechenden Lehrmitteln versehen, so daß heute das Land ungefähr
501
vierzig böhmische und deutsche Fachschulen für Land- und Forstwirtschaft hat die
als höhere, mittlere oder niedere Unterrichtsstätten über das Land zerstreut, eine segens -
reiche Thätigkeit entwickeln.
Wohl gibt es Gegenden, in denen es an Eifer für geistigen Fortschritt noch mangelt
und wo für d,e Einrichtung von Fachschulen Reichs- und Landesilnterstütznngen nöthig
sind. Aber daneben gibt es auch höchst erfreuliche Beispiele energischer Selbsthilfe, und
wenn wir hier das Bild einer landwirthschaftlichen Winterschule in Rakonitz bieten, die
ohne alle Hilfe von außen von den Bauern des Bezirkes mit eigenen Mitteln gegründet
worden ist, so möge der freundliche Leser in diesem schlichten aber soliden Gebäude ein
Denkmal des Strebens der Landwirthe Böhmens nach Intelligenz erblicken, welches zu
bekunden auch große Opfer nicht gescheut werden.
502
Die vielseitigste Rührigkeit in geistiger Hinsicht entwickelt Böhmen durch seine
land- und forstwirthschaftliche Literatur. In früheren Zeiten war diese Thätigkeit
vorzugsweise Sache einiger Gelehrten und daneben der aufgeklärten Beamten des
fortschrittssreundlichen Großgrundbesitzes, und es ist da. wie im Allgemeinen, so auch auf'
dem Gebiete der Landwirthschaft. manche werthvolle Leistung zu Tage getreten. In
neuerer Zeit hat indeß diese literarische Production Böhmens einen ganz ungewöhnlichen
Aufschwung genommen. Es gibt kaum eine halbwegs größere Landstadt, die nicht ihr
Localblatt, wo nicht deren zwei besäße. Zeitschriften, die den Interessen der Landwirthschaft
gern einen Theil ihres Raumes widmen. Daneben gibt es eine Reihe periodischer Schriften,
die ausschließlich der Land- und Forstwirthschaft dienen; in Prag allein erscheinen drei
böhmische und zwei deutsche landwirthschaftliche Fachblätter, auf dem Lande gibt es
deren Dutzende. Unter den Schriftstellern, die diese geistige Production besorgen, befinden
sich nicht allein Fachgelehrte. Beamte und aus höheren landwirthschaftlichen Schulen
hervorgegangene Männer der Praxis, sondern es theilen sich mit ihnen in die Geistesarbeit
zahllose schlichte Landleute, die nicht müde werden ihre eigenen Anschauungen und
Erfahrungen zur allgemeinen Kenntniß zu bringen. Allerdings liefert die meisten
literarischen Arbeiter die Schule und ihre Zahl ist bei dem blühenden Stande der Fach -
schulen keine geringe, doch gehört es zu den charakteristischen Eigenthümlichkeiten auch des
kleinen böhmischen Grundbesitzers, daß er sich nicht mit der bloßen materiellen Verwaltung
seines Anwesens begnügt, sondern bestrebt ist. auch an der geistigen Production seinen
Antheil zu haben, wozu ihm die zahlreichen Wochen- und Tagesblätter reichliche Gelegenheit
bieten. Was aber die landwirthschaftliche Bücherei betrifft, so gibt es in der Neuzeit kaum
ein zweites Land in der weiten Monarchie, wo so viel den Interessen der Landwirthschaft
dienende Druckschriften erscheinen und so zahlreiche Leser finden als in Böhmen.
Forstwirthschaft und sZagd.
Die der Forstwirthschaft gewidmete Flüche im Königreich Böhmen nimmt eine
Area von 1.507.419 Hektar, demnach 29 Procent des productiven Bodens des Landes
ein. Böhmen ist demnach mit Rücksicht auf seine vorgeschrittene Bodeucultur unter die
bestbewaldeten Länder des Reiches zu zählen. In ihrer Mehrheit Forste in des Wortes
wahrster Bedeutung, seit Jahrhunderten emsig gepflegt und gehegt, sowie rationell
bewirthschaftet. begünstigt durch die geographische Lage, durch natürliche und künstlich
geschaffene Communicationsmittel. durch die hoch entwickelte Industrie des Landes, welche
den Absatz der Forsiproducte fördert, durch den noch immer steigenden Holzverbrauch des
Auslandes, reprüsentiren dieselben einen hervorragenden Zweig der Bodencultur Böhmens.
503
Sie bieten wohltätigen Schutz gegen Elementarereignisse, in ihrem Schoße entspringen
die Quellen der zahlreichen, das Land durchziehenden Flüsse, dieser unschätzbaren Verkehrs -
adern, sie liefern nicht nur den Holzbedarf der einheimischen Bevölkerung und Industrie
sondern der fleißig betriebene bedeutende Holzexport ins Ausland ist eine unerschöpfliche
Quelle des Nationalvermögens. Tausende fleißiger Hände finden lohnenden Erwerb in
den heimischen Forsten und dies meist in der rauhen Winterszeit, wo andere Erwerbs -
quellen versiegen.
Die dichte Bevölkerung des Landes und der mit derselben verbundene Fortschritt
der Landwirtschaft brachten es mit sich, daß der meiste zum landwirtschaftlichen Betriebe
geeignete Boden urbar gemacht wurde und somit die Forstwirtschaft fast überall nur auf
absoluten Waldboden angewiesen ist. Dies ist die Ursache, daß das Waldland nicht
gleichmäßig über das Land vertheilt ist, sondern Waldarmuth und Waldüberflnß je nach
der Bevölkerung und der Bodenbeschaffenheit abwechseln. Demnach befinden sich die
größten Waldmassen in, Gebirge, während das Flachland und Tiefland eine geringere, ja
mitunter eine unzureichende Bewaldung aufzuweisen haben.
Der Bohmerwald mit den großen Walddomänen Gratzen, Hohenfurth, Krumau,
Winterberg, Groß-Zdikau, Stubenbach, Eisenstein, Tachau und anderen, das Fichtel -
gebirge, das Erzgebirge, in welchem namentlich die Domänen Schlackenwerth, Joachims -
thal, Presnitz-Hauenstein, Rothenhaus, Eisenberg, Oberleitensdorf, Binnsdorf rc. hervor -
ragen und sich an die Forste der Domäne Tetschen anschließen, welchen sodann im
Jsergebirge die Forste von Bvhmisch-Kamnitz, Rumburg und Reichstadt folgen, endlich
d,e Waldmassen der Gebiete von Starkenbach und Hohenelbe im Riesengebirge, bilden
einen großartigen, ununterbrochenen Waldgürtel um das Land. Das böhmisch-mährische
Grenzgebirge, zwar minder geschlossen bewaldet als die vorigen, dennoch aber als
waldreich zu bezeichnen, endet südlich in den großen Waldeomplexen der Domänen Neuhaus
und Neubistritz. An diese schließen im Süden des Landes unmittelbar die Flachlandsorste
der Domäne Wittingau, Chlumetz, Platz und Kardasch-Recitz nebst zahlreichen Gemeinde-
und Privatforsten mit einer ununterbrochenen Waldfläche von mehr als 30.000 Hektar an
Die ausgedehnten Wälder der Großbesitze Frauenberg, Moldautein, Protivin, Pisek,
Drhowel, Cimelitz, Varvazov und Vorlik rahmen in ununterbrochenem Zusammenhänge
die Ufer der Moldau und Wottawa ein, und an diese schließt sich sodann das größte
Waldgebiet des Landes-Jnnern, das Brdhgebirge, mit den Forsten von Dobris, Horowitz,
Rozmital, Zbirov und Pürglitz w., eine Fläche von über 100.000 Hektar umfassend, an.'
Auch sei noch des großen Waldgebietes von Münchengrätz, Weißwasser und Hirschberg
,m nordöstlichen Theile des Landes Erwähnung gethan. Die übrigen Landestheile mit
Ausnahme der Umgebung Prags und des Tieflandgebietes von Leitmeritz, Saaz bis
504
Komotan können noch immer als normal bewaldet gelten. Hingegen haben die Umgebungen
Prags und die eben genannten Tieflandgebicte einen entschiedenen Mangel an Wald
aufzuweisen, so daß daselbst nur 15 Procent der Bodenfläche und darunter dem Wald -
lande angehören.
Dem Besitztitel nach gehören 70 Procent der Wälder Böhmens dem landtäflichen
und nur 30 Procent dem nichtlandtäflichen Besitze an und sind 25'6 Prvcent des Waldes
als Fideicommißbesitz eingetragen.
Für das Land Böhmen hat der Fideicommiß-Waldbesitz deshalb einen
unschätzbaren Werth, weil die Staatswaldfläche einschließlich der Religions-Studien- und
Stiftungsfondsforste nur 0 8 Procent der Gesammtwaldfläche repräsentirt und somit
durch den gebundenen Besitz der Fideicommißwälder eine empfindliche Lücke im Fvrst-
hanshalte des Landes ausgefüllt wird. Auch die landtäflich eingetragenen Gemeindewälder
mit 3 8 Procent der Landesfläche sind sehr schätzenswerth, da dieselben im Allgemeinen
gut, jene der Stadt Pisek sogar musterhaft bewirthschaftet werden. Der landtäfliche
Waldbcsitz ist auch wohl arrondirt und was in der Forstwirthschaft nicht genug hoch
angeschlagen werden kann, commassirt; nach den statistischen Ausweisen entfallen auf
einen Besitz über 100.000 Hektar, auf fünf Besitze je 20.000 bis 30.000 Hektar, auf
14 Besitze je 10.000 bis 20.000 Hektar, auf 26 Besitze je 5.000 bis 10.000 Hektar, auf
125 Besitze je 1000 bis 5.000 Hektar, auf 59 Besitze je 500 bis 1000 Hektar und auf
164 Besitze je 100 bis 500 Hektar.
Minder günstig sind die Besitzverhältnisse des nichtlandtäflichen Waldes. An
und für sich aus meist kleinen Besitzkörpern bestehend, wurde ein großer Theil der
vormaligen Gemeindewüldcr und Genossenschaftsforste durch die vor 20 bis 30 Jahren
allzu bereitwillig ertheilten Theilnngsbewillignngen so parzellirt, daß mitunter eine
rationelle forstliche Bewirthschaftung unmöglich wird
Den verschiedenen Standortsverhältnissen und der weit vorgeschrittenen Forst -
wirthschaft entsprechend, gibt es keine forstliche Betriebsart, die in Böhmen nicht heimisch
wäre. Von dem Korbweidenbetriebe mit einjährigem Umtriebe in den Flußniederungen
bis zum Plänterwalde auf den höchsten Gebirgskämmen, wo der Baum erst dann zur
Nutzung gelangt, wenn er seine Bestimmung, den Boden und das tiefer gelegene Cultnr-
land zu schützen, vollkommen erfüllt hat, sind hier alle Betriebsarten zu finden. Selbst
einen Urwald kann Böhmen noch aufweisen.
Der Urwald, welcher vor kaum 25 Jahren noch ausgedehnte Flächen des süd -
westlichen Böhmerwaldes bedeckte, ist infolge der fortschreitenden Ausnützung, mehr
noch infolge der Elementarereignisse der Jahre 1868 und 1870 bis auf eine Fläche
von 47 Hektar des Reviers Schattawa, welche den Namen Lnckenwald trügt und über
506
Auftrag weiland des Fürsten Johann Adolf zu Schwarzenberg für ewige Zeiten als
Urwald erhalten bleiben soll, um wissenschaftlichen Forschungen zu dienen, fast gänzlich
verschwunden. Immerhin ist dem Laien wie dem Forscher die seltene Gelegenheit geboten,
die Großartigkeit des von der Natur selbst geschaffenen Waldes anzustaunen. Die Klüfte des
aus riesigen Stcinblöcken bestehenden Untergrundes sind ausgefüllt mit den Verwesungs-
producten früherer Vegetation; darüber liegen kreuz und quer in undurchdringlichem
Gewirre mächtige Stämme (ortüblich Ronen genannt) in allen Graden der Verwesung,
neuer Vegetation als Keimbeet dienend. Unzählige Samen von Buchen, Ahorn, Tannen
und Fichten mit jenen zahlreicher Sträucher haben auf diesen Leibern ihrer Ahnen den
Keim entwickelt und die jungen Pflanzen den Kampf ums Dasein begonnen, in welchem
die stärkeren und begünstigten Sieger bleiben, um zu Giganten ihres Geschlechtes
heranzuwachsen, bis auch ihre Zeit gekommen, wo sie absterbend ihre kahlen Äste in
die Lüfte strecken, um bald darauf zusammenzubrechen und neuen Generationen Platz
zu machen.
Von dieser Excursion in den böhmischen Urwald zur Schilderung der Betriebsarten
zurückkehrend, sei hervorgehoben, daß die überwiegende Mehrheit der Forste, und zwar
94 5 Procent dem Hochwaldbetriebe und nur 5'5 Proeent dem Niederwaldbetriebe
angehöreu.
Der Nieder- und Mittelwald betrieb ist zumeist in der Mitte des Landes, im
böhmischen Tieflande, sowie im östlichen Böhmen längs den Elbeniederungen heimisch,
jedoch in letzterer Zeit in Abnahme begriffen, da die Concurrenz der Mineralkohle den
Brennholzabsatz erschwert und die Einfuhr anderer Gerbstoffe die Eichenschälwirthschaft
minder ertragsfähig macht, weshalb sich zahlreiche Waldbesitzer entschlossen haben, diese
Betriebsart aufzngeben und zum Hochwaldbetriebe überzugehen.
Der Hochwaldbetrieb, vorwiegend Nadelholzbetrieb mit Kahlschlagwirthschaft,
in den Gebirgsforsten mit 100 bis 120jährigem Umtriebe, im Flachlande größtentheils
mit Umtriebszeiten unter 100 Jahren, ist über das ganze Land verbreitet, der reine
Laubholzbetrieb jedoch fast nur auf die Buchenbestände beschränkt. Wo die Nachzucht von
schattenliebenden Holzarten, besonders Buche und Tanne, und die Standortsverhültnisse
die Kahlschlagwirthschaft ansschließen, ist der geregelte Plänterschlagwirthschafts-Betrieb
in Anwendung und können die Forste von Winterberg, Frauenberg und Hirschberg nebst
anderen als Muster in dieser Beziehung angeführt werden. Die reine Plänterwirtschaft,
im geordneten Forsthaushalte nur auf den Schutzwald in den höchsten Gebirgslagen, sowie
auf Gehängen, wo jede Bloßlegung des Bodens vermieden werden muß, beschränkt, wird
von den Kleinwaldbesitzern in ihren sehr parzellirten Wäldern allgemein und besonders
im südlichen Theile des Landes, sowie im mährischen Grenzgcbirge betrieben.
508
Der Holzart nach bestehen circa 6 Procent der Forste Böhmens aus reinen
Laubholz-, 12 Procent aus gemischten Laub- und Nadelholz- und 82 Procent aus reinen
Nadelholzbeständen. Unter den Laubholzartcn gebührt ihrer Verbreitung nach der Buche,
deren Bestände beiläufig 52.000 Hektar cinnchmen, die erste Stelle, ferner der Eiche mit
39.000 Hektar, worauf die übrigen Laubhölzer, als: Birke, Erle, Pappel, Esche, Ulme,
Ahorn, Weißbuche w. mit circa 50.000 Hektar Gesammt-Flächcnausdehnnng folgen.
Die Buche wird nur im Hochwaldbetriebe gepflegt und können die Bnchenalthölzer
des Böhmerwaldes, der Piseker, Vorliker, Hirschberger und anderer Forste bezüglich
ihres Massengehaltes, sowie der Schäftigkeit nach als unübertrefflich bezeichnet werden.
Reine Buchenbcstände kommen meist nur in den Mittelgebirgslagen des Landes und
den Vorlagen der höheren Gebirge vor, doch gedeiht die Buche mit dem Ahorn als
Beimischung der Nadelholzbestände bis zu einer Seehöhe von 700 Meter in den Gebirgs-
wäldern sehr gut.
Die Eiche, größtenteils die Mittel- und Niederwaldbestünde bildend, trifst man
überdies im Hochwalde, in kleineren reinen Bestandspartien oder gruppenweise und
einzeln im Nadelholzc eingesprengt, im ganzen Lande, besonders aber im südlichen Böhmen
an und liefern die Traubeneichen der Wittingauer Forste ein sehr geschätztes Schnitt -
materiale und Bindholz für Klein- und Großgefäße.
Die Espe, Pappel, Erle und Weide bilden die Auwaldungen der Flußniederungen,
sowie Austränkungen der Bäche und anderer Gewässer; sie finden sich auch häufig als
Lückenbüßer in Mittel- und Niederwaldnngen ein. Im Hochwaldbetriebe hat nur die Erle
wegen ihres vorzüglichen Holzes einige Bedeutung, indem die anderen genannten Holz -
arten einschließlich der Birke, wenn sie sich daselbst einfinden, sobald sie ihren Zweck als
Schutzholz erfüllt haben, aus den Beständen entfernt werden. Erst in neuerer Zeit wird der
vielverfolgten Birke, die zu verschwinden droht, größere Aufmerksamkeit gewidmet.
Ahorn und Ulme sind ihrer Windfestigkeit wegen sehr geschätzte Mischholzarten der
Gebirgsforste, besonders des Böhmerwaldes, wo sie noch in sehr starken Exemplaren
anzntreffen sind.
Das größte Verbreitungsgebiet unter allen Holzarten gehört der Fichte an. Sie
beherrscht alle Gebirgsforste bis zur Seehöhe von circa 700 Meter, häufig im Gemenge
mit anderen Hölzern, von da an bis zu 1400 Meter in reinen Beständen. Auch im Flach-
und Hügellande, wo sie ihrer Beliebtheit wegen fleißig cultivirt wird, gewinnt sie noch
immer neues Terrain. Ihr folgt der Verbreitung nach die Kiefer, die in der ersten Hälfte
dieses Jahrhunderts sehr protegirt und allgemein, selbst auf ihr nicht ganz zusagenden
Standorten, angebaut wurde, weshalb man diese Zeit nicht mit Unrecht als jene der
„Kiefermanie" bezeichnet. Auf den Tertiärgebilden des südlichen Böhmen, sowie in der
510
Quadersandsteinformation des Nordens gedeiht sie jedoch ausgezeichnet und liefert ihr
Holz seiner Wenigkeit wegen sehr gesuchte Nutzholzsortimente.
Auf zehn Procent der Landeswaldfläche, somit auf beiläufig 150.000 Hektar
behauptet die Tanne ihre Herrschaft und erreicht in den Gebirgsforsten, besonders durch
die Riesenstämme des Böhmerwaldes ausgeprägt, das Ideal ihrer Entwicklung. Einst
noch über weit größere Flächen verbreitet, hat sie wegen des geringeren technischen
Gebranchswerthes ihres Holzes zwar in ihrer Verbreitung eingebüßt, wird jedoch in den
hervorragenden Forstwirthschasten noch immer sehr geachtet und gepflegt. Die Lärche,
wahrscheinlich nur auf künstlichem Wege in den Wäldern Böhmens eingebürgert, erreicht
hier nicht die Vollkommenheit jener der Alpenländer, ist daher nur auf ihr zusagenden
Standorten meist als Mischholzart, seltener in reinen Beständen anzutreffen. Die ver-
hältnißmäßig nicht allzugroße Erhebung der Gebirge über die Meeresfläche weist der
Krummholzkiefer ein nur kleines Verbreitungsgebiet an.
Eine Specialität des südlichen Böhmen, mitunter auch des Böhmerwaldes (Domäne
Tachau!) ist die Moorkiefer. Von den Botanikern kimrs nliMirosa, auch kirms irroniann
aufrechter Form benannt, unterscheidet sie sich von ihrer nächsten Verwandten, der
Krummholzkiefer, durch ihren aufrecht strebenden Stamm, der eine Höhe bis zu 20 Meter
und eine Stärke bis zu 25 Centimeter am Stocke erreicht, und von der Weißkiefer durch
die dunkle stchtenähnliche Rinde und die mehr aufwärts gerichtete Beastung. Sie beherrscht
die noch nicht entwässerten Moore, insbesondere jene der Domäne Gratzen und Wittingau,
wo gewiß an 800 Hektar Moorkieferbestände anzntreffen sind.
Auch fremde Holzarten sind bereits als eingebürgert zu betrachten, worunter
besonders die Rotheichenarten, die schwarze Wallnuß, Weihmuthskiefer, Douglastanne
nebst anderen. Die von Ihrer Durchlaucht der Fürstin Wilhelmine zu Schwarzenberg
in der Landes-Jnbiläumsausstellung in Prag zur Schau gebrachten Rotheichenstämme
und Einrichtungsstücke und Geräthe aus auf der Domäne Worlik erzogenem Roth-
eichenholze lassen über das Gedeihen, die Anbauwürdigkeit, sowie den Gebrauchswerth
dieser Holzart keinen Zweifel aufkommcn.
Auf dem Felde der Bestandesbegründung und Erziehung leistet die Forstwirth-
schast Böhmens schon seit langem Hervorragendes. Einzelne Spuren, namentlich Eichen -
pflanzungen, deuten darauf hin, daß unseren Vorfahren schon im XVII. Jahrhundert
Saat und Pflanzung als Aufforstungsmittel nicht unbekannt waren, doch blieb der
Plänterhieb und mit diesem die natürliche Besamung bis gegen das Ende des vorigen
Jahrhunderts allgemein in Übung. Erst als zur selben Zeit der Kahlhieb überhand -
nahm. trat die Nothwendigkeit ein, der Natur mit künstlichen Mitteln zu Hilfe zu kommen.
Den damals mitunter beliebten Mischsaaten von Fichte, Kiefer, Eiche und Birke verdanken
wir dort, wo rechtzeitig durchforstet wurde, manche prachtvolle gemischte Bestünde. Über -
wiegend blieb jedoch lange Zeit der Anbau einer einzelnen Holzart, und zwar haupt -
sächlich der Kiefer, welche, zu Anfang dieses Jahrhunderts besonders savorisirt, überall
und selbst auf unpassenden Standorten angebaut wurde. Vor vierzig Jahren etwa
wurde die Saat durch die Pflanzung verdrängt, gelangt somit jetzt erstere nur selten,
und zwar da zur Ausführung, wo es sich um die Erziehung schwachen Durchforstungs -
materiales (Bindwieden) handelt oder als Unterstützung der natürlichen Besamung in
Lichtschlägen.
Gegenwärtig, wo man den Werth gemischter Bestände zu würdigen gelernt hat,
werden je nach den Standortsverhältnissen die natürliche oder künstliche Verjüngung
oder beide zugleich in Anwendung gebracht, und es wird in gut bewirthschafteten Forsten
bis iuv kleinste Detail jeder Holzart der ihr am besten zusagende Standort angewiesen.
In zahllosen Baumschulen werden Millionen der verschiedensten Waldpflanzen erzogen,
diese mit der Hand oder eigens dazu construirten Maschinen überschult, Laubholzheistern
durch kunstgerechten Schnitt die für ihre Bestimmung nöthige Form gegeben, und es
wird auf diese Weise nicht nur der eigene Pflanzenbedarf beschafft, sondern der Überschuß
anderweitig verkauft, noch häufiger aber an mittellose Gemeinden und Kleinwaldbesitzer
verschenkt. Keine der zahlreichen in der Forstliteratur angeführten Pflanzmethoden blieb
in den böhmischen Forsten unversucht, so daß ausgedehnte Bestände von ihrer Anwend -
barkeit Zeugniß geben können. Das gute Beispiel und der billige, selbst unentgeltliche
Bezug von Pflanzen hat viel dazu beigetragen, daß die bäuerliche Bevölkerung der
Forstwirthschast nicht mehr feindlich gegenübersteht und von ihr, namentlich im südlichen
Böhmen, nebst den Schlägen auch Hutweiden und selbst ertragsarme Äcker mittelst
Pflanzung zum Walde einbezogen werden.
Große Erfahrungen hat man auch in der Aufforstung von Torfmooren gemacht,
die seit nahezu 120 Jahren mit bestem Erfolge betrieben wird. Die Domäne Wittingau
kanu mehr als 3.000 Hektar solche Forste aufweisen, worunter haubare Bestünde, die
4 bis 5 6 Festmeter pro Hektar am Haubarkeits-Durchschnittszuwachse abwerfen.
Das Bedürfniß nachhaltiger Bewirthschaftnng der Forste, noch mehr aber die
Furcht vor Holznoth haben zu Ende des vorigen Jahrhunderts allgemein zur Forst -
ertragsregelung geführt. Fast gleichzeitig hat man fast auf allen Forstbesitzkörpern mit
der Vermessung, Bestandesausscheidung und Systemisirung der Forste begonnen, wobei
mannigfache Methoden zur Anwendung gelangten. Im vierten Jahrzehnt dieses Jahr -
hunderts hat jedoch die Ertragsregelung (Einrichtung) nach dem sächsischen Verfahren in
Böhmen Eingang gefunden, mit deren Einführung die gräflich Thun'sche Domäne Tetschen,
die Stadt Wittingau, die gräflich Bouquoi'sche Domäne Gratzen und die fürstlich Johann
512
Adolf Schwarzcnberg'schcn Forste vvrangingen; viele andere Besitzungen folgten, so daß
diese Art der Ertragsregelung in Böhmen die weitaus verbreitetste geworden ist.
Die meisten Forste sind dermalen durch den Terrainvcrhältnissen angepaßte
Schneußennetze in Hiebszüge und Obcrabthcilungen zerlegt. Die Hauungspläne werden
nicht mehr für ganze Umtriebszeitcn aufgestellt, sondern meist nur für ein Jahrzehnt, nach
dessen Umlauf periodisch wiederkehrende Revisionen festzustcllen haben, wie sich die
bisherigen Wirthschaftsmaßregeln bewährten und welche Änderungen an denselben vor -
zunehmen seien. Wirthschafts-Bestandes- und Terrainkarten liefern ein übersichtliches
Bild des Zustandes der Forste und genaue Aufzeichnungen über die erfolgten Nutzungen,
sowie Tabellen über das Vcrhältniß der Bestandes-Altersclassen gestatten dem Besitzer,
sich jederzeit von dem Stande seines im Forste vorhandenen Vermögens und von dem
Erfolge seiner Forstwirthschaft zu überzeugen. Selbst die Wälder zahlreicher kleiner
Gemeinden, sowie Kleinbesitzforste sind der Ertragsregelung unterstellt, so daß bereits im
Jahre 1876 von der Gcsammtfläche des böhmischen Waldlandes 67 6 Procent systemisirt
waren, seit dieser Zeit aber gewiß Tausende von Hektaren neu systemisirt wurden.
Wie es die Verschiedenheit der Standortsverhültnisse mit sich bringt, variirt der
Holzzuwachs und der Ertrag der Forste sehr bedeutend. Die Krummholzpartien des
Riesengebirges, die spärlich bestockten Klippen der Quadersandstein-Formation, die
Sandschollen der Ebenen und die noch unentwässerten Moorwälder können, nahezu, als
zuwachs- und ertragslos bezeichnet werden. Hingegen finden wir in den Elbe-Auen, an
dem Fuße der Basaltberge, noch mehr aber in jenen Beständen des Böhmerwaldes,
welche die erste Generation nach dem Urwalde repräsentiren, Zuwachsverhältnisse, die
nichts zu wünschen übrig lassen, so daß Zuwächse von 10 bis 14 Festmetern pro Hektar
nicht zu den Seltenheiten gehören.
Die statistischen Daten über die jährliche Holzproduction sind zwar sehr schwankend,
doch dürfte man nicht fehlgehen, wenn dieselbe mit vier bis fünf Millionen Festmetern im
Werthe von 18 bis 21 Millionen Gulden veranschlagt wird. Diese Ertragsfähigkeit
verdanken die böhmischen Wälder weniger ihren Znwachsverhältnissen, als vielmehr ihrer
günstigen geographischen Lage, ihren mit großen Kosten hergestellten Wasserstraßen und
Jahrhunderte langer rastloser Thätigkeit auf dem Felde der Forstbcnutznng, sowie des
Holzhandels.
In der Mitte des Landes, besonders aber im böhmischen Tieflande, wo die Urbar -
machung des Bodens zu landwirthschaftlichen Zwecken das Waldland verminderte, große
Städte und Jndustrieorte den Holzconsum förderten, ist der Forst frühzeitig ertragsfähig
geworden. Großer Vorkehrungen bedurfte es jedoch, um dieWaldmassen des Riesengebirges,
noch mehr aber jene des Böhmerwaldes nutzbar zu machen. Holzarbeiter-Colonien,
514
Glasfabriken, Resonanz- und Zargholziudustrien wurden etabtirt, Flüsse durch zahlreiche
Rechen und Ufcrbauten triftbar gemacht. Hervorragend war die Tristunternehmnng auf
den Flüssen Wottawa und Moldau mit zahlreiche» Rechenbauten, worunter die größte in
Podol bei Prag, mittelst welcher riesige Brennholzmassen, bis zu 150.000 Raummetern
jährlich, aus dem Böhmerwalde ins Land und bis Prag geschwemmt wurden. Da jedoch
trotzdem auf der Domäne Krumau beiläufig 20.000 Joch Urwald unzugänglich blieben,
faßte man im Jahre 1788 die großartige Idee, die Moldau mit der Donau durch einen
Schwemmkanal zu verbinden. Dieser, unter dem Namen Schwarzenbergkaual bekannt,
faßt am Lichtwasser unter dem Dreisesselberge die Zuflüsse der Moldau auf, führt bei
Hirschbergen durch einen 420 Meter langen Tunnel, überschreitet am Rosenhügel
nächst St. Thoma die Wasserscheide zwischen der Elbe und Donau und mündet mittelst
des regulirten Zwettelbaches bei Haslach in Oberösterreich in den Mühlfluß.
Der Bau des Kanals wurde unter dem Fürsten Johann Schwarzenberg nach den
Entwürfen des Ingenieurs Rosenauer im Jahre 1788 begonnen und im darauffolgenden
Jahre bis Hirschbergen ausgeführt, worauf in den Jahren 1821 und 1822 unter dem
Fürsten Josef Schwarzenberg der Ingenieur Josef Falta den Tunnel-Durchbruch und den
Ausbau des Kanals bis zu dem Lichtwasser, somit zu seiner ganzen Länge von 51 Kilo -
metern vollendete. In der Zeit vom Jahre 1791 bis Mitte 1889 wurden auf dem
Schwarzenberg-Kanal und dem Mühlfluß 7,801.919 Raummeter Brennholz aus den:
Böhmerwalde nach Neuhaus an der Donau abgetriftet und von da aus zumeist nach
Wien verschifft.
Mit dem Fortschritt der Nutzholzwirthschaft und Verwerthung hat die Brennholz -
trift an Bedeutung verloren, sich auf die oberen Flnßläufe zurückgezogen und der Flöße
von gebundenem Nutzholz, landesüblich Prahmenflöße genannt, Platz gemacht.
Obzwar aus Verordnungen Kaiser Karls IV. hervorgeht, daß schon damals die
größeren Flüsse Böhmens zur Floßfahrt benützt wurden, hat der Nutzholztransport auf
der Moldau und Elbe doch erst seit beiläufig 70 Jahren einen allgemeinen Aufschwung
genommen. Jetzt wird die Nutzholzflöße auf zahlreichen Flußstrecken in der Gesammtlänge
von 1336 Kilometern, und zwar auf der Elbe mit der Stillen und Wilden Adler, auf der
Moldau, der Maltsch, der Luznitz sammt der Naser und dem Neubache, auf der Wottawa
und der Sazava betrieben. Eine floß-, theilweise schiffbare Flußstrecke von 808'19 Kilo -
metern mit 154 Durchlässen wird vom Lande verwaltet und erhalten. Der Werth des
auf diesen Flußstrecken in der Zeit vom Jahre 1875 bis 1890 verflößten Holzes wird
auf 70,827.597 fl. ö. W. veranschlagt.
Das Eisenbahnnetz ist dem Holztransporte noch nicht in dem Maße dienstbar
gemacht, wie es wünschenswerth wäre, da die Eisenbahnverfrachtnug mit dem billigen
515
Wassertransport nicht zu concurriren vermag. Auf erstere sind die Forste des nördlichen
und nordwestlichen Theiles des Landes, welche von den flößbaren Wasserstraßen abseits
gelegen sind und ihr Holz direct per Bahn nach Deutschland exportiren, angewiesen. Im
südlichen Therle des Landes werden die Bahnen nur zur Zufrachtung von Langholz zu
den flößbaren Flüssen und zur Verfrachtung von Schnittmateriale und Brennholz nach
Wien, seltener nach Prag benützt. Der Nutzholzabsatz gravitirt demnach, zumeist im Wege
Das Jagdschloß „Tirolerhaus" auf der Domäne Vorlik.
des Elbehandels, nach Norddeutschland und sind Prag, sowie
Herrnskretschen die bedeutendsten Stapelplütze für den Holz -
export. Begünstigt durch die Communicationsverhältnisse und den Nutzholzabsatz ist die
Ausnützung der Forstprodncte eine Nutzholzwirthschaft im wahren Sinne des Wortes zu
nennen. Bau-, Klotz- und Grubenhölzer, Schisssbordenstümme, Schissskrümmen, Eisen -
bahnschwellen, Hopfenstangen und die verschiedenartigsten Geräthhölzer werden mit
Peinlicher Sorgfalt im Schlage ausgehalten und nur der anders nicht verwerthbare
Abfall fällt ins Brennholz.
Die böhmischen Holzarbeiter lassen sich in zwei ganz verschiedene Kategorien
trennen. Der im Gebirge angesiedelte Holzhauer allein ist Holzarbeiter vom Fach.
33*
516
Jahraus, jahrein mit der Holzarbeit beschäftigt, betreibt er im Sommer und Herbst d.e
Fällung und Aufarbeitung, im Winter das gefährliche Schlitteln des Holzes und verdingt
sich im Frühjahr als Holztrifter oder Flößer. Viele Holzarbeiter dieser Art füllen die
Zeit, in welcher die Waldarbeit ruht, mit der Erzeugung von Zargholz, Holzschnhen,
Schaufeln, Wagner- und anderen Geräthcn aus, woraus sich eine sehr bedeutende Haus -
industrie entwickelte, die von den Waldbesitzern durch billige Verabfolgung von Holz
namhaft unterstützt wird. Der Arbeiter des Flachlandes findet sich dagegen zumeist nur
im Winter im Walde ein, wenn es ihm an anderer Arbeit mangelt, weshalb Zunmerleute,
Maurer, Flößer rc. hierzu das größte Contingent stellen.
Der Holzverkauf, sowie der Betrieb von Brettsägen, Resonanzfabriken, -vheer-
schwellereien und anderen Holzindustrialien liegt in der Regel in der Hand der Forst-
wirthe, so zwar, daß in jedem größeren Forsthanshalte von den leitenden Forstbeamten
verlangt wird, daß sie auch die vollständige Eignung und Umsicht routimrter Holz -
händler besitzen. Holzverkäufe am Stock, die bereits zu den Seltenheiten gehören, sind
nur bei Kleinwaldbesitzern gebräuchlich; regelmäßig wird alles Holz m eigener Regie im
Schlage ansgehalten, sortirt und sodann an den Käufer abgegeben, noch häufiger aber bis
ans die oben genannten Stapelplätze verstößt oder auf Bahnablegen geliefert, um erst
dann in die Hand des Händlers oder unmittelbaren Consumenten überzugehen.
Zahlreiche Brettsägen fördern den Holzabsatz und die Resonanzholzfabriken von
Tusset und Mader erfreuen sich eines Weltrufes wegen der ausgezeichneten Qualität
der für die meisten Arten hölzerner Musikinstrumente unentbehrlichen Resonanzhölzer.
Der Brettsägebetrieb erreichte in den Jahren 1860 bis 1880 den Höhepunkt seiner
Entwicklung, wurde aber durch die deutschen Holzzölle so arg geschädigt, daß zahlreiche
Brettsügen die Arbeit einstellen mußten, wodurch der Verdienst dem Lande entging
und dem Ausland zufiel. Die eben eingetretene Ermäßigung der Schnittmaterialzölle ist
daher lebhaft zu begrüßen und zu wünschen, daß sie ausgiebig genug wäre, um den für
die Ertragsfähigkeit der Wälder so wichtigen Industriezweig neuerdings zu beleben.
Auch der eben im raschen Aufblühen begriffenen Cellulose-Erzeugung ist im Interesse
der Forstwirthschaft und der Erwerbsthätigkeit zu wünschen, daß sie sich bestens entwickle
und gedeihe.
Nebst der reinen Holznutzung liefert der Wald und der Waldboden vielerlei
Nebenprodukte und Nebcnnntzungen, worunter hauptsächlich Rinden, Getreide und
Hackfrüchte im Wege des Rodefruchtbaues, Waldstreu, Stein, Lehm und Sand, Torf,
Gras, die Weidenutzung und Anderes.
Die Eichenrindengewinnung liefert heute noch den Hauptertrag der zahlreichen
Niederwälder des mittleren und nordöstlichen Böhmen, sowie des böhmischen Tieflande--
517
von Leitmeritz bis Saaz, ist jedoch wegen der minderen Verwerthbarkeit des Brenn -
holzes allgemein im Rückgänge begriffen. Auch die Fichtenlohrinde wird dort, wo die
Sommerschlägerung üblich ist, somit in Gebirgswaldnngen regelmäßig verwerthet.
Der Waldfeldbau (Nodefruchtban), das ist die zeitweilige Benützung des Wald -
bodens zur Gewinnung von Getreide undlKartoffeln, wurde in den Dreißiger-Jahren in
größerem Maßstabe eingeführt und wegen des Ertrages an Feldfrüchten als Meliorations -
mittel der Forstwirthschaft gepriesen. Die Forste der Stadt Pisek, wo man vom Beginn
Hasenjagd: Nach dem ersten Bogen.
an den Rodefruchtbau auf Kahlschlägen allgemein betrieb und noch jetzt, wenngleich im
eingeschränkten Maße ausübt, sind das offene Buch seiner Geschichte. Die Erfahrung,
daß derselbe nur auf kräftigen, humusreichen Böden und in frischen, weniger steilen
Lagen ohne Nachtheil für die Bodenkrast betrieben werden kann, auch das Bestreben,
gnnischll Bestände mittelst natürlicher Verjüngung unter Benützung der vorhandenen
Vorwuchse zu erziehen, endlich der allgemeine Rückgang des Werthes der Brotfrüchte,
haben indeß den Rodefruchtbau eingeschränkt, so daß der Zeitpunkt nicht mehr fernliegst
wo er ganz aufgelassen werden dürfte.
518
Die Gewinnung von Torf als Brennmateriale ist zwar durch die Natur dieses
Brennstoffes, welche den Transport ans weite Distanzen erschwert, ans kleine Gebiete
beschränkt. In den großen Moorgebieten des südlichen Böhmen, besonders m den
Wäldern der Domänen Gratzen, Chlnmec und Wittingau werden jedoch sehr große
Quantitäten Torf als forstliche Nebennutzung gewonnen, welche als Heizmateriale und
namentlich als der wichtigste Brennstoff der hier etablirten Glasindustrie Verwendung
finden. Die ansgenützten, entwässerten und planirten Torfstichflächen werden sodann
mittelst Aufforstung wieder der Holzzucht gewidmet.
Die neu erstandene Torfstreu- und Torfmull-Erzeugung der Domänen Platz und
Gratzen im südlichen, sowie Kosten im nördlichen Böhmen dürfte eine große Zukunft
haben, da die Torfstreu als Streumateriale in Stallungen und der Torfmull als
ausgezeichnetes Desinfectionsmittel bereits häufig verwendet werden.
Die Waldstreunutzung, mit Recht aus jedem geordneten Forstbetriebe verbannt,
aber leider bei den bäuerlichen Kleinwaldbesitzern allgemein, ja sogar als hauptsächlichste
Nutzung gebräuchlich, ist als Krebsschaden zu bezeichnen, durch welchen die Gememde-
Genosscnschafts- und Kleinbesitzwälder arg geschädigt werden.
Die Wälder Böhmens erfreuten sich nicht immer einer ungestörten Entwicklung;
Elementar- und Jnsectenschäden bedrohten sie wiederholt, so namentlich die
Stürme der Jahre 1868 und 1870 mit dem darauffolgenden Borkenkäferfraß, welche
solche Verheerungen anrichteten, daß ihnen an 6'5 Millionen Festmeter Holz rm Werthe
von 16 bis 18 Millionen Gulden ö. W. zum Opfer fielen. Schneebruchschäden, welche
zumeist die Kiefernwälder gefährden, kommen im Gebirge fast alljährlich vor, doch die
kolossalen Schneebruchschäden der Jahre 1868 und 1876, die, über das ganze Land
verbreitet, viele hoffnungsvolle Stangenhölzer vernichteten und große Lücken in die
Wälder gerissen haben, werden den böhmischen Forstwirthen lange noch m bösem
Angedenken bleiben. In letzterer Zeit hat der Kiefernspinnerfraß in den Forsten Nord -
böhmens gewüthet und soeben gefährdet die Invasion der Nonnenraupe die Forste
des ganzen Landes Doch ist ersterer bereits als überwunden zu bezeichnen und dürfte es
den rechtzeitig getroffenen und energisch betriebenen Vertilgungsmaßregeln gelingen, auch
den Nonnenfraß zu beseitigen, ehe große Verwüstungen eintreten.
Innig verwebt und verbunden mit der Forstwirthschaft des Königreiches Böhmen
ist das Entstehen und die Thätigkeit des böhmischen Forstvereines. Im Jahre 1848
von mehreren hervorragenden böhmischen Forstwirthen gegründet, zählt derselbe jetzt
1565 Mitglieder. Dem mächtigen Einflüsse, sowie der unermüdlich rastlosen Thätigkeit des
nun 22 Jahre das Präsidium des Vereines führenden Fürsten Karl zu Schwarzenberg,
dieses ersten Gönners und Förderers der Forstwirthschaft Böhmens, hat der Verein
519
seinen großen Aufschwung zu verdanken. In den alljährlich stattfindenden, mit Exkursionen
in die hervorragendsten Forste des Landes verbundenen, von zahlreichen Delegirten der
Fachvereine Österreichs und des Auslandes besuchten Versammlungen, welchen stets
Hunderte von Teilnehmern anwohnen, werden alle forstlichen Fragen eingehend
besprochen und die Ergebnisse in einer tüchtig redigirten Vereinsschrift neben zahlreichen
wissenschaftlichen Aufsätzen weiteren Kreisen mitgetheilt.
Erfrischung während der Jagd.
Die Gründung der Forstlehranstalt in Weißwasser, die Theilnahme an der
Zustandebringung des österreichischen Forstgesetzes, der Entwurf eines neuen Forst -
gesetzes, die Einführung und Begründung der forstlichen Landesversuchsstelle, die hervor -
ragende Betheiligung an den Forstcongressen, überhaupt das rastlose und erfolgreiche
Eingreifen in alle die Forstwirtschaft berührende Zweige der Volkswirthschaft beweisen
eine Thätigkeit des Vereines, welche nicht genug anerkannt werden kann und die
insbesondere das Gedeihen und Aufblühen der Forstwirthschaft Böhmens stets werkthätig
unterstützt.
Für den forstlichen Unterricht sorgen zwei Lehranstalten, und zwar die Forst -
lehranstalt in Weißwasser (Belä) und die Waldbauschule in Pisek. Die Forstlehranstalt
520
in Weißwasser wurde über Antrag des Obcrforstmeisters Johann Heyrowsky und Ober -
forstmeisters Johann Nußbaumer im Jahre 1855 vom böhmischen Forstverein gegründet
und bis znm Jahre 1862 von demselben aus Beiträgen desLandesfondes, der Waldbesitzer,
der Forstbeamten, sowie zahlreicher Gönner erhalten. Im Jahre 1862 constituirte sich
unter dem Präsidium des Grafen Ernst Waldstein, der das Schloß Weißwasser, den
dasselbe umgebenden Park sammt dem botanischen Garten und ein ausgedehntes Revier
der Anstalt, wie früher, auch weiterhin unentgeltlich zur Verfügung stellte, ein Forstschul-
verein, welchem auch der böhmische Forstverein als gründendes Mitglied beitrat, und
übernahm die Erhaltung der Lehranstalt. An dieser Fachschule, welcher seit 25 Jahren
der Oberforstrath Ferdinand Ritter von Fiscali als Director und erster Lehrer der
Forstwissenschaft vorsteht, crtheilen außerdem vier Fachprofessoren und ein Assistent den
Unterricht. Lehrmittelsammlungen, wie sich solcher selten eine Lehranstalt erfreut, Baum -
schulen und ein großer Lehrforst unterstützen den theoretischen Lehrgang. Seit dem
Jahre 1857 haben 1177 junge Forstleute an dieser Lehranstalt ihre forstliche Ausbildung
erhalten, von denen viele hervorragende leitende Posten in Österreich und im Ausland
bekleiden.
Die Waldbauschnle in Pisek, im Jahre 1884 vom Cnratorium der dortigen Acker -
banschule mittelst Eröffnung eines forstlich-praktischen Lehrcurses ins Leben gerufen, jetzt
in der Art anderer Waldbau- und Försterschulen organisirt, bildet jährlich dreißig bis
vierzig Zöglinge für den Forstschutz und praktischen Hilfsdienst heran, sorgt somit für
Forstorgane, die ans Grund ihrer Vorbildung berufen sind, die wirthschaftsführenden
Forstbeamten zu unterstütze».
Die Jagd hängt in Böhmen mit der Forstwirthschaft eng zusammen, denn der
böhmische Wald ist belebt, belebt mit Wild, reich nach Zahl und Art; der belebte Wald
ist das wahre Heim des böhmischen Forstwirthes, der, ohne Ausnahme Jäger mit Leib
und Seele, nicht nur den Forst hegt und pflegt, sondern mit diesem auch seine darin
lebenden Schützlinge. Auch Feld und Flur des Königreiches Böhmen sind reich belebt mit
Wild, so den besten Beweis liefernd, daß die Jagd neben hochentwickelter Land- und
Forstwirthschaft friedlich bestehen kann.
Trotz der Umwälzungen des Jagdrechtes seit dem Jahre 1848 hat sich der Wildstand
Böhmens nicht vermindert, er ist vielmehr seither ein bedeutend besserer geworden. Edel-
wildstände im Freien, wie sich besserer gewiß kein auf gleicher Culturstufe stehendes Land
erfreuen kann, findet man sowohl im Gebirge als ans dem flachen Lande. In zahlreichen
Thiergärten wird, wo der freie Stand unzulässig, diese Wildgattung nebst Damm- und
Schwarzwild gehegt. Das schlanke Reh, über das ganze Land verbreitet, belebt die Wälder,
ja, wo es besonders gehegt wird, jede An und jedes Gebüsch. Der Auerhahn ist hier nicht
522
ausschließlich ein Bewohner des Gebirges; man findet ihn auch im Flachlande, oft ganz
in der Nähe der Städte. Auch der Rackelhahn, dieser mysteriöse Geselle, taucht hier und da
auf, und kann sich Böhmen rühmen, daß Seine kaiserliche Hoheit der unvergeßliche Herr
Erzherzog Kronprinz Rudolf am 3. April 1877 im Revier Borkovitz bei Wittingau seinen
ersten Rackelhahn erlegte. Der Fasan Böhmens, seit jeher weltbekannt, wird in Fasan -
gärten, noch mehr aber im Freien gehegt und hat sich so vermehrt, daß im Jahre 1889
bereits 60.210 Stuck erlegt wurden.
Wir können in dem Rahmen dieser Schilderung nicht alle Niederwildgattungen
aufzählen, die in Böhmen geradezu massenhaft Vorkommen. Ungezählte Mengen von
Hasen, Kaninchen und Rebhühnern werden alljährlich erlegt und Wildgänse, Enten der
verschiedensten Art und all das bunte Wasser- und Sumpfgeflügel, welches die Teiche
besonders des südböhmischen Teichplateau's bevölkert, entzücken und beschäftigen nicht nur
den Jäger, sondern auch den Naturforscher.
Ein vollkommenes Bild der Jagdzoologie des böhmischen Wildes bietet das Jagd -
schloß Vohrad bei Frauenberg, welches als Forst- und Jagdmnseum adaptirt nebst der
berühmten Jagdbildersammlung des Malers Johann Georg von Hamilton, der hier viele
seiner Studien machte, nebst zahlreichen Jagdtrophäen aus vergangener Zeit eine voll -
kommene Sammlung aller jagdbaren Thiere Böhmens enthält. Auch der letzte Bär des
Böhmerwaldes, erlegt im Jahre 1856 in Salnau, und der letzte Wolf Böhmens, der im
Jahre 1874 auf der Domäne Winterberg geschossen wurde, haben hier Platz gefunden.
Das ganze Jahr hindurch findet in Böhmen der echte Jäger und Waidmann
reichliche Gelegenheit, das Waidwerk zu üben. Im tiefen Winter verfolgt er die
Schädlinge der Jagd und Fischerei, Fuchs, Fischotter, Marder und Iltis auf im
Schnee gedrückter Spur, nebstdem die Schaar der geflügelten Schmarotzer. Kaum
daß die Frühlingssonne den Schnee zu schmelzen begonnen, erklingt der Balzlaut des
Auerhahns und das Gekoller des Birkhahns im Flachlande, welchen nach und nach ihre
Genossen im Gebirge folgen, so daß die Balzjagd bis Ende Mai anhält. Es folgt sodann
die Pürsch auf den Rehbock, bis die Schaar der Enten, flügge geworden, den Jäger auf
die Teiche lockt.
Mit dem 1. August ist gesetzlich die Jagd auf alles nützliche Wild eröffnet; es folgt
die Jagd und Pürsch auf den Feisthirsch und auf dem Felde werden die zahlreichen Reb -
hühnerketten beschossen, bis den Jäger der Brunftschrei des Hirsches wieder dem Walde
zuführt.
Die Jagdsaison erreicht jedoch erst in den Monaten October und November ihren
Höhepunkt. Die Jagdherren, kein Vergnügen höher achtend als das edle Waidwerk,
versammeln sich mit ihren Gästen ans den mit Jagdtrophäen geschmückten Schlössern
523
Wiener Abendpost 1891, Nr. 04.
oder im einfach schmucken, tief im dunklen Walde erbauten Jagdhause, um des Jagens
Lust zu genießen. In ununterbrochener Reihe folgt Tag auf Tag Jagd auf Jagd, hier
nach Tausenden zählende Strecken von Hasen, Kaninchen, Fasanen, Rebhühnern und
Rehen liefernd, dort dem Abschuß von Hoch-, Dam- und Schwarzwild gewidmet.
Stolz und Wehmuth erfüllt noch heute das Herz jedes böhmischen Waidmanns bei der
Erinnerung an jene Zeit, als weiland Kronprinz Rudolf in Böhmen sich aufhielt und die
großen Jagden durch seine Anwesenheit verherrlichte, als alle Jagdherren ohne Unterschied
des Standes im edlen Wettstreit dahin strebten, dem hohen Gast ein wahrhaft fürstliches
Jagdvergnügen zu bereiten.
Die Ausbeute des im Jahre 1890 im Königreich Böhmen erlegten Wildes betrug:
2348 Stück Edelwild, 1758 Stück Damwild, 1l.048 Rehe, 587 Wildschweine,
521.559 Hasen, 27.656 Kaninchen, 1093 Auerhühner, 5097 Birkhühner, 682 Hasel -
hühner, 52.184 Fasanen, 528.117 Rebhühner, 10.289 Wachteln, 3.622 Waldschnepfen,
1.428 Moosschnepfen, 369 Wildgänse, 13.726 Wildenten, 2.423 Füchse, 2.481 Marder,
12.397 Iltisse, 291 Fischotter, 208 Dachse, 77 Uhus und 41.572 diverse Raubvögel,
demnach zusammen 1,241.012 Stück mit dem amtlich veranschlagten Minimalwerthe von
1,143.341 Gulden, woraus per 1 Quadratkilometer der Landesfläche ein Brutto-Erlös
von 22 Gulden resultirt.
Bergbau und Lfüttenwesen.
„Man kann sehen" — sagt eine im Jahre 1712 in Druck erschienene topographische
Schilderung — „daß Böhmen ein Kasten der Reichthümer, ein Keller und eine Küche der
„Nahrung, ein Behälter der Fischerei, ein Thiergarten der Jägerei, eine Scheuer der
„benachbarten Länder, ein Paradies der Könige und Kaiser sein könnte/"
Die Bezeichnung Böhmens als „Kasten der Reichthümer" bezieht sich, wie kaum
bemerkt zu werden braucht, auf die Menge und die Mannigfaltigkeit der „nutzbaren
Mineralien", mit welchen das Land von der Natur gesegnet ist. Ringsum von
Urgebirgen umgeben, welche als Böhmerwald und Erzgebirge, Riesengebirge und
böhmisch-mährisches Hochplateau mit ihren höchsten Kämmen fast durchgehends die
Landesgrenzen und zumeist die europäische Wasserscheide bilden, stellt sich Böhmen als
ein großartiges Urgebirgs-Becken dar, in welchem durch alle geologischen Zeitalter die
mannigfaltigsten Gesteinsbildungen vor sich gegangen sind. In denselben treten theils
als spaltenfüllende Gänge oder mächtige Stöcke, theils als abgelagerte (geschichtete)
524
Mineralmassen diejenigen nntzbaren Lagerstätten aust welche die verschiedensten Metall -
erze und die fossilen Brennstoffe Böhmens in Hülle und Fülle beherbergen. Mit
Ausnahme des Steinsalzes wird in der ganzen Monarchie kaum ein nenneuswerthe»
nutzbares Mineral gewonnen, welches nicht auch in Böhmen oder m Böhmen allein,
und zwar zumeist in ausgiebigster Menge vorhanden wäre. Von den bergmännisch
wichtigen geologischen Formationen fehlt in Böhmen der Hauptsache nach eben nur die
salzführende Trias.
Die Gewinnung der Metallerze durch bergbauliche Thätigkeit datirt in Böhmen
aus uralter, zum Theile aus vorhistorischer Zeit. Seit dem letzten Viertel des ersten
Jahrtausends n. Chr. ist das Bestehen des böhmischen Bergbaues historisch außer Zweifel
gestellt; im XIII- und XlV. Jahrhundert hat derselbe seine erste Glanzperiode durch -
gemacht. Die Husitenkriege und der dreißigjährige Krieg haben den böhmischen Bergbau
empfindlich geschädigt; von dem letzteren verhängnißvollen Kriege erst nach zwechundert-
jährigem Darniederliegen erholte sich der Bergbau Böhmens zumeist an andern Orten
wieder, behauptet bis in die gegenwärtige Zeit eine hervorragende Stelle in der Mineral-
und Metallproduction Europa's und ist ihm auch in Zukunft eine würdige Aufgabe für
die Civilisatiou gesichert.
Im Nachfolgenden soll der durch seine Größe, noch mehr aber durch seine Mannig -
faltigkeit ausgezeichnete Bergbau mit dem zugehörigen Hüttenwesen in Böhmen, nach den
Gegenständen der bergbaulichen Thätigkeit geordnet, innerhalb der durch den Plan
dieses Werkes gezogenen Schranken dargestellt werden.
Das Gold. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß dieses edelste Metall in Böhmen
ehemals in großer Menge gewonnen wurde. Die historisch verbürgten Nachrichten über die
Goldgewinnung sind allerdings sehr spärlich. Abgesehen von den traditionellen Nachrichten
des Chronisten Hajek von Libocan, welcher von fabelhaften Mengen gewonnenen Goldes
bereits im VlI. und VIII. Jahrhundert spricht, zeugen von dem ehemaligen Goldreichthum
Böhmens auch heute uoch die umfangreichen Überreste der alten Goldwäschereien, die
Goldseifen. Da das Gold in der Natur vorwiegend und in Böhmen ausschließlich
als gediegenes (nicht vererztes) Metall sich vorfindet, nicht verwittert und außerdem
ein sehr großes specifisches Gewicht besitzt, so wurde durch die Verwitterung der gold -
führenden Gesteine (in Böhmen vorzugsweise jener des Böhmerwaldes und des böhmisch -
mährischen Hochplateau's) das Gold in Körnern frei; es lagerte sich vermöge seiner
relativen Schwere bei Regengüssen und Überschwemmungen au den Ufern der Bäche und
Flüsse als „Goldsand" (das heißt Goldkörner enthaltender Sand) ab, welcher im Laufe
vieler Jahrtausende eine Ausspeicherung des Goldes an den höhergelegenen Theilen der
betreffenden Wasserläufe bewirkte, während der übrige (taube) Gesteinsand weiterhin
525
fortgeschwemmt wurde. So entstanden an den Zuflüssen der „gold- und perlenreichen"
Otava, sowie an jenen der Sazava und Luznitz (anderer dergleichen nicht zu gedenken)
jene ungemein ausgedehnten Goldanhäufungen, welche späterhin von den Einwohnern
fertig vorgefunden und mit fieberhafter Gier durch einen einfachen Waschproceß ausgebeutet
wurden. Die Reste dieser Goldgewinnungsarbeiten finden sich eben noch heute in den
Goldseifen-Hügeln, welche in Böhmen (namentlich in der südlichen Hälfte des Landes)
sehr ausgedehnte Systeme bilden, obwohl sehr viele davon durch den Ackerbau u. s. w.
bereits eingeebnet wurden.
An mehreren Orten Böhmens wurde indeß das Gold auch aus seinen ursprünglichen
(primären) Lagerstätten gewonnen, obwohl auch diesfalls der eigentlichen bergmännischen
Gewinnung die Goldwäscherei voranging. Die altberühmte Goldbergstadt Eule, böhmisch
lilovo, verdankt ihren Namen dem ursprünglich daselbst bestandenen Goldwäschen
(— jjlovnti; ZüovnL" ist die uralte Bezeichnung des Goldwäschers). Frühzeitig
wurde jedoch hier auch mit der eigentlichen bergmännischen Goldgewinnung begonnen.
Unter den dortigen in Urschiefern und Porphyren neben Granit streichenden Goldgängen
spielt der „Schleiergang" (mit der Sage von dem versetzten Brautschleier, welcher zu
der Entdeckung großer Reichthümer seitens des Gewerken Rothlöw führte) eine Haupt -
rolle. Die Ergebnisse dieses Goldbergbanes sollen durch Jahrhunderte, namentlich aber
im XIII. und XIV. Jahrhundert geradezu fabelhaft gewesen sein. Von Kaiser Karl IV.
wurde hier auch eine Münzstätte errichtet. In den bald daraus folgenden Husitenkriegen
wurde dieser gesegnete Bergbau angeblich nahezu ganz zerstört und gingen dabei auch
alle Bergwerksurkunden zu Grunde. Eule erholte sich trotz aller Anstrengungen der darauf -
folgenden Jahrhunderte (auch solcher des Ärars) nicht vollständig wieder. Gediegen Gold
kann man indeß in den dortigen Gruben, welche noch immer einer Wiederbelebung harren,
auch heute sehen.
Als zweite alte Goldbergstadt ist Bergreichenstein, böhmisch .LnSpersda Hor^",
in den Vorbergen des Böhmerwaldes zu bezeichnen. Diese Stadt soll aus einer Ansiedlnng
von Goldwäschern im XI. Jahrhunderte entstanden und bereits vor den Zeiten Karls IV.
durch den Goldbergbau reich geworden sein, welcher weiterhin auch durch zahlreiche Stollen
und Schachte betrieben wurde, bis zum XVI. Jahrhundert sehr ergiebig war, durch den
dreißigjährigen Krieg jedoch zum Erliegen kam.
Von den übrigen Goldbergbauen ist noch jener bei der Bergstadt Knln (östlich von
Dobris), welcher jedoch blos bis zum XVI. Jahrhundert fortdauerte, dann der Bergbau
am „goldenen Rehhorn" bei der Bergstadt Freiheit am Fuße des Riesengebirges, welcher
ein ähnliches Schicksal hatte, endlich der alte Goldbergbau bei Böhmisch-Schönberg
(Lrnsnn dorn) zu erwähnen, welcher im XV. und XVI. Jahrhundert das gewonnene
526
Wasch- und Berggold in der Bergstedt Kntn einlöste und in neuester Zeit zunächst von
einem Gewerken, sodann von zwei Gesellschaften wieder ausgenommen wurde. Die beiden
Baue werden mittelst Stollen und Schachtbetriebes auf Erzgängen geführt, welche in
Granit streichend außer gediegenem Gold auch Antimonerze enthalten und bis etwa
90 Meter Tiefe stellenweise alte Verhaue zeigen. Es ist dies gegenwärtig die einzige, vor
der Hand allerdings bescheidene Goldgewinnung in Böhmen.
Das Silber. Rücksichtlich der Silberproduction nimmt Böhmen nicht blos in der
Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart einen hervorragenden Platz ein; es steht
hierin in Österreich bei weitem obenan und ist relativ auch eines der silberreichsten Länder
der ganzen Welt. Von den böhmischen Urgebirgen erweist sich als silbererzführend zunächst
das böhmisch-mährische Hochplateau, also der südöstliche Theil des Landes, in einem
ganzen Zug von Jglau bis Kuttenberg und auf einzelnen südlichen Punkten; dann das
auch an sonstigen Erzen überaus reiche Erzgebirge; außerdem participirt an dem Silber -
reichthum in hohem Maße das böhmische Silur in seinen untersten Schichten (nach
neuester Anschauung dem Cambrium angehörig) im Bereiche des Brdywaldes (Pribram).
Der älteste Silberbergbau ist jener von Mies aus dem Jahre 1188 (XrAoirtarla 8npor
Nsaa, böhmisch Ltribro); darauf folgt Jglau (seit 1249) mit seinem auf böhmischem
Boden gelegenen Bergbau und mit dem ersten niedergeschriebenen Bergrecht; sodann
Deutsch-Brod (seit 1257), hierauf endlich Kuttenberg.
Unter den Silberbergbauen der Vergangenheit nimmt Kuttenberg (Xutirü Hora)
die hervorragendste Stelle ein. Der Sage nach soll die zufällige Entdeckung der
Kuttenbergcr Silbererze durch einen Mönch aus dem nahen Kloster Sedlec auf den
Grundstücken des Klosters um die Mitte des XIII. Jahrhunderts erfolgt sein. Zu
Premysl Ottokars II. Zeiten wurde der Silberbergbau „des Kuttenberges" schon lebhaft
betrieben. Zu Ende des XIII. Jahrhunderts erbaute Wenzel II,, welcher in seiner
Bergwerksordnung vom Jahre 1300 das Silberbergwerk als ein, den Königen von
Böhmen vom Anbeginn der Welt durch Gottes Fügung vorbehaltenes Geschenk preiset,
daselbst eine Art Burg, welche er als zeitweiligen Wohnsitz benützte, hauptsächlich aber
als Münzgebände einrichtete und aus Florenz berufenen Münzmeistern zur Verfügung
stellte, aus welchem Grunde das noch bestehende Gebäude der „Wälsche Hof" (Vlassüy
ävür) benannt wurde. Hier wurden zunächst die bekannten Prager Groschen, eine damals
neue und sehr schöne Münze, geprägt. In das XIV. Jahrhundert fällt die Periode der
höchsten Blüte Kuttenbergs, insbesondere unter Johann von Luxemburg, Karl IV. und
Wenzel IV. Aus dieser Periode stammen die Prachtbauten, namentlich herrliche Kirchen,
welche aus dem reichen Ertrage des Bergbaues von heimischen Meistern erbaut wurden.
Küttenberg galt damals als die zweite Hauptstadt des Landes und erfreute sich der
Darstellung des Kuttenherger Bergwerksbetriebes aus dem XV. Jahrhundert.
unbeschränkten Gunst der böhmischen Könige. Der erzielte Wohlstand hatte naturgemäß auch
einen gewissen Übermuth der Kuttenberger (großentheils aus Deutschland zugewanderter)
Bergleute zur Folge, welcher sich bei verschiedenen Anlässen, hauptsächlich aber bei dem
528
Ausbruch der husitischen Unruhen betätigte. Die Kuttenberger waren ursprungll )
graße Feinde der Husiten, von denen viele in den Schachten ihren Tod gefunden haben
sollen. Als sich m der Folge die Husiten Kuttenbergs bemächtigten, vergalten sie den
Bergleuten Gleiches mit Gleichem; viele angesehene Bergleute fanden entweder den Tod
oder aber sahen sich (falls sie znm Husitismus nicht übertreten wollten) zur Aus -
wanderung gezwungen. Leider erlitten bei diesem Wechsel auch die Knttenberger Berg -
werke einen nie wieder völlig behobenen Schaden. Dazu kam, daß sich bereits bei
Ausbruch der Husitenkriege der Kuttenberger Bergbau in ansehnlichen Tiefen bewegte
und bei den damaligen sehr unvollkommenen technischen Mitteln nurmehr schwierig und
mit großen Unkosten zu bewältigen war.
Der berühmte Montan-Historiograph Kaspar Graf Sternberg berechnete die
gesammte Silber-Production Kuttenbergs in dem Zeiträume von 1240 bis 1620, also m
380 Jahren auf mehr als acht Millionen Mark; es entfiele somit auf ein Jahr
durchschnittlich mehr als 21.000 Mark. Nun wurden im XVI. Jahrhundert nurmehr etwa
13.000 Mark Silber jährlich gewonnen, woraus zu schließen ist, daß die Production
Kuttenbergs in der Blütezeit selbst bei der nüchternsten Benrtheilung sehr hoch angeschlagen
werden muß. .
Der Kuttenberger Bergbau erstreckte sich in dem dortigen Urgebirge (Gneis) auf em
ausgedehntes System von Erzgängen oder Gangzügen in der Länge (von Nord nach Sud)
von etwa fünf Kilometer und in der Breite (von Ost nach West) von etwa vier Kilometer,
das ist etwa 20 Quadrat-Kilometer bergmännisch bebauter Fläche, welche um die i-tadt
Kuttenberg mit dem nördlich benachbarten Bergorte, Gang genannt, vertheilt ist. Un -
geheuere Mengen von dicht angeordneten Halden, deren jede einem ehemaligen Schacht
entspricht, machen die einzelnen Gangzüge auch heute noch kenntlich und zeugen von
großartiger hier geleisteter menschlicher Arbeit. Die von den Alten in Kuttenberg erreichte
Tiefe wird glaubwürdig auf etwa 600 Meter (vertical gemessen) angeschlagen; für die
damaligen höchst mangelhaften technischen Hilfsmittel ist diese Tiefe geradezu erstaunlich !
Auch die Reste des alten Hüttenbetriebes, zahlreiche Schlackenhalden an drei stellen (stet--
am Bach) sind noch heute wahrzunehmen.
Durch den dreißigjährigen Krieg wurde der alte Bergbau von Kuttenberg nahezu
vernichtet, denn Alles, was seither daselbst unternommen wurde, war nur machtloser
Versuch ohne sichtlichen Erfolg. In der neuesten Zeit hat es der Staat unternommen, der
öffentlichen Meinung, welche in Kuttenbergs Tiefen verlassene und nicht erschlossene
Schätze erhofft, Rechnung zu tragen, und betreibt an entsprechend gewählten Punkten
drei Schachte, von welchen ans das ganze Terrain in der Tiefe ausgiebig untersucht
werden wird.
529
Die altehrwürdige Bergstadt Joachimsthal bildet seit jeher den Hauptpunkt
eines Montanbezirkes, welcher an 75 Quadrat-Kilometer einnehmend im Westen den
Bergbau von Abertham, im Osten jenen von Dürenberg, im Nordosten Gottesgab umfaßt
und bezüglich der Erzführung gewissermaßen das Herz und die Pulsader des reich
gesegneten Erzgebirges allezeit gebildet hat und den geänderten Zeitverhältnissen ent -
sprechend auch heute noch bildet.
Speciell in und um Joachimsthal lagern Urgebirgsschiefer, vorwaltend Glimmer -
schiefer, welche vermöge ihres typischen Charakters, vornehmlich ihres feinen Kornes
Joachimsthaler Schiefer ge -
nannt werden. Diese Schiefer
werden von mächtigen Por -
phyrgängen, sowie von
Basalten durchsetzt. Durch
diese gemischten Gesteins -
bildungen streichen zahlreiche
Erzgänge theils in der
Richtung von Nord nach Süd
(Mitternachtgänge), theils
von Ost nach West (Morgen -
gänge). Diese Erzgänge
zeichnen sich noch mehr als
die Erzgebirgslagerstätten im
Allgemeinen durch eine über -
aus große Mannigfaltigkeit
Siegel der Bergstadt Joachimsthal vom Jahre 1545. darin V0rkoMMendeN
Mineralien und Metallerze
aus; von letzteren sind insbesondere Silber, Kupfer, Kobalt, Nickel, Arsen und Wismuth
zu nennen. Eine Hauptrolle spielt aber neben Silber das Uranerz, welches namentlich in
neuerer Zeit zu prachtvollen Uranfarben aller Nüancen für Glas- und Porzellan-Malerei
chemisch verarbeitet wird. Von den beiden angegebenen Joachimsthaler Gangsystemen
waren seit jeher insbesondere die Mitternachtgänge die erzführenden; die Ausbisse derselben
sind zumeist durch sehr zahlreiche uralte Halden markirt, welche von der ehemaligen berg -
männischen Thätigkeit vom Tage aus Zeugenschaft ablegen. Insbesondere deutlich spricht
nach dieser Richtung der Ausbiß des Schweizerganges.
In der Gegend von Joachimsthal wurde bereits im XV. Jahrhundert Silber
gewonnen; im XVI. Jahrhundert nahmen die Grafen Schlick den Bergbau in die Hand
Böhmen 34
530
und gründeten 1518 in der inzwischen entstandenen Bergstadt eine Münzstätte, in welcher
die ersten „Joachimsthaler", später schlechtweg „Thaler" genannt, geprägt wurden.
Um 1526 sollen in Joachimsthal und Umgebung an 8000 Arbeiter beschäftigt gewesen
sein. Im Jahre 1545 ging der gesammte Bergbau an die Krone über, ^zoachimsthal
wurde von Ferdinand I. zur königlichen Bergstadt erhoben und erhielt 1548 die bekannte
„Joachimsthaler Bergordnung", welche später auch in anderen Bergorten eingeführt
wurde. Zu dieser Zeit wurden in Joachimsthal jährlich mindestens 27.000 Mark Silber
erzeugt und betrug der jährliche Reinertrag 43.000 Thaler (in der früheren Schlick'schen
Periode noch mehr). Später begann die Production zu sinken, hauptsächlich wurde aber
der Bergbau durch den dreißigjährigen Krieg geschädigt, so daß 1651 die Joachimsthaler
Münze aufgehoben und nach Prag übertragen wurde. Im XVII. und XVIII. Jahr -
hundert wurden jährlich nur mehr ungefähr 3.000 Mark Silber erzeugt, in der ersten
Hälfte des XIX. Jahrhunderts aber mit 500 bis 600 Bergarbeitern kaum 1000 Mark.
Neben den angegebenen Silberquantitäten wurden, indeß, wie erwähnt, auch andere
Metallerze gewonnen. Die Verschmelzung der Erze geschah seit jeher in eigenen, schon
von den Grafen Schlick angelegten Metallhütten, von denen seit dem XVII. Jahrhundert
nur eine einzige bestand. Diese wurde in den Jahren 1853 bis 1858 allmälig auf die
Erzeugung der bereits erwähnten Uranfarben eingerichtet, die seither sehr gering gewordene
Silbererz-Erzeugung wird aber in die Pribramer Silberhütte abgeführt, während ander -
weitige Metallerze zu Freiberg in Sachsen eingelöst werden. Gegenwärtig sind bei dem
Joachimsthaler Bergbau in zwei Grubenabtheilungen nur 240 Arbeiter beschäftigt.
In der Nachbarschaft von Joachimsthal untersucht das Ärar durch seine Joachims -
thaler Bergverwaltung das Terrain von Dürenberg, wo mehrere hoffnungsvolle Uran-,
Kobalt- und Silber-Erzgänge durch einen Stollenbau angefahren worden sind. Unmittelbar
an Joachimsthal und Dürenberg angrenzend, arbeitet eine Privat-Gewerkschaft, „Sächsisch
Edelleutstollen" und „Hilfe Gottes-Zeche", auf einem Gangsystem, wovon hauptsächlich
der „Zeidler"-Gang eine ansehnlichere Menge Uranerze und etwas Silbererz liefert.
Über der ältesten Geschichte des Pribramer Bergbaues schwebt tiefes Dunkel.
Der Chronist Häjek von Libocan legt bereits der Fürstin Libusa eine glänzende Prophe-
zeihung über den Reichthnm des „Birkenberges" unter dem Berge „Trebusua" in den
Mund und knüpft daran die dem Volke ebenso wohlbekannte als gern geglaubte Horymir-
Sage. Sichere historische Kunde besitzen wir aber aus den ersten Jahrzehnten des
XIV. Jahrhunderts.
Nach dem ältesten vorhandenen Bergbuche haben in Pribrams Umgebung vor dem
Jahre 1527 bereits 33 Grubenbaue (Zechen) bestanden, welche auf dem ganzen heute
wohl durchforschten Erzterrain zerstreut waren, und zwar sowohl auf dem erzergiebigeu,
532
wie ans dem au Silber armen, blos Eisenerz führenden Terrain. Der sogenannte „eiserne
Hut" ist den Alten wohl der Leiter gewesen, welcher gerade dort, wo er am deutlichsten
war, zu wenigem oder keinem Silbererze führte. Vom Jahre 1530 besitzt die Pribram-
Birkenberger Bergknappschast als Geschenk Kaiser Ferdinands I- ein silbernes Ziegel mit
böhmischer Inschrift. Nach einer Münzamtsrechnung aus den Jahren 1536 bis 1538
wurde damals die Silberabfuhr von Pribram jährlich mit 1400 Mark angenommen. Im
Jahre 1551 wurden nicht weniger als 44 Zechen eingemuthet, doch zumeist wieder auf -
gegeben und andere ausgenommen; solcher Wechsel dauerte fort, derart, daß z. B. 1571
am Birkenberge (der späteren und gegenwärtigen ausgiebigsten Silberquelle) gar kein
Bergbau bestand. Vom Jahre 1553 bis 1566 nahm die Silberproduction von jährlich
600 Kilogramm allmälig bis auf Null ab, der Bergbau kam nahe zum Erliegen. Um
demselben auszuhelsen, erhielt die Stadt Pribram 15 e9 vom Kaiser Nndols II. ein
ausgedehntes Privilegium; infolge dessen wurde 1580 der Bergbau von der Pribramcr
Stadtgemeinde ausgenommen, aber trotz aller Begünstigungen mit wenig Energie und
geringem Erfolg fortbetrieben, bis endlich im Jahre 1779 der Adalbertschacht als erster
Hauptschacht angelegt wurde. Man war nämlich schon lange zu der Erkenntniß gekommen,
daß am Birkenberge (abweichend von anderen Bergbauen) der eigentliche Adel erst in
größerer Tiefe beginne und hoffentlich auch anhalte.
Vor dem Abteufen des Adalbertschachtes und der hiermit erfolgten Regeuerirung
des Bergbaues wurde eine Menge kleiner Gewerken, welche die erwachsenen Zubußen
nicht zahlen wollten, aus der Unternehmung eliminirt, und besaßen im Jahre 1780:
das k. k. Ärar 84, die Gemeinde Pribram 4, die brauberechtigten Bürger 2, die Gemeinde
Birkenberg Insassen von Dorf Lazec Vb, Wiener Gewerken 10, zusammen
lOO^/s Kuxe. 8^64 verfallene Kuxe der Wiener Gewerken wurden alsbald vom k. k. Ärar
übernommen.
Mit dem Abteufcn des Adalbertschachtes, also rund 1780, beginnt im Gegensatz
zu dem früheren roh empirischen Vorgehen eigentlich erst eine planmäßige, zielbewußte
bergmännische Untersuchung und Gewinnung der Erzgänge von Pribram-Birkenberg.
Sie entwickelte sich systematisch bis zu dem glänzenden Standpunkt, welchen der Pribramer
Bergbau um das Jahr 1870 erstieg.
Das Pribram-Birkenberger Erzrevier gehört dem Gebirge an, dessen Gesteine
specifisch als Pribramer Schiefer und Pribramer Grauwacke bezeichnet werden. Die
Schiefer werden nunmehr wegen ihrer discordanten Lagerung als vorsilurisch betrachtet
und der Huron-Formation beigezählt, während die Pribramcr Grauwacken als sogenannte
Tremosnaer Schichten (Sandsteine und Conglomerate) die untersten Glieder (Barrandes
Etage 8) der ebenso wichtigen als hochinteressanten böhmischen Silurmulde bilden (von
533
mehreren neueren Geologen jedoch dem Cambrium einverleibt werden). Die Schiefer
selbst erscheinen hier in zwei Zonen, wovon die erste südöstlich von Pribram unmittelbar
auf dem Urgebirge (hier Granit) anfrnht, die zweite aber auf der geologischen Karte
einen von Nordost nach Südwest gerichteten etwa 1'/» Kilometer breiten Streifen bildet.
Montanwerk in Pkibram: Arbeit in der Grube.
Zwischen diesen beiden Schieferzonen verläuft (gleichfalls von Nordost nach Südwest) in
einer Lreite von etwa 3 Kilometer die sogenannte erste Grauwackenzone, welche neben den
unvermeidlichen Grünsteingüngen (Diabas) die vornehmlichsten Erzgänge beherbergt und
von der zweiten Schieferzone durch die sogenannte Lettenktuft geschieden ist, welche letztere
bei dem Pribramer Erzvorkommen eine wichtige Nolle spielt. Die Erzgänge streichen
534
durchschnittlich von Nord nach Süd hauptsächlich in der ersten Grauwackenzone, sind
namentlich in der Gegend von Birkenberg nahe der Lettenkluft vorwaltend und anhaltend
am reichsten und auch am zahlreichsten; sie streichen jedoch zum Theile auch weiter nördlich
jenseits der Lettenklust in der zweiten Schieferzone, nehmen aber daselbst (nm den
Lillschacht) einen ganz anderen Charakter, namentlich ein absätziges Verhalten an. Südlich
und südwestlich von Birkenberg, als dem Centrum des Pribramer Erzreviers, zeigen sich
zum Theile südliche Fortsetzungen der Birkenberger Erzgünge (bei Zdabor), weiterhin
südwestlich (über Segengottes bis Bohutin) andere Erzgänge, welche jedoch den Birken -
berger Gängen an Zahl und Adel bedeutend nachstehen.
Hiernach ist das Pribramer Erzrevier naturgemäß und auch bezüglich der Verwaltung
in drei verschiedene Grubenreviere geschieden, und zwar: 1. das Birkenberger Revier als
Hauptrevier, 2. das Lillschächter Grubeurevier als das Schieferrevier, 3. das Zdabor-
Bohutiner Grubenrevier als das südwestliche Grauwackenrevier.
Das Birkenberger Grubeurevier erstreckt sich unter einer Anhöhe (Birkenberg,
LrsLovü Hora, welcher auch dem Bergorte selbst den Namen gab) von rund 550 Meter
Meereshöhe bei einer Grundfläche von kaum einem Quadratkilometer gegenwärtig in eine
Tiefe von mehr als einem Kilometer, nämlich 1100 Meter, sodaß von dem Birkenberger
Grubenbau beiläufig die Hälfte unter dem Meeresniveau liegt L
Dieses Grubenrevier ist wegen seiner dichten unterirdischen Bevölkerung in zwei
Grubenabtheilungen, welche (wie auch die übrigen Grubenabtheilungen) nach den
betreffenden Hauptschachten benannt sind, geschieden, und zwar 1. in die Anna-Prokop-
Grubenabtheilung (mit den beiden Schachttiefen von 950 und 940 Meter) und 2. die
Adalbert-Maria-Grubenabtheilung (mit den beiden Schachttiefen von rund 1100 Meter);
ein dritter Hauptschacht dieser Abtheilung, Franz Joseph, hat die gleiche Tiefe. Die
beiden unter 2. und 3. genannten auswärtigen Grubenreviere bilden je eine, also
die 3. und 4. Grubenabtheilung für die Verwaltung. Die beiden Birkenberger Gruben -
abtheilungen zählen bis zu der Tiefe von 1000 Meter dreißig Horizonte oder
Läufe, von denen die oberen (älteren) eine kleinere und veränderliche, die Tief -
horizonte jedoch eine constante Tiefendifferenz von je 50 Meter besitzen, so daß den
Schächten Adalbert, Maria und Franz Joseph bereits auch ein 31. und 32. Lauf zukommt.
Die sämmtlichen vier Grubenabtheilungen arbeiten im Ganzen auf 42 verschiedenen
Erzgängen von sehr verschiedener Mächtigkeit und Adelsführung; die Gänge der beiden
Birkenberger Grubenabtheilungen sind die ausgiebigsten und halten dem Streichen nach
bis über 1000 Meter Länge im Adel an (der Adalbert-Hauptgang und Liegendgang
1 Die unter die Meeresfläche fallende Hälfte des Birkenberger Mariaschachtes ist am 31. Mai 1892 durch Zufall abge -
brannt, wobei 319 Menschenleben durch die Rauchgase zugrunde gingen.
536
nebst mehreren anderen selbst bis 1300 Meter). Das Haupterz ist silberhaltiger Bleiglanz,
obwohl in relativ geringeren Mengen auch gediegen Silber, Rothgiltigerz, Fahlerz,
Stefanit, Polybasit, Argentit, ferner oxydirte Bleierze u. a. m. vorgefnnden werden.
In den letzten Jahren spielen neben Bleierz auch Dürrerze (arm an Blei, doch hinreichend
silberhaltig) eine wichtige Nolle. Zinkblende ist beinahe stets der Begleiter der Erze,
außerdem Antimonit.
Zur Concentrirung der in den Gruben gewonnenen erzigen Massen (ans einen
dermaligen Durchschnittsgehalt der einzulösenden Erze von '/» Procent in Silber und
30 Procent in Blei) besteht bei einer jeden Grube eine Erzscheidestube, in welcher die
reichsten Erzstücke (Scheiderze) für die Schmelzhütte von Hand präparirt werden.
Außerdem ist für jede Grnbenabtheilung eine Aufbereitungsanlage vorhanden, welche
im Wesentlichen aus drei ausgedehnten, mit sehr zahlreichen und mannigfachen
Aufbereitungsmaschinen ausgestatteten Werkstätten besteht, und zwar aus einem Qnetsch-
werke zur Behandlung der grob eingesprengten erzigen Massen (Mittelerze); ans einem
Pochwerke (eventuell auch Mühlwerke) zur Bearbeitung des fein eingesprengten (ärmeren)
Fördergutes (Pochgänge, vulgo „nasse" Zeuge); endlich aus einem Waschwerke zur Auf -
bereitung des sogenannten Grubenkleins, als welches Alles zu bezeichnen ist, was von
den Abbau-Orten an kleinerem Korn einschließlich des daran haftenden Schmandes
entfällt. Die von den sämmtlichen Grubenabtheilungen zumeist durch die Vermittlung
des Aufbereitungswesens producirteu Erze werden an die Pribramer Schmelzhütte,
2'/? Kilometer unterhalb Birkenberg an der Lltavka gelegen, abgeführt. Diese Hütten -
anlage bildet ein großartiges concentrirtes Etablissement, welches mit dem Bahnhof
Pribram durch eine normalspurige Flügelbahn verbunden ist.
Die Erze gelangen zur Hütte in Graupen oder in Mehlform (als sogenannte
Schlieche); die Erzgraupen werden zunächst (mittelst Kollermühlen) fein zerkleinert,
sodann mit den Schliechen gemengt und in Fortschauflungsöfen geröstet. Die Erzmischung
enthält neben den bereits erwähnten 30 Procent Blei und V» Procent Silber auch noch
5Vs Procent Zink und nicht ganz 1 Procent Antimon. Die gerösteten Erze werden mit
den erforderlichen Zuschlägen (Kalkstein nebst Eisen) und bleiischen Zwischenproducten
in einem besonderen Gebäude (Beschickungshaus) gemengt und sodann in acht Hochöfen
(modernen Nundöfen) mit Coaks und Holzkohle auf Werkblei verschmolzen, welches
außer Silber auch Antimon enthält. Dem Werkblei wird zunächst mittelst des Pattin-
sonirens ein ansehnlicher Theil reines Blei (Krystallisirblei) entzogen; das hiermit
auf etwa ein Procent Silber angereicherte Blei — Reichblei — gelangt zum Abtreiben,
als welches die Trennung des Bleies von dem Silber bezeichnet wird, — für den
Laien der interessanteste (mit dem sogenannten „Silberblick" endigende) Proceß.
538
In der großen Treibhütte bestehen zehn geschlossene Treibherde. In einem solchen
Herde größerer Art werden bis 24 Tonnen Reichblei eingeschmolzen und nahe durch drei
Tage unter Luftzutritt behandelt. Das durch die Luft oxydirte Blei tritt als Bleiglätte
stets auf die Oberfläche des Schmelzbades und bildet eine Schicht, welche vorsichtig
immer wieder abgestrichen wird, während das Silber (weil nicht oxydirbar) beharrlich
im Bade verbleibt; so geht allmälig beinahe das gesammte Blei als Glätte ab, bis endlich
der letzte Antheil des Bleies eine dünne Schicht von Glätte an der Oberfläche des
glühenden Bades bildet, welche sich schließlich entzweitheilt und den reinen Silberspiegel
erscheinen läßt — das Silber blickt.
In Betreff der Production und der Ertragfähigkeit des Pribramer Montanwerkes
in der letzten etwa hundertjährigen Periode seiner eigentlichen Entwicklung ist zu bemerken,
daß zunächst von 1780 bis 1820 die Silberproduction von rund 150 Kilogramm auf
circa 2.500 Kilogramm und der Ertrag von einer unbedeutenden Ziffer auf beiläufig
80.000 Gulden jährlich gestiegen ist. Weiterhin entwickelte sich bis in die Sechziger-
Jahre der Bergbau zu einer regelmäßigen Production von 15.000 Kilogramm Silber
bei einem in der Regel zwischen 200.000 und 300.000 Gulden jährlich (je nach den
außerordentlichen Erfordernissen) variirenden Ertrage. Mit Schluß der Sechziger-Jahre,
in welchen beinahe die sämmtlichen Anlagen auf Dampfbetrieb eingerichtet wurden, begann
ein rapides Steigen sowohl der Production als auch des Ertrages; im Jahre 1875 erreichte
der Birkenberger Adalbert-Schacht die Tiefe von 1000 Meter; schon mit dem folgenden
Jahre 1876 wurde bei einer Production von 24.000 Kilogramm Silber der Reinertrag
ans rund eine Million Gulden hinaufgebracht, und damit diese enorme und abnorme
Ertragsziffer durch die nachfolgenden 13 Jahre (bis 1889) durchschnittlich aufrechterhalten
werde, mußte die Silberproduction endlich ans 100 Kilogramm täglich gesteigert werden.
In dem letzten Jahre (1891) wurden erzeugt (abgerundet): 36.000 Kilogramm
Silber, gegen 23.000 Metercentner Glätte (grün und roth), über 10.000 Metercentner
gewöhnliches Blei und über 3000 Metercentner Hartblei (antimonhaltiges Blei). Der
Gesammtwerth dieser (seit einigen Jahren nahe constantcn) Production beträgt (bei der
bisherigen Silbervergütuug mit 90 Gulden für ein Kilogramm) Z^/s Millionen Gulden,
der Reinertrag 600.000 Gulden (im Vorjahre rund 800.000 Gulden). Der Gesammt-
Pcrsonalstand des Werkes betrug hierbei 5736 Individuen. Der Vermögensstaud der
Bruderlade war rund 14/t Million Gulden.
Es hat somit Pribram im Jahre 1890 seine Culmination überschritten; das
Jahr 1892 ist aber für dieses bis dahin so sehr ertragreich gewesene und darob viel -
beneidete prächtige Montanwerk einerseits durch die erwähnte Mariaschacht-Katastrophe,
anderseits und hauptsächlich durch die Silbereutwcrthung geradezu verhüngnißvoll.
539
Außer den drei Matadoren des böhmischen Silberbergbaues von ehemals und
jetzt (Kuttenberg, ^oachimsthal und Pribram) gibt es in Böhmen noch zahlreiche andere
Orte der Lilbngewinnung in früherer und theilweise noch in gegenwärtiger Zeit. Mies
hat heute vorwaltcnd einen Bleibergbau, baute jedoch ehemals auf Silber, wofür nicht
blvÄ der böhmische Name ,8lltbro" (Silber), sondern auch alte Urkunden sprechen. In
dem nahen Kscheutz wird in neuerer Zeit außer Blei auch etwas Silber (etwa 80 Kilo -
gramm jährlich) gewonnen.
^n erster Reihe steht hier jedoch, namentlich in Bezug ans die Anzahl der Silberbane
dav böhmische Erzgebirge. Gottesgab ist durch den Bergbau auf Silber (angeblich 1535)
entstanden und (schon 1579) eine königliche Bergstadt geworden; der Bergbau ist erst
nach 1850, jedoch nicht definitiv aufgelassen worden. Klostcrgrab, durch Bergleute
gegründet, hatte seit dem XVI. Jahrhundert einen ausgiebigen Silberbergbau, welcher
eist in neuester Zeit wieder in Angriff genommen wird. Außerdem sind aus dem „bergbau -
lustigen" XVI. Jahrhundert zu nennen: Niklasberg, Presnitz und Weipert nebst mehreren
anderen. Besonders wäre noch hervorzuheben Abertham, eine der ältesten Bergstüdte
Böhmens (westlich von Jvachimsthal gelegen, auch mit ähnlichen montangcologischen Ver -
hältnissen), wo in den Jahren 1529 bis 1589 (also in 60 Jahren) über 95.000 Mark
Silber erbeutet worden sein soll. Im westlichen Böhmen wurde in Michaelsberg
vorgeblich schon im XIV., hauptsächlich jedoch im XVI. Jahrhundert Silberbergban
betrieben, anderer Bergbanorte dieser Gegend nicht zu gedenken.
Im südwestlichen Böhmen ist der alte Bergbau von Eli sch au, „Silberberg" genannt,
von besonderem Interesse. Derselbe blühte im XVI. Jahrhundert und soll bis etwa 1550
über 3000 Mark Silber jährlich eingelöst haben.
Eine besondere Beachtung verdienen die Bergbaue des südlichen Böhmens:
Rudolfstadt und Adamstadtl beiBudweis, dann Bergstadtl-Ratiboritz bei Tabor.
Der erstere datirt aus dem XIV. Jahrhundert und soll eine bedeutende Ausdehnung
erreicht haben; zu Ende des XVI. Jahrhunderts erhob Kaiser Rudolf II. Rudolfstadt unter
diesem Ehrennamen zu einer königlichen Bergstadt und Adamstadtl «Mio Horx) zu einem
königlichen Bergstädtchen. Die Silberproduction soll damals bei 4000 Mark und mehr-
jährlich betragen haben; im Jahre 1569 wurde deßhalb in Budweis eine eigene Münz -
stätte errichtet, welche jedoch nur bis 1612 bestand. Nach der Schlacht am Weißen
Berge wurden beide Bergbauorte für ihre Widerspenstigkeit förmlich geplündert und der
Bergbau erholte sich seither trotz einiger späteren Versuche nicht wieder.
Der Bergbau von Ratiboritz (Bergstadtl) bei Tabor entstand im Anfang deS
XVI. Jahrhunderts, »m dessen Mitte angeblich über 700 Mark Silber (nebst 12 Mark
Gold) jährlich erzeugt wurden; weiterhin bis 1610 lieferte Ratiboritz etwa gegen
540
3000 Mark Silber jährlich. Während des dreißigjährigen Krieges kam dieser Bergbau in
Verfall und wurde erst in dem XVIII. Jahrhundert durch die Fürsten Schwarzenberg
ausgenommen. In dieser zweiten Periode wird die Silbererzeugung von 1728 bis 1850
mit durchschnittlich 2000 Mark jährlich angegeben. In der Folge bis ans unsere Tage
wurde der hoffnungsvolle Bergbau nur mit sehr geringer Intensität betrieben.
Andere Metalle. Außer Gold und Silber waren seit jeher und sind heute noch
andere Metalle ein Gegenstand der bergbaulichen Gewinnung in Böhmen. Indem wir
das Eisen, wegen seiner hohen Bedeutung, einer besonderen Darstellung Vorbehalten,
nennen wir vor Allem das Zinn.
Dieses schöne und werthvolle Metall wird in Böhmen seit dem XIII. Jahrhundert
gewonnen; die erste Nachricht rührt vom Jahre 1305 her und betrifft einen lang vordem
bestandenen Bergbau in Graupen. Die Zeit, in welcher Böhmens Zinnproduction eine
hervorragende Stellung einnahm, gehört allerdings der Vergangenheit an, indem nunmehr
die englische und anderweitige Massenproduction den Weltmarkt beherrscht; immerhin ist
die auf etwa 500 Meterccntner jährlich gesunkene böhmische Zinnproduction die einzige
in Österreich, und dieses Zinn ist von seltener Reinheit. Die Fundorte der Zinnerze
beherbergt das böhmische Erzgebirge. Vor Allem ist Graupen zu nennen, in dessen
Umgebung aus zahlreichen Zinnerz-Lagerstätten (Gangsystemen im Urgebirge) das Zinn
bereits im XIII. Jahrhundert, im XVI. Jahrhundert aber in der Menge von etwa
6000 Metercentner jährlich erzeugt wurde. Der dreißigjährige Krieg machte dem
dortigeu auf diesem Erwerbszweige beruhenden Wohlstand ein Ende. Ähnliches gilt von
Zinnwald, Schlaggenwald mit Schönfeld und Lauterbach (im Elbogener Revier), von
Goldenhöhe, Platten, Neudeck und noch mehreren anderen Orten des Erzgebirges.
Das Kupfer kommt in Böhmen an sehr zahlreichen Orten vor, namentlich in den
sämmtlichen Grenzgebirgen vom Böhmerwalde angefangen über das Fichtelgebirge und
das auch dieserhalb sehr ergiebige Erzgebirge bis zu und unter dem Riesengebirge; ja
auch in dem böhmisch-mährischen Hochplateau zieht sich das Kupfervorkommen von Jglau
über Dcutschbrod bis Kuttenberg und Schwarz-Kostelec.
In der Regel erscheint das Kupfer auf den Erzgängen in Begleitung anderer
Metalle und wird als Nebenproduct 'gewonnen, doch gab und gibt es auch besondere
Kupferbergbaue auf Lagern, wie in Graslitz, wo im XIV. Jahrhundert ein ausgiebiger
Kupferbergbau begann, welcher um 1600 au 2000 Bergarbeiter beschäftigte. Die Erze
sollen 4 Proceut Kupfer enthalten haben und wurden in eigener Hütte verschmolzen. Im
XVII. Jahrhundert erlag dieser Bergbau so wie viele andere. Fernere Kupfergewiunungs-
Orte waren Kupferberg am Kamm des Erzgebirges, Dreihacken bei Plan, ferner Rochlitz
und andere am Riesengebirge. Namhafte Kupfermengen lieferte ehemals Kuttenberg.
Die Knpfergewinnung in Böhmen gehört, bis auf einige Versuche der neueren Zeit in der
Permformation unter dem Riesengebirge, der Vergangenheit an.
Das Blei wird in größter Menge als Nebenproduct bei der Silbergewinnung
erzeugt, und zwar vornehmlich in Pribram.
Einen eigentlichen Bleibergbau betreibt seit uralter Zeit die königliche Bergstadt
Mies und erscheint die erste Nachricht hierfür — abgesehen von der einstmaligen Silber -
gewinnung mit dem Jahre 1410. Der dreißigjährige Krieg schädigte auch hier den
Bergbau, welcher jedoch schon zu Ende des XVII. Jahrhunderts wieder anflebte und bis
heute noch sortbesteht. Das Bleierz kommt in dem Thonschiefer-Gebirge (Huron) von Mies
auf einem System von Gängen vor, welche regelmäßig nach Norden streichen und außer
Bleiglanz eine Menge anderweitiger Mineralien mit schöner Krystallisation führen.
Gegenwärtig arbeiten daselbst zwei Gesellschaften, welche zusammen 460 Bergarbeiter
beschäftigen. In der letzteren Zeit wurde auch in dem benachbarten Kscheutz (nördlich
von Mies) ein Bleibergban eröffnet, welcher auf einem besonderen Gangsystem angelegt
ist und außer Blei auch etwas Silber liefert. Einen hervorragenden Bleibergbau hatte
ehemals Bleistadt. Andere Bleigewinnungsorte von einst und jetzt sind von minderer
Bedeutung.
Antimon wird in Böhmen in nicht unbedeutender Menge gewonnen. Eine
indirecte Production findet in Pribram statt, wo es zwar nicht als Metall erzeugt
wird, wohl aber in ansehnlicher Menge dem Hartblei (Antimonblei) beigemengt ist. Ein
eigentlicher Antimonbergbau wird bei Mileschau und Böhmisch-Schönberg nebstProutkovitz
(südlich von Prag am rechten Moldau-IIser) betrieben. In dem dortigen grobkörnigen
Granit streichen mehrere Erzgänge, in welchen außer Antimonglanz auch gediegen
Antimon sich vorfindet, hauptsächlich von zwei Gesellschaften lohnend gewonnen und in
der eigenen Hütte zu Mileschan verschmolzen wird. Die Netto-Production betrügt jährlich
etwa 1500 Metercentner Antimonmetall und 600 Metercentner anderweitige Antimon-
Präparate (nebst einigem Gold). Neuestens baut man ans Antimon bei Selcan.
Verschiedene sonstige Erze, dann Kiese und Graphit. Das Zinkerz,
insbesondere als Zinkblende, kommt in Böhmen eigentlich in sehr bedeutender Menge vor,
gelangt aber hier nicht zur Verhüttung. In Pribram wird die Zinkblende aus den
dortigen Erzen besonders ausgeschieden und als Erz abgesetzt. Auch in Mies tritt die
Blende als Begleiter der Bleierze auf; in Goldenhöhe, Gottesgab rc. erscheint das Zink
als Begleiter von Zinn. In Merklin ist erst in neuerer Zeit ein Zinkbergban (auf Galmei
und Blende) wieder ausgenommen worden.
Nickel-, Kobalt- und Wismutherze werden in Joachimsthal und auf mehreren
anderen Punkten des Erzgebirges gewonnen. Manganerz (Braunstein) kommt auf
542
mehreren Orten des Erzgebirges, aber auch unter dem Riesengebirge voi. Wolsramerz
gewinnt man in Zinnwald (neben Zinn), teilweise auch in Schlaggenwald und Schönfeld.
Uranerz, und zwar als Uranpecherz, kommt in ansehnlicher Quantität in dem Joachims-
thaler Erzrevier vor. Bei dem ärarischen Bergbau zu Joachimsthal selbst bilden die
Uranerze und die hieraus erzeugten ebenso prächtigen als werthvollen Uranfarben bereits
seit einer Reihe von Jahren den Schwerpunkt der dortigen Bergbauprodnction. Die
benachbarte „Sächsisch-Edelleutstollenzeche" ist Mitproducent an den Uranerzen und
participirte im Jahre 1890 mit etwa 10 Procent an der Gesammterzeugung, welche den
Geldwerth von etwas über 64.000 Gulden in diesem Jahre halte. Arsenikerze kommen
im Riesengebirge (in Groß- und Klein-Aupa) vor; die betreffenden noch zurechtbestehcnden
Bergbau-Unternehmungen weisen jedoch dermalen keine Production auf. Quecksilbererz,
Zinnober, wurde ehemals ans dem Giftberge bei Komorau neben Eisenstein gewonnen
und hieraus auch Quecksilbermetall erzeugt; gegenwärtig ist diese Gewinnung eingestellt.
Ein ähnliches Quecksilbervorkommen hat der Eisensteinbergbau zu Svatä bei Zditz, welcher
jedoch dermalen nicht im Betriebe ist.
Eine ganz ansehnliche Rolle spielt in der bergbaulichen Thätigkeit Böhmens die
Gewinnung und Verwerthung der Kiese und der kiesigen Thonschiefer (Bitriolschieser).
Dieser Industriezweig, welcher die Gewinnung von Eisenvitriol (theilweise auch Kupfer -
vitriol) und Alaun, dann Oleum, Schwefelsäure und Schwefel zum Zwecke hat, kann in
Österreich als ein specifisch böhmischer bezeichnet werden; die Anfänge desselben in Böhmen
datiren sich bezüglich des Alauns aus der Negierungszeit König Wenzels IV. (1407),
sonst aus dem XVII., möglicher Weise sogar aus dem XVI. Jahrhundert. Am Anfang
des gegenwärtigen Jahrhunderts bemächtigte sich dieser Industrie die dadurch berühmt
gewordene Firma „Johann David Starck", deren Gründer (eben dieses Namens) für
seine betreffenden Verdienste in den Adelsstand erhoben wurde. In zwei Bezirken des
westlichen Böhmens kam dieser bergmännisch-hüttenmännische Productionszweig haupt -
sächlich zur Entwicklung, und zwar in der Gegend von Altsattel, Bezirk Elbogen-Falkenau,
dann in der Gegend zwischen Pilsen und Bras. In dem ersten Bezirke ist das Kiesvorkommen
an die Braunkohle, in dem zweiten an die Steinkohle gebunden; in der Pilsener Gegend
(bei Hromic und an anderen Orten) sind es insbesondere die Liegendschiefer der dortigen
Steinkohle, dem vorsilurischenHuron angehörig, welche als sogenannte Vitriol- und Alaun -
schiefer die angezogene Verwerthung finden. Diese Schiefer werden zuvörderst ausgelaugt
und die Lauge in eigenen Hütten auf Vitriolstein abgedampft, welcher sodann in besonderen
chemischen Fabriken (namentlich zu Bras und Kaznau unter Verwendung der dortigen
Steinkohle) auf die betreffenden Verkaufsartikel (Eisenvitriol, Oleum re.) verarbeitet wird.
Die Firma „Jndustrialwerke vormals Johann David Starck", jetzt Aktiengesellschaft,
543
beschäftigt in den betreffenden Bergbau- und Hüttenanlagen (abgesehen von ihrem
Braunkohlen- und Steinkohlenbergbau) in dem Falkenauer Bezirke über 130 und in
dem Pilsener Bezirke über 240 Arbeiter. In der Pilsener Gegend participiren an dieser
Production auch die betreffende Anlage des Fürsten Fr. Josef Auersperg in Weißgrün
bei Radnitz (Schwefelsäure) und einige mindere Unternehmungen des Pilsener Bezirkes
und des böhmischen Braunkohlenreviers. Eine besondere Erwähnung verdient noch der
Kiesbergbau und die zugehörige chemische Hüttenanlage des eben genannten Fürsten
F. I. Auersperg zu Groß-Lukawitz bei Chrudim, wo Kieserze auf gangartigen Lager -
stätten bergmännisch gewonnen, regelrecht aufbereitet (concentrirt) und schließlich zu
Schwefelsäure nebst verschiedenen Düngestoffen verarbeitet werden.
Die bergmännische Gewinnung der Kiese erhält in neuerer Zeit durch die Errichtung
der Holzcellulosefabriken, welche davon sehr bedeutende Mengen consumiren, einen
gesteigerten Werth und es dürfte seinerzeit auch Kuttenberg mit seinem großartigen Kies -
vorkommen aus diesem Umstande Nutzen ziehen.
An dieser Stelle soll auch der Graphitbergbau Böhmens mit kurzen Worten
bedacht werden. Dieses nützliche Mineral, welches außer anderen Anwendungen (zu
Graphittiegeln und Anderem) das Material zu der Bleistiftfabrikation liefert, kommt
auf verschiedenen Stellen der böhmischen Urgebirge vor, am wichtigsten jedoch ist das
Graphitvorkommeu in der Gegend von Budweis—Krumau. Der Graphit erscheint daselbst
mit wechselnder Mächtigkeit und Reinheit in den Gneiß eingelagert und wird rein berg -
männisch abgebaut.
Am hervorragendsten ist die betreffende Bergbau-Unternehmung des Fürsten
Schwarzenberg in Schwarzbach, Stuben, Mugrau und anderen Orten, welche über
600 Bergleute beschäftigt. Stellenweise erscheint in der Lagerstätte reiner Graphit ausge -
schieden; dieser kommt eben als Natnrgraphit in den Handel und bildet, als eine Specialität,
die Prima-Qnalität des durch seine Vorzüglichkeit ausgezeichneten böhmischen Graphits,
welcher nicht blos in viele europäische Staaten, sondern auch nach Amerika exportirt wird.
Im Übrigen kommt der eigentliche Graphit mit anderen Gemengtheilen vor und muß behufs
des Verkaufes zerkleinert, gemahlen und geschlämmt werden, zu welchem Zwecke ganze
Aufbereitungsanlagen bei den Graphilwerken bestehen; der geschlämmte Graphit erreicht
nie die Feinheit des reinen Naturgraphits und muß bedeutend billiger verkauft werden. Die
fürstlich Schwarzenberg'schen Graphitwerke erzeugten im Jahre 1890 über 78P00 Metcr-
centner Graphit im Werthe von rund 400.000 Gulden. Die übrige in der Productions-
übersicht nachgewiesene (nahezu ebenso große) Erzeugung rührt von anderen Producenten
(zumeist auch des Budweiser Bezirkes) her, unter welchen namentlich die Brüder Poräk
(35.000 Metercentner mit 135 Arbeitern) und eine Mugrauer Gesellschaft hervorragen.
544
Vvn der kleineren Hälfte des böhmischen Graphits, welche in Böhmen bleibt (nicht
exportirt wird) verbraucht einen sehr ansehnlichen Theil, und zwar die allerfeinste Waare,
die berühmte Bleistift- und Thonwaarenfabrik von Hardtmuth in Bndweis.
Das Eisen. Wenn Böhmen an den Erzen der edlen und ebenso an jenen der
mannigfaltigsten anderen Metall- und chemischen Producte überaus reich ist, so gilt dies
nicht minder auch von demjenigen Metall, welches zwar durch keine besonderen Eigen -
schaften für den gewöhnlichen Luxus hervorragt, hingegen aber durch seine Solidität und
allgemeine praktische Anwendbarkeit sich auszeichnet und demgemäß das jetzige Zeitalter
der praktischen Technik geradezu beherrscht, weshalb denn eine besondere Behandlung
desselben gerechtfertigt erscheint. Dieses nützlichste der Metalle ist das Eisen.
Verschiedenes Eisenerz enthalten vor Allem schon die böhmischen Urgebirge, und
zwar sowohl Magneteisenstein als auch Roth- und Brauneisenstein nebst Eisenglanz.
Hierher gehört das Eisensteinvorkommen an sehr zahlreichen Punkten des böhmischen
Erzgebirges; weniger gesegnet (wenn auch durchaus nicht mangelnd) ist in dieser Beziehung
der Böhmerwald, das Riesen- mit dem Adlergebirge, sowie das böhmisch-mährische
Hochplateau; alle diese ausgedehnten Landestheile hatten mindestens in früherer Zeit ihre
verschieden zerstreuten Eisenwerke aufzuweisen. Den eigentlichen Schatz an Eisenerzen
birgt jedoch die große böhmische Silurmnlde, welche von der Umgebung Prags bis zu
der Pilsener Gegend in einer mächtigen Ellipse das westliche und südwestliche Centrum
des ganzen Königreiches einnimmt und in geradezu beneidenswertster Weise für die
Wissenschaft ebenso wie für das Leben unerschöpfliche Quellen an Material bietet. In
elfterer Beziehung, die wissenschaftlicheDurchforschung betreffend, hat der große französische
Gelehrte Joachim Barrande derselben sein ganzes segensreiches Leben gewidmet; in der
anderen Beziehung, die Ausnutzung der reichen Quellen für das Volks- und Staatsleben
anlangend, hat die Landesbevölkerung seit jeher das ihrige und selbstverständlich auch der
Staat das seinige gethan. In der einen, wie in der anderen Richtung ist aber die böhmische
Silurmulde bei weitem nicht erschöpft und wird es noch lange nicht sein. Die Eisenerze
dieser prächtigen Mulde finden sich theilweise bereits in der untersten Zone derselben,
in der Pribramer Grauwacke (Barrande's Etage 8), indem sie daselbst in Gängen auf-
treten, welche einerseits für mehrere Eisenwerke bergmännisch ausgebeutet werden und
anderseits mit dem „eisernen Hute" der Pribramer Silber- und Bleierz-Gänge in der
bereits erwähnten Beziehung stehen. Über dieser Grauwackenzone lagert (hauptsächlich
an zwei Stellen, Jinec und Skrej) ein Schichtensystem (Barrande's Etage 6), welches
minder für den Bergmann, wohl aber für den Geologen engeren Sinnes durch seine
Primordial-Fanna das höchste Interesse erregt. Diesen Schichten folgen dem Alter nach
die sogenannten Brdaschichten, Barrande's Etage v, und diese sind es, welche der böhmischen
545
Eisenindustrie von ehemals, von jetzt und von weiterhin eine in der That großartige
Grundlage verleihen. Die unterste Zone dieses Brdaschichten-Systems (nach Barrande v 1)
enthält als mittleres Glied die (von Lipold und Krejct benannten) „Komorauer Schichten".
In diesen vorwaltend schieferigen Schichten kommen vollkommen flötzförmig eingelagert
diejenigen großartig ansgebildeten Eisensteinlager vor, welche seit undenklichen Zeiten
zur Erzeugung des böhmischen Eisens verwendet wurden. Die förmlichen Eisenstein-
flötze der Komorauer Schichten enthalten vornehmlich die eben ihnen eigenthümlichen
linsenförmigen Rotheisensteine und (an den Ausbissen) Brauneisensteine neben schiefrigen
und dichten Partien derselben Erze, stellenweise auch Sphärosiderit in verschiedener
Mächtigkeit und Erzreinheit, an zahlreichen Orten aber von ausgezeichneter Qualität und
bedeutender Quantität. Dieses mächtige Eisenerzvorkommen zieht sich, im Wesentlichen dem
Rande der böhmischen Silurmulde folgend und stellenweise Separatmulden bildend, —
südöstlich (gegen Pribram zu) von Grauwackenschichten, im Übrigen aber fast unmittelbar
von den Huronschiefern untcrlagert, — in einem langgedehnten angenähert elliptischen
Umfange zu beiden Seiten der Silur-Muldenaxe, als welche Übertags beiläufig die Richtung
der böhmischen Westbahn zwischen Beraun und Pilsen anzunehmen ist.
Die hauptsächlichsten Orte der Eisensteinbergbaue sind der Reihe nach zunächst
nördlich von der Muldenaxe in der Richtung von Ost nach West, dann südlich von der
Muldenare zurück in der Richtung von West nach Ost, im Folgenden angeführt und
werden zugleich diejenigen Eisenwerke genannt, welche an der bergmännischen Erzgewinnung
vornehmlich Antheil haben. Alle diese Erzbaue gehören vorzugsweise der älteren Periode
des böhmischen Eisenhüttenwesens an und sind großentheils gegenwärtig (wohl nur
vorübergehend) aus später anzugebendem Grunde nicht im Betriebe.
Nördlich bei Beraun beginnend, begegnen wir zunächst dem Eisensteinvorkommen bei
Althütten an dem Beraunflusse, wo nach Hajeks Erzählung (bei Hyskov) das Eisenerz
zu allererst (bereits im VIII. Jahrhundert) in großer Menge vorgefunden worden sein
soll. In naher Nachbarschaft (westlich) folgt die große Separatmulde der Krusna Hora
mit ihren in der That prächtigen zwei Eisensteinlagern (das Hauptlager etwa zehn, das
Hangendlager an zwei Meter mächtig) in einer Flächenausdehnung von etwa zwei Quadrat-
Kilometer. Dieses Feld ist im Besitze einerseits (östlich) der ehemals Fürstenberg'schen
Eisenwerke (jetzt böhmische Montangesellschaft), anderseits der Zbirover Eisenwerke. In
der Fortsetzung der Krusna Hora-Mulde folgt südwestlich ein ganz ähnliches, jedoch minder
ausgedehntes Eisensteinvorkommen unter dem Berge Belts bei Kublov und der Eisenstein -
bergbau „Hrebeny" der Zbirover Eisenwerke. Parallel mit den erwähnten Separat -
mulden erstrecken sich am Ausbisse der Silur-Hauptmulde die Eisensteinbaue bei Svata,
Hredl und Tocnik. (Bei Svata kommt untergeordnet auch Zinnober vor, zwischen Svata
Böhmen. 35
546
und Hredl findet sich auf den Konwrauer Schichten im weiteren „Hangend" die etwas
jüngere Eisensteinablagerung „Hrouda", nordwestlich von Zditz, mit einem ausgiebigen
Bergbau der Horovitzer Eisenwerke.)
Von Tocnik weiter nach Südwest liegen minder bedeutende Eisensteingruben zerstreut
in der Gegend von Cerhovitz und Zbirov, weiterhin in derselben Richtung die Eisenstein -
zechen ans demRacberge und in seiner Umgebung (unter anderen die bereits stark ausgebeutete
„Ouzkyzeche" beiHoloubkau). Die fernere Fortsetzung nach Südwest bilden die bedeutenden
Bergbaue bei Vossek-Brezina und bei Klabava-Eipovitz in der Gegend von Rokitzan. Die
von den verschiedensten Eisenwerken ausgenützte mächtig ausgedehnte Erzablagerung von
Klabava-Eipovitz bildet den westlichen Abschluß des Eisensteinvorkommens in den Komo-
rauer Schichten auf der nordwestlichen Seite der Silur-Muldenaxe (beziehungsweise der
böhmischen Westbahn). Indem wir nunmehr ans die andere (südöstliche) Seite dieser Axe
übertreten, begegnen wir in der Richtung von West nach Nordost (abermals parallel zu
der Muldenaxe) zunächst den Eisensteinzechen der herrschaftlich Stiahlauer Eisenwerke bei
Pilsenec und Sedlec, dann jenen der Zbirover und anderer Werke bei Straschitz und
Cheznovitz, ferner bei St. Benigna und Zajecov, die letzteren durch ihr sehr hohes Alter,
sowie durch die Reinheit ihrer Erze ausgezeichnet; es folgt dann der durch seine Ausdehnung
(und nebenbei auch durch sein Quecksilber-, beziehungsweise Zinnober-Vorkommen) hervor -
ragende Bergbau der herrschaftlich Horovitzer Eisenwerke auf dem Giftberge bei Komorau.
Hiervon östlich finden sich mehrere Eisensteinzechen der Horovitzer und theilweise der
Dobriser Eisenwerke in der Gegend von Jinec einschließlich des Berges Vostry;
weiterhin sind die Berge Pisek, Velka Baba, Mala Baba, Student) und Baba sämmtlich
mit Eisensteinzechen belegt. Diese Berge bilden den Anfang des mächtigen Bergrückens
„Hrebeny", welcher uns in nordöstlicher Richtung bis zu dem Skalkaberge oberhalb
Mnischek auf der einen und ober Revnitz auf der anderen Seite führt. Hier finden wir
einen ausgedehnten Eisensteinbergbau der herrschaftlich Dobriser Eisenwerke und haben
zugleich, an den Fluß Beraun stoßend, welcher das Vorkommen der Konwrauer Schichten
(hier wie bei Beraun) nach Nordost beiläufig abgrenzt/ das Ende unserer flüchtigen
Wanderung erreicht, insoferne es sich uns nur darum handelte, die Fundorte derjenigen
Eisenerze zu berühren, welche, den Konwrauer Schichten angehörend, die Grundlage des
böhmischen Eisenhüttenwesens vornehmlich der „älteren Periode" bilden.
Diese ältere, beiläufig bis in die Mitte des gegenwärtigen Jahrhunderts (bis 1850)
reichende Periode ist wesentlich dadurch charakterisirt, daß in derselben die Eisenerze
nahezu ausschließlich mittelst der Holzkohle als Brennmaterial in den Eisenhochöfen zu
i Eine partielle, von der Hauptmulde abgerissene Fortsetzung und hiermit das eigentliche Ende der erzführenden
Komoraner Schichten findet sich bei Onval, östlich von Prag.
548
Roheisen, beziehungsweise zu Gußeisen verschmolzen wurden, während in der neueren
Periode dieses Verschmelzen bei weitem vorwiegend mittelst der aus Steinkohlen erzeugten
Coakes geschieht. Die bisher in Betracht gezogenen Eisensteine vornehmlich der Komorauer
Schichten aus der böhmischen Silurmulde hatten und haben nun an und für sich (vermöge
ihres allgemein sehr bedeutendenQuarzgehaltes und ihres durchschnittlich doch nur mäßigen
Eisengehaltes) einzig und allein die Eignung zur Verschmelzung mit Holzkohle, liefern aber
hierbei (vermöge ihres Phosphorgehaltes) ein vorzügliches Material zur directen Erzeugung
tadelloser Gußwaaren, wie solche namentlich in den Horovitzer Eisenwerken zu Komorau
(gegenwärtig dem Fürsten von Hanau gehörig) hergestellt werden. Die meisten anderen
Eisenhochöfen Böhmens, welche lediglich auf die Verwendung der gewissen Eisensteine aus
den Komorauer Schichten angewiesen sind, können in Ermanglung eigener, beziehungs -
weise billiger Holzkohlen mit der Großproduction der Coakes-Hochöfen der Neuzeit nicht
concurriren, weßhalb denn auch viele dieser alten Holzkohlen-Hochöfen ganz eingegangen
sind und viele der aufgezählten Eisensteinbergbaue heute nicht im Betriebe stehen.
Die böhmische Silurmulde läßt uns indeß auch für die Eisenindustrie der Neuzeit,
also für die Großproduction in den Coakes-Hochöfen durchaus nicht im Stich. Dieselbe
birgt vielmehr in ihren geologisch (im Vergleich mit den Komorauer) jüngeren Schichten
einen nicht minder werthvollen Schatz an Eisenerzen für den Coakesbetrieb, als es die Erze
der Komorauer Schichten für den Holzkohlenbetrieb waren und theilweise (in Komorau,
Zbirov, Klabava w.) auch heute noch sind.
Dieselbe Schichtenetage der Silurmulde, welche man als Brdaschichten bezeichnet
(nach Barrande Etage v) und die mitten in ihrer tiefsten Schichtengruppe (v,) die
Eisensteine der Komorauer Schichten führt, birgt in einer höher gelagerten (jüngeren)
Schichtengruppe, Zahoraner Schichten genannt (nach Barrande v^), das bekannte groß -
artige Nucitzer Erzlager. Diese Erzlagerstätte hat noch andere, einer jüngeren Schichteu-
etage (L) angehörige Eisensteinlager, außerdem aber auch eine mächtige Kalksteinablagerung
in ihrer Nachbarschaft, welche letztere (namentlich bei Tachlovitz, ganz nahe an Nucitz)
einen prächtigen Zuschlagskalk für den Erzschmelzproceß liefert. Das Nucitzer Eisensteinlager
ist in der Gegend zwischen Beraun und Prag, genauer zwischen Lodenitz und Jinocan, auf
eine Länge von etwa 15 Kilometer dem Streichen nach festgestellt, besitzt eine sehr
variirende, bei Nucitz selbst bis 15 Meter, an anderen Orten bis 10 Meter, stellenweise
allerdings viel weniger betragende Mächtigkeit und besteht aus verschiedenen Lagen
von Eisensteinen, welche zumeist als thonhaltige Eisensilicate den Namen Chamoisit
führen. Diese in ungeheuerer Menge vorhandenen Erze sind in Betreff des Eisen -
gehaltes sehr edel, gleichgiltig, ob sie (in dem ursprünglichen Zustande) als dunkel
gefärbte „Blau- und Glaserze" oder aber (im verwitterten Zustande, am Ausgehenden)
als „Braunerze" erscheinen; die Structur ist vorwiegend oolithisch oder linsenförmig.
Die großartig ansgebildete Erzlagerstätte wird einerseits von der Prager Eisenindustrie -
gesellschaft für das Eisenwerk Kladno, anderseits von der Böhmischen Montangesellschaft
für die Hochofen-Anlage Königshof bei Beraun, zum Theil durch Tagbau, übrigens
durch Grubenbau regelmäßig ausgebeutet und bildet hiernach (beiläufig seit 1850) die
Grundlage für das böhmische Eisenhüttenwesen der neueren Periode. Der bedeutende
Phosphorgehalt der Nucitzer Eisenerze war ursprünglich ihrer Verwerthung für die
Fabrikation des Stabeisens in Betreff der Qualität desselben von wesentlichem Nachtheil,
welcher Umstand jedoch seit mehr als einem Decennium durch den modernen Frischproceß
(nach Thomas Gilchrist) gründlich behoben worden ist.
In Bezug auf die historische Entwicklung der Eisenindustrie in Böhmen muß eine
ältere und (beiläufig seit 1850) eine neue Periode derselben unterschieden werden. Der
ersteren Periode ist, wie überall, die directe Darstellung des schmiedbaren Eisens aus sehr
reichen Erzen in den allereinfachsten (bei nicht cultivirten Völkern auch heute noch üblichen)
Öfen, den sogenannten Wolfsöfen vorangegangen, welche sich in Böhmen etwa aus dem
>111. Jahrhundert datirt. Reste solcher Öfen sind auf verschiedenen Fundorten reicher
Eisenerze in Böhmen auch heute noch anzutreffen. Acht weitere Jahrhunderte etwa dauerte
es, bis nian durch die allmälige Erhöhung der Wolfsöfen und durch die Erzeugung eines
lebhafteren Luftzuges mittelst ordinärer Blasbälge, welche ursprünglich von der Hand,
zuletzt aber mittelst Wasserrädern bethätigt wurden, zu einer Art Halbhochöfen gelangte,
in welchen man schließlich auch flüssiges Eisen, zum Gießen in Formen geeignet, darstellen
lernte. Aus den spärlichen, über diesen langen Zeitraum vorliegenden historischen Nach -
richten sei nur beispielsweise erwähnt, daß in Strasitz (Zbirovcr Herrschaft) eine Eisen -
hütte mit Wasserbetrieb (aus früherer Zeit) bereits in der ersten Hälfte des XIV. Jahr -
hunderts vorhanden war; im Jahre 1478 bestand Strasitz außer drei anderen Theilen
(wie jetzt noch) auch aus einem „Städtchen mit Eisenhütten". Im Jahre 1652 werden auf
der Zbirover Herrschaft „zwei Eisenhütten mit je einem Hochofen", und zwar in Strasitz
und St. Benigna, dann die Hammerwerke Holoubkau und Dobriv angeführt. Die „Karls -
hütte" bei Beraun wurde von Karl IV. angelegt u. s. w.
Mit der Entstehung der Eisenhochösen (jedenfalls schon vor 1600) und der bald
darauf eingeführten Erzeugung der Gußwaaren (in Böhmen wahrscheinlich im XVII. Jahr -
hundert, in Belgien und dem westlichen Deutschland schon etwas früher) beginnt erst
das Eisenhüttenwesen im eigentlichen Sinne, und zwar die bereits früher bezeichnte
„ältere Periode" desselben. Die Eisenhütten der damaligen Zeit nahmen einen ganz
bestimmten überall gleichen Typus an, den sie mit wenigen Änderungen durch etwa
zwei Jahrhunderte (bis beiläufig 1800) behielten und welcher — abgesehen von der
550
schließlichen Einführung der Cylindcr- und Kastengebläse (anstatt der vordem ausschließlich
angewendeten Blasbälge) und der hiermit ermöglichten Erhöhung der Hochöfen — selbst
noch bis nahe in die Mitte des XIX. Jahrhunderts fortdauerte. An einem Bache, meist
unterhalb eines Teiches, stand ein plump gebauter, anfänglich kaum 7 Meter, später
höchstens 10 Meter hoher Schmelzofen (Hochofen), dessen Gicht aus dem Dache eines
geräumigen ebenerdigen Gebäudes hervorragte; letzteres enthielt einerseits die Gießerei -
halle mit dem obligaten hölzernen Krahne, anderseits den Gebläseraum mit außen
angrenzender Radstube, benachbart ein Erzdepot im Freien, mit der Ofengicht meist
durch eine Gichtbrücke verbunden, anliegend ein bedachtes Holzkohlenmagazin, ein Amts -
gebäude und einiges Andere. Solch ein Eisenhochofen erzeugte in einer Wo ch e anfänglich
kaum 100, später höchstens etwa 300 Metereeutner Guß- und Roheisen. (Ein moderner
Hochofen der Jetztzeit producirt in einem Tage 1000, ja selbst 2000 Metereeutner
Roheisen!) In der Nachbarschaft der Hochofenanlage befand sich ein einfaches oder
mehrfaches Hammerwerk, in welchem diejenige Rohcisenproduction des Hochofens,
welche in der Gießerei nicht zur Verwendung kam, verfrischt, das heißt zu Schmiedeisen
verarbeitet wurde. Ein Hammerwerk enthielt in einem simplen ebenerdigen Gebäude ein
Frischfeuer mit dem zugehörigen Gebläse und dem durch ein kleines Wasserrad angetriebenen
„Eisenhammer", von dessen „Getöse" nach damaliger Schilderung „die Erde erdröhnte,
die Berge und Thäler wiederhallten bis in die innersten Tiefen", während (nach Schiller)
„in des Ofens Bauch die Hölle Funken sprühte, als gält' es Felsen zu verglasen". Mit
diesem ganzen Zauberapparate wurden täglich (in 24 Stunden) höchstens etwa 5 Meter-
centner Roheisen zu Schmiedeisen verarbeitet, welches mit dem Hammer von beiläufig
einem Metereeutner Gewicht zu Stangen oder Platten von kaum einem halben Metereeutner
Gewicht verschmiedet wurde. (In einem Bessemer- oder Thomasofen der Jetztzeit werden
gewöhnlich einhundert Metereeutner Roheisen binnen kaum einer halben Stunde nach
Belieben in Eisen oder Stahl verwandelt, welches exquisite Material mit Dampfhämmern
bis zu 1000 Metercentner Gewicht zu kolossalen Schmiedestücken verarbeitet wird, und
doch füllt es in unserem nüchternen Zeitalter Niemandem ein, diesen in der That
imposanten technisch-physikalischen Proceß irgend poetisch zu besingen!)
In Anbetracht des ungeheueren Verbrauches an Holzkohle bei dem Betriebe sowohl
der Hochöfen als auch der Frischfeuer der „älteren Periode" wurde das Eisenhüttenweseu
damals vorzugsweise auf und von denjenigen Herrschaften in Böhmen cultivirt, welche
in dem Besitze ausgedehnter und konservativ gepflegter Waldungen waren und somit
über ein ausdauernd hinreichendes Material zur Erzeugung der Holzkohle verfügten.
Hiernach bestanden (zumeist aus lang vergangenen Zeiten) in dem Bereiche der böhmischen
Silurmulde, oder au dieselbe angrenzend die folgenden vornehmlichsten Eisenwerke mit der
552
vordem angedeuteten typischen Einrichtung und mit der nebenbei angegebenen Gesammt-
productiou an Guß- und Roheisen im Jahre 1846, also beiläufig am Schlüsse jener
„älteren" Periode^ 1. Die Eisenwerke der Staatsherrschaft Zbirov mit Hochöfen und
zugehörigen Hammerwerken in Strasitz, Holoubkau und Franzensthal (damals auch noch
Karlshütte bei Berann) nebst Hämmern in Dobriv und Hrädek, dann Padrk (jährlich
81.000 Wiener Centner). 2. Die fürstlich Fürstenberg'schen Eisenwerke der Herrschaft
Pürglitz mit drei Hochöfen in Nen-Joachimsthal und Neuhütten nebst anderweitigen
Hütten in Althütten bei Berann und Rostock (jährlich 61.000 Wiener Centner). 3. Die
gräflich Wrbna'schen Eisenwerke auf der Herrschaft Horovitzmit Hochöfen und Hammer -
werken in Komorau und Jinec (jährlich 23.000 Wiener Centner). 4. Die Fürst Colloredo-
Mannsfeld'schen Eisenwerke der Herrschaft Dobris in Althütten (bei Dobrls) und
Obecnitz (jährlich an 12.000 Wiener Centner). 5. Die fürsterzbischöflichen Eisenwerke
der Herrschaft Rozmital mit Hochofen und Hammerwerken in Rozmital (jährlich 9.000
Wiener Centner). 6. Die fürstlich Waldstein'schen Eisenwerke der Herrschaft Stiahlau
in Sedlec (jährlich 15.000 Wiener Centner). 7. Die Eisenwerke der Stadt Rokitzan in
Klabava (jährlich an 14 000 Wiener Centner). 8. Die Fürst Metternich'schen Eisen -
werke der Herrschaft Plas in Plas (jährlich an 12.000 Wiener Centner).
Die übrigen zahlreichen Eisenwerke Böhmens waren zumeist außerhalb der böhmischen
Silurmulde gelegen und verwertheten sonach andere, in Böhmen zerstreut vorkommende
Erze. Von denselben hatten die fürstlich Dietrichstein'schen Werke zu Ransko und Pelles
(nahe der mährischen Grenze) eine sehr namhafte Production (jährlich an 68.000 Wiener
Centner). Im Ganzen bestanden damals (1846) in Böhmen 48 Eisenwerke mit 52 Hochöfen,
an 200 Hammerwerken (Frischfenern) nebst 60 Streckhümmern. Zu Ende der bewußten
(älteren) Periode waren auch bereits fünf Pnddelwerke nebst elf Walzwerken vorhanden.
Die Gesammtproduction in Böhmen betrug im Jahre 1846 an 315.000 Wiener Centner
Roheisen (für Schmiedeisenerzeugung) und an 172.000 Wiener Centner Gußeisen (für
Gußwaaren), zusammen 487.000 Wiener Centner (von 46 betriebenen Hochöfen ist dies
beiläufig soviel, als ein einziger Hochofen der Jetztzeit erzeugen kann).
Von jener „älteren" Periode des Eisenhüttenwesens, welche man auch als das
„Zeitalter des Wassers" (da alles Mechanische mit Wasser, insbesondere mit Wasserrädern
angetrieben wurde) bezeichnen kann, ward der Übergang zu der „neueren" Periode in
unserem „Zeitalter des Dampfes" zunächst schon dadurch angebahut, daß noch vor 1850
einige Hüttengebläse auf Dampfbetrieb eingerichtet wurden, daß aber anderseits auf
mehreren Werken (Althütten bei Berann, Komorau, Althütten bei Dobrls und anderen)
* Entnommen aus der Schrift „Die Eisenerzeugung in Böhmen" vom Professor des polytechnischen Institutes Karl
Balling in Prag, 1849.
anstatt und neben den alten Frischfeuern mit Hammerbetrieb die aus England gekommenen
Puddelöfen mit Walzbetrieb eingeführt wurden, wodurch ein flotterer Fortgang der Stab -
eisenerzeugung erzielt wurde. Bald darauf (in den Fünfziger-Jahren) entstanden bei uns die
ersten (ebenfalls aus England gekommenen) CoakeShochöfen. Durch die drei angedeuteten
Factoren (Dampf, Paddeln und Coakes) wurde die Eisenprodnction in Böhmen wesentlich
gesteigert, dabei aber die Eisenqualität (des Phosphorgehaltes der böhmischen Erze wegen)
namhaft vermindert; das böhmische Walzeisen der damaligen Zeit galt im Allgemeinen als
schlechtes Eisen und konnte sich nur durch seine Billigkeit (im Vergleiche mit dem steirischen
Eisen u. dgl.) auf dem Markte halten. Die böhmische Eisenindustrie mußte seitdem eine
bittere Schule der Erfahrung und angestrengter geistiger Arbeit dnrchmachen, bis sie den
gegenwärtigen in Bezug auf Qualität und Quantität glänzenden Standpunkt errang.
Damals — anfangs der zweiten Hülste unseres Jahrhunderts — begann eine
Unternehmung im Eisenhüttenwesen sich zu entwickeln, deren Geschichte zugleich die
Entwicklungsgeschichte der böhmischen Eisenindustrie der Neuzeit in sich schließt; dieser
Hauptrepräsentant des modernen böhmischen Eisenhüttenwesens ist das Eisenwerk
Kladno der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft.
Diese Actiengesellschaft entstand ans der Kohlengewerkschaft „Klein, Lana und
Novotny" (formell) im Jahre 1856 zu dem Zweck, um den von der Gewerkschaft bereits
acquirirten, ebenso ausgedehnten als hoffnungsvollen Grubenbesitz in dem Kladnoer
Steinkohlenrevier entsprechend zu verwerthen. Deshalb wurde (bereits um 1850) der
Eisensteingrubenbesitz erworben, welcher, an die damaligen fürstlich Fürstenberg'scheu
Erzfelder bei Nucitz angrenzend, eine überaus reiche Quelle für eine nachhaltige Eisen-
production darbot. Die Chancen der neuen Unternehmung erschienen umsomehr versprechend,
da einerseits in der unmittelbaren Nachbarschaft der Nucitzer Eisenerze bei Tachlovitz ein
prächtiger Kalkstein als Zuschlag für das Erzverschmelzen zu gewinnen war und anderseits
ansehnliche Partien der Kladnoer Kohle sich als backend und hiermit zur Coakesbereitung
geeignet erwiesen. Da sich außerdem die Nucitzer Eisensteine (reich an Eisen bei geringein
Qnarzgehalt) zu der eben damals aus England sich verbreitenden Eisenerz-Verschmelzung
mit Coakesbetrieb vorzüglich eigneten, waren alle Bedingungen für die Großproduction
nach den damals sich geltend machenden Anforderungen vorhanden. Das Resultat war, daß
zunächst zwei Eisenhochöfen mit den erforderlichen Hilfsbauten, namentlich auch mit einer
eigenen Coakserei, in Kladno hergestellt und in den Jahren 1854, beziehungsweise 1856 in
Betrieb gesetzt wurden. Gleichzeitig wurde von Kladno zu den Nucitzer Erzgruben und Tach-
lovitzer Kalksteinbrüchen eine normalspurige Eisenbahn erbaut und im Jahre 1857 eröffnet.
Das so neu entstandene Eisenwerk, „Adalberthütte" genannt, wurde alsbald
wesentlich erweitert, indem bereits von 1858 bis 1860 vier neue Coakes-Hochöfen von je
554
160 Cubikmeter Rauminhalt erbaut wurden, wodurch die jährliche Roheisen-Production
auf 160.000 Metercentner und (nach der sehr empfindlichen Stagnation in dem Kriegs -
jahre 1866) bald darauf (1868) bis 250.000 Metercentner gesteigert wurde. Das
damals großartige Unternehmen litt bei der Verarbeitung des Roheisens zu Puddel-
Walzeisen (welche bis dahin in dem mittlerweile erworbenen Puddel- und Walz-Werke
„Hermannshütte" bei Nürschan vorgenommen wurde) an der bereits erwähnten Kalamität,
welche der starke Phosphorgehalt (neben Schwefel) der böhmischen (auch der Nucitzer)
Eisensteine mit sich brachte. Diese Kalamität wurde durch kostspielige Auslaugung der
gerösteten Erze, sowie durch partielle Verwendung fremder phosphorfreier Erze nach
Thunlichkeit so weit paralysirt, daß man in der Hermannshütte, seit 1868 aber auch in
einer in Kladno selbst neu erbauten Puddel- und Walzhütte in großem Maßstabe den
damaligen Bedarf an Walzeisen (auch an Eisenbahnschienen) deckte, namentlich aber (seit
1869) die meisten Eisenbahnbrücken jener Zeit (auch außerhalb Böhmens) herstellte. Nicht
minder waren die Leistungen in der Gußwaare; so wurden in den Siebziger-Jahren für
die Wiener Hochqnellenleitung die sämmtlichen Rohre nach einem damals neuen trefflichen
System (stehend) in Kladno gegossen.
Mittlerweile (bereits in den Sechziger-Jahren) hatte sich im Eisenhiittenwesen die
epochale Erfindung des Engländers Bessemer geltend gemacht und wurde auch in Öster -
reich, zunächst in Steiermark Angeführt. Durch den Bessemer-Proceß wurde die ungeahnt
rasche Erzeugung von Stahl direct aus Roheisen mit durchgreifendem Erfolge erzielt und
das neue Material, der Bessemerstahl, fand sofort bei der Herstellung der Eisenbahnschienen
dominirend Verwendung. Doch zum großen Nachtheil für die böhmische Eisen-Industrie
erforderte dieser moderne Frischproceß zur Verarbeitung vor Allem phosphorfreies Roh -
eisen, welches aus den böhmischen Erzen zu beschaffen eine Unmöglichkeit war. Sollte
daher Kladno mit seiner Schienenfabrikation nicht ganz Zurückbleiben, so mußte man sich
dazu entschließen, den Bessemer-Proceß einzuführen, jedoch das Roheisen hierzu ans fremden
phosphorfreien Erzen zu erzeugen und sonach die Verwendung der eigenen (Nucitzer) Erze
wesentlich einzuschränken. Man unternahm das Wagestück, bezog zur Beschaffung des
Bessemer-Roheisens die Erze aus Steiermark und Baiern und eröffnete im Jahre 1875
die eben erbaute Bessemerhütte mit zwei Convertern (Bessemeröfen). Die Erzeugung von
Bessemerstahl ging zwar technisch anstandlos von statten, doch die kostspielige Erzzufuhr
aus so großen Entfernungen schädigte wesentlich die Rentabilität des Unternehmens.
Glücklicher Weise gelang es noch in den Siebziger-Jahren abermals einem
Engländer, Thomas Gilchrist mit Namen, eine Modifikation des Bessemer-Processes zu
erfinden, wobei der Phosphorgehalt des Roheisens verschlackt, also aus dem Eisen entfernt
und sonach ein tadelloses Product (Eisen oder Stahl) erzielt wurde. Es gelang dies durch
555
eine vollends basische (kalkige oder dolomitische) Ausfütterung des Converters anstatt der
sonstigen saueren (quarzigen) Fütterung, weshalb die bezeichnet« Modifieation der „basische
Bessemer-Proceß" oder nach dem Erfinder der „Thomas-Proceß" genannt wird. Die
neue Erfindung hatte in der Eisenindustrie der ganzen Welt eine gewaltige Umwälzung zu
Gunsten derjenigen Länder und Districte zur Folge, deren Eisenerze eben phosphorreich
sind, unter anderen auch zu Gunsten Böhmens und insbesondere des Eisenwerkes Kladno.
Dasselbe erfaßte denn auch sofort die dargebotene glänzende Gelegenheit und erbot sich
ohneweiteres, die ersten Versuche des „Thomasirens" mit dem aus böhmischen (speciell
ans den Nucitzer)' Erzen erblasenen Roheisen durchzuführen. Es erwarb hiermit das
Recht der Ausübung des neuen Processes. Im Frühjahr 1879 wurde im Beisein einer
k. k. Statthalterei-Commission die erste Thomas-Charge mit Erfolg erblasen und hiermit
der Wendepunkt in Böhmens Eisenindustrie zu ihrem jetzigen hervorragenden Standpunkt
inaugurirt.
Minder glücklich als die Prager Eisenindustrie-Gesellschaft in Kladno war die unter
den gleichen Verhältnissen (die Nucitzer Eisenerze als Rohmaterial betreffend) arbeitende
„Böhmische Montangesellschaft" mit ihren (ehemals Fürstenberg'schen) Eisen -
werken bei Beraun, welche Werke in den Siebziger-Jahren durch eine schöne Hochofen -
anlage mit Coakesbetrieb (die Karl Emils-Hütte in Königshof) erweitert worden waren;
denn das zweite Anrecht, den Thomas-Proceß in Böhmen (weiterhin ausschließend) zu
prakticiren, erwarb die Firma „Teplitzer Blechwalzwerk". Eine Regelung dieser Abnormität
trat erst ein, nachdem erstlich im Jahre 1886 eine Fusionirung der Prager Eisenindustrie-
Gesellschaft mit der Böhmischen Montangesellschaft zu Stande gebracht, außerdem aber
auch das Teplitzer Walzwerk mit Thomashütte derart in Combination gebracht wurde,
daß das Königshofer Roheisen (insoferne dasselbe nicht in der dortigen großen Gießerei
zur Verwendung gelangt) in der Teplitzer Thomashütte zu Stahl verarbeitet wird. Die
Abfuhr des Königshofer Roheisens zur weiteren Verarbeitung ans eine so bedeutende
Entfernung wird dadurch einigermaßen paralysirt, daß bei Teplitz die spottbillige böhmische
Braunkohle der Eisenhütte zur Verfügung steht.
Somit steht das böhmische moderne Eisenhüttenwesen der Hauptsache nach nunmehr
sozusagen unter Einer Centralleitung. Die betreffenden drei vollkommenst eingerichteten
Eisenwerke erzeugen (in Kladno und Königshof) jährlich anderthalb Millionen Meter-
centner Roheisen und verarbeiten dasselbe (in Kladno und Thomashütte bei Teplitz) zu dem
exquisitesten Eisen und Stahl, theilweise (in Kladno und Königshof) auch zu Gnßwaare.
' Die übrigen böhmischen Erze, speciell jene der Komorauer Schichten, welche in dem böhmischen Eisenhüttenwesen der
älteren Periode die Hauptrolle gespielt hatten, blieben vermöge ihres großen Quarzgehaltes von der Eisen-Großproduction
überhaupt und insbesondere auch von dem „Thomasiren" ausgeschlossen.
556
Neben diesem Haupt-Werkscomplex existiren als in der neueren Zeit entstandene
und modern eingerichtete Werke die „Friedrichshütte" von „Schüller L Co." in Rokitzan,
eine schone Hochofenanlage, welche ausschließlich mit Miröschauer Coakes vorzügliches
Gießereiroheisen (etwa 130.000 Metercentner jährlich) erzeugt, ferner die „Poldyhütte"
in Kladno für ausschließliche Gußstahlerzeugung (vorzugsweise Werkzeugstahl), daun
das große Stahlwerk von Skoda in Pilsen (auch Gußstahl-Kanonen erzeugend).
Von den böhmischen Eisenwerken der „älteren Periode" (durchwegs mit Holzkohlen-
betrieb der Eisenhochöfen) erhalten sich die nunmehr fürstlich Hanau'schen Werke in Komorau
der Herrschaft Horovitz mit ihrem ausgezeichneten Eisenguß (insbesondere auch herrlichem
Kunstguß und Galvanostegie als Specialität) und zugehöriger Appretur (namentlich auch
für die vollkommenste Kriegsmunition) nach wie vor auf der Hohe der Zeit; die Production
an feiner Gußwaare betrug im Jahre 1890 über 31.000 Metercentner. Ferner bestehen
aus der alten Zeit die Colloredo-Mannsfeld'schen Eisenwerke (nebst Maschinenwerkstätte) zu
Althütten bei Dobrls mit einer Erzeugung (im Jahre 1890) von etwas über 9.000 Meter -
centner Gußwaare. Endlich weist das Eisenwerk Klabava der Stadt Rokitzan eine mäßige
Production an Gußwaaren auf.
Die ehemals ärarischen Zbirover Eisenwerke, welche in der älteren Periode (bis etwa
1860) in der gesammten böhmischen Eisenindustrie obenan standen, haben infolge des
unglückseligen Verkaufes der Herrschaft Zbirov an den berüchtigten Dr. Stroußberg (nach
einem geradezu abenteuerlichen Versuche, diese Werke für die moderne Großprodnction
in sieben Monstrehochöfen mit Coakesbetrieb, einem großen Bessemerwerke rc. —
einzurichten, wozu sie ganz ungeeignet waren) ein klägliches Ende genommen, welches auf
den ganzen Zbirover Bezirk verarmend wirkte. Nachträglich gingen die „alten Zbirover
Werke" (nachdem die „neuen" bis auf eine bescheidene Hütte bei Borek, welche nur
gekauftes Eisen verarbeitet, gänzlich demolirt worden waren) an einen anderen Besitzer
über. Der neue Besitzer, Herr Max Hopfengärtner, betreibt in Strasitz mit eigenen Erzen
(von Krusnä Hora, Zajecov) einen Holzkohlenhochofen, in Holoubkau eine Gießerei mit
Werkstätte auch für Werkzeugmaschinen und in Dobriv ein Walz- und Hammerwerk.
Die jährliche Erzeugung (vorwiegend aus gekauftem Eisenmaterial) beträgt 38.000 Meter -
centner Gußwaare und an 50.000 Metercentner Walz- und Schmiedewaare. Die sämmt-
lichen übrigen böhmischen Eisenwerke der „älteren Periode" sind entweder gänzlich außer
Betrieb oder sie erzeugen in vorwiegend bescheidenem Maße Eisenwaare aus gekauftem
Eisenmaterial (namentlich Gußwaare mittelst Cupolöfen).
-v ie Steinkohle. Wenn in Böhmen der ehemalige Reichthum an Gold, vermöge
der Eigenthümlichkeit dieses Metalls, vornehmlich auf der Erdoberfläche angehäuft zu sein,
schon vor vielen Jahrhunderten der Hauptsache nach als erschöpft zu betrachten ist, so bietet
557
das von der Natur herrlich ausgestattete Land für das „glänzende" Gold einen reichen
Ersatz: das für die höchst fortgeschrittene Cultur Wohl noch werthvollere „schwarze" Gold,
die fossile Kohle. Die ehemalige Fülle an Wäldern und der damalige verhältnißmüßig
geringe Verbrauch an jeglichem Brennstoff brachten es mit sich, daß die „schwarzen"
Schätze des Erdinneren durch lange Zeitperioden beinahe unangetastet geblieben und —
man kann sagen — dem XIX. Jahrhundert Vorbehalten worden sind, welches vornehmlich
in seiner zweiten Hälfte diese Schätze in vordem nicht geahntem Maße benöthigt.
Die productive (flötzführende) Steinkohlenformation ist in Böhmen in zahlreichen
einzelnen Mulden in vorwiegend großartigem Maßstabe ansgebildet und wird in ganz
Österreich dieses Königreich hierin von keinem anderen Lande übertroffen.
Die böhmischen Steinkohlenmnlden sind zumeist ans den Vorsilur-Schiefern (Huron)
und theilweise auf den untersten Silurschichten (beziehungsweise Cambrium) aufgelagert.
Die wichtigsten Steinkohlenablagerungen in Böhmen befinden sich in denUmgebungen
der Orte: Radnitz (mit Vejvanov), Kladno (mit Rakonitz), Miröschau, Pilsen, Schatzlar
(mit Schwadovitz). Kleinere Kohlenmulden von nur localer oder doch untergeordneter
Bedeutung müssen hier unbeachtet bleiben.
I.DieRadnitzer Steinkohlenablagerung gehört zu den (geologisch und bergmännisch)
ältesten, besterforschten, allerdings auch bereits am stärksten ansgebeuteten in Böhmen.
Die Steinkohlengewinnung (wohl nur in geringfügigem Maße) datirt hier, bei Bras,
angeblich schon aus dem Anfang des XVII. Jahrhunderts; das eigentliche gierige Suchen
und Ausbeuten der schwarzen Schätze fand jedoch erst im XIX. Jahrhundert statt und
dauert noch fort. Die Schichtenfolge dieser aus mehreren Einzelmulden bestehenden
Ablagerung wird in geologischer Beziehung als Norm aller böhmischen Kohlenablagerungen
angenommen. Auf azoischen Vorsilur-Schiefern (Huron) ruht unmittelbar die Steiukohlen-
formation mit einem wenig beachteten Unterstütz und dem etwa 10 Meter mächtigen Ober-
flötz als Hanptflötz, welches bis auf die unvermeidlichen und charakteristischen Zwischen -
mittel eine Kohle von seltener Reinheit enthält. Die Zwischenmittel nehmen etwa ein
Zehntel der Flötzmächtigkeit ein. Die Hauptmnlde, ausschließlich aus echten Carbonschichten
bestehend, welche durch keine jüngeren Schichten überlagert sind, bildet ein Hochplateau
von 125 Hektar Flüchenausdehnuug nächst der durch ihre Industrie schon seit langen
Zeiten hervorragenden Ortschaft Bras, derart, daß die gesammten Schichten (einschließlich
der Kohle) am ganzen Muldenumfange mehr weniger sichtlich unter einem flachen Winkel
zu Tage ausgehen und im Mittel der Mulde nahezu horizontal liegen. Demnach konnte
ein großer Theil der Kohle vom Tage aus durch Abraum gewonnen werden und die Tiefe
der Kohlenschachte iui Muldentiefsten beträgt nicht über 80 Meter (so groß ist beiläufig
auch die Gesammtmächtigkeit der dortigen Carbonschichten).
Der Maser Kahlenmulde sind (außer anderen kleineren Mulden) benachbart: die
Separatmulde bei Darova, westlich von Mas am Berannflnsse, dann die Kohlemnulde
von Vejvanov (und Chomle), welche die beiden Maser Kohlenflötze mit schieferigen
Zwischenmitteln stark durchsetzt führt und demnach vorzugsweise nur den Localbedarf der
Umgebung deckt. Die Radnitzer Kohlenablagerung, vor Allem die Maser Mulde hat
trotz ihrer bescheidenen Ausdehnung bereits gewaltige Kohlenguantitäten zu Tage gefördert.
In den Siebziger-Jahren unseres Jahrhunderts betrug die Jahresproduction anderthalb
Millionen und im Jahre 1890 an zwei Millionen Metercentner Steinkohle von vorzüg -
licher Qualität. An dieser Erzeugung participirten vorzugsweise die Graf Sternberg'schen
Kohlenwerke und jene der „Jndustrialwerke vormals David Starck".
2. Die Kladno-Bustehrader Kohlenablagerung ist die mächtigste und bei weitem
wichtigste in ganz Böhmen. Die geologischen Verhältnisse sind jenen der Radnitz-Maser
Kohlemnulde analog; da wie dort gibt es in den Carbonschichten, welche auf azoischen
Schiefern lagern, zwei Flötze, ein unteres minderwerthiges, bei Kladno das Grundflötz
genannt, und ein oberes, als Hauptflötz, welches bei Kladno regelmäßig die Mächtigkeit
von 8 Meter besitzt, stellenweise jedoch 10 Meter mächtig ist; auch die Zwischenmittel des
Hanptflötzes sind mit jenen des Maser Flötzes übereinstimmend (charakteristisch ist in
Kladno besonders die sogenannte kleine und große „Opuka"). Ein Unterschied zwischen
Kladno und Mas macht sich erstlich insoweit geltend, daß die Carbonschichten bei Kladno
in einiger Entfernung vom Ausbiß durch jüngere Schichten (namentlich Perm und Kreide)
überlagert sind; ferner findet ein wesentlicher Unterschied in der Muldenausdehnung,
qualitativ und quantitativ statt. Während nämlich die kleine Maser Mulde, einer flachen
Halbmuschel ähnlich, an ihrem ganzen Umfang zu Tage ausgeht, ist dies bei der
Kladnoer sehr ausgedehnten Mulde nur an ihrem südlichen Rande (knapp bei Kladno bis
Rapitz-Bustehrad) der Fall. Von diesem auf Thonschiefer aufruhenden Muldenrande
(Ausbisse) verflachen die Carbonschichten zunächst ziemlich steil (auch unter die Stadt
Kladno), weiterhin jedoch stets flacher nach Norden und sind eben in dieser nördlich
cinfallenden Erstreckung immer mehr von jüngeren geologischen Gebilden, Perm und Kreide,
überdeckt, stellenweise (bei Vinaritz) von Basalt durchbrochen, welcher an den Contactflächen
eine natürliche Vcrcoaksung der Kohle auf mehrere Centimeter bewirkt hat. Dieser nördliche
Muldenflügel erstreckt sich aber in eine noch unbekannte Entfernung und Tiefe.
Der Auffindung der Kladno-Bustehrader Kohle ist die Entdeckung dieses fossilen
Brennstoffes in Klein-Prllep (südlich von Kladno, zwischen Unhoscht und Bcraun) bereits
im XV. Jahrhundert (1463) vorangcgangen. Anfangs des XVI. Jahrhunderts soll die
Klein-Prileper Steinkohle zum Betriebe von Eisenhütten in dem jetzigen Chrbina-Walde
am Bache Kacak verwendet worden sein, wovon die Ofen- und Kohlenreste noch heute zu
Kohlentagbau in Dux.
560
finden sind. Seit jener Zeit machten sich unaufhörliche Vorahnungen größerer dergleichen
Schätze gegen Kladno hin geltend, doch erst im Jahre 1772 führte ein zufällig angetroffener
schwarzer Maulwurfshaufen in der Nähe von Räpitz auf der Herrschaft Bustehrad zu der
Entdeckung des dortigen Kohlenausbisses. Die Kohle wurde alsbald stollenmäßig gewonnen
(Josef- und Gottfried-Stollen) und hiermit das Rapitz-Bustehrader Kohlenwerk gegründet.
Seit dieser Zeit und insbesondere seit 1800 hatte das Suchen nach Steinkohle um Kladno
keine Grenze; man suchte die Kohle mit Schachten von 20 bis 30 Meter Tiefe vielfach
an Stellen, wo sie viel später (gegen 1860) in Tiefen von etwa 300 Meter wirklich
vorgefunden wurde. Endlich wurde von dem Ärar im Jahre 1842 eine Schürfungscom -
mission ins Leben gerufen, welche das Kladnoer östliche Terrain durch Bohrungen und
Grabungen regelmäßig untersuchte und schließlich zu der Anlage eines Doppelschachtes
(Michael und Layer) im äußersten Osten bei Brandeisl, sowie zu dem Abteufen zweier
Hauptschachte (Thinnfeld und Lübeck) nordöstlich bei Kladno führte. Diese Schachte
erreichten die Kohle erst in den Jahren 1853 bis 1858 in Tiefen von 240 bis 340 Meter,
und zwar stießen die Brandeisler Schachte auf Kohle von minderer oder ganz schlechter
Qualität, die beiden Kladnoer Schachte jedoch auf Kohle von ausgezeichneter Qualität
bei 0 bis 11 Meter Mächtigkeit.
Mittlerweile gelang es bereits im Jahre 1846 einem schlichten Bergmann,
Johann Vana in den Diensten des Prager Bürgers Wenzel Novotny, das Kladnoer
Kohlenflötz südöstlich knapp an Kladno (bei Stepanow-Krocehlav) in einer Tiefe von
20 Meter etwa 2 Meter mächtig aufzufinden. Dieser glückliche Fund führte alsbald zu
der Anlage zunächst des Wenzel-Schachtes knapp östlich bei Kladno und zugleich zu der
Gründung der Gewerkschaft „Klein, Lana und Novotny" in Kladno, welche sofort auch
die Schachte Layer und Franz (unweit des ärarischen Thinnfeld-Schachtes) anlegte und
das westliche Kladnoer Kohlenfeld sich reservirt hatte; die genannten drei gewerk -
schaftlichen Schachte erreichten die schöne Kohle in Tiefen von 130 bis 230 Meter etwa
8 Meter mächtig und wurde die regelmäßige Kohlengewinnung sofort in Angriff genommen.
Abgesehen von mehreren kleineren Unternehmungen, welche nachträglich mit den
größeren verschmolzen, entwickelten sich sonach in dem Kladno-Bustehrader Kohlen-
Reviere die folgenden drei Hauptunternehmungen: u) die Gewerkschaft „Klein, Lana und
Novotny" in Kladno, aus welcher im Jahre 1856 die „Prager Eisenindustrie-Gesellschaft"
hervorging, — kurz „Kladnoer Kohlenwerke" genannt; b) die Rapitz-Bustehrader Kohlen -
werke östlich von Kladno, noch unlängst die „Kaiserlichen" (dem Kaiser gehörigen)
genannt, seitdem (1883) an die Bustehrader Eisenbahn übergegangen und nunmehr die
„BustehraderKohlenwerke" genannt; c) der ursprünglich ärarische Kohlenbergbau Kladno-
Brandeisl, nördlich von den beiden vorgenannten, welcher im Jahre 1855 zugleich mit
561
den damaligen Eisenbahnen durch Verkauf an die hiermit entstandene „Österreichische
(nunmehr österreichisch-ungarische) Staatseisenbahn-Gesellschaft" überging und gewöhnlich
(nach dem bisherigen Amtssitze) kurz als „Brandeisler Kohlenwerke" bezeichnet wird.
Die von diesen drei Unternehmungen durchaus rationell beiläufig mit der gleichen
Intensität bebauten Kohlengrubenfelder reichten ursprünglich und noch in den Siebziger-
Jahren nach Norden beiläufig bis zu dem Motyciner Thale und seiner nach Osten
verlängert gedachten Richtung; dieselben nahmen einen Gesammtflächenraum von rund
7 Kilometer Länge (von West nach Ost) und nahe drei Kilometer Breite (von Süd nach
Nord), das ist rund zwanzig Ouadrat-Kilometer ein. Für die Kohlengewinnung, welche
von der Ausbiß-Seite im Süden in das Hangende nach Norden regelmäßig fortschreitet,
hat sich bei allen drei Unternehmungen frühzeitig eine gleiche sehr sinnreiche, speciell
Kladnoer Abbau-Methode herausgebildet, welche in Verbindung mit dem sonstigen
regelrechten Betriebe und Gebaren eine höchst rationelle Ausnützung des ungeheueren,
hier zu Gebote stehenden Nationalvermögens mit sich bringt.
Die sämmtlichen Schachte des Kohlen-Reviers sind mittelst Schleppkähnen mit der
Bustehrader Eisenbahn und durch die Verbindungsbahn Kladno-Kralup auch mit der
gesellschaftlichen Staatseisenbahn (Prag-Bodenbach) in Verbindung. In den Siebziger-
Jahren erreichten die tiefsten Kladnoer und Bustehrader Hauptschachte (Amalia und
Franz Joseph) eine Tiefe an 300 Meter, der tiefste Brandeisler Hauptschacht (Engerth)
näherte sich aber der Tiefe von 400 Meter.
Beiläufig in der zweiten Hälfte der Siebziger-Jahre mußte man im Kladnoer Revier
bei den stets wachsenden Anforderungen die allmälig in eine größere Tiefe einfallende
(nördliche) Fortsetzung des Kladnoer Kohlenflötzes für den Abbau in Vorbereitung
nehmen, das heißt nach Erforderniß weitere Hangend- zugleich Tiefbau-Schachte anlegen.
Die Bustehrader Eisenbahn konnte zu diesem Zwecke (ohne eine neue Schachtanlage) von
ihrem bereits vorhandenen nördlichsten (Kaiser Ferdinand-) Doppelschacht die weitere
Ausrichtung ihres ausgedehnten Grubenfeldes in Angriff nehmen; die Staatseisenbahn-
Gesellschaft hat außer dem bereits bestehenden Barri-Schachte einen „neuen" nördlichen
Schacht (auf den Namen „Ronna" getauft) von 400 Meter Tiefe niedergetrieben und
glänzend ausgestattet. Die Prager Eisenindustrie-Gesellschaft aber, deren Grubenfeld
bei Kladno nach Norden durch jenes der Staatseisenbahn-Gesellschaft begrenzt ist,
hatte in dem weiter nach Nordwesten sortsetzenden Kohlen-Reviere ein neues Feld (von
etwa 7 Quadrat-Kilometer Fläche) in weiser Voraussicht bereits vordem acquirirt
und dasselbe nunmehr durch eine imposante Doppelschacht-Anlage „Mayran" von
520 Meter Tiefe angegriffen; zu dieser Anlage kam später (um 1890) im Westen von
Mayrau der mit den modernsten Einrichtungen ausgestattete Max-Schacht.
Böhmen Z0
562
Gleichzeitig mit der Entstehung der vorgenannten Tiefban-Anlagen entwickelte sich
nordwestlich an das neue Tiefbaufeld der Prager Eisenindustrie-Gesellschaft angrenzend
der Libnsiner Kohlenbergbau der Miröschauer Steinkohlen-Gewerkschaft. Diese rührige
Gewerkschaft, welche zuvörderst die bergmännische Ausnützung der Miröschauer Kohlen -
mulde bei Rokitzan rationellst betrieb und bisher betreibt, hat sich rechterzeit (1881) die
Aufgabe gestellt zu erforschen, ob das Kladnoer Kohlenflötz, dessen weitere nordwestliche
Fortsetzung bis dahin angezweifelt wurde, daselbst nicht doch in einer größeren Tiefe zu
finden wäre. Eine zu diesem Zwecke nahe der historisch denkwürdigen Ortschaft Libusin
mit namhaften Schwierigkeiten unternommene Bohrung hat in der That Ende 1884 in
einer Tiefe von rund 430 Bieter das Kohlenflötz mit 8 Bieter Mächtigkeit constatirt.
Sofort wurde auf einer passendst gewählten Stelle mit allen modernen Mitteln der
Libusiner „Johann-Schacht" abgeteuft, welcher 1887 das schöne Flötz erreichte und
gegen 1890 zu einer eben so großartigen als elegant ausgestatteten Doppelschacht-Anlage
aus- und aufgebaut wurde. Dieselbe ist außer mit der Bustehrader Bahn auch mit der
Staatseisenbahn (Prag-Bodenbach) durch Schleppkähnen in Verbindung.
Mit dem neuen Kohlenwerke Libusin umfaßt nunmehr das Kladnoer Steinkohlen-
Revier im Ganzen vier große höchst rationell betriebene Unternehmungen, und zwar
producirte, dem Alter nach angeführt, im Jahre 1890: die Bustehrader Eisenbahn
4'6 Millionen, die Prager Eisenindustrie-Gesellschaft 5'8 Millionen, die Staatseisenbahn-
Gesellschaft (mit Rücksicht auf ihre Eisenbahnen) 7V Millionen, die Miröschauer Stein-
kohlen-Gewerkschaft in Libusin (obwohl noch in dem Stadium der Vorbereitung begriffen)
bereits 2'1 Millionen Metercentner der schönsten Steinkohle.
Das gesammte aufgeschlossene Kohlenfeld des Reviers hat nunmehr eine Länge (nach
dem Streichen) von nahe 10 Kilometer und eine durchschnittliche Breite (nach dem Ver -
flachen) von nahe 5 Kilometer. Das mit verliehenen Maßen und Freischürfen gedeckte
Feld hat aber mehr als die doppelte Ausdehnung in dem Betrage von 114 Quadrat-
Kilometer. Bei den jetzigen (und in Libusin zu gewärtigenden) Productionsverhültnissen
(jährlich über 20 Millionen Metercentner) kann diesem schönsten und größten Kohlenreviere
noch eine mehr als hundertjährige Betriebsdauer schätzungsweise zugesprochen werden.
Mit der Kladnoer Kohlenmulde geologisch zusammengehörig, jedoch bergmännisch viel
weniger bedeutend ist die Rakonitzer Steinkohlenablagerung, welche von der Kladnoer durch
mehrereRücken des Grundgebirges getrennt ist und dasKohleuflötz qualitativ und quantitativ
minderwerthig - gewissermaßen degenerirt anfgewiesen hat. Das Verhältniß von Rakonitz
zu Kladno kann mit demjenigen von Vejvanov zu Bras verglichen werden. Die Kohle wurde
bei Rakonitz zunächst in der Zeche „Moravia" tagbaumäßig gewonnen, zeigte sich durch taube
Zwischenmittel unterbrochen und im Verhalten nicht anhaltend, später baute man auch bei
564
Lubna und Hostokrej bedeutendere (aber gegen Kladno sehr unbedeutende) Quantitäten an
Kohle ab. Mit ausgiebigerem Erfolge als dieKohle selbst werden dieRakonitzerKohlenschiefer
(Zwischeninittel) gewonnen und zur Erzeugung vorzüglicher Chamottewaaren verwendet.
3. Die Mi r ö s ch au er Steinkohlenablagerung. Abweichend von den bisher betrachteten
Steinkohlenbecken mit je einem sehr mächtigen Hauptstütze begegnen wir in Miröschau's
Umgebung (südöstlich von Rokitzan) einer Steinkohlenmnlde, welche, in einer Ausdehnung
von etwa drei Kilometer nach beiden Richtungen vollständig abgegrenzt, ein Hanptslötz von
nur etwa einem Meter reiner Kohle (nebst einem noch viel minderen Unterstütz) sührt,
welches überdies vielfach verworfen ist, aber dessenungeachtet glänzende Betriebsresultate
eine lange Periode hindurch anfzuweisen hat. Dem stiefmütterlichen Verhalten der Natur
wird hier durch die Intelligenz des Bergmannes die Stange gehalten! Indessen besitzt die
Miröschauer Kohle eine hervorragende Eigenschaft: sie ist durchwegs vorzügliche Backkohle,
sonach zum Vercoaksen sehr gut geeignet und wird nach dieser Richtung auch gehörig ver -
wertet; sie ist aber auch vortreffliche Gaskohle: in der Prager Ausstellung 1891 war
seitens der Prager Gasanstalt unter den sämmtlichen böhmischen Steinkohlen (die Pilsener
Cannelkohle ausgenommen) für die Miröschauer Kohle die größte Ergiebigkeit (aus einem
Metercentner 29 Cubikmeter Gas bei einer Lichtintensität eines Normalbrenners von 13
Normalkerzen) ausgewiesen! Geologisch wird der Miröschauer Kohle das gleiche Alter
mit dem Braser oder Kladnoer Hauptstütze zugeschrieben.
Das Vorhandensein der Steinkohlenformation bei Miröschau war schon vor langer
Zeit bekannt; der dortige Kohlensandstein wurde am nördlichen Ausgehen der Carbon -
schichten als Gestellstein für die Eisenhochöfen der Nachbarschaft in einem Steinbruche
gewonnen, woselbst auch ein Kohlenschmitz wahrzunehmen ist; trotzdem hielt man die
dortige Kohlenformation bis in die Dreißiger-Jahre für flötzleer. Hier (im Norden) und
ebenso nach Ost und West ruhen die Carbonschichten auf dem unteren Silur (Barrande's
Etage 8) auf, während sie sich im Süden an Vorsilurschiefern (insbesondere an einem
Kieselschieferstock) abstoßen; jüngere Schichten (als Carbon) kommen da nicht vor. Der erste
Schurs auf Kohle wurde bei Miröschau im Jahre 1833 unternommen, derselbe stieß (nahe
am südlichen Ausbisse) ans ein kaum 15 Centimeter mächtiges Kohlenflötzchen (das später
constatirte mindere Unterstütz) und wurde (zugleich wegen Wasserandrang) ausgelassen.
Später (1842) schürfte das Ärar auf der entgegengesetzten Seite (bei Dobriv) mit kaum
besserem Erfolge und gab nach zwei anderweitigen Bohrversuchen (wobei man nicht tief
genug bohrte) das Schürfen auf. Endlich im Jahre 1857 gelang es zwei Privatschürfern
(Jahnl und Grimm), das Hanptslötz mit circa anderthalb Meter Mächtigkeit (einschließlich
der Zwischenmittel) zu entdecken und die Miröschauer Kohle auf den Markt zu bringen,
welcher sich jedoch damals sehr undankbar zeigte. Zur eigentlichen Entwicklung des
Miröschauer Kohlenwerkes kam es in den Sechziger-Jahren, als dasselbe in den Besitz
der (formell erst 1868 gebildeten) „Miröschauer Steinkohlengewerkschaft" gelangte, welche
durch die Einführung eines zielbewnßten fortschrittlichen Bergbaues die Miröschauer Kohle
zu verdienter Geltung zu bringen wußte. Dieser Anforderung entsprach vor Allem der
den dortigen schwierigen Verhältnissen angepaßte eigentliche Grubenbau, welchem sofort
auch sehr zweckmäßig ausgestattete Schachtanlagen (Leopoldinen-Hauptschacht und
Margarethaschacht) mit Dampfbetrieb für Förderung und Wasserhaltung, mit musterhaften
Kohlenwäschen, elektrischer Beleuchtung u. s. w. zu Hilfe kamen. Frühzeitig (1869) wurde
auch eine Eisenbahnverbindung mit der böhmischen Westbahn (Station Rokitzan) bewerk -
stelligt, welche später (1881) zu der Commerzialbahn Rokitzan-Miröschau-Nezvestitz
(Station der Franz Josefsbahn) erweitert wurde. Zur Vercoaksung der hierfür vorzüglich
geeigneten Miröschauer Kohle wurde bereits im Jahre 1863 eine großartige Coakserei (von
Dr. Bauer) in Miröschau selbst und später eine solche (von Ringel) in Rokitzan angelegt;
die erzeugten Coakes fanden und finden ihren Absatz weit über die unmittelbare Umgebung.
Außer der eigentlichen Miröschauer Mulde wurde später in der östlichen Nachbar -
schaft eine zweite kleinere, die Skoritzer Kohlenmulde (mit ähnlichen geologischen
Verhältnissen) entdeckt und in Angriff genommen.
Die Miröschauer anscheinend sehr bescheidene Steinkohlen-Ablagerung leistete
trotzdem (vermöge der rationellen Ausnützung) thatsächlich Wunderbares: die anfängliche
jährliche Förderung (gegen 1860) von kaum 100.000 Metercentner stieg in 10 Jahren
(1870) auf eine Million, in weiteren 10 Jahren (1880) auf mehr als zwei Millionen
Metercentner. Mitte der Achtziger-Jahre cnlminirte die Kohlenproduction mit jährlich
drei Millionen und betrug noch 1890 gegen zwei Millionen Metercentner. Seitdem wird
Miröschau immer mehr durch das derselben „Miröschauer Steinkohlen-Gewerkschaft"
gehörige Kohlenwerk Libusln im Kladnoer Revier entlastet. Das Kohlenwerk Miröschau
selbst hat seit seiner Entstehung (1857) bis 1890 das relativ kolossale Quantum von fünf-
nndvierzig Millionen Metercentner vorzüglicher Steinkohle zu Tage gefördert.
4. Die Pils euer Steinkohlen-Ablagerung. Westlich von dem Pilsener Meridian und
im Norden theilweise östlich davon erstreckt sich, an die böhmische Silurmnlde anstoßend,
die flüchenränmlich großartige Pilsener Steinkohlen-Ablagerung, welche mit der genannten
Silurmnlde im Wesentlichen die gleiche Unterlage hat, nämlich die Huronschiefer, und nur
theilweise (im Westen) auf dem Urgebirge aufrnht. Die ganze Ablagerung bildet nebst
der Pilsener Hauptmulde, welche bei weitem die dominirende ist, noch mehrere unter -
geordnete Einzelmulden (bei Manetln, Mies, Merklln u. a.).
Die Schichten der Pilsener Kohlenmulde gehören zum Theile der oberen Steinkohlen- '
formation (Carbon), zum Theile bereits dem Rothliegenden (Perm) an, beziehungsweise
566
sind die Carbonschichten zum Theile (vornehmlich im Mittel der Hauptmnlde) von Perm
überlagert; südwestlich reichen die Permschichten bis zu dem dortigen Muldenrande. Die
Längsaxe der Pilsener Mulde zieht sich von Südsüdwest (zwischen Chotieschau und
Tuschkau, wo sie an das Urgebirge stößt) nach Nordnordost (bei Kaznau) und hat
eine Länge von nahe 30 Kilometer, während die Muldenbreite durchschnittlich etwa
13 Kilometer beträgt, was einem Flächenraume von nahe 400 Quadrat-Kilometer (etwa
7 Quadratmeilen) entspricht.
Allerdings ist nicht in allen Theilen dieser großartigen Mnldenansdehnung auch
Kohle vorhanden. Die kohleführenden Partien sind vielmehr in der Mulde Inseln ähnlich
(als Einzelmulden) mannigfach zerstreut und in dieser Weise auch mit Grubenmaßen
bedeckt. Die einzelnen Grubenfelder enthalten auch nicht die gleichen Schichten und
Kohlenflötze. Im Allgemeinen kann man in der Pilsener Mulde drei Etagen von Schichten
unterscheiden, wovon die untere entschieden dem Carbon, die obere entschieden dem Perm
angehört, während die mittlere als eine Übergangs-Etage zwischen beiden betrachtet
wird. Diesen drei Etagen entsprechen im Allgemeinen auch drei Hauptstütze, deren einzelne
Mächtigkeiten in der Regel zwischen einem und zwei Meter variiren; stellenweise treten
jedoch auch noch Nebenflüße auf, namentlich (anstatt eines einzigen) zwei Unterstütze (ächt
Carbon), welche sodann als den beiden Radnitzer Flötzen entsprechend angenommen werden.
Das ganze Flötzsystem ist jedoch kaum an irgend einer Stelle der Mulde vorhanden; in
der Regel werden zwei oder drei Flötze (nach Umständen auch nur eines) abgebaut.
Als eine Specialität tritt in der Pilsener Kohlenmulde, jedoch nur in einzelnen
Grubenbauen eine eigenthümliche matte (dem Aussehen nach schieferähnliche) sogenannte
„Blattelkohle" auf, welche mit der englischen Cannelkohle die größte Ähnlichkeit hat
und demnach auch „Pilsener Cannelkohle" genannt wird. Sie gehört dem Pilsener
Mittelkohlenflötz an und tritt vorzugsweise am Humboldt-Schacht (des Westböhmischen
Bergbau-Actienvereines) bei Nürschan, theilweise auch bei Blattnitz und anderen Orten
auf. Als die allervorzüglichste Gaskohle ungemein geschätzt, wird sie weithin in das
Ausland versendet und gibt in der Prager Gasanstalt aus 1 Metercentner 33 Kubik -
meter Gas mit der ganz außerordentlichen Lichtintensität eines normalen Brenners von
33 Normalkerzen! Auch die übrigen Flötze geben vorzügliche Schwarzkohle, die speciell
bei Lititz (Maria-Schacht der Miröschauer Gewerkschaft) backend ist und mit Vortheil
vercoakst wird.
Vermöge des Auftretens der Kohle in einzelnen Separatmulden und vermöge der
bisherigen Erstreckung der Grubenfelder zumeist an den Muldenrändern haben alle
Schächte des Pilsener Beckens eine mäßige Tiefe, in der Regel nicht über 300 Meter;
nur die große neue Sulkov-Anlage des Westböhmischen Bergbau-Actienvereines zwischen
567
Nürschan und Lititz, welche sich dem dortigen Mnldentiefsten nähert, hat es mit einer
Tiefe an 400 Meter zn thun; es ist zugleich die größte und (besonders in Maschinen)
besteingerichtete Anlage des Reviers. Eine ähnliche Anlage entsteht südwestlich bei Mantau
(unweit von Chotieschau) nahe am Muldenrande.
Duxer Kohlenbergbau: Begegnung im Schacht.
Im Übrigen wird vielfach der Ansicht Raum gegeben, daß sich in der Pilsener
Mulde die Kohlenflötze gegen das Muldenmittel hin vertauben (verschiefern) und daß
man es hier somit vorwiegend mit Mulden-Randbildungen zu thnn hat, wonach dieser
Mulde auch in Ansehung der geringen Flötzmächtigkeiten trotz ihrer sehr bedeutenden
Ausdehnung eine sehr lange Betriebsdauer kaum zuzusprechen wäre.
Der Kohlenbergbau in der Pilsener Mulde kam vorzugsweise erst in der zweiten
Hälfte unseres Jahrhunderts zur Entwicklung. Die Jahresproduktion beträgt gegenwärtig
568
an 10 Millionen Metercentuer (kaum die Hälfte der Kladnoer Mulde). An dieser
Production participiren insbesondere die folgenden vornehmlichsten Bergbau-Unter-,
nehmungen: der Westböhmische Bergbau- und Actien-Verein in Nürschan (Humboldt),
Lihn (Sulkov) und Mantau mit nahe 3Vs Millionen Metercentuer; die Pankraz'schen
Erben in Nürschan mit iVs Millionen Metercentner; die Prager Eisenindustrie-
Gesellschaft bei Steinaujezd und Blattnitz mit mehr als 1 Million Metercentner; die
Blattnitzer Steinkohlen-Gewerkschaft mit nahe eben so viel; die Werke vormals David
Starck in Tremosna und Kaznan, ferner die Lititzer (Miröschaner) Steinkohlen-Gewerk -
schaft und Fürst Thurn und Taxis zu Lititz und Schotten mit je etwa Vs Million
Metercentner. Andere kleinere Unternehmungen erzeugen weniger als V^ Million jährlich.
5. Die Schatzlarer und Schwadowitzer Steinkohlen-Ablagerung. Zwischen dem
Riesengebirge in der Nähe der Schneekoppe und dem Adlergebirge setzt eine mächtige
Ablagerung von rothem Sandstein (Perm), theilweise von Kreidegebilden überlagert (bei
Adersbach und weiter südlich) aus Böhmen über die Landesgrenze in das benachbarte
Preußisch-Schlesien hinüber, aus welcher im Nordosten bei Waldenburg, im Südwesten
bei Schatzlar und Schwadowitz Schichten der Steinkohlenformation hervortreten; dieselben
sind mittelst eines schmalen Carbon-Streifens, welcher über Landshut und Liebau geht,
trotz der dortigen gewaltigen Porphyr- und Melaphyr-Durchbrüche im Zusammenhang
und beherbergen auf der preußisch-schlesischen Seite die berühmten sehr ausgiebigen
Waldenbnrger Kohlenflötze, auf der böhmischen Seite die bescheidenen Kohlenflötze von
Schatzlar und Schwadowitz. Dem geologischen Alter nach betrachtet man die Walden-
burger Schichten als die ältesten (bis zum Unter-Carbon), die Schwadowitzer als die
jüngsten (bis zum Perm); die Schatzlarer Schichten halten sich im Mittel. Charakteristisch
ist bei allen diesen Kohlegebilden die große Anzahl Flötze von mäßiger bis zur gering -
fügigen Mächtigkeit und die backende Beschaffenheit ihrer Kohlen, welche die Berühmtheit
der Waldenbnrger Coakes mit sich bringt. In Waldenburg gibt es 30, in Schatzlar
mehr als 20 Kohlenflötze, in Schwadowitz nicht viel weniger, an allen drei Orten
unterscheidet man einen Liegend- und einen Hangend-Flötzzug. In Schatzlar werden etwa
10 Flötze bis zu einer Mächtigkeit von kaum Vs Meter herab abgebaut, in Schwadowitz
etwa 6 Flötze vom Liegend-Flötzzug und 3 Flötze vom Hangend-Flötzzug; die größte
Flötzmächtigkeit (nur einzeln vorkommend) bleibt da wie dort unter 2 Meter.
Das Schatzlarer, wie auch das Schwadowitzer Kohlenrevier haben eine nur sehr
mäßige Ausdehnung. In Schatzlar produciren zwei Unternehmungen (die „Gebrüder
Müller'sche Gewerkschaft" und die „Schatzlarer Kohlenwerke von Baron Erlanger") zu
nahe gleichen Theilen zusammen jährlich gegen IV- Millionen Metercentner Kohle; in
Schwadowitz erzeugen die Kohlenwerke von Prinz Schaumburg-Lippe nicht ganz eine
56!»
Million Metercentner Steinkohle, wovon etwa ein Viertel daselbst vercoakst und ein noch
kleinerer Theil (Ktarkohle) briquettirt wird.
Die Braunkohle. Der jetzigen böhmischen Gesammtprodnciion an Steinkohle von
jährlich 37 Millionen Metercentner (mit 21.000 Arbeitern) im Werthe von 12 Millionen
Gulden steht gegenüber eine Jahresproduction an Braunkohle von 122 Millionen
Metercentner (mit 23.000 Arbeitern) im Werthe von 18 Millionen Gulden. Es wird
demnach die enorme Production des „schwarzen" Goldes von jener des „braunen"
Goldes überflügelt: der Menge nach um 230 Procent, dem Geldwerth nach um blos
50 Procent und nach der Anzahl der beschäftigten Arbeiter sogar nur um 10 Procent; es
beträgt eben der mittlere Verkaufspreis eines Metercentners loco Grube bei der Steinkohle
32^2 Kreuzer, bei der Braunkohle aber nur 15 Kreuzer und ein Arbeiter gewinnt (bei den
herrschenden Gewinnungsmethoden) dreimal so viel Braunkohle als Steinkohle.
Mit Ausschluß von einigen kleinen Unternehmungen in den Tertiärgebilden des
südlichen Böhmens, welche zusammengenommen nicht eine ganze Million Metercentner
erzeugen, rührt die gesammte kolossale Braunkohlenproduction von der geradezu fabelhaften
Ablagerung dieses „braunen Goldes" südlich längs des böhmischen Erzgebirges her. Die
Süßwasserbildungen der Tertiärformation (Miocän) haben hier diesen immensen Reichthum
an Nationalvermögen abgelagert. Umfaßt doch das böhmische Braunkohlenbecken von der
Nussiger bis zu der Komotauer Gegend — roh gerechnet — an 8000 Grubenmaßen,
welche noch auszubeuten sind und von denen jährlich etwa 40 abgebaut werden; dies
entspräche einer Betriebsdauer von rund zwei Jahrhunderten.
Die böhmisch Erzgebirger Braunkohlen-Ablagerung erstreckt sich, allerdings mit zahl -
reichen Unterbrechungen, hauptsächlich durch vulkanische Gebilde vorwiegend höheren Alters
über den Landstrich zwischen dem Erzgebirge und Mittelgebirge von der Nussiger Gegend
über Teplitz, Dux, Bilin, Brüx zunächst bis Komotau und Kaaden, woselbst eine Haupt-
unterbrechnng durch Eruptivgesteine beginnt, welche bis in die Gegend von Schlackenwerth
und Karlsbad reicht; hieran reiht sich die Fortsetzung des Braunkohlengebietes über
Falkenau bis Eger, welche jedoch bei Maria Kulm (unweit von Königsberg) durch
einen schmalen Urgebirgsrücken gänzlich unterbrochen erscheint und außerdem dadurch
charakteristisch ist, daß daselbst außer der jüngeren (nachbasaltischen) auch eine ganz vor -
zügliche ältere (vorbasaltische) Braunkohle sich vorfindet. Hiernach hat man es bei der
Braunkohle eigentlich mit drei Hauptmulden zu thun, wovon die Aussig-Teplitz-Koniotauer
der Länge und Breite nach die gewaltigste ist; die beiden Mulden von Falkenau und Eger
sind verhältnißmäßig die kleineren, immerhin aber jede für sich groß genug (etwa je vier
Quadratmeilen). Jede dieser Hauptmulden enthält an einzelnen Stellen Separatmulden,
welche bald durch oberirdische, bald durch unterirdische Sättel von einander getrennt sind.
570
Das Verhalten der Kohle in Mächtigkeit nnd Qualität ist bei den Hanptmulden,
mitunter auch bei ihren Separatmulden verschieden; auch ist entweder nur ein einzige-,-
Flöh oder es sind mehrere Flötze übereinander vorhanden; immerhin kann man annchmen,
daß die Mächtigkeit der Kohle (ohne die Zwischenmittel) in der Regel 8 bis 18 Meter
beträgt, stellenweise jedoch (wie bei Dnx und Brüx) auf 24 Meter und mehr steigt. Die
Qualität der böhmischen Braunkohle ist nur stellenweise etwas minder, sonst min -
destens gut, vorwiegend jedoch vorzüglich, bei Dux, Brüx, Falkenau und anderen Orten
aber ausgezeichnet, an einzelnen Orten, wie bei Königsberg zum Briquettiren sehr geeignet;
die Duxer „Salonkohle" und die Falkenauer „Paraffiukohle" in ihrer Art unübertrefflich.
Die Gewinnung der böhmischen Braunkohle (allerdings in ganz geringfügigen
Quantitäten) datirt sich an einzelnen Orten (bei Dux, Brüx, Aussig) aus der Mitte
des XVIII. Jahrhunderts; die eigentliche bergmännische Entwicklung begann zunächst
sehr bescheiden (durch Tagbaue) mit der ersten Hälfte und in größerem stets wachsendem
Maße mit der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts, letzteres insbesondere seit der
Eröffnung der Aussig-Teplitzer Bahn im Jahre 1858. Seit dieser Zeit hielt der Bau neuer
Eisenbahnen mit der steigenden Braunkohlenproduction gleichen Schritt und entstand bis
zu der jetzigen Zeit in und aus dem böhmischen Braunkohlenreviere ein Bahnnetz, wie man
es dichter kaum anderswo (es wäre denn in Belgien und Westfalen) findet. Demgemäß
betrug die Braunkohlenerzeugung im Jahre 1860 bereits 5 Millionen nnd stieg binnen
10 Jahren (bis 1870) auf 15 Millionen Metercentner. Hier begann erst recht der eigent -
liche, freilich vielfach übertriebene Aufschwung in der Production, welche bis 1880 auf
52 Millionen, das ist auf das 3Vsfache, seit 1860 aber auf mehr als das Zehnfache stieg.
Es erstanden nämlich zur Zeit der berüchtigten Hausse (anfangs der Siebziger-Jahre)
zahlreiche kleinere und größere Unternehmungen, welche großentheils unter unkundiger
Leitung in den unermeßlichen Naturschätzen des Braunkohlen-Reviers wühlten und einen
namhaften Theil derselben für die Zukunft entweder selbst verwüsteten oder doch der
Verwüstung durch die Naturelemente (vornehmlich durch das Feuer) Preisgaben. Seitdem ist
eine Wendung zum Besseren insoferne erfolgt, daß vermöge der eingetretenen Concurrenz-
verhältnisse die Gewinnung der Braunkohle immer mehr in großen und rationelleren
Bergbau-Unternehmungen concentrirt wird. Unter diesen technisch fortschrittlichen
Verhältnissen stieg die Braunkohlenproduction in dem letzten Decennium (1880 bis 1890)
von 52 auf 122 Millionen Metercentner jährlich.
Von den Bergbau-Unternehmungen (immer noch 180 an der Zahl), welche an der
Monstreproduction der böhmischen Braunkohle participiren (an 500 eingeschriebene
Unternehmungen sind außer Betrieb) seien diejenigen genannt, welche in den einzelnen
Revier-Bergamts-Bezirken (von Osten nach Westen aufgezählt) nach den amtlichen
M-,'
Ausweisen von 1890 mit einer Erzeugung von wenigstens an 3 Millionen Metercentner
obenan stehen. Im Revier-Bergamts-Bezirke Teplitz erzeugten 51 Unternehmungen
30 Millionen Metercentner zum Mittelpreise von 13 8 Kreuzer; hiervon: Graf Westphalen
in Karbitz 6, Brüxer Kohlenbergban-Gesellschaft bei Teplitz (siehe Brüx) 4^4, Karbitzer
Gewerkschaft (Saxonia) 3, Gräfin Sylva-Tarouca-Nostiz in Türmitz 2^4 Millionen.
Im Revier-Bergamts-Bezirke Brüx erzeugten 48 Unternehmungen 73 Millionen
Metercentner ä 14'5 Kreuzer; hiervon: Brüxer Kohlenbergbau-Gesellschaft 13, Nord -
böhmische Kohlengewerks-Gesellschaft (vormals Anglo-Österreichische Bank) 8Vs, Dnxer
Kohlenverein 6, k. k. Bergdirection Brüx (ärarische Julinsschachte) 4Vs, Victoria-
Tiefbaugewerkschaft 4V4, William Resten (Nelsonschachte) an 4, Dux-Bodenbacher
Eisenbahn 3, Dnxer Kohlenwerke „Fortschritt" 2»V Millionen. Im Revier-Bergamts-
Bezirke Komotau erzeugten 31 Unternehmungen zusammen kaum 3 Millionen Meter -
centner ü 134 Kreuzer. Im Revier-Bergamts-Bezirke Elbogen erzeugten 28 Unter -
nehmungen an 6 Millionen Metercentner vorwiegend vorbasaltische (ältere) Braunkohle
L 19 3 Kreuzer (die größte Production des Chodauer Richard-Schachtes betrug etwas
über eine Million Metercentner.) Im Revier-Bergamts-Bezirke Falkenau erzeugten
21 Unternehmungen an 10 Millionen Metercentner größerentheils vorbasaltische Braun -
kohle ä 20'2 Kreuzer (hiervon die Montan- und Jndustriewerke vormals David Starck
in Davidsthal und Unter-Reichenau nahe 2V4 Millionen).
Neuester Zeit entstehen in der Gegend von Ossegg und Bruch (zwischen Dux und
Oberleutensdorf) nebst schon vorhandenen zwei neue, modern großartige Schachtanlagen,
welche es bereits mit einer Schachttiefe an 400 Meter zu thun haben und die Braunkohlen-
production demnächst noch namhaft zu steigern geeignet sind.
Auf die Frage, wohin diese Massen böhmischer Braunkohle zur Verwerthung
gelangen, antwortet ein von der Tirection der Aussig-Teplitzer Eisenbahn jährlich ausge -
gebener statistischer Ausweis, wonach (speciell im Jahre 1890) dieser kostbare Brennstoff
„nach Norden, Süden und Westen siegreich vordringt", indem von der jährlichen Gesammt-
production (121 Millionen Metercentner) nicht weniger als 66Vs Millionen, das ist
55 Procent in das Ausland (nach Deutschland) gelangen und nur 45 Procent in Öster -
reich verbraucht werden.
Eine wunde Stelle des böhmischen Braunkohlen-Bergbaues darf nicht unerwähnt
bleiben, nämlich die Collision desselben mit den Teplitzer Thermal-Quellen. In dem Dux-
Teplitzer Braunkohlen-Revier ruht die Braunkohlenformation auf einer mächtigen mulden -
förmigen Pläner-Ablagerung und diese lehnt sich unmittelbar, einerseits (im Nordwesten)
auf den Gneiß des Erzgebirges, anderseits (in Südost) auf denjenigen Porphyrstock
des Mittelgebirges, welchen außer anderen zahllosen Klüften auch die Quellenspalten
573
/
von Teplitz durchdringen; die Klüfte setzen aber auch den Pläner durch. Welchen Weg
auch immer die in dem Erdinneren erwärmten Quellenwässer nehmen, um schließlich durch
jene Porphyrspalten nach Teplitz und Schönau zu gelangen, so ist doch jede zwischen dem
bergmännisch durchwühlten Braunkohlengebirge und dem zerklüfteten Porphyrgebirge
hergestellte Communication (Löcherung) für die Teplitzer Quellen gefährlich, denn diese
nehmen dann, anstatt nach Teplitz, den einfacheren Weg durch die hergestellte Öffnung
in die tiefer gelegenen Grubenbaue, füllen dieselben aus und steigen schließlich auf das
gleiche Niveau in den Gruben, wie in Teplitz; dieses Niveau ist aber namhaft tiefer als
das Niveau der Teplitzer Badehäuser, das heißt in Teplitz muß dann das Thermalwasser
aus dieser Niveau-Tiefe heraufgepumpt werden, die betreffenden Grubenbaue sind aber
bis zu dem Niveau ersoffen. Gelingt es nun, die unglückliche Öffnung künstlich zu ver -
stopfen, so können die Grubenbaue wieder in Betrieb kommen und die Thermalwässer
nähern sich in Teplitz ihrem früheren Zustande, ohne jedoch denselben je genau wieder zu
erreichen, denn die entstandene Wunde vernarbt nie ganz, ja bei forcirter Heilung entsteht
bekanntlich nahe der alten leicht eine neue Wunde. Was hier schematisch dargestellt ist,
widerfuhr den bis dahin unversehrt gebliebenen Teplitzer Quellen das erstemal 1879 infolge
)es Eindringens eines Querschlages, welcher vom Döllingerschacht (bei Dux) ostwärts
getrieben wurde, in den Teplitzer Porphyrstock. Nach mannigfachen, oben angedeuteten
Drangsalen (wobei in Betreff des Ersäufens die nachbarlichen Kohlengruben „Fortschritt",
„Nelson", „Victorin" und „Gisela" ins Mitleid gezogen wurden), gelang die Verstopfung
des Wasserdurchbruches durch die Herstellung mächtiger unterirdischer Wasserdämme, welche
das Thermalwasser von den Grubenbauen fernhielten und in seine ehemaligen Wege nach
Teplitz zurückdrüngten. Jegliche Gefahr schien so behoben; doch schon 1887 kam man in
der „Victorin"-Grube mit einem durch Kohlengewinnung hergestellten Hohlraume einer
Quellenspalte zu nahe, durch deren hydraulischen Druck die Felsenwand der Sohle
gesprengt und eine zweite Quellen-Katastrophe herbeigeführt wurde. Es gelang jedoch
schließlich wieder die Verstopfung, indem mau den Hohlraum in der Grube (von oben
herab) mit Beton ausfüllte. Doch nicht lange währte der wieder einigermaßen erreichte
„skakus quo auto«; 1892 brach das Unglück in „Victorin" an früherer Stelle wieder
herein und ist bis heute nicht behoben. — Von einer Katastrophe anderer Art wurde 1895
die Stadt Brüx heimgesucht. Am 19. Juli in später Abendstunde und in der darauf -
folgenden Nacht find an zwanzig Häuser des schönsten Stadttheils nahe dem Bahnhofe
eingestürzt und viele andere schwebten in größter Gefahr; dies geschah infolge einer rapiden
Terrainsenkung, herbeigeführt durch die Bewegung einer Schwimmsandschicht, welche,
unterirdisch bis Brüx reichend, in dem westlich benachbarten Grubenfelde des Annaschachtes
bei Tschausch angefahren und in die dortigen Gruben-Hohlräume abgezapft wurde.
574
Übersicht dcr gesammten Bergbau- und Hütten-Production iu Böhmen im
Vergleiche mit jener von ganz Österreich (1890).
Gegenstand der Production
Böhmen
.. Ganz
Österreich
Metercentner
Böhmen
in Proeenten
von ganz
Österreich
n. Bergban-Production.
Golderz
Silbererz
Quecksilbererz
Kupfererz
Bleierz
Nickel- und Kobalterz . .
Zinkerz
Zinnerz
Wismutherz
Antimonerz
Uranerz
Wolframerz
Manganerz
Schwefelerz
Alaun- und Vitriolschiefer
Graphit
Eisenerz
Asphaltstein
Steinkohle
Braunkohle . . - . .
Geldwerth zusammen in Gulden
d. Hntten-Prodnction.
Gold
Silber
Quecksilber
Kupfer
Blei
Glätte
Zink
Zinn
Wismuth
Antimon
Uranfarben
Schwefel
Schwefelsäure und Oleum
Vitriolstein
Eisenvitriol
Kupfervitriol
Alaun
Mineralfarben
Frischroheisen
Gnßroheisen
Geldwerth zusammen in Gulden
Hierzu Geldwerth der Bergbau-Production
11.733
144.941
14.955
4
5.692
7.929
7.702
256
378
22.123
588.384
143.740
4,013.000
37,200.000
122,000.000
35,070.000
351
827
15.758
19.127
497
2
2.074
40
373
113.338
37.172
12.882
916
14.636
7.783
1,419.000
178.500
10,920.000
35,070.000
15.468
144.941
639.694
112.736
4
326.422
5.692
7.929
7.702
256
378
80.068
54.223
588.384
237.283
13,615.000
1.808
89,300.000
154,000.000
76
100
Procent
13'3 Procent
100
100 Procent
100
100
100
100
41 Procent
100
61 „
29'5 „
41'7 Proceut
80
68,170.000
51-5 Procent
359
5.417
9.925
82.970
19.127
54.857
497
2
2.074
40
373
113.338
37.172
12.964
4.384
14.636
7.783
5,747.000
915.600
47 Procent
98
83 Procent
19
100
100 Procent
100
100
100
100
100
100
995 „
21
100
100
24-7 „
19-5 „
36,890.000
68,170.000
29'6 Procent
51-5 Procent
Total-Geldwerth in Gulden
Desgleichen nach Abzug des Werthes der ver -
hütteten Erze
45,990.000
41,670.000
105,060.000
90,720.000
43-8 Procent
45-9 „
575
Nach dem statistischen Jahrbuch des k. k. Ackerbau-Ministeriums gestaltet sich die
Bergbau- und Hütten-Production Böhmens im Jahre 1890 (ein spaterer Jahrgang ist
bisher — Juli 1892 — nicht erschienen) nach der vorstehenden doppelten Übersicht u)
und b), worin zum Vergleich auch die Productionsdaten von ganz Österreich, dann
jene Böhmens in Procenten der Gesammtproduction Österreichs angegeben sind. Die
absoluten Productions-Ziffern bedeuten Meterceniner und sind bei der Steinkohle,
Braunkohle und bei Eisen (wo sie in Millionen gehen) entsprechend abgerundet; die
Gesammt-Geldwerthe der untersten Zeilen in österreichischen Gulden sind ebenfalls eorreet
abgerundet.
Die Zahlen dieser tabellarischen Übersicht sprechen deutlich genug, um die großartige
Thätigkeit Böhmens auf dem Felde des Berg- und Hüttenwesens auch in der Jetzt -
zeit, nachdem die alte Periode der fabelhaften Gold- und Silber-Erzeugung längst
verschwunden, richtig beurtheilen zu können. Bei zahlreichen Gegenständen (bei 20 von 40)
der Production ist Böhmen der alleinige Producent in Österreich. Au der Gesammt-
Production Österreichs participirt Böhmen dem Geldwerthe nach bei dem Bergbau
mit 51 Vs, bei dem Hüttenwesen rund mit 30 Proeent, im Ganzen mit 44 bis 46 Procent.
(Mit dem benachbarten Mähren und Schlesien zusammengenommen ist der jährliche
Totalgeldwerth beinahe 73 Millionen Gulden, das ist rund 70 Procent von ganz
Österreich.)«
Es erweist sich somit Böhmen auch im Montanwesen nach der beliebten Ausdrucks -
weise als die „Perle Österreichs".
Die montanistischen Lehranstalten in Böhmen. Außer der seit Jahrhunderten
fortdauernden Blüte seines überaus mannigfaltigen Bergbaues, welcher sich stets einer
besonderen Gunst der Könige erfreute, kann sich das Königreich Böhmen auch rühmen,
vor allen dasjenige Land zu sein, in welchem überhaupt (in ganz Europa) die erste
bergmännische Lehranstalt errichtet wurde. Es war dies die im Jahre 1733 unter
Kaiser Karl VI. in der damals noch hervorragenden königlich freien Bergstadt Joachims -
thal errichtete „Bcrgschule", deren Zöglinge, die sogenannten „Bergscholaren" zur
Dienstleistung als Berg- und Hütten-Officianten zunächst in Böhmen bestimmt waren.
Bereits im Jahre 1762 wurde diese erste aller Moutanschulen durch das Patent vom
10. März der Kaiserin Maria Theresia nach der Landeshauptstadt Prag übertragen.
(Erst drei Jahre später, nämlich 1765 wurde zu Freiberg in Sachsen die noch
bestehende Bergakademie gegründet.) Damals erblühte in Ungarn durch reichgesegneten
Bergbau die Stadt Schemuitz und begann durch Einrichtung von Vorträgen über
' In dem seitdem amtlich ausgewiesenen Jahre 1892 betrug der Geldwerth der Berg- und Hüttenproduction (nach
Abzug des Werthes der verhütteten Erze) in Böhmen allein 41'/.. Millionen, in ganz Österreich 88V-> Millionen Gulden.
Ö76
Naturwissenschaften das berg- und hüttenmännische Studium zu pflegen. Dahin nun
— nach Schemnitz — wurde im Jahre 1770 die Prager Montanschule übertragen
und hiermit (durch das kaiserliche Patent vom 2. April) die Schemnitzer Bergakademie
gegründet.
Die aus der Prager erstandene Schemnitzer Bergakademie blieb durch nahe ein
Jahrhundert die einzige niutor" aller österreichischen Montanisten, welche seit -
her ein wahrhaft brüderliches Band der Zusammengehörigkeit ohne Rücksicht.auf
Nationalität verknüpfte und zu fröhlich nützlichem Wirken in ihrem schwierigen Berufe
anspornte.
Infolge der politischen Wirren von 1848 wurde in dem darauffolgenden Jahre 1849
einerseits die damals schon bestandene steirisch-ständische Montanschule aus Vordern-
berg als nunmehr höhere „k. k. Montanlehranftalt" nach Leoben übertragen, gleichzeitig
jedoch eine ebensolche höhere „k. k. Montanlehranstalt" in der dazumal in eminenter
Entwicklung begriffenen königlich freien Bergstadt Pribram errichtet. Jede dieser beiden
Schwesteranstalten bestand ursprünglich blos aus zwei Jahrgängen, nämlich aus einem
Bergcurse und einem Hüttencurse; die hierzu erforderlichen allgemein technischen Vorstudien
mußten entweder in dem zweijährigen Vorcurse der Schemnitzer Bergakademie (bis zum
Jahre 1869, in welchem dieselbe magyarisirt worden ist), oder an einer technischen
Hochschule (in mindestens drei Jahren) absolvirt werden. Rechtzeitig erhielt die Leobener
Montanlehranstalt, seitdem k. k. Bergakademie, auch einen zweijährigen Vorcurs; die
Pribramer Schwester-Lehranstalt wurde zwar gleichzeitig ebenfalls zu einer k. k. Berg -
akademie erhoben, vermochte aber den Vorcurs trotz aller seitherigen Bestrebungen bis
heute nicht zu erhalten.
Sonach müssen Diejenigen, welche in die Pribramer Bergakademie eintreten wollen,
zuvor die streng geforderten allgemein technischen Vorstudien entweder in Leoben (in zwei
Jahren) oder aber an einer technischen Hochschule (in drei Jahren) hören. (Wie. soeben
verlautet, ist die Eröffnung des bergakademischen Vorcurses in Pribram für 1896 in
Aussicht genommen.) — Die Bergakademie dient zur Heranbildung tüchtiger Beamten-
Candidaten für den Montan-Staats- und Privat-Dienst.
Behufs Gewinnung eines verständigen Aufsichtspersonals (Steiger, Hutmänner rc.)
besteht in Pribram seit 1849 eine besondere Bergschule, in welche von den betreffenden
Staats- und Privat-Bergwerken empfohlene Bergarbeiter ausgenommen werden und
in zwei nacheinander folgenden Jahren die für den Aufseherdienst erforderlichen
Schulkenntnisse sich anzueignen haben. In Dux wurde in den Siebziger-Jahren eine
ähnliche Bergschule speciell für das böhmische Braunkohlen-Revier von den dortigen
Bergbau-Gesellschaften errichtet.
Das Münzwesen.
Unsere Voreltern haben schon in der vorchristlichen Zeit mit ihren Nachbarn,
vorzüglich den westlichen und südlichen, einen regen Tauschhandel getrieben, wovon viele
Beweise unter den Beigaben der Heidengräber Böhmens gefunden werden. Noch lebhafter
gestaltete sich der Verkehr zwischen Böhmen und Baiern, seit das christliche Böhmen der
Regensburger Diöcese zugetheilt wurde.
In dieser Zeit ließ Herzog Arnulf (907 bis 937) in Regensburg die ersten
Denare prägen und bald darauf hat auch Boleslav I. (935 bis 967) in Prag die erste
Münze errichtet. Daß hierbei Handelsbeziehungen mit Baiern und kirchliche Angelegen -
heiten mit Regensburg entscheidend waren, darüber belehren uns die ersten Boleslav-
Denare selbst, da ihnen die Regensburger zum Muster gedient haben.
Die auffallende Ähnlichkeit der Denare beider Länder besteht vorzüglich auf der
Rückseite in der Darstellung eines Kirchengiebels (gewöhnlich mit zwei Stufen) ohne
Einfassung, um welchen herum auf der Regensburger Münze UUtUiM 6IVIH8, auf
der böhmischen OIVIll^Z zu lesen ist. Auf der Hauptseite ist hier und dort der
Name des betreffenden Herzogs angebracht, gewöhnlich um ein gleichschenkliges Kreuz,
dessen Winkel mit Kugeln, Ringen, Punkten u. s. w. ausgefüllt sind. Die späteren Denare
Boleslavs t. behielten wohl denselben Kirchengiebel, unter dem oft Buchstaben (Münz-
meisternamen) angebracht sind, aber anstatt des Kreuzes sieht man hier gar unchristliche
Embleme, nämlich einen Pfeil oder ein Schwert; andere haben auf jeder Seite je ein
Schwert oder eines ans der einen und zwei Schwerter auf der anderen Seite. Außer
Denaren kommen auch Obole vor. Schon zu Anfang der Regierung seines Nachfolgers
Boleslav ll. (967 bis 999) war die außerordentliche Ausdehnung des böhmischen Reiches
von Belang; denn außer dem eigentlichen Böhmen gehörte dazu nicht allein Mähren und
Schlesien, sondern auch Süd-Polen und Galizien bis gegen Lemberg hin und die ganze
Slovakei. Dieses bis jetzt historisch nicht genug aufgeklärte, wohl aber durch Urkunden
beglaubigte Factum findet in den Denaren dieses Herzogs insofern eine Bestätigung,
als man unter denselben in mehreren außerhalb des heutigen Böhmens gemachten reichen
Münzfunden größtentheils solche findet, die Wohl in den Abbildungen mit den gleichzeitigen
einheimischen Münzen ziemlich übereinstimmen, aber fast durchgehends eine cvrrnmpirte
Umschrift tragen. Alle diese Denare sind in unbekannten Münzstätten außerhalb Böhmens
in dem großen Reiche Boleslavs II. geprägt worden und dort als böhmische Denare in
den Handel gekommen.
Boleslav II. hatte, anschließend an die Denare seines Vaters, den Kirchengiebcl (mit
zwei Stufen) und auch das Kreuz oder die Schwerter aus seinen ersten Münzen belassen,
Böhmen. 37
578
später jedoch den Kirchengiebel mit der „Hand Gottes" oder diese entweder mit dem Kreuz,
einem Vogel oder mit einem Brustbild, das ein Kreuzchen vor dem Gesicht hat, in
Verbindung gebracht. Diese letzteren Denare mit der Legende auf der Rückseite: 0HILHI2
OHLOX OIVIck^Z kommen am häufigsten vor und sind durch das Brustbild jenen des
englischen Königs Ethelred II. (978 bis 1016) ähnlich. In diese Zeit fallen zwei seltene
Denare mit Frauennamen. Auf dem einen liest man: LI/160TX OOXIVX und auf dem
anderen: HiWIX H1I6IXX. Der erstere Name, welcher auf der Hauptseite in Verbindung
mit 80llH!2l,XV8 vorkommt, ist in der böhmischen Geschichte ganz unbekannt, LIX60TX
(oder vielleicht IMX60TX) wird bald als eine Gemalin Boleslavs I., bald als jene
Boleslavs II. angesehen. Die wahrscheinlich eine Tochter Konrads, Königs von
Burgund und Arelat, war geschichtlich die (zweite?) Gemalin Boleslavs II. und nach
der Legende ans der Rückseite: 6IVITX8 IMllXIO zu schließen, hat sie diese Burg als
Witwe innegehabt.
Boleslav III., Vladivoj und Boleslav Chrabry (999 bis 1003) von Polen
haben die Denare um einige Typen vermehrt. Boleslav III. beließ auf denselben die
älteren Darstellungen, welche er paarweise verschieden combinirte, setzte jedoch neue
Legenden hinzu, nämlich: NI^llLTXXXLV??KX6X 0IVI1X8und 2XXTX
1VI8L0KXV, welche außer den Ortsnamen (Münzstätten) bisher nicht genügend erklärt
sind. Vom Herzog Vladivoj ist nur ein Typus bekannt (Kreuz — Kreuz) mit der
Umschrift LIIXUUH ?KX6X. Dem Boleslav Chrabry werden Denare zuge -
schrieben, auf welchen sich ein kae6"-Kops entweder im ganzen Felde oder auf
einem Kreuze befindet; ihre Ausführung läßt viel zu wünschen übrig.
Die viel zierlicheren Denare des Herzogs Jaromir (1003 bis 1012) weisen etliche
neue Typen auf, unter welchen das byzantinische Brustbild Christi mit der segnenden
Rechten und dem Buche in der Linken besondere Erwähnung verdient. Eine zweite
Gattung hat im ganzen Felde den Namen auf einer dritten kommt hier zum
erstenmal der Name des böhmischen Landespatrons 808.1VIM6U2UXV8 vor. Jaromirs
jüngerer Bruder Udalrich (1012 bis 1037) hatte höchst wahrscheinlich schon vor seinem
Regierungsantritt als Theilsürst in der Saazer Provinz Denare gemünzt, und zwar jene,
welche mit den eben erwähnten Typen übereinstimmen. Seine Herzogsdenare tragen
durchwegs den Namen des böhmischen Landespatrons, welcher von da an beinahe auf
keinem Denar vermißt wird. Die Bilder auf den Münzen Udalrichs und seines Sohnes
Bretislav I. (1037 bis 1055) sind wohl etwas derb, aber sehr gut kenntlich; die reiche
Kleidertracht auf denselben trägt nicht wenig bei zur Kenntniß der damaligen Costüme.
Beinahe bis an das Ende der Regierung Bretislavs I. kann man an der Größe
der Denare keine absichtliche Änderung wahrnehmen, da sie alle so ziemlich 18 bis
Haupttypen der Denaren- und Bracteaten
Periode.
Typus und sämmtlich von gröberer Arbeit mit
primitiv ausgeführten Darstellungen. Sein Nach -
führung.
Für die Münzgeschichte Böhmens ist von
großer Wichtigkeit die Rückeroberung Mährens
durch Bretislav im Jahre 1029. Denn von dieser
Zeit an haben die regierenden Herzoge Böhmens
ihre nächsten Anverwandten in erster Reihe mit
Antheilen in Mähren bedacht, mit welchen auch
das Münzregale verbunden war. Die Antheile
waren Olmütz, Brünn und Znaim und die
daselbst geprägten Münzen erkennt man nach dem
Namen des Kirchenpatrons, der auf ihnen zu lesen
ist, so daß Denare mit 808.1VMM2I^V8 auf
Olmütz, 808. ?HTHV8 auf Brünn und 808.
biI00HV8 auf Znaim weisen. Bretislav selbst
war bis zur Besteigung des böhmischen Thrones
Theilsürst in Brünn, wovon seine Denare mit 808.
?LTKV8 Zeugniß ablegen. Denselben Brünner An-
theil erhielt später sein Sohn Vratislav II., dessen
Denare aus dieser Periode (bis zum Jahre 1061)
580
dieselbe Legende tragen, während auf seinen Herzogs- und Königsmünzen (1061 bis 1092)
nur 868. 4VUX6WUXV8 vorkommt. Zu gleicher Zeit besaß den Olmützer Antheil Otto
der Schöne (1061 bis 1087), der bekanntlich nie Herzog von Böhmen gewesen ist;
auf seinen Münzen ist auch nur der Name des Kirchenpatrons von Olmütz zu lesen.
Der Nachfolger des Herzogs Vratislav II. war Konrad, der in Böhmen nur etliche
Monate im Jahre 1092 regierte. Vordem war er Theilfürst in Brünn und Znaim;
als böhmischer Herzog hat er keine Denare geprägt, denn die von ihm bekannten tragen
nur den Namen 868. UUUUV3 und gehören also nach Brünn. Seine Nachfolger:
Bretislav II. (1092 bis 1100) und Borivoj II. (in der ersten Periode 1100 bis 1107)
setzten die Denarenprägung mit den üblichen Darstellungen und in der bisherigen Manier
fort. Erst als Svatopluk von Olmütz (1107 bis 1109) den böhmischen Thron bestieg,
kann man an den Münzen eine feinere Arbeit in der ganzen Durchführung bemerken
und unter Vladislav I. (1100 bis 1125) erreichten sie ihren Glanzpunkt. Die Denare
dieses Herzogs sind anerkannt die schönsten unter allen gleichzeitigen nicht nur in Mittel -
europa, sondern auch in Italien, und würdig reihen sich an dieselben die Denare
Borivojs II. (in der zweiten Periode 1117 bis 1120). Dieselbe Meisterhand kann man
noch bewundern auf den ersten Denaren Sobeslavs !. (1125 bis 1140), aber auch die
späteren dieses Herrschers stechen zu ihrem Vortheil merklich ab von denen Vladislavs II.
als er Herzog (1140 bis 1158), noch mehr aber, als er König geworden (1158 bis 1173).
Diese letzteren Denare sind nicht nur seicht geprägt, viele davon schüsselartig und mit ans -
gebröckelten Umschriften, sondern auch durchwegs von schlechtem Korn. Nichtsdestoweniger
verdienen zwei besonders erwähnt zu werden. Auf dem einen ist bildlich dargestellt die
Übergabe der Königskrone von Kaiser Friedrich I. an Vladislav II. und der zweite ist ein
seltener Krönungsdenar ohne Bild, nur mit der vierzeiligen Aufschrift: UUX VUXVI8UXV8
ans der Hauptseite und 1VVIUX UU6IXX auf der Rückseite. Von seinen Nachfolgern:
Sobeslav II. (1173 bis 1178) und Friedrich (1173, 1178 bis 1189) haben wir
ebenso geringhaltige Münzen von seichter Prägung und mit abgebröckeltem Rande.
Nach Friedrich nehmen wir eine merkliche Veränderung in der böhmischen Münze
wahr, und zwar schon unter Konrad Otto (1188 bis 1191), dessen Denare größer und
im Feingehalte besser sind als die vorigen. Dagegen haben Wenzel II. (1191 bis 1192),
der Bischof-Herzog Bretislav Heinrich (1193 bis 1197), noch mehr aber Premysl
Otakar I. (1192, 1197, König 1198 bis 1230) uns so ungewöhnliche, auch vier -
eckige, seicht geprägte Münzen beinahe ohne alle Umschrift hinterlassen, daß schon ihr
Äußeres, aber noch ungleich mehr ihr sehr geringer Silbergehalt (bis nur "V^go) zur
Genüge die Zeit der damaligen Zwistigkeiten und Kämpfe unter den Premysliden uns vor
die Augen stellen. Bei der Betrachtung dieser allgemeinen Verkommenheit der böhmischen
581
Denare kann man sich gar nicht wundern, daß etwa nm das Jahr 1215 dieselben durch
Bracteaten ersetzt wurden.
. Am Schlüsse dieser so wichtigen Denarenperiode, die etwa 280 Jahre in Böhmen
dauerte und gewiß viele Glanzpunkte aufzuweisen hat, wollen wir nur kurz Folgendes
erwähnen. Die ersten Denare, geradeso wie die Regensburgischen, haben das Karolingische
Gewichtspfund — 12 Unzen (^ 367 2 Gramm) zur Basis gehabt. Dasselbe als
Zahlpfund wurde zu 20 Schillingen L 12 Pfennige (^>), also zu 240 Pfennige gerechnet.
Als mit der Zeit die Denare in Schrott und Korn schlechter wurden und sich das
Gewichtspfund mit dem Zahlpfunde nicht mehr deckte, kam als Zahleinheit das
Talent — 20 Schillinge L 12 Pfennige, also wieder zu 240 Pfennige in Gebrauch.
Bald darauf erscheint die Mark, und zwar in doppelter Eigenschaft,nämlich als Gewichts -
mark (iriareu xniri g.r»6irti) zu 8 Unzen ü 2 Loth, also zu 16 Loth (— ^/g Karolingische
Pfund — 244'8 Gramm) und als Denarenmark (naurou äsirariornin). Im ersten
Falle verstand man darunter löthige (feine) Silberbarren 16 Lothe schwer, im zweiten
jedoch soviele Denare, als sie zusammen 16 Lothe wogen. Dieser letztere Umstand erklärt
es zur Genüge, warum gleichzeitige Denare stückweise nicht dasselbe Gewicht haben; sie
waren nämlich nicht justirt, also manche leichter, manche schwerer, aber eine bestimmte
Anzahl derselben wog eine Mark auf. Und dadurch unterscheidet sich die Denarenmark
von dem Zahlpfunde und dem Talente ^ 240 Pfennige. Größere Summen wurden
damals in Silberbarren (ul naaroo) gezahlt, wobei Denare nur zur Ausgleichung des
betreffenden Gewichtes in Verwendung kamen; kleinere Geschäfte geschahen durch Aus -
zahlung der Münzen selbst, also nach Talenten, Schillingen und Pfennigen. Unser ältester
Chronist Cosmas (gestorben 1125) sagt: „200 böhmische Denare sind eine Mark", welche
Gleichung jedoch nur für ältere Denare Geltung hat, da sich dieselben später in Schrott
und Korn sehr geändert haben. Die alte böhmische Mark wird 253 2 Gramm gleichgesetzt,
woraus sich das Durchschnittsgewicht eines Denars auf 1266 Milligramm stellt.
Die Bracteaten-Periode dauerte in Böhmen etwa vom Jahre 1215 bis 1300.
Ihre Repräsentanten sind dünne, gebrechliche und meistens stumme Blechmünzen, ans
denen nur ausnahmsweise der Name OHO^.UV8 oder (auch abgekürzt)
zu lesen ist. Da sich aber in dieser Periode zwei Premysl Otakare und zwei Wenzel auf
dem böhmischen Throne ablösten, ist es bis jetzt nicht gelungen, die einzelnen Stücke ganz
bestimmt dem oder jenem König zuzuweisen. Begründet ist aber die Ansicht, daß die
größeren Braeteaten von 3 90 bis 4'20 Centimeter Durchmesser die ältesten sind, sowie daß
die auf denselben (stets „onkaes") abgebildete gekrönte Person den böhmischen König und
die ungekrönte den mährischen Theilfürsten vorstellt. Die Bilder auf den anderen kleineren
Bracteaten sind sehr mannigfaltig; die auf ihnen vielfach vorkommenden Thierbilder und
582
Ungethüme verrathen den Einfluß der Krenzzüge, aber in Bezug ans den Namen des
Münzherrn bleiben sie stumm. In gleichzeitigen Urkunden werden die Blechmünzen stets
„Denare" genannt und wie diese nach Talenten, Schillingen und Pfennigen gerechnet.
Nach den Bracteaten kamen die Prager Groschen. Wenzel II. (1278 bis 1305)
berief nämlich aus Italien drei des Münzen- und Eisenschneidens kundige Männer, den
Renart, Alfard und Tyno Lombardus, welche im Juli 1300 in Kuttenberg die Prager-
Groschen (6U088I ?H^6M8U8) zu 12 Pfennigen ?H^OM8U8) zu münzen
anfingen. Das schöne Gepräge zeigt auf der Hauptseite die böhmische Krone mit dem
Namen des betreffenden Königs und auf der Rückseite das böhmische Landes -
wappen. Diese typischen Bilder haben sich auf den Münzen ohne Unterbrechung
vom Jahre 1300 bis 1547 erhalten. Allgemein wird angenommen, daß der Prager
Groschen, als eine ganz neue Münze, das frühere Denaren- und Bracteatensystem
vollständig verlassen habe und auf einer ganz anderen Basis gegründet worden sei. Dem
ist jedoch nicht so; eben durch die Theilung des Groschen in 12 Pfennige schließt sich
derselbe fest an die Talentrechnung der Denare an, indem er selbst einen geprägten
Schilling repräsentirt, welcher früher nur als Zahlschilling vorkam. Es waren
demnach 20 Prager Groschen ä 12 Pfennige — 240 Pfennigen — 1 Talente, und da
man nach Schock zu 60 Stück rechnete, war ein Schock Prager Groschen ^ 3 Talente.
Von den älteren Schriftstellern wurden die Prager Groschen für „löthig", das
heißt 16-löthig gehalten, als ob 60 Stücke aus einer Mark „fein" gemünzt worden
wären. Nach etlichen von uns vorgenommenen Brennproben ist nun festgestellt, daß die
ersten Groschen Wenzels II. bei einem Gewicht von 3 7 Gramm sgo-gss/^» sein
waren. Johann von Luxemburg (1310 bis 1346), der auch halbe Groschen prägen
ließ (die einzigen in der ganzen Groscheuperiode), hat den Feingehalt auf herunter -
gesetzt und seine Nachfolger verringerten denselben soweit, daß unter Ferdinand I.
(1526 bis 1564) die Groschen nur noch "°/iooo fein waren bei einem Gewicht von
2'7 Gramm.
Außer der gewöhnlichen Mark zu 60 Stück (iriarea grossorum) kannte man eine
schwere Mark (inureu Fimvis) zu 64 Stück und eine leichte oder königliche Mark
(marea Ivvis seu reZalis) zu 56 Stück, obgleich daneben auch löthige Silberbarren nach
der Gewichtsmark in Verwendung kamen (z. B. im Jahre 1306 »inarea ui-Asrcki puri,
krnAöQsis xonckoris, In ponäors vt non in ^rossis äsriuriis). Keine gleichzeitige noch
auch ältere Münzgattung war in fremden Ländern so beliebt und man kann sagen, so
epochemachend wie die Prager Groschen, welche überhaupt im Münzwesen Mitteleuropas
einen dauernden und wohlthätigen Umschwung bewirkt haben. Denn schon unter Johann
von Luxemburg rechnete man nach denselben in Steiermark, wo zuerst 66, dann 68 Stücke
584
auf eine dortige Mark gingen; beinahe zur selben Zeit wurden in Wien 72, in Polen
48 und in Brandenburg 68 Stücke jedesmal auf die dortige Mark gerechnet. Mark -
graf Friedrich der Freudige in Meißen (gestorben 1324), Wenzel, Sohn des Königs
Johann, in Luxemburg (gestorben 1384), der Landgraf Ludwig I. (1453 bis 1458) in
Hessen, der Kurfürst Friedrich ll. in Brandenburg (1440 bis 1461) u. s. w. haben ihre
Münze nach den Prager Groschen eingerichtet. Übrigens ist bekannt, daß Karl IV. in
dem in den Jahren 1373 bis 1378 zu Stande gebrachten „Landbuche der Mark
Brandenburg" alle größeren Summen nur in Prager Groschen hat verzeichnen lassen.
Außerdem muß erwähnt werden, daß zur Zeit Wenzels IV. (gestorben 1419) und in der
folgenden Husitenperiode die Prager Groschen in so großer Menge nach Deutschland
gewandert sind, daß viele münzberechtigte Reichsstädte dieselben nach ihrer Münze
valvirt und mit einer Contramarke versehen haben, wodurch dieselben zur dortigen
Reichsmünze gestempelt in Umlauf kamen. Mit der Zeit kehrten sie als Handelsmünzen
wieder nach Böhmen zurück, wo wir sie jetzt in verschiedenen Münzfunden antreffen.
Neben den gewöhnlichen Prager Groschen wurden zu der Zeit auch Dickgroschen
(bis 80 Gramm schwer) geprägt, welche wohl keine gangbare Münze waren, sondern
von den böhmischen Königen (zahlreich von Vladislav II.) bei ihren Besuchen fremder
fürstlicher Häuser den dortigen Hofleuten zum Andenken geschenkt worden sind.
Die Ura^onsos" (etwa fein) kommen noch von Wenzel IV. vor.
In der nachfolgenden Husitenperiode (1419 bis 1436) münzte man in Kuttenberg ein -
seitige Heller mit dem Landeswappen ohne Umschrift, die mit der Zeit immer schlechter
und zuletzt nur aus reinem Kupfer geprägt wurden. Vom König Sigmund (gestorben
1437) und Albrecht (gestorben 1439) existiren keine böhmischen Münzen; von dem König
Ladislav (gestorben 1457) kennen wir Groschen und Pfennige. In den letzten 40 Jahren
war das Münzwesen in Böhmen sehr herabgekommen und erst Georg von Podebrad
(gestorben 1471) war ernstlich bemüht, dasselbe zu heben und den Münzordnungen
Karls IV. und Wenzels IV. anzupassen. Aus diesem Grunde wurde im Landtage 1467
und 1470 viel über die Verbesserung der Münze verhandelt, die fremde, schlechte Münze
im Lande verboten und nur die Meißner Groschen, welche hier sehr beliebt und in
großer Anzahl im Umlaufe waren, wurden belassen und so valvirt, daß 2 Meißener —
1 Prager Groschen. Sein Nachfolger Wladislaw II. (1471 bis 1516) hat nach den
Beschlüssen des Landtages vom Jahre 1470 Groschen zu 7 Weißpfennigen — 14 Klein -
pfennigen gemünzt. Seine Groschen waren "0/^gg, Weißpfennige ^o/^oo und Klein -
pfennige "°/iogg fein. Und so blieb es auch unter Ludwig (gestorben 1526) und in den
ersten Regiernngsjahren des Königs Ferdinand I. (1526 bis 1564). Da jedoch in dieser
Zeit wieder die gute Münze aus dem Lande geschleppt, dort in schlechte umgemünzt und
585
sodann abermals nach Böhmen gebracht wurde, baten die böhmischen Stände auf den
Landtagen wiederholt den König, diesem Übel zu steuern. Vergeblich suchte der
König die Stände zum Beitritt zu der in Eßlingen am 10. November 1524 beschlossenen
deutschen MünzordnuNg zu bewegen. Erst nach der Schlacht bei Mühlberg zeigten sich
die böhmischen Stände auch in dieser Richtung nachgiebiger gestimmt. Als daher Kaiser
Karl V. auf dem Reichstage zu Augsburg (28. Juli 1551) eine neue Münzordnung
für das deutsche Reich zu Stande brachte und diese von König Ferdinand I- auch in
Böhmen gefördert wurde, erklärten sich die böhmischen Stände — wohl erst nach
zehn Jahren — auf dem am 1. October 1561 abgehaltenen Landtage für dieselbe. Nach
dieser neuen Münzordnung wurden die Prager Groschen (deren letzte Stücke die Jahres -
zahl 1547 tragen) gänzlich abgeschafft und an ihre Stelle der Reichsgulden ü 60 Kreuzer
als Einheit gesetzt. Kurz, es wurde in Böhmen die ganz und gar nicht beliebte „Krenzer-
währung" eingeführt und nur wegen des Ausgleiches mit der alten Groschenwährung
sollten noch bis auf weiteres Weiß- und Kleinpfennige gemünzt werden, und zwar so, daß
3 Weißpfennige 1 Kreuzer.
An diesem sehr wichtigen Wendepunkte der böhmischen Münzgeschichte sei uns
erlaubt, noch zwei Münzgattungen kurz zu erwähnen, nämlich die Dukaten und Thaler.
Die ersten Dukaten hatte in Böhmen König Johann von Luxemburg im
Jahre 1325 geprägt, und zwar nach dem Muster der Florentiner; sie waren 3 49 Gramm
schwer und 23^/s Karat fein (^ ^s/Ev). In der ersten Zeit galt ein Dukaten 24, später
28, im Jahre 1528 schon 30 Prager Groschen und stieg desto höher im Werthe, je
schlechter diese oder die Silbermünzen überhaupt waren, so z. B. in den Jahren 1551
bis 1561 bis auf 45 Groschen. Den böhmischen Dukaten waren die ungarischen an Güte
gleich, und es muß besonders bemerkt werden, daß sich dieselben nicht nur bis zur Zeit
Maria Theresia's — wo dieselben noch als böhmische Münze erkennbar sind —, sondern
bis auf unsere Tage von gleichem Schrott und Korn erhalten haben.
Die Thaler haben die Grafen Schlik zu Joachimsthal im Jahre 1519 zu münzen
angefangen und auf dem böhmischen Landtage 1520 wurden sie von den Ständen als in
Böhmen gangbare Münze anerkannt, obgleich der König Ludwig dieselben als solche
nicht bestätigte. Dies war überhaupt in Böhmen der erste Fall, wo neben dem Herzog
oder König auch ein Privater münzen durfte. König Ferdinand I. erkannte sogleich die
Unzukömmlichkeit dieser Anmaßung und erklärte schon im Jahre 1527 ganz correct
die Berechtigung zu münzen als sein königliches Privilegium. Mit den Grafen Schlik
fand er sich vorzüglich in Betreff des Joachimsthaler Silbers ab, bewilligte denselben noch
andere Vergütungen, erklärte aber die Münze als königliches Regal. Mit besonderer
Erlaubniß des Königs Ferdinand II. münzten später (vom Jahre 1627) die Grafen
586
Schlik in Plan; die letzten wenigen Schlikmiinzen reichen bis in die Regierungszeit der
Kaiserin Maria Theresia. Die Schlilthaler wurden ursprünglich zu 23 Prager Groschen
in Groschen oder zu 24 Groschen in Weißpsennigen oder aber zu 26 Groschen 5 Pfennig
in Kleinpfennigen gerechnet, welche verschiedene Valvirung darin ihre Erklärung findet,
daß man die Thaler als fremde, also nicht böhmische Münze behandelte und nur die
Prager Groschen, Weiß- und Kleinpfennige für Landesmünze ansah.
Die oben erwähnte Münzordnung vom Jahre 1561, welche, wie gesagt, die
Groschenwährung abschaffte, war in Böhmen von kurzer Dauer. Schon Kaiser
Maximilian II. (1564 bis 1577) sah sich genöthigt, den Beschlüssen des im Jahre 1573
abgehaltenen Landtages nachzugeben, die Prägung der Reichsgulden ä 60 Kreuzer mit
allen Unterabtheilungen (zu Dreißig-, Zehn-, Zwei- und Ein-Kreuzerstücken) aufzulassen
und die Thaler, Einhalb- und Einviertel-Thaler, weiße Groschen zu 7 weißen oder
14 kleinen Pfennigen wieder einzuführen. Die „Weißgroschen", viel kleiner als die alten
Prager Groschen, kommen hier zum ersten Mal vor; 30 Weißgroschen --- 1 Thaler
^ 1 Schock meißnisch -- 70 Kreuzer. Kaiser Rudolf II. (1577 bis 1612) setzte die
Thalerprägung fort und führte neben den Weißgroschen noch den Mal«^ Zross"
(Kleingroschen) zu 7 Kleinpfennigen ein. Diese kleine, mit böhmischer Aufschrift
versehene Münze war nur eine Folge der damals sehr beliebten Rechnung nach
Meißner Groschen; 2 Kleingroschen --- 1 Weißgroschen, also 60 --- 1 Meißner Schockü
Dieselben Münzen wurden auch unter Matthias II. (1612 bis 1619) geprägt.
Nach seinem Tode übernahm das ständische Directorium die Verwaltung aller
Angelegenheiten des Königreiches, also auch das Münzregale, und errichtete eine ganz
neue Münzordnung (28. April 1619). Nach dieser wurde verordnet, daß statt der
Weiß- und Kleingroschen Vierundzwanzig-, Zwölf-, Drei- und Ein-Kreuzerstücke aus -
gemünzt werden sollen als Hauptmünze und nur nebenbei auch Weiß- und Kleinpfennige
zum Ausgleich der älteren Währung. Thaler wurden nicht geprägt und der alte Thaler
zu 45 Weißgroschen auf 150 Kreuzer valvirt, so daß 3 Weißgroschen --- 10 Kreuzer.
Diese Münzordnung hatte volle Geltung auch unter dem König Friedrich von der
Pfalz, der auch Thalerstücke zu 96 Kreuzer prägen ließ. Die ständischen Münzen tragen
die Jahreszahl 1619 und 1620, die des Königs Friedrich 1620 und 1621, obgleich
derselbe im letztgenannten Jahre nicht mehr in Böhmen war und die Münzen also kein
böhmisches Fabrikat sind.
Als König Ferdinand II. in Böhmen wieder zur Regierung kam, waren die
Reichsfinanzen so herabgekommen, daß er auch hier das Münzregale an ein Consortium
> Aus die Weiß- und Kleingroschen ist eine in Böhmen noch zu Anfang dieses Jahrhunderts übliche, wohl nur imagi -
näre Rechnung der böhmischen Schock zu 140, also der Meißner Schock zu 7» Kreuzer zurückzusühren.
W
587
verpachtete, dem Karl von Liechtenstein, Albrecht von Waldstein, Paul Michna von
Vacinov, Johann de Bitte, Jacob Bassevi, Johann Mal, von Eggenberg u. A. Vor -
ständen. In der kurzen Zeit vom Jahre 1621 bis 1623 hatte dieses gewissenlose Con-
sortium durch die Ausgabe der berüchtigten „laugen Münz'" die Staatscassa so ruinirt,
daß im Jahre 1623 „die große Münzcalada", also der Staatsbankervtt publicirt wurde.
Nach dieser unheilvollen Zeit erholte sich das Münzwesen in Böhmen nur sehr langsam.
Die hierauf geprägten Münzen des Königs Ferdinand II. bestehen in Thalern (zu
120 Kreuzern) und ihren Theilen bis auf die Drei-, Ein- und Einhalb-Kreuzerstücke
herunter, wobei es auch unter dem König Ferdinand Hl. geblieben ist. Hier sei noch
erwähnt, daß der Gras Albrecht von Waldstein, Herzog zu Friedland, und die
Fürsten von Eggenberg. Herzoge von Krumau, von Ferdinand II. für münzberechtigt
erklärt wurden und letztere noch unter Kaiser Leopold I. gemünzt haben. Die Stadt Eger
münzte Heller von circa 1250 bis 1743.
Von Ferdinand IV., der den 5. August 1646 zum böhmischen König gekrönt
wurde, aber noch zu Lebenszeiten seines Vaters (1654) starb, haben wir keine Cursiv-,
sondern nur Krönungsmünzen. Kaiser Leopold I. vermehrte die böhmischen Silbermünzen
um drei Gattungen, indem er die Fünfzehn- und Sechskreuzerstücke, sowie die „böhmische
Landmünze", letztere Gattung im Werthe von V- bis 1 Kreuzer (1695) einführte. Wie
seine Vorfahren münzte er auch einfache und mehrfache Dukaten und bereicherte die
Goldmünze durch Einviertel-Dukatenstücke, welche auch bei seinen Nachfolgern Vorkommen.
Dieselben Münzgattungen erhielten sich unter der Regierung Josephs 1. und Karls VI.,
welcher die Dukaten aus dem Eulauer Golde prägte und zu den vorigen Silbermünzen
noch den Einviertel-Kreuzer einführte. Die Kaiserin Maria Theresia vermehrte die
bestehenden Münzsorten um etliche neue, so daß unter ihrer Regierung in Böhmen außer
den Dukaten Thaler, Gulden, Dreißig-, Zwanzig-, Siebzehn-, Fünfzehn-, Zehn-, Sechs-,
Drei- und Ein-Kreuzerstücke von Silber und außerdem Kreuzer, Einhalb-Kreuzer,
Gröscheln und Pfennige von Kupfer geprägt wurden. Mit dieser Regentin nimmt die
Reihe der böhmischen Münzen nach einer mehr als achthundertjährigen Dauer ihr
Ende. Denn nachdem die Münzstätte in Böhmisch-Bndweis schon vor dem Jahre 1618,
in Joachimsthal 1670, in Kuttenberg 1726 geschlossen worden war, kam zuletzt die
Reihe auch an Prag. Außer dem Kleinknpfer von Maria Theresia sind keine jüngeren
böhmischen, das heißt als böhmisch erkennbaren Münzen ans dieser Münzstätte bekannt,
obgleich dieselbe erst 1784 geschlossen wurde. In der Regierungszeit des Kaisers Franz
hat man sie wohl im Jahre 1795 wieder in Gang gebracht; erst im Jahre 1857 wurde
sie wieder geschlossen; der unter Maria Theresia gebräuchliche Münzbuchstabe? (--- Prag)
mußte einem 1! weichen.
588
Das Verkehrswesen.
Die hohe Stufe der Land- und Forstwirthschaft, die Entwicklung des Bergbaues,
die Blüte der Industrie in Böhmen und die geistige Regsamkeit seiner Bewohner gelangt
einerseits in dem Stande der Verkehrsmittel des Landes zum prägnanten Ausdruck
und erklärt anderseits die verschiedenen Wünsche nach immer reicherer Ausgestaltung des
Verkehrsnetzes und die verschiedenen Projecte im Bereiche des Wassertransportes und
Eisenbahnwesens, deren Verwirklichung der Zukunft Vorbehalten ist.
Das in Staats-, Landes-, Bezirks- und Gemeindestraßen gegliederte Wegenetz
Böhmens beträgt über 25.000 Kilometer, wovon beiläufig 4.300 Kilometer auf Staats -
straßen, 16.000 auf Bezirksstraßen, ein geringer Bruchtheil auf die Landesstraßen, der
Rest auf die Gemeindestraßen entfallen. Zn diesen Landwegen kommen 1160 Kilometer
für die Schiffahrt und Floßfahrt benützbare Wasserstraßen, darunter wieder 354 Kilo -
meter schiffbare Flußstrecken.
In der Gegenwart tritt uns im Bereiche des Wassertransportes als Haupt -
verkehrsader die untere Elbe, insbesondere von Aussig bis an die Landesgrenze entgegen,
auf welcher der Verkehr seit Durchführung größerer Regulirungsarbeiten und Erschließung
der Braunkohlenwerke im Teplitzer Bezirke einen gewaltigen Aufschwung genommen hat.
Älter ist jedoch die Flößerei und Schiffahrt ans der Moldau oberhalb der Hauptstadt Prag
von Budweis angefangen. Schon unter Ferdinand I. beginnt auf der Strecke Budweis-
Prag der Transport des Salzes, welches aus den Gmnndener Salinen auf der Traun
und Donau bis Mauthausen und von da zu Lande bis Budweis verfrachtet wurde. In
die Regiernngszeit Ferdinands I. fallen die ersten bedeutenden, auf Kosten der königlichen
Kammer vorgenommenen Regulirungsarbeiten. An den Wehren wurden Durchlässe
angebracht, damit Flöße und Schiffe thalwärts und bergwärts diese Flußstrecken anstands -
los passiren konnten. Im Interesse der königlichen Kammer wurden der Einfuhr des
baierischen Salzes nach Böhmen immer größere Schwierigkeiten entgegengesetzt und in
demselben Maße steigerte sich der Transport des Gmnndener Salzes auf der Moldau.
Unter Ferdinand III. und Maria Theresia erfolgten weitere Verbesserungen des
Wasserweges der oberen Moldau. Im Jahre 1774 wurde die Verschiffung des Salzes von
Budweis in der Richtung nach Moldauthein und Prag an den Fürsten Schwarzenberg
verpachtet. Die Leitung der Verschiffung erfolgte aber durch den vom Staate bestellten
königlichen Schiffmeister. Im Jahre 1793 erscheint als königlicher Schiffmeister in Bnd-
weis Thomas Lanna, dessen Nachkommen in der Geschichte der Schiffahrt und des
Wasserbaues Böhmens eine bedeutende Rolle spielen. Die Entwicklung der Schiffahrt auf
der Moldau abwärts von Prag und aus der Elbe bis zur böhmisch-sächsischen Landesgrenze
589
ist jüngeren Ursprnngs. Erst die am 23. Juni 1821 unter den Userstaaten abgeschlossene
Elbeschiffahrtsaete brachte die Schiffahrt auf diesem Flusse zu größerer Entfaltung.
Diese Convention bestimmt in Ausführung der Bestimmung der Wiener Congreßacte vom
9. Juni 1815, daß die Schiffahrt auf dem Elbestrom von der Stelle der Schiffbarkeit
des Flusses bis an das Meer unter Beseitigung aller Stapel- und Umschlagrechte frei und
Jedermann gestattet sein solle, der mit geeigneten Fahrzeugen versehen von seiner Landes -
obrigkeit dazu die Erlaubniß erhalten habe. Im Jahre 1822 entstand zur Herstellung
einer directen Schiffahrtsverbindung zwischen Prag und Hamburg die Prager Segel-
fchiffahrtsgesellschaft; am 1. Mai 1841 erfolgte in Karolinenthal bei Prag der Stapellauf
des Dampfers „Bohemia" zur Vermittlung des Personenverkehrs zwischen Prag und
Dresden. Jndeß wurde seit Eröffnung der Bahnlinie Prag-Bodenbach der Dampfer -
betrieb auf der Moldau wieder eingestellt und es besteht gegenwärtig nur auf der Elbe
von Leitmeritz bis Tetschen der von der böhmisch-sächsischen Dampfschiffahrtsgesellschaft
betriebene Passagier-Dampferverkehr.
Unter der Regierung Seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph I. erfolgt die
Vornahme größerer Regulirungsarbeiten an der Elbe, der Bau von Hafenanlagen in
Rosavitz und Aussig, die Herstellung von Umschlagplätzen in Aussig, Rosavitz und
Laube. Es erfolgt die Einführung von Schlepp- und Kettendampfern, es entsteht die
österreichische Nordwest-Dampfschiffahrtsgesellschaft. Welch ein gewaltiger Fortschritt!
Während im Jahre 1822 der Elbeverkehr nur 19.710 Tonnen (zu 1000 Kilo) betrug,
belief sich im Jahre 1890 der Gesammtverkehr auf 3,010.679 Tonnen. Die Haupt -
verkehrsgüter sind Miueralkohle, Zucker, Getreide, Hülsenfrüchte, Obst, Salz, Baumwolle
und Petroleum. Die interessante Statistik des böhmischen Braunkohlenverkehrs ergibt,
daß im Jahre l890 von Aussig 5343 Kohlenschiffe mit einem Ladungsgehalt von
1,681.812 Tonnen abgelassen worden sind.
Im Anschluß an die Regulirung der Elbe wurden auch in der Moldau von Prag
bis Melnik die zur Hebung der Schiffahrt nöthigen Arbeiten ausgeführt, ein neuer Hafen
sammt Umschlagplatz in Holesovitz bei Prag hergestellt und die Erweiterung des
Hafens in Karolinenthal in Angriff genommen. In der durch Prag sich hinziehenden
Moldaustrecke ist der Verkehr durch die hier bestehenden vier Wehre gehemmt; dieses
Hemmniß soll durch Herstellung eines von Karolinenthal nach Prag führenden Schiffahrts -
kanals und eines zur Güterverladung dienenden Treppenquai's umgangen werden. Die
Realisirung dieses Projectes und die Weiterführung dieses Schiffahrtsweges bis zu den
letzten Wehren oberhalb Prag wird einen großen Wendepunkt in der Entwicklung der
Moldauschiffahrt bedeuten und den Gedanken Karls IV. verwirklichen, Prag durch
Förderung der Schiffahrt zu einein Mittelpunkt des Handels zu erheben.
590
In der oberen Moldau sind gleichfalls verschiedene Regulirnngsarbeiten ausgeführt
worden und seit dem Jahre 1865 ist zwischen Prag und Stechowitz ein Dampfschiffahrts -
verkehr eröffnet. Auf der Strecke Budweis-Prag besteht seit jeher die Holzflößerei,
dagegen hat infolge Herstellung der Franz Josephbahn der Schiffsgüterverkehr auf
dieser Strecke bedeutend abgenommen. Die Verfrachtung des Salzes und Graphits hat
hier vollständig aufgehört und die noch im Jahre 1865 auf 24.708 Tonnen veranschlagten
Schiffsgüter sind im Jahre 1887 auf 2111 Tonnen gesunken.
Die kleineren Flüsse Böhmens, die Luznitz, Wottawa, Beraun, Maltsch und Eger
werden seit dem Jahre 1869 auf Landeskosten regulirt, während die Regulirung der
schiffbaren Flüsse Staatssache ist. Das im Jahre 1842 dem Schiffsmeister Adalbert Lanna
ertheilte Privilegium zum ausschließlichen Betriebe der Schiffahrt aus der Luznitz wurde
im Jahre 1849 aufgehoben, um diesen Fluß dem allgemeinen Verkehr zu übergeben und
den Holzreichthum jener Gegenden dem ganzen Lande nutzbar zu machen.
In der Gegenwart ist man wieder auf das Project der Herstellung eines Donau-
Moldaukanals zurückgekommen. Das Project ist naheliegend, denn die von ihrem
Ursprung südwärts fließende und dann nach Norden gewendete Moldau ist an der
Stelle, wo sich die Wendung vollzieht, nur etwa 20 Kilometer von der Donau entfernt.
Wenn es gelänge, diese wichtige Verbindung herzustellen, wäre auch die Elbe mit der
Donau verbunden und damit eine Wasserstraße zwischen der Nordsee und dem Schwarzen
Meere geschaffen. Schon Karl IV. soll dieses Project ins Auge gefaßt haben und es ist
im Laufe der Zeit wiederholt aufgetreten. Kaiser Joseph I. ließ auf Vorschlag des Grafen
Wratislaw die Frage der Schiffbarmachung der Moldau und ihrer Verbindung mit der
Donau durch den Wasserbaumeister Lothar Vogemonte begutachten, welcher die
Resultate seiner Untersuchungen 1708 in einer in italienischer Sprache herausgegebenen
Denkschrift veröffentlichte. Nach seinen Vorschlägen soll entweder der Kampfluß in
Niederösterreich mit der Lanschitz bei Weitra, welche unter dem Namen Luschnitz
(Luznic) südlich von Tabor bei Moldauthein sich mit der Moldau vereinigt, oder die Aist
bei Freistadt in Oberösterreich mit der Maltsch, welche bei Budweis in die Moldau fällt,
durch Kanäle verbunden werden, jedoch sollen beide Flüsse zuvor soweit als möglich
schiffbar gemacht werden. Im Jahre 1762 hat Freiherr von Sterndahl der Kaiserin
Maria Theresia einen Plan überreicht, der im Jahre 1768 durch eine in Kupfer gestochene
Karte veranschaulicht wurde. Seine Vorschläge gingen dahin, nur bei Mauthausen von
der Donau bis an den Fuß des Gebirges einen Kanal von beiläufig zwei Meilen zu
ziehen und von dort bis Budweis eine gute Straße anzulegen, bis man durch genaue
Nivellirungen Mittel finden würde, die beiden Flüsse durch einen größeren Kanal zu
verbinden. Im Jahre 1807 hat sich in Böhmen unter dem Fürsten Anton Isidor von
Umschlagplatz bei Laube au der Elbe.
592
Lobkowitz zum Zweck der Vornahme von Vorarbeiten für einen Mvldau-Donaukanal
eine hydrotechnische Gesellschaft gebildet, deren Gemeinnützigkeit durch ein Hofdecret
(vom 6. August 1807) anerkannt wurde. Wegen technischer und ökonomischer Schwierig -
keiten wurde das Project aber aufgegeben.
Resultatlos blieb die Idee jedoch nicht; die Entstehung der ersten Eisenbahn in
Böhmen, zugleich der ältesten auf dem europäischen Continent, knüpft an das Project des
Moldau-Donaukanals an. In einer im Jahre 1813 erschienenen wissenschaftlichen Ab -
handlung machte Franz von Gerstner, Professor der höheren Mathematik und Mechanik
an der ständischen technischen Lehranstalt in Prag, den Vorschlag, anstatt der Wasser-
vcrbindung eine Verbindung der Donau und Moldau zu Lande mittelst einer Eisenbahn
herzustellen. Er erörtert in seiner Schrift, daß der projectirte Kanal weder eine
größere Schnelligkeit, noch eine größere Wohlfeilheit des Transportes herbeiführen würde
als der bisherige Transport auf der Landstraße und daß diese Vortheile nur durch Her -
stellung einer Eisenbahn zu erreichen wären. Obwohl der Vorschlag allgemeinen Beifall
fand, so hinderten doch die eingetretenen kriegerischen Ereignisse und die Auflösung der
hydrotechnischen Gesellschaft die Verwirklichung des Projectes. Erst die Herstellung der
Freiheit der Schiffahrt auf der Elbe ließ den Wunsch nach einer Verbindung der Elbe
mit der Donau mittelst der Moldau und mittelst eines Schienenweges zwischen der Moldau
und der Donau neuerlich entstehen. Franz Anton von Gerstner, Professor der
praktischen Geometrie am polytechnischen Institute in Wien (ein Sohn des Vorgenannten),
erörterte in einer im Jahre 1824 in Prag erschienenen Schrift neuerdings die Vortheile
dieser Verbindung und erlangte mit der Allerhöchsten Entschließung vom 7. September 1824
die Concession zum Bau einer zwischen Mauthausen und Budweis die Donau mit der
Moldau verbindenden Eisenbahn. Diese 129 3 Kilometer lange Bahn, deren Ausgangs -
punkte später Linz und Budweis wurden, ist am 1. August 1832 vollendet und als
Pferdebahn dem Betriebe übergeben worden. Sie bestand als solche bis zum Jahre 1871
und wurde von der Actiengesellschaft der Kaiserin Elisabeth-Westbahn in diesem Jahre
zu einer Locomotiveiseubahn umgestaltet. Eine zweite Pferdebahn in Böhmen war die
im Interesse der Bustehrader Kohlenwerke auf Grund der Concession vom 31. Juli 1827
begründete Bahn von Prag nach Vejhybka.
Gegenwärtig bilden die böhmischen Eisenbahnen mit Dampfbetrieb ein reich ent -
wickeltes Netz. Die älteste Eisenbahnlinie dieser Art ist die auf Böhmen entfallende Strecke
der Linie Brünn-Prag-Bodenbach, als Staatsbahn gebaut und gegenwärtig im Besitz
der österreichisch-ungarischen Staatseisenbahn-Gesellschaft. Seit dem Jahre 1855 wurde
eine Reihe von Gesellschaftsbahnen concessionirt. So wurde durch Allerhöchste Entschließung
vom 15. Juni 1856 an die unter der Firma „Südnorddeutsche Verbindungsbahn"
gebildete Aktiengesellschaft das Privilegium zum Bau und Betrieb für eine Locomotiv-
eisenbahn ertheilt, deren Strecken Pardubitz-Reichenberg-Seidenberg und Josephstadt-
Liebau sammt dem Flügel mit Localbahnbetrieb Eisenbrod-Tannwald 285 Kilometer
umfassen.
Durch die Allerhöchste Entschließung vom 2. August 1856 erfolgte die Ertheilung
der Concession zum Bau einer Locomotiveisenbahn von Aussig nach Teplitz, welche
im Jahre 1869 bis Komotau weitergeführt worden ist, und am 5. September 1859 die
Die alte Budweis-Linzer Eisenbahn.
Concession für die böhmische Westbahn von Prag über Pilsen an die baierische Grenze.
Seit dem Jahre 1863 gelangte der Eisenbahnbau in Böhmen durch die vom Staate
gewährten Subventionen, Zinsengarantien und sonstigen Begünstigungen zu rascher
Entwicklung. Es sind folgende Verkehrsnetze zu erwähnen: zunächst die Tnrn an-Kralup er
Eisenbahn auf Grund der Concession vom 28. August 1863 und im Anschluß an diese
die böhmische Nordbahn auf Grund der Concession vom 6. October 1865 von Bakvv
über Böhmisch-Leipa nach Rumbnrg, Georgswalde-Ebersbach, dann mit den Strecken
Warnsdorf-Bodenbach. In den letzten Jahren ist die Fusion der Turnau-Kraluper
Eisenbahn mit der Nordbahn erfolgt. Ein zweites Verkehrsnetz bildet die auf Grund der
Böhmen.
594
Concession vom 11. November 1866 erbaute KaiserFranz Josephbahn, welche einerseits
Wien-Budweis-Pilsen und Eger direct verbindet und anderseits von Prag nach Gmünd
läuft und die Flügelbahn Weseli-Budweis umfaßt. Ein drittes großes Verkehrsnetz bildet
die Österreichische Nord westbahn mit ihren Strecken Wien-Nimbnrg-Jungbunzlau
(352-914 Kilometer), Nimburg-Tetschm-Mittelgrund (130796 Kilometer), Prag-Mittel
Walde (209 Kilometer). Endlich sind zu erwähnen das Verkehrsgebiet der Bustchrader
Eisenbahn mit 420300 Kilometer Betriebslänge, insbesondere die Strecke Prag-
Komotau-Eger (238'079 Kilometer), dann die Prag-Duxer Eisenbahn (180331
Kilometer) und die den Westen und Norden verbindende Eisenbahn Eisenstein-Pilsen-Saaz,
die sogenannte Pilsen-Priesener Bahn (257'846 Kilometer).
Die im Jahre 1880 in Österreich eingetretene Änderung der Eisenbahnpolitik,
welche den Bau von Staatsbahnen und die Übernahme der Privatbahnen in das
Eigenthum oder in die Verwaltung des Staates begünstigt, äußerte auch ihre Rück -
wirkung auf das Eisenbahnnetz Böhmens. Es erfolgte die Erwerbung der Elisabeth-
Westbahn und damit der auf böhmischem Territorium befindlichen Strecken dieser Bahn,
dann die Erwerbung der Franz Josephbahn, der Pilsen-Priesener Bahn und die
Übernahme der Prag-Duxer Bahn in die Verwaltung des Staates.
Auf Grund des Gesetzes vom 25. November 1883 erfolgte der Bau der böhmisch-
mährischen Transversalbahn mit den Strecken Wesell-Neuhaus-Jglau (92'328
Kilometer), Obercerekve-Tabor (68'794 Kilometer), Tabor-Pisek (50021 Kilometer),
Horazdiovitz - Klattau (57'825 Kilometer) und Jauovitz-Taus (31'691 Kilometer).
Auf Grund des Gesetzes vom 25. Mai 1880, welches den Localbahnen besondere
Begünstigungen und Erleichterungen gewährt, entstanden eine Reihe von Localbahnen,
die, soweit sie nicht ein Zugehör des großen Eisenbahnnetzes bilden, von zwei Unter -
nehmungen betrieben werden: der Gesellschaft der böhmischen Commerzialbahneu
mit 191'294 Kilometer und der österreichischen Localeisenbahngesellschaft,
deren Thätigkeit sich aber nicht auf Böhmen beschränkt.
Erwähnen wir schließlich, daß in Prag eine Aktiengesellschaft eine Tramway mit
einer Betriebslängc von 18 536 Kilometer besitzt, auf der im Jahre 1891 im Ganzen
8,804.784 Personen befördert wurden, daß ferner im Jahre 1891 eine elektrische Eisenbahn
vom Belvedere in Prag zum königlichen Thiergarten in Bubenc dem Verkehr übergeben
worden ist und daß im Südvsten Böhmens die Herstellung von zwei neuen Eisenbahnlinien
Wodnan-Prachatitz und Strakonitz-Wintcrberg vollendet ist, so haben wir das Eisenbahnnetz
Böhmens in seinen Umrissen dargestellt.
Die wirlhschaftliche Bedeutung der Eisenbahnen findet ihren Ausdruck in den
Ergebnissen des Frachten- und Personenverkehrs. Eine erschöpfende Darstellung desselben
595
liegt außerhalb des Rahmens dieses Werkes, nur einige bemerkcnswerthe Ergebnisse der
Eisenbahn-Statistik für das Jahr 1891 mögen hier ihre Stelle finden. Die Verfrachtung von
6,855.961 Tonnen Braunkohle auf der Aussig-Teplitzer Bahn und von 1,305.048 Tonnen
Steinkohle auf der Bustehrader Eisenbahn ergibt die Bedeutung dieser Linien für die
Kohlenproduction Böhmens. Der Transport von 35.532 Tonnen Bier auf der böhmischen
Westbahn, von 18.122 Tonnen Baumwolle auf der böhmischen Nordbahn, von 16.786
Tonnen Baumwolle und 46.000 Tonnen Flachs auf der südnorddentschen Verbindungs -
bahn und der österreichischen Nordwestbahn charakterisirt die Verbreitung der einzelnen
Industriezweige innerhalb des Landes.
Während auf den westlichen Staatsbahnen im Jahre 1891 auf jedem Kilometer
Betriebslänge 6.435 Personen befördert wurden, weist die Aussig-Teplitzer Eisenbahn
in demselben Jahre eine Personenfrequenz von 17.512 für den Kilometer Betriebs -
länge auf.
Die böhmischen Bahnen können sich allerdings in Bezug auf Schwierigkeiten der
technischen Ausführung und Schönheit der Landschaftsbilder mit den Bahnen der Alpen -
gebiete nicht messen, immerhin bieten sie einzelne bemerkenswerthe technische Objecte und
viele Bilder von entzückender landschaftlicher Schönheit. Aber dem Kenner der Landes -
geschichte, welcher nicht blos der Landschaft, sondern auch den Erscheinungen der Cultnr
seine Aufmerksamkeit zuwendet, wird eine Eisenbahnfahrt in Böhmen selbst in Gegenden,
in welchen der Reiz der Landschaft schwindet, gewiß besonderes Interesse bieten. Böhmen
ist ein Land welthistorischer Kämpfe, reger wirthschaftlicher Thätigkeit und achtung -
gebietenden geistigen Ringens; es treten daher dem Reisenden überall geschichtliche
Erinnerungen und bedeutsame Momente der Culturentwicklung entgegen. Es mögen nur
einige Bilder aus einer solchen Rundreise hervorgehoben werden. Ein höchst bemerkens-
werthes Object der Eisenbahntechnik ist beispielsweise der Spitzberg-Tunnel ans
der Bahnstrecke Pilsen-Eisenstein. Der mächtige Gebirgsstock, welcher zwischen Böhmen
und Baiern den Grenzwall und zwischen den zwei größten Flüssen Mitteleuropa's,
der Donau und Elbe, die Wasserscheide bildet, stellte der Verbindung der beiden, durch
uralte lebhafte Vcrkehrsbeziehungen verknüpften Nachbarländer mittelst einer Eisenbahn
schwer zu überwindende Hindernisse entgegen. Die böhmische Westbahn benützte die nur
500 Meter hohe Gebirgseinsattlung bei Taus, welche den Böhmerwald in zwei getrennte
Hauptzüge scheidet, um die Verbindung herzustellen. Erst der Pilsen-Prjesener Bahn -
gesellschaft blieb es Vorbehalten, eine neue Verbindung mit dem benachbarten Baiern
mittelst eines Durchstichs des Gebirges durchzuführen. Für die Herstellung dieser neuen
Verbindung war der Anschluß an die baierischen Eisenbahnen Deggendorf-Eisenstein,
die Versorgung des südlichen Baierns mit böhmischer Kohle, die Ausbeutung des
38»
596
Holzreichthums des Böhmcrwaldes und die Förderung der bedeutsamen Glasindustrie in
den Gcbirgsthäleru der Angel und des Regen maßgebend.
Die Bahnlinie Pilsen-Eisenstein erreicht, die Städte Klattau und Neuern berührend,
bei Mottowitz den Hauptgebirgsstock des Böhmerwaldes, der mit einem Tunnel von
130 Meter durchfahren wird, und durch das schmale Angelthal in einer Meereshöhe
von 838 Meter den Spitzbergtunnel. Derselbe ist 1748 Meter lang, liegt seiner ganzen
Länge nach in der Region des Glimmerschiefers, der größtenteils ohne Mauerung ein
reines und festes Tunnelprofil ermöglichte. Auch landschaftlich bietet diese Bahnstrecke
von Neuern ab wunderschöne Punkte und eröffnet bei der Grenzstation Eisenstein ein
prächtiges, im Südwesten durch den Arber abgeschlossenes Landschaftsgemälde.
Die Strecke Prag-Bodenbach der österreichisch-ungarischen Staatseisenbahn -
gesellschaft eröffnet von Raudnitz an schöne Ausblicke auf das böhmische Mittelgebirge
und führt uns nach Aussig, eine der wichtigsten Industrie- und Verkehrsstätten des
Landes, der Knotenpunkt von vier Eisenbahnen: der österreichischen Staatsbahn, der
österreichischen Nordwestbahn, welche, auf dem rechten Elbe-Ufer laufend, von der
Station Schreckenstein aus durch eine imposante Brücke mit der österreichischen
Staatsbahn verbunden ist, der Aussig-Teplitzer Bahn und der Bielathalbahn (Aussig-
Bilin). Besonders wichtig ist die Stadt als Stapelplatz für die Braunkohle des Teplitzer
Beckens. Weiter nordwärts führt uns die Bahn nach Bodenbach, welches mit der gegen -
überliegenden Stadt Tetschen durch eine 200 Meter lange Kettenbrücke (Kaiserin Elisabeth-
Brücke) verbunden ist. Auch zwei Eisenbahnbrücken verbinden daselbst die Ufer der Elbe:
eine Gitterbrücke der ans dem Polzenthal heraustretenden böhmischen Nordbahn, die
zum österreichischen Staatsbahnhofe führt, und eine halbe Stunde tiefer die Brücke der
österreichischen Nordwestbahn zur Station Obergrund. Reizend ist auf der Strecke Aussig-
Bodenbach der Blick auf die 400 Meter hohe Basaltfelsmasse des Sperlingsteins und
auf die Stadt Tetschen, welche von dem auf einem Felsen thronenden Schlosse überragt
wird. Die Naturschönheiten, der mächtige Elbestrom, der großartige Verkehr auf demselben,
die reiche Industrie, die Regsamkeit der Bevölkerung bringen die Bedeutung dieses herrlichen
Bezirkes an der Reichs- und Landesgrenze zur lebendigen Anschauung.
Die 61 Kilometer lange Strecke Bodenbach-Warnsdorf der böhmischen Nordbahn
führt an dem Industrie-Orte Böhmisch-Kamnitz vorüber, eröffnet uns die böhmische Schweiz,
bringt uns das wildromantische Hillemühl-Felsthal, in welchem die Bahn an steilen
Phonolitwänden dahin zieht, bietet bei der Station Tanneberg Gelegenheit zur Besteigung
des gleichnamigen Berges (770 Meter) mit schönem Fernblick in die Lausitz und nach
Böhmen bis zum Jeschken, senkt sich zu der Station Schönfeld, auch Klein-Semmering
genannt, mit prachtvoller Aussicht auf die böhmische Schweiz bis zum Rosenberge und
endet in einem der bedeutendsten Fabriksorte Böhmens. Ebenso bietet der zweite Flügel
der böhmischen Nordbahn von Bakov nach Georgswalde interessante landschaftliche Punkte.
Bei der Station Bösig treten uns die beiden Phonolitkegel Kleinbösig und Bösig entgegen.
Auch dieser Flügel verlauft bei Rumburg, Schönlinde und Schluckenau in ein wichtiges
Industriegebiet.
Im Osten Böhmens führt uns die österreichische Nordwestbahn und südnorddeutsche
Verbindungsbahn zu interessanten historischen Stätten und in herrliche Gebirgsgegenden.
Albert Ritter von Lanna.
Reizend ist insbesondere die Strecke Eisenbrod-Sichrov der südnorddeutschen Verbindungs -
bahn. Sie führt durch prächtige Sandsteinfelsen, welche am linken Jseruser mit den
sogenannten „Dürren Felsen" beginnen und sich am rechten Jseruser bis Liebenau aus -
dehnen. Eine schöne 200 Meter lange eiserne Brücke führt hinter der Station Klein-Skal
die Bahn auf das rechte Jseruser nach Turnau und dann durch einen 636 Meter -
langen Tunnel zu der Station Sichrov, von der aus das imposante fürstlich Rohan'sche
Schloß sichtbar ist. Im Süden Böhmens erinnern wir uns bei der Fahrt auf der Franz
Josephbahn an die Wittigonen oder Rosenberge, ein Geschlecht, welches in die Geschichte
598
BSHmms mach«, -mg-gnf!-» h°>! der «nN« T-b-rs di- HuK-M-m-;
Pili-I, und Sg-r dringe» uns d-n dreibigiährigeu Krieg »,s Seduchtmß, u»d wenn w-l
uns -ms der Strecke -ger-Prug d-r BnWhruder Buhn dnrch di- R.giuueu des Hm»,
baues und der Kohlenproduction der Landeshauptstadt nähern und den Hradschm nn
den Spitzen deS ehrwürdigen Veitsdomes erblicken, so steigen Bilder der verschiedenen
Epochen der Landesgeschichte mächtig vor das geistige Auge. Prag ist der Mittelpunkt
des böhmischen Eisenbahnwesens. Vier große Bahnhöfe umschließen die Stadt: der Staats,
bahnhof für die Strecken der österreichisch-ungarischen Bahn und für ine Bustehrader
Eisenbahn; der Westbahnhof in Smichov für die Westbahn und die Prag-Duxer Bahn;
der Kaiser Franz Josephbahnhof für die Strecken der Kaiser Franz Josephbahn und der
böhmischen Nordbahn und der Nordwestbahnhof. Der Westbahnhof und der Kaiser-
Franz Josephbahnhof sind durch eine Verbindungsbahn in Commniiieation gesetzt. Die
Herstellung eines großen Centralbahnhofes ist bereits genehmigt und sein Bau steht rn
nächster Aussicht. . . < -
Die gedrängte Darstellung der Flußregulirungen und des Eisenbahnwesens Ware
unvollständig, wenn wir an dieser Stelle nicht eines Mannes gedenken würden, der in der
Wirthschaftsgeschichte Böhmens eine bedeutsame Rolle spielte. Wiederholt ist uns der Name
Lanna in diesem Abschnitt entgegengetreten. Adalbert Lanna (1805 bis 1866), ui
Bndweis geboren, übernahm nach dem Tode seines Vaters dessen Geschäft als k. k. Schiff -
meister und wendete neben der Versorgung Böhmens mit Salz, die ihm als Schiff
meister oblag, vornehmlich der besseren Verwerthung des Holzreichtums Südböhmens
seine Aufmerksamkeit zu. An dem Fürsten Johann Adolph von Schwarzenberg fand er
einen mächtigen Förderer seines Planes, die Flößbarkeit und Fahrbahn der böhmischen
Flüsse zu verbessern. . . '
Durch die Erweiterung des Graphitbergwerkes in Milgrau trat neben --alz,
Holz und Kohle der Graphit als neuer wichtiger Transport- und Handelsartikel in
den Moldauverkehr. In Gesellschaft mit den Brüdern Klein übernahm Lanna den
Bau der Eisenbahn Bodenbach-Prag; er betheiligte sich an der Bustehrader Bahn, der
südnorddeutschen Verbindungsbahn, der Tnrnau-Kraluper und böhmischen Nordbahn. )
Er unternahm den Ausschluß der Kohlenwerke in Kladno, erwarb die Eisengruben in
der Nähe von Kladno und begründete die Prager Eisenindnstriegesellschaft. Belebung
der Flußschisfahrt, Eisenbahnbau und Entfaltung der Kohlen- und Eisenproduction als
Bedingung des Eisenbahnwesens sind somit die bedeutsamen Verdienste Lanna s, dem
seine zahlreichen Verehrer wegen seiner gemeinnützigen Thätigkeit in seiner Vaterstadt
Bndweis ein im Jahre 1879 enthülltes schönes Denkmal auf öffentlichem Platze
errichtet haben.
599
Fassen wir die dem Nachrichten- und Geldverkehr dienenden Anstalten ins
Auge, so bestanden im Jahre 1892 in Böhmen 1.207 Postanstalten und 545 Telegraphen -
stationen. Die Drähte des Staatstelegraphennetzes betragen 16.665 Kilometer. Der
Gesammtverkehr der Briespost belies sich aus 148,617.690 Sendungen, der Aeituugs-
verkehr umfaßte 20,928.000 Nummern; der Gesammtbetrag der Postanweisungen belief
sich im internen Verkehr auf 112,422.499 Gulden Einzahlungen und 113,141.437 Gulden
Auszahlungen. Der Telegraphenverkehr umfaßte 1,882.810 Telegramme. Auch das
Telephonnetz hat in Böhmen seit dem Jahre 1887 eine rasche Ausgestaltung erfahren.
Es bestanden in Böhmen im Jahre 1891 folgende wichtige internrbane Telephon -
leitungen: Prag-Wien (308 Kilometer), Reichenberg-Tannwald (28 Kilometer), Prag-
Tetschen (117 Kilometer), Aussig-Dux (30 Kilometer), Reichenberg-Zittan (24 Kilometer),
Prag-Pilsen (93'5 Kilometer).
Die Bedeutung der Märkte und Messen als Anstalten des Tauschverkehrs ist,
wie anderwärts, auch in Böhmen in den Hintergrund getreten; nur einzelne Märkte,
wie beispielsweise der achttägige Wollmarkt in Pilsen (Montag nach Peter und Paul
beginnend) und die Pferdemärkte in Netolitz und Chrudim sind noch von Bedeutung.
Die Jahrmärkte in der Landeshauptstadt für Handelswaaren am St. Josephi-Tage
(19. März), am St. Johann von Nepomuk-Tage (16. Mai), am St. Veits-Tage
(15. Juni), am St. Wenzeslai-Tage (28. September) und am St. Nikolai-Tage
(6. December) entsprechen nur localen Gewohnheiten und sind volkswirthschaftlich
bedeutungslos.
In Prag besteht eine Börse und die wichtigsten Kreditanstalten und Banken haben
daselbst ihren Sitz. Eines der ältesten Kreditinstitute ist die im Jahre 1825 vou einem
Vereine begründete „Böhmische Sparcassa", welche sich aus geringen Anfängen zu
einem Institute ersten Ranges entwickelt hat. Im Jahre 1891 betrugen die Einlagen
102,928.451 Gulden, der Reservefond 20,122.671 Gulden. Der Obercurator dieser
gemeinnützigen Anstalt ist der jeweilige Statthalter. Auch die Sparcasse der Stadt Prag
befindet sich in mächtiger Entfaltung. Die Gesammtzahl der Sparcassen beträgt 123, das
Durchschnittguthaben eines Einlegers 634'54 Gulden. Die österreichisch-ungarische Bank
unterhält in Prag und einigen größeren Städten Böhmens Filialen. Die Hypothekenbank
und die Landesbank des Königreiches Böhmen sind Landesanstalten. Daneben besteht
eine Reihe größerer Actienbanken, wie beispielsweise die landwirtschaftliche Creditbank, die
Gewerbebank für Böhmen und Mähren, die böhmische Escomptebank und die böhmische
Unionbank. Innerhalb kleinerer Kreise dienen 420 registrirte Erwerbs- und Wirthschafts-
genossenschaften als Vorschußcassen mit einer Mitgliederzahl von 189.437 der Capitals-
bildung und Creditvermittlung.
600
Industrie und Handel.
Böhmen ist unbestritten das gewerbereichste Kronlaud unseres Kaiserstaates und
damit eines der größten Industriegebiete der Welt. Von 720.406 Industrial- und
Handelsgewerben, welche nach den uns vorliegenden jüngsten statistischen Ausweisen
in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern gezählt werden, entfallen
nicht weniger als 225.170, somit 31 25 Procent, auf Böhmen, und zwar 94.367 oder
29'36 Procent Handels- und 130.803 oder 32'77 Procent Jndustrialgewerbe.
Nahezu der dritte Theil aller selbständigen industriellen Unternehmungen Österreichs
hat seinen Standort in Böhmen: eine Thatsache, die ihre volle Würdigung leider noch
nie und nirgends gefunden hat. Sie erscheint aber um so beträchtlicher, wenn der Umfang,
die Bedeutung der einzelnen Unternehmungen mit in Rechnung gezogen wird.
Es dürfte nur wenige Industriezweige geben, welche auf böhmischem Boden nicht in
hervorragendem Maße vertreten wären. Die Production von Metall und Metall-
waaren ist eine sehr ansehnliche und darf sich mit jener der meisten anderen Länder
messen; die Maschinenindustrie ist in erfreulichem Aufschwünge begriffen. In gleicher
Weise wie das „böhmische Glas" haben die „böhmischen Steine" ihren Weltruf
behauptet. Siderolith- und Porzellanwaaren sind eine Specialität des Landes.
In der Bearbeitung von Holz und Leder wird Vorzügliches geleistet. Die Papier -
industrie steht ans der Höhe der Zeit und liefert große Exportmengen; ebenso die
chemische Industrie und die Fabrikation aller Art von Nahrungsmitteln. Von558
fabriksmäßigen Bierbrauereien Österreichs entfallen 249 — die renommirtesten — auf
Böhmen; von 213 Zuckerfabriken und Raffinerien 145, gleichfalls die leistungsfähigsten.
Ähnlich verhält es sich mit der Branntweinerzeugung, der Production von Kaffeesurrogaten,
Chokoladen u. s. w.
Den höchsten Grad der Vervollkommnung hat Böhmen auf dem so ausgedehnten
Felde der Textilindustrie aufzuweisen. Mit Ausnahme der Seide gibt es keinen
modernen Spinnstoff, in dessen Verarbeitung die böhmische Spinnerei, Weberei und
Appretur nicht excellirte. Das nördliche Böhmen allein zählt effeetiv mehr Flachsgarn -
spindeln als das gesammte Deutsche Reich. Die Zahl der Streichgarn- und Kammgarn -
spindeln beläuft sich auf 250.000, die der Baumwollspindeln auf weit über anderthalb
Millionen. Bei der Schafwollindustrie stehen 15.000, bei der Baumwollindustrie
35.000 mechanische Webstühle im Betriebe. Viele Etablissements der Färberei und
Druckerei gehören zu den großartigsten des Continentes. Böhmens Textilindustrie
beschäftigt — gering gerechnet — eine Armee von 150.000 Arbeitern; ihr Productions-
werth wird, von der Hausindustrie ganz abgesehen, mit 212,685.000 Gulden beziffert.
W«MN»»
601
Man wird nach diesen Andeutungen nicht leugnen können: ein solcher Stand der
Dinge ist ein hochbeachtenswerther und verdient einige Blätter näherer Betrachtung. Er
gibt sich als Product einer langandauernden Culturentwicklung, deren verschiedene
Phasen hier freilich kaum angedeutet werden können. Wie anderwärts, so ging eben auch
in Böhmen die Industrie als solche zum übergroßen Theile aus dem Handwerk hervor;
ihr Werden und Wachsen, ihr heutiges Dasein ist und bleibt unverständlich ohne die
mindestens beiläufige Kenntnis; der Entwicklungsstadien der Gesammtheit der Gewerbe.
Aber ganz abgesehen davon, gibt es gerade in Böhmen nicht wenige, und zwar hervor -
ragende Gewerbszweige, welche von Anfang an specifisch „industriellen" Charakter
bekunden; wir werden sie kennen lernen.
Siegel der Kürschner (15M) und der Wagenbauer (lüSI).
Es ist nicht richtig, wenn der böhmischen Industrie ein Alter von kaum mehr als
zweihundert Jahren zngesprochen und ihr Entstehen in das Ende des XVII. Jahr -
hunderts, die Folgezeit des dreißigjährigen Krieges, verlegt wird. Ihre Wurzeln liegen
thatsächlich tiefer. Übrigens darf bei deren Bloßlegung füglich verzichtet werden, ans die
Vorgeschichte des Landes zurückzugreifen, doch sei erwähnt, daß die Chroniken und
Urkunden des XII. Jahrhunderts eine Reihe von Handwerken namhaft machen, welche
in den slavischen Zupenburgcn und Dörfern betrieben wurden; genannt werden Müller,
Huf-, Kessel- und Waffenschmiede, Maurer, Zimmerleute, Drechsler, Wagenbauer,
Böttcher, Töpfer, Bäcker, Bräuer, Gerber, Kürschner, Lcinenwcber, Goldwirker, Wasser -
bauer u. s. w. Mit gutem Grund hat eine spätere Zeit Gewerbe und Handel im Allgemeinen
als die „bürgerliche Nahrung" bezeichnet und verstanden. In aller Welt beginnt ihre
Blüte mit der Entstehung und dem Wachsthum des Städtewesens.
002
Man kennt dessen Schicksale in Böhmen vom Ausgang des XI. bis zum Anfang des
XIV. Jahrhunderts. Handel und Gewerbe bildeten von Haus aus die Hauptbeschäftigung
der Bewohner auch der böhmischen Städte. Die ersten Bürger in der Altstadt Prag
fanden daselbst einen großen Kaufhof, Teyn genannt, als Sammelplatz der fremden, zumeist
deutschen Kaufleute, die dort ihre Niederlagen hatten und ihre Käufe und Verkäufe besorgten.
Und jede neue städtische Anlage mit ihren Laubengängen, den Tuchlauben, den Fleisch- und
Brotbänken um den geräumigen Marktplatz u. s. w., nach außen gegen feindliche Überfälle
durch Graben, Wall und Mauern geschützt, verrieth ihren Beruf aus den ersten Blick. Den
wesentlichen Inhalt aller Stadtprivilegien aber bildeten der Straßenzwang, das Niederlags -
recht und die Bannmeile, das heißt das ausschließliche Recht der Bürgerschaft auf
Ausübung des Handels und der Handwerke, insbesondere der Bierbrauerei, für eine
Meile im Umkreise der Stadt. Selbstverständlich war die Selbstverwaltung.
Schon im Verlaufe des XIII. Jahrhunderts begann Böhmen sich wirthschaftlich
bis zu gewissem Grade unabhängig zu stellen. Der Bedarf an geiverblichen Erzeugnissen
wurde allmälig zum guten Theile aus eigenen Mitteln gedeckt; der Handel löste sich mehr
und mehr von seinen bisherigen Fesseln und wurde ein Activhandel, in dessen Gewinn
sich Großhändler und Krämer theilten. Die Haupteinnahmequelle bildeten die Jahrmärkte.
Auf ihnen kam auch der natürliche Reichthum des Landes an landwirthschaftlichen
Producten zur Geltung. Verhältnißmäßig rasch vollzog sich die Organisation des
Gewerbes nach dem Muster des westlichen Nachbarreiches, aus welchem die neuen
Ansiedler in großer Überzahl eingewandert waren und noch fortwährend herbei -
strömten. Es bildeten sich, zunächst auf religiöser Grundlage, gewerbliche „Bruder -
schaften", Innungen und Zünfte, zu deren ältesten die Fleischer, Bäcker und Zeltner
(Kuchenbäcker) zählten. Die Schneider, Schuster, Kürschner, Hutmacher, Wagner,
Töpfer, Schmiede u. s. w. blieben nicht zurück. In Prag kamen die Sporner,
Helmer, Plattner und Bogenschmiede zu größerer Bedeutung, vorzüglich aber die
Goldschmiede. An Zahl und Leistungsfähigkeit ragten ebenso auf dem Lande, wie in
der Landeshauptstadt die Tuchmacher hervor. Das älteste bekannte Tuchmacher -
privilegium hat die Stadt Braunau aufzuweisen, eine Gründung des Klosters Brevnov;
ihr gab König Ottokar I. das Recht der Wollenweberei und des Wolleverkanfs, das später
(1405) König Wenzel IV. bestätigte. Ottokar II. berief aus Flandern geschickte Wollen -
weber, die sich in einzelnen Städten niederließen. Die größte Sorgfalt wendeten alle
Städte ohne Ausnahme auf die Pflege und Ausbeute ihrer Bräugerechtigkeit. Schon die
ältesten unter ihnen verstanden es, mit Hilfe der Mälzer aus Saazer Hopfen ein
vortreffliches Bier zu bräuen; man kennt bereits im XIII. Jahrhundert das Prager
Märzenbier als ein besonders gutes Getränk.
603
Auf die Höhe seiner Entwicklung wurde das mittelalterliche Städtewesen in Böhmen
und mit ihm der gewerbliche Betrieb des Landes durch König Johann und Karl 1^ .,
zugleich Kaiser, gebracht. Schon Ludwig der Baier hatte (1330) als römischer König den
Prager Bürgern völlige Zollbefreiung im Umfange des ganzen Reiches zugestanden.
Nunmehr erhielt der böhmische Handel durch die Verfügung, daß jeder fremde Kaufmann,
der nach Böhmen und Mähren kommt, feine Maare nur in Prag zum Kaufe ausbieten
dürfe, einen Centralpunkt. Der Prager Teynhof wurde eine europäische Berühmtheit
durch die Lebhaftigkeit seines Verkehrs. Neben Prag aber gelangten die Städte Aussig,
Brüx, Budweis, Caslau, Hohenmauth, Kaaden, Königgrätz, Laun, Leitmeritz,
Melnik, Pilsen n. s. w., mit königlichen Gnaden überhäuft, zu Ansehen und Reichthum.
Durch neuerlichen Zuzug aus Deutschland und Italien erfuhr zumal das Kunst,
g ew erb e Prags ansehnliche Verstärkung. Venetianer und Lombarden brachten die Metall -
gießerei mit. Zahlreiche Kirchenbauten förderten das Baugewerbe in bisher ungeahnter
Weise. Die Bearbeitung von Steinen, auch Halbedelsteinen, an denen das Land großen
Überfluß hatte, wurde daselbst heimisch, so auch die Glasbearbeitung und die Glas -
malerei. Eine Urkunde Karls IV. bezeugt den Bestand und Betrieb von Glashütten in den
angrenzenden Gebieten, die unter ihm vorübergehend mit Böhmen vereinigt waren. Er
verbot die fernere Anlegung von Glasöfen in den Reichsforsten um Nürnberg, da die
Waldungen durch den übermäßigen Verbrauch von Holz ungemein leiden. Dadurch wird
bestätigt, was mit Berufung auf grundbücherliche Eintragungen behauptet wird, daß sich
zu jener Zeit auch schon in Böhmen selbst, wie z. B. in Prachatitz, unter den dortigen
Bürgern Glasmacher (vitrinrii) befanden. Richter und Schöppen zu Prag bestätigten am
1b. December 1371 die erste Zunftordnung der „Kannelgießer" (Zinngießer) daselbst,
welches Gewerbe später im böhmischen Erzgebirge, den Zinnfundstätten Schlaggenwald,
Schönfeld, Graupen u. s. w., sowie in Karlsbad eine bedeutende Rolle spielte.
Die Leinenweberei, der es gleichfalls im Lande nicht an vortrefflichem Rohstoff
fehlte, fand namentlich in den Gebirgsgegenden Verbreitung. Sie wurde, wie die Tuch -
erzeugung, durch die Färberei — wie es scheint, ebenso von Karl IV. eingesührt
außerordentlich gefördert. In Prag, Pilsen, Braunau, Königgrätz und Kuttenberg ist zu
dieser Zeit der Bestand von Tuchwalken sichergestellt. So dankt wohl auch die Papier -
industrie Böhmens ihre Entstehung dem genannten Kaiser; angeblich von ihm berufene
Italiener gaben die Anleitung zur Erbauung von Papiermühlen. Als die erste dersellnu
wird die zu Eg er bezeichnet, der seit dem Jahre 1322 an die Krone Böhmen endgiltig
verpfändeten alten Reichsstadt.
Der Stadt Eger hatte bereits Ottokar II- (1266) gänzliche Zollsreiheit „in
allen seinen Landen" gewährt und der römische König Rudolf I. unter vielen anderen
604
Begnadungen auch gewisse Vorrechte, besonders im Handel mit Tuchen, Rauhwaaren und
Leder, verliehen (1279), welche Artikel hier frühzeitig in großer Menge und besonderer
Güte erzeugt wurden. Längs des Egerflusses nächst der Stadt entstanden schon im Laufe
des XlV. Jahrhunderts außer etlichen Mahlmühlen und Brettsägen, einer Walkmühle
und dem Farbhause des städtischen Tuchmacherhandwerks viele größere und kleinere
Lohmühlen und Gerbereien, die dieser Gegend ein besonderes gewerbliches Gepräge ver -
liehen. Die Lederer, welche den größten Theil der Bruckthor- und Schiffthor-Vorstadt
bewohnten, nannte man insgemein „die Reichen".
Karl IV. ließ es sich angelegen sein, die Zünfte in Böhmen entsprechend zu
reorganisiren und förmliche Zunftordnungen festzustellen, so insbesondere bei der Tuch -
macherei, wodurch das Vertrauen in deren Erzeugnisse gefestigt wurde. Die Tuchmacher
zu Reichenau an der Knezna erhielten 1378 ein Privilegium; es trug dieser Gemeinde
die Bezeichnung „Tuchstadt" ein: ,Louüeriicl^ In vielen königlichen
Städten wurden auf Karls Geheiß neue Innungen aufgerichtet, von denen einzelne
wieder besondere Vorrechte erlangten, wie denn z. B. die Prager Waffenschmiede
gänzliche Steuerfreiheit genossen. Zumeist damit begnadet, ein eigenes Wappen und eine
Fahne zu führen, traten die Zünfte auch nach außen mit einer gewissen Würde ans,
was zur Erhöhung ihres Ansehens wesentlich beitrug. Die Reihenfolge, welche die
Zünfte bei öffentlichen Aufzügen einzuhalten hatten, war genau bestimmt. Voran zogen
die Fleischhauer, alsdann die Goldarbeiter, die Plattner mit den verwandten Gewerben,
die Kürschner, die Schneider, die Messerschmiede, die Schuhmacher, die Mälzer, die Bäcker,
die Binder, die Tuchmacher, die Bader und die Krämer, alle mit ihren Bannern und
sonstigen Abzeichen. Mit dem äußeren Ansehen wuchs in den Handwerken auch das
Standcsbewußtsein. Man darf die Karolingische Zeit ein goldenes Zeitalter des Handels
und des Gewerbes in Böhmen nennen.
Auch die nicht streng gewerbliche Thätigkeit erfuhr wohlwollende Berücksichtigung.
Die Schiffahrt auf der Elbe und Moldau gedieh von Jahr zu Jahr trotz mannigfacher
Eingriffe von Magdeburg und Hamburg her; Melnik, Leitmeritz, Aussig und Pirna
(damals zu Böhmen gehörig) entwickelten sich zu stattlichen Stapelplätzen. Die Anlegung
eines neuen Stadttheiles in Prag (der heutigen Neustadt) schaffte dem Verkehr der
Landeshauptstadt freiere Bewegung. Auch die Gründung der Prager Universität konnte
nicht ohne wohlthuenden Rückschlag, wie auf die Lebensführung im Lande, so auf Handel
und Wandel, ans Kunst und Wissenschaft und darum auch auf das gewerbliche Leben
bleiben. Die Maler und Schilder stifteten 1348 eine Bruderschaft, die im selben Jahre
die behördliche Genehmigung erlangte. Dieser „Malerzeche" traten auch die Goldschläger,
die Permeter und Schriftenmaler, die Bildschnitzer und Bildhauer, endlich auch die Glaser
605
und Spiegler bei. Die Bruderschaft verwandelte sich in eine Maler- und Glaserzeche, in
welcher regelmäßig zwei Älteste gewühlt wurden, ein Maler und ein Glaser, von welchen
ersterer stets den Vortritt hatte. Und schon zu Beginn des XV. Jahrhunderts findet sich
der urkundliche Nachweis für den Bestand eines Glasofens, also einer Glashütte in
unmittelbarer Nähe von Prag.
Wohl damals wurde auch der Grundstein zu den Glaserzeugungsstätten im
böhmischen „Niederlande", auf der Herrschaft Kamnitz, gelegt, in (Ober-) Kreibitz und
Daubitz. Die Glaserzeugung aber war es, die bei ihrem ersten Auftreten im Lande auch
schon als „Industrie" auftrat in der modernen Bedeutung dieses Wortes: als ein Gewerbe -
betrieb außerhalb zünftiger Schranken, vielmehr eben den Zünften gegenüber ausgestattet
mit größtmöglicher Selbständigkeit der Unternehmung wie des Unternehmers, auf dessen
Rechnung und Gefahr eine größere oder geringere Anzahl Gehilfen im geschlossenen
Raume unter Benützung der technischen Hilfsmittel der Zeit Verwendung fand. Ähnliches
gilt von der Papiererzeugung, dem Müllergewerbe und in noch höherem Maße von der
wie letzteres über das ganze Land verbreiteten Bierbrauerei.
Das sind, in großen flüchtigen Umrissen, die Anfänge gewerblicher Thätigkeit in
Böhmen. Ihre Entwicklung wurde durch eine Katastrophe zum Stillstände gebracht, blutig
und unheilvoll wie nur wenige andere.
Der große, furchtbare Husitenkrieg war, wie bekannt, in seinen verheerendsten
Wirkungen gerade gegen das Städtewesen Böhmens gerichtet. Nicht weniger als vierzig
Jahre voll der blutigsten Greuel aller Art — es gab nur wenige Städte, die nicht
wiederholt zerstört worden wären — mußten den Handel gründlich zunichte machen,
Künste und Handwerke aber gleichsam vom Erdboden hinwegfegen.
Nur sehr allmälig hob sich da und dort aus Schutt und Asche ein schwacher Rest
gewesener Herrlichkeit wieder zu nothdürftigem Scheinleben. Es steht als ein vereinzeltes
Factum da, wenn im Jahre 1441 in Friedland durch Johann II. von Biberstein eine
wohlorganisirte Tuchmacherznnft begründet wurde. Durch die ganze zweite Hälfte des
XV. Jahrhunderts ragt nirgends im Lande irgend ein Gewerbszweig über das Niveau
bescheidener Mittelmäßigkeit hinaus. Und wo die alten Zünfte ihren dereinstigen Prunk
aufs neue zu entfalten suchten, blieb es bei leeren, inhaltslosen Äußerlichkeiten — Wohl -
habenheit war bei keiner mehr zu finden. Von Vervollkommnung einzelner Gewerbszweige
konnte kaum die Rede sein, etwa die Herstellung von Waffen insoferne ausgenommen, als
die Anwendung des Schießpulvers bei der Kriegführung die Erfindung neuer Schußwaffen
mit sich brachte, wie denn schon damals schwere Geschütze in Prag verfertigt wurden und
böhmische Waffen sich selbst im Auslande großer Beliebtheit erfreuten.
606
Gegen die Wende des Jahrhunderts kam ein neues, viel versprechendes Kunst-
gcwerbc auch nach Böhmen: die Buchdruckerkunst. Ein Deutschböhme, der Egeraner
Johann Sensenschmid, errichtete die älteste Bnchdrnckerci in Nürnberg. Ein Drucker
seiner Werkstätte übersiedelte im Jahre 1468 nach Pilsen, um dort die erste Druckerei in
Böhmen zu begründen. Bald fand die mit Begierde anfgegriffene Neuheit ihren Weg nach
Prag, Eger und Kuttenberg. Die Strömung der Zeit war ihr günstig. Freilich waren
es zunächst vorwiegend theologische Schriften, die sie hervorbrachte. Die „böhmischen
Brüder" ließen später auch in kleineren Landstädten, wie Arnau, Jungbunzlau,
Leitomischl u. a. m., Buchdruckereien erstehen. Ihr schrittweiser, jedoch nachhaltiger
Einfluß in geistiger und materieller Richtung darf nicht unterschätzt werden.
Die Verbreitung der Papiererzeugung war eine unmittelbare Folge. Die Zahl
der Papiermühlen ist fortwährend im Wachsen. Unter ihnen kommen im XVI. Jahrhundert
besonders die von Bensen, Aussig und Trautenau zu Bedeutung.
Wie die Husitenkriege alle Rechtsverhältnisse ins Schwanken gebracht hatten, so auch
das ausschließliche Recht der Städte seit den ältesten Zeiten, die Bräugerechtigkeit, ie
ergiebigste Einnahmequelle des mittelalterlichen Bürgerthums. Nun maßte sich auch
der Adel dieses Recht an. Ein langwieriger heftiger Streit entbrannte, der erst mit dem
sogenannten St. Wenzelsvertrage (1517) beigelegt wurde, in welchem die Städte nachzugeben
und ihr Privilegium mit dem Adel zu theilen gezwungen wurden. Ein harter Schlag!
Hier muß des chronologischen Zusammenhanges wegen eine Thatsache Erwähnung
finden, die für das schon erwähnte böhmische „Niederland" von ausschlaggebender Wirkung
werden sollte. Ein deutscher Edelmann, Heinrich von Schleinitz, hatte daselbst gegen
Ende des Jahrhunderts dieHerrschaftenTollenstein, Schluckenau, Rumburg u. s. w.
mit einander vereinigt. Nach ihm erhielt der schöne, meilenweite Besitz den Namen des
„Schleinitzer Ländchens". Schon Heinrichs Vater, Hugold von Schleinitz, kurfürstlich -
sächsischer Obermarschall, hatte in Schluckenau Verkehr und Handel zu beleben gewußt.
Heinrich ging weiter und wendete seine größte Sorgfalt der Hebung des Gewerbes zu,
insbesondere der Leinenweberei. Durch ihn wurden sowohl in Schluckenau (1500) als
auch in Rumburg Leinenweberinnungen gegründet und privilegirt — unseres Wissens
die ältesten im Lande. Das „Schleinitzer Ländchen" aber dankte diesen Gründungen eine
gewerbliche Eigenart, die bis auf die Gegenwart seine Haupteinnahmequelle bilden sollte.
Im Übrigen war das Siechthum der gewerblichen und merkantilen Interessen in
Böhmen ein andauerndes und allgemeines. Gewiß nicht blos infolge des unseligen
Krieges, von dem die Rede war, auch die politische und nationale Jsolirung des Landes
während jener Wirren hatte ihren Theil daran und ließ die kaufmännische Unternehmungs -
lust nicht aufkommen, die Grundbedingung alles gewerblichen Könnens und Schaffens,
.
die immer und überall
nur Wurzel faßt, wo ihr
der nöthige Raum ver -
gönnt wird.
Durch das Haus
Habs bürg wurde Böhmen
bleibend mit einem ausge -
dehnten Ländergebiete ver -
einigt, dessen einzelne Theile
naturgemäß alsbald wirth-
schaftlich eine gegenseitige
Wechselwirkung ausznüben
suchten. König Ferdinandl.
beherrschte außer Böhmen
und Ungarn auch Ober-
nnd Niederösterreich, Elsaß,
Görz,Friaul, Triest und vor -
übergehend auch Württem -
berg. Da wäre denn aller -
dings auch für Handel und
Gewerbe der erforderliche
Raum zur Entfaltung vor -
handen gewesen. Das wirth-
schaftlicheBöhmen trat unter
den denkbar günstigsten
Auspicien über die Schwelle
einer Zeit, die mit vollem
Rechte in Anspruch nahm, die
Neuzei t genannt zu werden.
Aber noch sollten und Zinnerne Zunftkanne der Weber,
mußten schwere Schicksals -
schläge erduldet werden. Der gute Stern, der über Böhmen stand, wurde nur allzubald
wieder von dichtem Gewölle vollständig verhüllt. Auch das XVl. Jahrhundert hatte
bekanntlich seine religiösen Zwistigkeiten, welche die Gemüther in fortwährender Spannung
und Aufregung erhielten, bis der Utraquismus endlich fast allerwärls im Lande in dem
Protestantismus aufgegangen war. Der schmalkaldische Krieg, die Empörung der Stände
608
gegen den König, ihre empfindliche Bestrafung, insbesondere wieder der königlichen
Städte: das Alles hinderte gewaltsam jeden friedlichen Fortschritt der Gesammtheit.
„Demnach Wir verwichener Zeit aus etzlichen Ursachen allen Handwerksleuten in den
Prager Städten, wie auch anderen in diesem Königreiche Böhmen, ihre Privilegien und
Handwerksordnung aufgehoben", mit diesen Worten bestätigte Ferdinand I. erst in seinen
letzten Negierungsjahren wieder verschiedene Jnnungsartikel, so die der Prager Tischler,
der Goldschmiede, der Schlosser, der Maler und Glaser, der Chirurgen und Wundärzte
u. s. w. (1562); manche Zünfte mußten noch viel länger ihrer Wiedererweckung
entgegenharren, mit Ausnahme jener in den treugebliebenen Städten Aussig, Budweis
und Pilsen. Komotau, das von einer furchtbaren Fenersbrunst heimgesucht wurde,
erfuhr eine gewisse Berücksichtigung, namentlich zu Gunsten seiner (1520 constitnirten)
Mälzerzunft, der auch schon 1531 eine Leinenweberinnung gefolgt war. Ebenso waren
bereits früher einzelnen unterthänigen Städten auf Verwendung ihrer Grundherren
besondere Gewerberechte eingeräumt worden, wie denn z. B. in Friedland die
darniederliegende Tuchmacherzunft im Jahre 1532 wieder aufgerichtet, der Stadt selbst
aber vom Könige (1537) ein Jahrmarktsprivilegium verliehen worden war. Mit Diplom
vom 28. September 1545 wurde den zünftigen Tuchmachern im ganzen Lande das Recht
zngestanden, ihre Tuche eilen- und stückweise allüberall frei zu verkaufen und die Wolle zu
erhandeln, „wo sie anzutreffen ist" — ein heute selbstverständliches Recht, um das jedoch
bis dahin viele Zünfte sich vergeblich bemüht hatten und in späterer Zeit sich wiederum
erfolglos bemühen mußten.
Kein glücklicher Gedanke war es, daß Ferdinand I. bald nach Antritt seiner
Negierung die alte karolingische Bestimmung erneuerte, daß alle iu Böhmen eingeführten
Maaren nach Prag geschafft und dort im Teynhofe verzollt werden sollten. Auch die nach
vielen Klagen und Beschwerden verfügte Einschränkung dieses Gebotes war den: Handel
noch beschwerlich genug. Dagegen traf Erzherzog Ferdinand, des Königs Sohn, als
dessen Statthalter mancherlei Anstalten zur Hebung des Verkehrs und der öffentlichen
Sicherheit, die, wie begreiflich, noch viel zu wünschen übrig ließ. Er führte zur Über -
wachung der Straßen im ganzen Lande „streifende Rotten" ein, die einem Oberanführer
unterstellt wurden. Er war der Erste, welcher an eine Regulirung und Schiffbar -
machung der oberen Moldau und der Elbe Hand anlegte (1552). Wohl schon in
seine Verwaltung ist die Einführung der folgenreichen Jürgen'schen Erfindung des
Spinnrades zu verlegen, durch das in erster Linie den Gebirgsgegenden eine Wohlthat
erwiesen wurde, größer als sie ihnen jemals durch die Gunst und Gnade eines wohl -
gesinnten Herrschers hätte zugewendet werden können. Die Spinnerei war und blieb von
nun an einer der einträglichsten Zweige hausindustrieller Beschäftigung.
Ein mächtiger Schritt nach vorwärts wurde zn dieser Zeit in der Glasindustrie
gethan, und zwar gleichzeitig auf verschiedenen Punkten des Landes. Er ging von einer
Familie aus, deren Name mit der Geschichte des böhmischen Glases, und nicht dieses allein,
durch mehr als zwei Jahrhunderte aufs innigste verknüpft ist. Als deren Ahnherr ist
Wappen der Schürer von Walthaimb.
urkundlich Kaspar Simon Schürer zu betrachten. Er war der Gründer einer Glashütte
zu Waldheim in Ober-Sachsen, etwa fünf Meilen von der Stadt Meißen entfernt, deren
ausgezeichneter Ruf bereits ein festbegründeter war, als sein ältester Sohn Paul Schürer
(geboren 1504 zu Aschberg in Meißen), ein junger Mann, nach Böhmen kam und sich
daselbst nahe dem „Schleinitzer Ländchen", im „Niederlande", einem uns schon bekannten
Glasdistricte, niederließ, um in dem Dorfe Falkenau bei Kreibitz, wohl mit werkthätiger
Unterstützung seines Vaters eine neue große Glashütte anzulegen (1530), von wo ans
Böhmen. 39
610
sich die rastlose und überaus segensreiche Wirksamkeit der Familie binnen weniger Jahr -
zehnte in immer weitere Ferne erstreckte: in das Riesen- und Jsergebirge, das Erzgebirge
und den Böhmerwald, überallhin, wo es schlagbare Waldungen im Lande gab. Beinahe
überall fanden aber die Schürer bereits Vorgänger.
Am Fuße des Riesengebirges errichtete unmittelbar nach Gründung des Dorfes
Rochlitz durch Ernst von Ujezdetz auf Starkenbach um das Jahr 1540 ein gewisser
Donat eine Glashütte, die später nach dem benachbarten Sahlenbach verlegt wurde:
das Stammunternehmen der heutigen Glasfabrik in Neuwelt. Im Jsergebirge, und zwar
in Grünwald bei Gablonz, erbaute im Jahre 1548 Franz Kuutze eine nachmals sehr
einträgliche Glashütte, an deren Seite Hans Schürer zehn Jahre später zu Lab au eine
zweite Hütte stellte, worauf auch bald der Betrieb jener in Grünwald an die Schürer
überging. Die jetzt so hochbedeutsame weltbekannte Glaskurzwaaren-Industrie des
Gablonz-Tannwalder Bezirkes nahm damit ihren Anfang.
Um 1540 bis 1560 betrieb ein zweiter Sohn Kaspar Simon Schürers, Christoph,
der muthmaßlichc Begründer der Blaufarbenerzeugung, die Eulenhütte bei Neudeck
(Kreis Elbogen); Christophs Söhne Elias und Valentin übernahmen gegen Zins eine
Glashütte zu Schwanabrückel im Böhmerwalde (Kreis Klattau), während ihr Bruder-
Paul Hüttenmeister einer zweiten Anlage daselbst wurde und später diese Neuhütte
als sein Eigenthum erwarb. Derselbe Paul gründete inmitten eines neuen landtäflicheu
Gutes, das zu Ehren seines Stifters den Namen Wald heim erhielt (Kreis Pilsen),
eine Glashütte, in deren Nähe ein zweites Dorf entstand, Wohl zur Erinnerung an die
Gebnrtsstätte des Gründers „Grünwald" genannt. Nicht viel später setzte sich ein Zweig
der Familie Schürer von Waldheim in Seewiesen (Kreis Prachin), im königlichen
Wald-Hwozd, dem Gebiete der Freibauern, durch Errichtung einer Glashütte fest, von
welcher die zurückgebliebenen Häuser noch heute Schürerhütten heißen. Im Böhmerwalde
aber, wie im Jser- und Riesengebirge und im böhmischen Niederlande hatte die Rohglas -
erzeugung, aber auch die Glasraffinerie für alle Zukunst Fuß gefaßt. Bis auf unsere
Tage haben sich wahre Prachtstücke von Prunkgläsern, Glasmalereien u. s. w. erhalten,
geziert mit Namen und Wappen der Schürer von Waldheim.
Noch in die Regierungszeit Ferdinands l. fällt die Einführung eines anderen, speciell
für das böhmische Erzgebirge wichtigen Nahrungszweiges, der Spitzenklöppelei, durch
Barbara Uttmann (geboren 1514, gestorben 1575). Von Annaberg in Sachsen breitete
sich seit 1561 diese Erfindung Schritt für Schritt und von Hans zu Haus nach beiden
Seiten des oberen Erzgebirges aus, bis sie im Anfang des vorigen Jahrhunderts dort
nach genauen Erhebungen auf einem Flächenraume von 10 bis 12 Geviertmeilen mehr
als 10.000 Menschen ernährte.
611
So schien nach mehr als einer Richtung der Anstoß zur Besserung der Productions-
oerhältnisse im Lande gegeben; auch erfreuten sich die letzten Regiernngsjahre Ferdinands I.
relativer Ruhe nach innen und außen.
Kaiser Maximilian II. war künstlerischen und gewerblichen Bestrebungen nicht
abgeneigt. Seine besondere Aufmerksamkeit wandte er in letzterer Beziehung dem heimischen
Wollengewerbe zu. Die Lage desselben war aber keine günstige. Die Prager Kammer-
räthe erklärten als Ursache dessen, „daß ein Abgang in der Wolle erscheine und dieselbe
in hohem Kaufe sei, derowegen auch die Tuchmacher vom Handwerk lassen müßen". Der
Kaiser ließ es nicht dabei bewenden. Er fand sich bereit mit Steuergeldern hilfreich einzu -
greifen und selbst aus Kosten des Ärars den Verlag im Großen eiuzurichten — „doch nicht
der Meinung," wurde beigefügt, „daß wir den Tuchhandel ganz an uns ziehen wollten,
sondern die Tuchhändler bei ihrem Gewerbe einen Weg als den anderen zu lassen und
wir allein zur Nothdnrft des Grenzwesens Tuch erlangen und bekommen würden mögen."
Die ausländischen Leistungen sollten im Julande, wo bisher ausschließlich ordinäre
„Landtuche" hergestellt wurden, als Muster dienen. Der guten Absicht des Monarchen zu
willfahren, wurde im Jahre 1574 ein Commissär entsendet, welcher in allen Städten
Böhmens die Zahl der Tuchmacher, sowie die Quantität und Qualität des jährlichen
Erzeugnisses zu erforschen und festzustellen hatte, insbesondere in den Städten, „aus
welchen Tuche nach Österreich und Ungarn ausgeführt werden". Die Tuchmacherzunft in
Prag erstattete im nächsten Jahre einen ausführlichen Bericht über den Stand der Tuch -
macherei und des Tuchhandels in Böhmen, der als das älteste bekannte Schriftstück dieser
Art der Beachtung Werth ist. Er schildert die bezüglichen Verhältnisse in Chrudim,
Hohenmauth, Reichenau, Solnitz, Kostelec, Tabor und Braunau unter Mit -
theilung mancherlei Details. Merkwürdig ist die Schlnßbcmerkung: „Von anderen Städten
im Königreiche Böhmen, in denen die Tucherzeugung von Bedeutung sein soll, haben wir
keine Kunde." Von der seit mehr als vierzig Jahren wiederbelebten Tuchmanufactur in
Friedland, deren Zunftordnung allerdings erst wieder im Jahre 1562 durch den neuen
Besitzer Friedrich von Redern — „nachdem wir scheinbarlich befunden, daß allerlei
Unordnung bei dem ehrsamen Handwerke der Tuchmacher daselbst und desselben Tuch -
handels bishero gehalten worden" — wesentlich umgestaltet worden war, hatte die Prager
Zunft, die sich den übrigen Zünften im Lande gegenüber die Hauptzunft nannte, keine
Kenntniß. Wahrscheinlich hatten die Friedländer Meister es bisher verschmäht, sich dieser
Hauptzunft unterzuordnen.
Den Pragern wurde im nördlichen Böhmen bald eine Concurrenz geschaffen, die
ihnen sehr gefährlich werden sollte. Die Herren von Redern, als Besitzer von Friedland-
Reichenberg, erhoben ihr Besitzthum innerhalb weniger Deeennien in gewerblicher
39*
612
Hinsicht zu einer Bedeutung, wie dieselbe wohl nur wenige Landstriche bisher erreicht
hatten. Kaiser Rudolf II., der Erbe Maximilians II., seinem Vater in vielen Stücken sehr
ähnlich, doch noch weit mehr als dieser ein Freund der Kunst und des Kunstgewerbes, ja
selbst ein ausübender Künstler, willfahrte zuvorkommend derartigen Bestrebungen. In
einem Diplom vom 11. April 1577 wurden die Privilegien des Städtchens Reichenberg,
das „vordem nicht anders als ein Dorf", namhaft vermehrt, besonders durch das Recht
der Abhaltung zweier Jahrmärkte, der Führung eines Stadtwappens u. s. w. Es folgte
schon im nächsten Jahre die Errichtung zweier Zünfte, jener der Bäcker und der Schneider
— elfterer auf Grund der respectiven Zunftartikel der Stadt Zittau — und abermals ein
Jahr darnach (1579) einer Tuchmacherzunft, derselben, welche im Lause der Jahrhunderte
über die Schranken einer Institution ihrer Art weit hinauswnchs und jede andere Berufs -
genossenschaft diesseits und jenseits der Landesgrenze sowohl an Zahl der Mitglieder als
auch an Tüchtigkeit, Vermögen und Einfluß weit überflügelte. Im Jahre 1588 trat in
Rcichenberg wie in Friedland, von Christof und Melchior von Redern privitegirt, auch
eine Innung der Leinenweber ins Leben, nachmals gleichfalls von außergewöhnlichem
Umfange und seltener Leistungsfähigkeit. Tuchmacher und Leinenweber an beiden genannten
Orten schritten bei Zeiten zur Organisirung förmlicher „Gesellen-Bruderschaften" und
Feststellung genau umschriebener „Gesellen-",beziehungsweise „Tuchknappen-Ordnungen",
das heißt zur Regelung der Arbeiterfrage jener Tage innerhalb des ihnen zugewiesenen
Wirkungskreises. Unseres Wissens sind die betreffenden Schriftstücke, den Jahren 1593
und 1619 ungehörig, als die ersten Versuche ihrer Wirthschaftssphäre nicht blos iu
Böhmen, sondern in sä,amtlichen nun sogenannten kaiserlichen Erblanden zu betrachten.
Die Leinenweberzünfte vermehrten sich überaus rasch. So wurde eine solche bereits 1589
in der Bergstadt Graupen eingerichtet, „der altherkommenden Gewohnheit nach, wie die in
anderen Städten dieser Krone Böhmen gehalten".
Melchior von Redern — ein bedeutender Heerführer, durch seine zahlreichen und
namhaften Erfolge in den Türkenkriegen hochberühmt, zugleich aber ein eifriger und that-
kräftiger Förderer der Werke des Friedens — beschränkte sich in Friedland-Reichenberg
nicht auf die erwähnten Schöpfungen. „Zum Behufe der Schule" erbaute er in Friedland
(1590) eine stattliche Papiermühle, die noch gegenwärtig besteht. Er gab den Reichen -
berger Tuchmachern ein umfassendes, sehr detaillirtes, mustergiltiges Zunftprivilegium
(1599). Eben auch auf der Herrschaft Reichenberg legte er das Dorf Friedrichswalde
mit einer Glashütte an, woselbst wir (1604) als ersten „Gerichtsverwalter" und
„Hüttenmeister" Peter Wanderer (auch „Wander") kennen lernen, den Stammvater der
neben den Schürer von Waldheim in der Folge meistgenannten und -verdienten Glas-
erzengerfamilie Wander von Grünwald. Melchiors Witwe, Katharina von Redern,
614
geborene Gräfin Schlick, trat in die Fußstapfen ihres Gatten. Die Städte Reichenberg
und Friedland wuchsen zusehends; rings um die Städte aber erwuchs ein weiter Kranz
nicht unansehnlicher, dichtbevölkerter Spinner- und Weberdörfer, ans denen das städtische
Handwerk sich seine brauchbaren, weil wohlgeschulten Arbeitskräfte holte. Damit war
der Krystallisationspunkt geschaffen, aus welchem sich der moderne große Reichenberger
Jndustriedistrict im Laufe der Zeit emporarbeitete.
Daß sich die Erfindung des Strumpfwirkerstuhles durch William Lee bei
uns schon vor Ende des XVI. Jahrhunderts eingebürgert habe, darf vermuthet werden.
Das Gewerbe der „Strumpfstricker" war bald darnach in Böhmen sehr verbreitet,
so daß es auf der Altstadt Prag eine Zunft bilden konnte, welche bereits im Jahre 1615
ein kaiserliches Privilegium erwirkte, das ebenso für das übrige Königreich Geltung
hatte. Bestimmt ist, daß unter Rudolf II. einzelne Gewerbe, wie die Glockengießerei und
das Uhrmacherhandwerk, seither nur sehr vereinzelt gepflegt, sowohl in Prag als auf
dem Lande in erfreulicher Weise prosperirte. Die vielbewunderte kunstvolle Uhr am
Altstädter Rathhause zu Prag, ein Meisterwerk des Magisters Hanns aus dem Ende
des XV. Jahrhunderts, wurde 1570 von Johann Täborsky von Ahornberg wieder
hergestellt; der Künstler machte Schule und seine Schüler hatten einen guten Ruf, der
nach dem Zeugnisse Garzoni's sich bis Italien verbreitete. Zweimal (1594 und 1595)
bestätigte Rudolf die Statuten und Privilegien des Maler- und Glaserhandwerkes in der
Altstadt und der Kleinseite Prags, welchem nach langem Widerstreben der Maler nun
auch die „Perlenhefter" sämmtlicher drei Prager Städte incorporirt wurden.
Ein anderes Kunstgewerbe Böhmens, seit Kaiser Karl IV. kaum mehr betrieben,
verdankt dem Kunstsinn Rudolfs II. seine Wiederbelebung: die Bearbeitung edler Steine.
Der Reichthum des Landes besonders an Halbedelsteinen aller Art, beinahe vergessen,
wurde nunmehr erst wieder gründlich ausgebeutet. Paul Stransky nennt in seinem „Staat
von Böhmen" einen Ort, „wo der Kuhhirt oft nach der Kuh mit einem Steine wirft, der
von größerem Werthe als sie selbst". Der Ort liegt inmitten des Jser- und Riesengebirges.
Rudolf II. verlieh im Jahre 1595 Johann Eckstein und Leonhard Stadler das Recht,
»montos omnos, prnossrtim giAantoos, porserutari et Lemmas grmerere sine omni
a äominio loeorum impeäimenlo". Das gleiche Privilegium ertheilte er 1601 dem
Pastor der Kirche Teyn ober Rovensko, Simon Thaddäus Budeccius von Falkenberg,
1607 dem Bergverständigen Willibald Heffler. Sechs „Edelsteinschneider" waren in
dem Hofstaate des Kaisers mit einem Monatsgehalte von 10 bis 30 Gulden bestellt.
Aber die Kunst des Steinschneidens wurde nicht blos am kaiserlichen Hofe und nicht nur
aus Liebhaberei, sondern auch schon an den Fundorten ihres werthvollen Rohmateriales,
und zwar gewerbsmäßig betrieben, zuerst, wie es scheint, in Rovensko, Bezirk Turnau.
616
Pastor Bndeceius von Falkenberg darf wohl mit Recht als der Begründer dieser Industrie
als solcher an Ort und Stelle angesehen werden. Er fungirte eine Zeit lang als von
dem allmächtigen geheimen Rathe Rudolfs II., Wolf Freiherrn von Rumpf, in aller
Form bestellter „Inquisitor" über die zahlreichen, zumeist italienischen Edelsteinsucher,
welche damals außer den Genannten das Jser- und Riesengebirge als ihr Revier durch -
streiften. Vom Markte Rovensko, wo die Steinschneiderei noch heute in Blüte steht,
verbreitete sich dieselbe im Laufe des XVII. Jahrhunderts gegen Turn au, den späteren
Hanptsitz dieses Kunstgewerbes.
Widrige Umstände in Hülle und Fülle begleiteten den Ausgang Rudolfs II.; sie
wurden in der allgemeinen Landesgeschichte dargelegt. Matthias, der Thronfolger, wurde
seines Erbes nicht froh. Noch erlebte er den Ausbruch der „böhmischen Unruhe", den
„großen deutschen Krieg", der durch dreißig Jahre das deutsche Reich von einem
Ende zum andern verwüstete und verderbte, heftiger aber als irgendwo in seinem
Herde Böhmen wüthete und dieses arme Land aufs neue dem Untergang preisgab.
Wieder war dem kulturellen Leben und Streben auf lange, sehr lange Zeit hinaus ein
Halt geboten. Man hat nicht zu viel damit gesagt: mit jenem Kriege wurde Deutsch -
land gegenüber den glücklicheren Nachbarn, den Niederländern, den Engländern, um
zweihundert Jahre zurückgeworfen. Und dennoch war dabei Deutschland im Vergleich zu
Böhmen — nur die wirthschaftlichen Folgen betrachtet — fast noch glücklich zu preisen.
Nicht blos die Macht des Winterkönigs Friedrich von der Pfalz, auch die geträumte
Selbständigkeit des Königreiches Böhmen und mehr noch, unendlich mehr, wurde auf dem
Weißen Berge begraben. Ein furchtbares Strafgericht brach herein. Und mit der
militärischen Niederwerfung des Landes ging die Rekatholisirung, die gewaltsame
Gegenreformation Hand in Hand, welche die vormals blühendsten Betriebsstätten
beinahe vollständig entvölkerte.
Auf einem einzigen Punkte Böhmens waren während der ganzen ersten Hälfte des
dreißigjährigen Krieges für die große Masse der Bevölkerung dessen Schrecknisse kaum
fühlbar: im Herzog th um Friedland. Wohl hatten, wie ungezählte andere protestantische
Familien, auch die Nachkommen Melchiors von Redern ihr Besitzthum und das Land
verlassen müssen; die Zurückgebliebenen hatten den Wechsel der Dinge zunächst kaum zu
beklagen. Die Herrschaft Friedland-Reichenberg kam an Albrccht Wenzel Eusebius
von Waldstein, insgemein Wallenstein genannt, der mit ihr binnen kurzer Zeit nicht
weniger als 64 bisher selbständige landtäfliche Besitzungen vereinigte, ein Dominium
im Umfange von nahezu eintausend Hekiar oder siebzig Quadratmeilen, von der Landes -
grenze im Norden bis über Melnik und Nimbnrg im Süden und von Leipa im Westen
617
bis gegen Trantenau im Osten reichend, in seiner Gesammtheit vom Kaiser erst (1624)
zum Fürstenthum, dann (1627) zum Herzogthnm erhoben. Mit demselben bewunderungs -
würdigen Organisationstalent, mit welchem Wallenstein wiederholt neue große Armeen
ins Feld stellte, verstand er es, die rasch erworbenen verschiedenen Güter in ein einheitliches,
wohl administrirtes, wirthschaftlich blühendes Ganze zusammenzufassen und zu halten
und so innerhalb des übrigen darniederliegenden, verkümmerten Landes ein Gebiet
zu schassen, das seine Zeitgenossen entgegen der /llorra ctesertu" Böhmen nicht ohne
Neid die /l'srra kolix" zu nennen pflegten. Die Residenz Gitschin (lieiir), mit Pracht -
bauten geschmückt, wurde der Mittelpunkt eines unglaublich reichen, lebhaften Verkehrs.
Nach Wallensteins Ermordung fiel wie mit einem Schlage das von ihm aufgerichtete
stolze Gebäude zusammen, seine Besitzungen wurden zersplittert, sie hatten künftig die
Schicksale des übrigen Böhmen zu theilen. Nichtsdestoweniger haben sich bis zur
Gegenwart die Spuren und nicht blos Spuren jener segensreichen volkswirthschaftlichen
Thätigkeit des Friedländers erhalten. Und diese Thätigkeit bildet allerdings einen der
triftigsten Erklärungsgründe für die mannigfachen Besonderheiten, welche späterhin, trotz
allem Wandel der Verhältnisse, speciell dem böhmischen Norden ein gewerbliches,
industrielles Gepräge aufdrückten — ein Gepräge, das durch die Unbilden der folgenden
Jahrzehnte zeitweilig zwar wieder verwischt, doch nie mehr ganz hinweggetilgt werden
konnte. Als aber endlich — endlich über der weiten, vielgeprüften böhmischen Erde
die Sonne glücklicherer Zeiten wieder aufging und der Segen einer an wahrer, tiefer
staatswirthschaftlicher Einsicht gereisten landesväterlichen Fürsorge in reichen Strömen
sich darüber ausgoß: mit welchen vollen, gierigen Zügen sog da vor Allem jener vormals
fleißig, ja mühselig gepflegte und gelockerte und dadurch erst empfänglich gewordene
nordböhmische Boden diese Sonnenstrahlen und Regengüsse in sich auf, um sie gar bald
mit tausendfältiger Frucht zu lohnen!
Von Kaiser Ferdinand II. als König von Böhmen haben sich Regierungsacte
gewerbe-politischer Natur verschwindend wenige erhalten. Und diese wenigen beschränken
sich fast alle auf die Bestätigung von Zunftordnungen früherer Zeit. Durch nichts unter -
scheiden sich derartige Confirmationen von den vorhergegangenen, es wäre denn, daß
sie das ursprüngliche kirchliche, das confessionelle Moment der allerersten gewerblichen
Bruderschaften wieder mehr, und zwar, wie sich von selbst versteht, im streng katholischen
Sinn in den Vordergrund rückten. Von nun an lautete der erste Artikel jeder neuen oder
revidirten Zunftordnung ungefähr dahin: „Wer allhier Meister werden will, der soll und
darf keiner anderen als der alleinseligmachenden katholischen Religion zugethan sein."
Damit war in dem kurz vorher überwiegend protestantischen Böhmen die Mehrzahl
der Bewohner vom Gewerbe ausgeschlossen oder zum Confessionswechsel gezwungen.
618
Die tüchtigsten GewerbSleute verließen in Schaaren ihre alte Heimat. Man zählte solcher
Exulanten nach beglaubigten officiellen Registern auf einer einzigen der 64 Herrschaften
des bestandenen Herzogthnms Friedland, in Friedland selbst, 3180, in Reichenberg
3800. Eine Zählung im ganzen Herzogthnm, geschweige denn in ganz Böhmen, hat
Niemand vorgenommen.
Erst im Jahre 1642 wurde wieder der Versuch gewagt, die Aufmerksamkeit der
maßgebenden Kreise auf die wirthschaftlichen Verhältnisse des Landes zu lenken. Und in
der That erscheinen diese Bemühungen der Beachtung nicht unwerth. Sie geben Zeugniß
davon, daß in jener trübseligen Zeit ein gewisses Verständniß für gewerbliche und
commereielle Dinge bereits vorhanden war. Johann Vogler, kaiserlicher Cvmmissär
des westphülischen Kreises, der Verfasser eines Tractates ,ckc ,jurs murilimo 8uoo
(lacsarcac Nujcsluli compcleulcft war ein Mann von solchem Verständniß. Es haben
sich Bruchstücke eines Berichtes Voglers aus dem erwähnten Jahre erhalten, welcher diesen
Ausspruch zu rechtfertigen geeignet scheint. An die „Con-Commissüre" des Genannten
gerichtet — den Abt Crispinus des Klosters Strahov und den Grafen Heinrich Schlick —
enthält der Bericht den motivirten Antrag „ans ein in der Prager Stadt einznrichtendes
hochnutzbares Emporium oder Niederlage," unter Voraussetzung der Thatsache, „daß die
Navigation bis Prag bereits zum Stand gerichtet." Prag soll ein Stapelplatz ersten
Ranges werden, die Handelsstraßen aus Welschland und dem Orient nach Mittel- und
Nordenropa sollen in Prag Zusammentreffen u. s. tv. Auch dieses Project wurde von den
Kriegsereignissen auf die Seite geworfen; es blieb mehr als zehn Jahre liegen — „derer
damals fürgewährten schwedischen Hostilitäten halber".
Doch auch für Böhmen kehrte der Friede zurück. Die gänzliche Erschöpfung des
Landes ließ aber dasselbe seiner Segnungen noch durch Decennien nicht recht theilhaft
werden. Im Jahre 1652 traf Kaiser Ferdinand Ul. in Prag ein. Da kam auch
die Wiederbelebung des Handels und der Gewerbe zur Sprache, wenigstens nebenbei.
Der sich vor Allem dieser Frage bemächtigte und zu deren Lösung drängte, war das
Mitglied der böhmischen Kammer Gerhard Lenx von Luxenstein, eben im Jahre 1652
um seiner Fähigkeiten willen voni Kaiser in den Adelstand erhoben. Er knüpfte an die
Idee Voglers an, zu deren Verwirklichung er zunächst dafür eintrat, daß den Prager
Städten das Privilegium zur Abhaltung zweier weiterer Jahrmärkte unter ganz
besonderen Begünstigungen verliehen werde, um hierdurch „ein commercium nctivum
an auswärtige Provinzien zu assequiren".
Seine Anregungen wurden sehr ernst genommen und zu ihrer Durchführung
zahlreiche Commissionen abgehalten. Dennoch kam Gerhard Lenx nicht vorwärts. Der
für den Fall der Annahme seiner Anträge als unausbleiblich nachgewiesene „considerable
Geldaffluxus" konnte die Besorgniß der Landesstelle nicht zerstreuen, durch die Hebung
des Handels, das Herbeiströmen fremder Elemente würde das glücklich rekatholisirte
Land Gefahr laufen, in seiner Glaubenseinheit gestört zu werden. An diesem Absperrnngs-
system wurde mit Zähigkeit festgehalten. Da war denn auch für eine Prosperität der
Gewerbe noch keine Aussicht vorhanden. Und doch wußten, wie Gerhard Leux, auch seine
Widersacher sehr Wohl und gestanden es offen ein, daß „ohne Manufacturen kein
eomiriareiurir aetivrnir nützlich kann eingerichtet werden". Auch während der nächst -
folgenden Jahre fristeten sich die Gewerbe nur durch fortgesetzte nothdürftige Wieder -
herstellung der einstigen Zunftverhältnisse — abgesehen etwa davon, daß, wie dies in
Zeiten des Verfalls immer zu geschehen Pflegte, Maßnahmen gegen die Juden ergriffen
wurden, deren concurrirender Hausirhandel als dieHauptursache des allgemeinen schlechten
Geschäftsganges angesehen werden wollte und gegen welchen deshalb durch verschiedene
königliche Recesse der Jahre 1648 und 1651 angekämpft wurde.
Der gewerbliche Charakter der Zeit blieb im großen Ganzen unter Kaiser LeopoldI.
vorerst derselbe. Alsbald nach seinem Regierungsantritt, am 20. August 1658, erschien
ein Zollmandat für Böhmen mit 209 Tarifposten für die Ausfuhr, 53 für die Durchfuhr
— mehr in Rücksicht auf die Staatsfinanzen als die Landesinteressen. In Angelegenheit
der Elbeschiffahrt zogen sich nach wie vor die Verhandlungen in die Länge. Daran änderte
auch nichts, daß Kammerrath Joachim Ferdinand von der Goltz (1660) eine Stromfahrt
von Prag nach Hamburg unternahm, sich „dero Beschwerden halber alles Fleißes zu
informiren," und in einem längeren Bericht „mit Beilegung einer Specification aller Zölle,
so bis Hamburg hinab sich befinden," darzulegen sich bemühte, „wie solche irmoirrraocka,
mit der sämmtlichen Cointeressenten Vernehmen leichtlich abzuthun". Auch der gute alte
Gerhard Leux trat mit einem neuen „Navigations-Memoriale" (1667) auf — vergebens.
Man kam in mercantilen Dingen über die Handhabung von Zunftartikeln nicht hinaus.
Im Jahre 1659 fand sich das Handwerk der Kupferschmiede wieder in einer
großen Zunft zusammen. Den Prager Tuchmachern und deren Zunftangehörigen verlieh
Tapferkeit und Treue einige Freiheiten. Die Zahl der Zünfte wurde (1671) um die der
Exempel folgten die „Lust- und Ziergärtner" des Königreiches Böhmen. Von anderen
neuen Zünften in bestimmten Landestheilen wird noch die Rede sein.
Ein Ereigniß von weittragender Bedeutung war die mit kaiserlicher Entschließung
vom 22. Februar 1666 genehmigte Einsetzung eines „Commercien-Collegiums"
in Wien zur „Einführung der Manufacturen und Vermehrung der Commercien".
620
Die Competenz dieser Körperschaft, einer Art Gewerbebehörde höchster Instanz, erstreckte
sich auf alle Provinzen des Kaiserstaates, somit auch ans Böhmen. An ihrer Spitze stand
Hofkammcr-Prüsident Georg Ludwig Graf Sinzendorf, später (seit 1672) königlich
böhmischer Kammerpräsident. Er ließ sich herbei, ans seinen Herrschaften in Niederöster -
reich Seiden- und Seidenbandsabriken einznrichten und in Gang zu erhalten. Der Unter -
nehmer hatte aber auf die Dauer keinen Erfolg. Von der Absicht, denselben neuen
Industriezweig in Prag einzubürgern, wurde unter solchen Verhältnissen Umgang
genommen. Noch weniger als in der Landeshauptstadt erreichten außerhalb derselben
ähnliche Versuche der allernächsten Zeit ihren Zweck. Selbst in den königlichen Städten
war von Aufschwung überhaupt nicht die Spur zu finden. Geradezu trostlos war es im
Allgemeinen um die nnterthänigen Ortschaften bestellt. Der kleine Gewerbsmann erlag
unter den schweren Lasten, die ihm vom Grundherrn aufgenöthigt wurden.
Auch schwere Schicksalsschläge blieben nicht aus. Die grauenvolle, mörderische Pest,
die Böhmen im Jahre 1680 heimsuchte, verschonte kaum eine Stadt, ja nur wenige
Dörfer. Der große Bauernaufstand desselben Jahres — ein Aufschrei der Bedrüngtesten
unter den Bedrängten — bezeugte nur zu deutlich, wie unhaltbar die Stellung der
Besitzenden den Massen gegenüber bereits geworden war. Man wird den allgemeinen
gewerblichen Stillstand begreiflich finden, umsomehr aber den Muth und die Ausdauer,
die Widerstandsfähigkeit und die Schaffenskraft bewundern, mit welcher in einzelnen Orten,
wie namentlich in Neichenberg, trotz alledem auch unter solchen Umständen, wenn nicht
die Gesammtheit der Gewerbe, so doch einzelne unter ihnen, wie die Leinenweber und
Tuchmacher, fortwährend nicht nur an Umfang, sondern entschieden auch an Tüchtigkeit
der Leistung znnahmen. Wohl sind das, um mit Buckle zu sprechen, Zeugnisse von „Helden-
thaten der civilen Entwicklung".
Nächst Reichenberg hatte zur Zeit das Tnchmachergewerbe besonders in Braunau,
Pilsen, Leipa und Jungbunzlau einen grvßerenRuf erlangt, die Leinenweberei aber —
von Rnmbnrg-Schluckenau abgesehen — in Friedland, Arnau, Hohenelbe, Pilnikau
und Freiheit, in welcher letzteren Bergstadt erst seit 1655 eine Zunft der „Züchner und
Leinenweber", entsprechend dem „Artikelbriefe" der Pilnikauer Lade errichtet worden war,
um schon im Jahre 1688 aus Grund eines neuen, umfassenden Statuts in ein „ehrsames
Handwerk der Züchner, Tripner, Barchner und Leinwandweber" erweitert zu werden.
Ans den genannten Städten nahm der Leinenstuhl in die umliegenden Dörfer seinen
Einzug. Vom Niesen- und Jsergebirge trat er seine Wanderung ins Flachland an.
Damals vollzog sich im böhmischen Niederlande ein eigenthümlicher Proceß. Im
Jahre 1669 hatten sich dort, in Kreibitz, die Glasmaler und Glasschneider veranlaßt
gesehen, zur Bildung einer „vollkommenen Innung, Zunft und Zeche" zu schreiten,
wozu der Grundbesitzer Graf Kinskp um so bereitwilliger seine Zustimmung ertheilt hatte,
als damit das geeignetste Mittel gegeben schien, den im Aufschwung begriffenen Glas -
handel und dadurch indirect auch die Einkünfte der Herrschaft ansehnlich zu heben. Schon
1683 traten auch die Glasmaler und Glasschneider der Herrschaft Bürgstein, insbesondere
der Dörfer Blottendorf und Falkeuau, zu einer Innung zusammen; ihrem Beispiel
folgten die Gewcrbsgenossen im Torfe Steinschöuau (1694). Sie förderten den Handel
nach Kräften, schon dehnte er sich über Norddeutschland aus, ja für ihn gab es kaum mehr
eine Grenze. So kommt das böhmische Glas nach Polen und den Ostseeländern, ja selbst
nach Rußland bis Moskau, ebenso nach Holland, nach Italien, Ungarn und Siebenbürgen.
Von Stralsund gehen diese „Glascommercialisten" nach Riga, von Hamburg nach London
und von Varna nach Constautinopel. Kopenhagen und Stockholm werden ausgesucht und
über Archangel in wenigen Jahren „viel hundert Tausend Glas" in das entfernteste
Rußland vertrieben. Portugal und Spanien sind später neben Holland die Hauptemporien
dieses Handels, der sich nun bald als gesellschaftlicher Factoreibetrieb entwickelte.
Gleichfalls bereits im zweiten Decennium der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts
that auch die Papiererzeugung Böhmens einen Schritt nach vorwärts. Christof Weiß,
der im Jahre 1667 die erste Papierfabrik in Hohenelbe errichtete, schuf damit für diese
Industrie ein neues, wichtiges Centrum. Das ausgezeichnetste Papier jeder Gattung
lieferte schon damals, nach dem Zeugnisse Balbins. die in den Besitz der Familie
Ossendorf übergegangene Papiermühle von Bensen.
Eine gewisse Regsamkeit machte sich um dieselbe Zeit auch in Eger bemerkbar.
Obschon gleichfalls infolge gewaltsamer Durchführung der Gegenreformation hart mitge -
nommen, hatte die von jeher sehr betriebsame Stadt eine relative Wohlhabenheit und
einen Handelsstand zu erhalten gewußt, der sich mit jenem aller übrigen Landstädte
Böhmens messen konnte. Die beiden Egerer Jahrmärkte waren die besuchtesten im Lande.
Bürgermeister und Rath der Stadt stellten das Ansuchen um „einen noch dritten Jahr -
markt und zu solchem eine Stapelgerechtigkeit" (1690). Sie wurden abgewiesen aus den
denkbar kleinlichsten Gründen.
Es war unsäglich schwer, eine höhere Auffassung wirtschaftlicher Fragen zum
Durchbruch zu bringen. Und dennoch kann eine Wendung zum Besseren, wenigstens an
vereinzelten Punkten, bereits verzeichnet werden. Dafür spricht außer dem Gesagten noch
eine weitere -rhatsache. Sie führt uns an den Fuß des Erzgebirges. Ein Egeraner von
Geburt, Benedikt Litwehrich, seit 1691 Abt des Stiftes Ossegg, wurde daselbst der
Gründer eines eigentlich fabriksmäßigen Betriebes. Er verschrieb aus dem benachbarten
Sachsen einen gewandten Strumpfwirker Namens Paul Rodig. „Rodig machte bald
Anstalt , wird gemeldet, „daß nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Personen,
die nichts zu arbeiten hatten, mit Spinn- und Spulrädern, Reiß- und Krempelkämmen
und anderen damals in der ganzen Gegend unbekannten und vorher noch nie gesehenen
Geräthschaften, die Brot einbrachten, und endlich mit den Wirkstühlen nach und nach
bekannt wurden". In kurzer Zeit waren auf der Herrschaft Ossegg, sowie in Dux, Ober -
leutensdorf u. s. w. an fünfzig „ausgelernte" Strumpfwirker vorhanden. In Ossegg
selbst wurde im Jahre 1697 eine Wollenstrumpffabrik errichtet, anfänglich mit neun, dann
fünfzehn „eisernen Wirkstühlcn, von denen ein jeder 135 Thaler kostete und nach Abschlag
aller Kosten einen jährlichen Nutzen von 100 Gulden abwarf". Es folgte durch Berufung
eines zweiten erprobten Handwerkers, des Zengwebcrs Gottfried Schrücker (1708), die
Etablirung einer zweiten „Stiftsfabrik" in Ossegg, einer Zeugfabrik, die sich — das noch
bestehende Gebäude, welches ursprünglich anderen Zwecken gedient haben mußte, trägt über
dem Eingang außer der Initiale des Namens Laurentius (Scipio), des Vorgängers
Benedikt Litwehrichs in der Würde eines Ossegger Prälaten, die Jahreszahl 1677 —
bis auf den heutigen Tag erhalten hat.
Dergleichen Erfolge konnten nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit auch der oberen
Kreise auf sich zu lenken, in denen ja doch wirtschaftliche Angelegenheiten nicht mehr wie
sonst als „Bagatellsachen" behandelt wurden. Beweis dessen das Commercien-Collegium
in Wien und fast noch mehr das damals erschienene, seither vielberufene Buch Philipp
Wilhelm von Hörnigks „Österreich über Alles, wenn es nur will" (1684). Mit vielem
Nachdruck war in zahlreichen Stellen dieser vortrefflichen Schrift zum erstenmal auch die
große commercielle Bedeutung Böhmens — „Teutsch-Böhmens" — hervorgehoben
worden. Und wenn in Böhmen, heißt es daselbst, „die Leute ebenfalls wenig von ihrem
Fleiß und Emsigkeit zu entrathen haben: so stecken herentgegen die Gebirge — Teutsch-
Böhmen — voll nahrhafter, grundarbeitsamer Leute". Auf die Frage, „welcher Orten in
den Erblanden jede Manufactur hin zu verlegen", antwortet Hörnigk immer wieder mit
dem Hinweise auf „Tentsch-Böhmen". Mit der Leinenmanufactur hätte es dort „bereits
seine Wege von selbßUALnommen", und „gleiche Bewandtniß hat es mit der Tuchmacherei
in Schlesien, Teutsch-Böhmen und Mähren"; ebenso wäre seines Bedünkens „die Wollen-
Zeugmacherei in Böhmen und Schlesien zu legen".
Auf speciellen kaiserlichen Befehl wurde denn auch in Böhmen noch vor Ausgang
des Jahrhunderts eine „Cameral-Deputation" eingesetzt, der genau dieselbe Aufgabe zufiel,
wie jenem Wiener Commercien-Collegium. „Auf Insinuation der damals fürgewesten
hohen Cameral-Deputation" forderte Leopold 1. im Jahre 1698 von dem Prager
Gubernium ein Gutachten „in malariu eirenlaeionis pseruriue und Jntroduction deren
Commercien, auch Manufacturen". Damit wird in der Geschichte böhmischer Gewerbe
eine neue Epoche eingeleitet. Das Eis war gebrochen. Von nun an verschwindet
624
die Frage nach den Mitteln und Wegen zur Förderung „deren Commercien, auch
Manufacturen" niemals wieder gänzlich von der Tagesordnung öffentlicher Discnssion.
Sie wurde allerdings nicht sofort gelöst; das war ein Ding der Unmöglichkeit. Auch
hätte sie sonst weniger bureaukratisch angefaßt werden müssen. Das Guberninm schritt
zunächst zur Einholung von Wohlmeinungen, erst bei der böhmischen Kammer, dann bei
den Stadtmagistiaten, endlich bei den „Handelschastszünsten". Nach einem Jnterims-
berichte folgte ein Hanptbericht, in welchem ,pro iriockoriro rsruin slalri unter anderen
ersprießlichen snMstioinbns remonstriret worden, wie der bisherige Geldmangel corrigiret
und solches in eine bessere Circulation gebracht werden könnte; daß obige (Prager) Jahr -
märkte anzustellen, poi^oiia zu unterbrechen, Manchen und Zölle zu limitiren, ein
unparteiisches Commereienrecht zu constituiren; was vor Manufacturen im Lande zu
erzielen und mit was fremden Maaren die Commutation oder Communication zu pflegen,
nebst theils derer Ursachen, warum dato kein mehrers Commercium geführt worden; wie die
Inden dem hinderlich und die Handwerkszünfte besser zn reguliren; was vor Immunitäten
und Privileg denen fremden Fabrikanten zu ertheilen; wie endlich die Schiffahrt auf
dem Elbstrom zum Stand zu bringen, ja mit der Türkei ein Commercien-Tractat zu
errichten, auch wie zum Beschluß der panelus ralchionis zu verwahren wäre" n. s. w.
Verfasser des Berichtes war der Referent der Cameral-Deputation Johann
Borscheck. Er erinnert lebhaft an Johann Vogler und Gerhard Leux. Ihre gewichtigsten
Pvstulate waren auch die seinen. Die „Beförderung des Navigationswerkes", vor Allem
die Moldau- und Elberegulirung; die „bessere Circulation des Geldes", reeta
Valutaflage; der Abschluß von „Commercien-Tractaten", insbesondere mit den
Balkanstaaten, ebenso aber die Abschaffung der „Judenconcurrenz", kehrten auch hier
wieder und sollten noch öfter wiederkehren bis auf — die Jetztzeit. Der ,puiletri3
rel.Aioilis- blieb noch geraume Zeit das Haupthinderniß alles Fortschreitens.
Bereits zu Beginn des Jahres 1699 starb der „Direetor" der Cameral-Depntation,
Oberstkanzler Franz Ulrich Graf Kinsky; ihre Thütigkeit wurde eingestellt, bis sie im
>;ahre 1704 durch kaiserliche Verordnung gleichsam erneuert wurde, indem an ihre Stelle
eine „Commission zur Einricht- und Emporbringung deren hierländischen (böhmischen)
Städte" trat. Das war die letzte That Kaiser Leopolds I.
Mit Wohlwollen kam Kaiser Josef I. wirthschaftlichen Bestrebungen entgegen.
Eine seiner ersten Handlungen war die Einsetzung einer neuen eigenen „Commerz-
Deputation" für Böhmen mitHofrescript vom 25. September 1705. Johann Barscheck,
ein fleißiger, verständiger Beamte, war Referent auch dieser Deputation. Der Beginn
ihrer thütigkeit war ein vielversprechender. Schon unterm 29. Deeember 1705 legte sie
625
dem Kaiser einen umfassenden Bericht vor zur Beantwortung der Frage nach bestmöglicher
„Verfabricirung sowohl der einheimischen als ausländischen Materialien" und „welcher
Gestalt hiedurch ein eominereiurn aetivurn an auswärtige Provinzien zu assequiren".
Der Bericht darf für Böhmen als das wirthschaftliche Programm der Zukunft gelten.
Es trug seine Früchte, wenn auch nicht sogleich und noch viel weniger in Allem und
Jedem. Hofrath von Deblin wurde von Wien nach Prag geschickt, um mit den Ständen
wegen Durchführung einzelner Anträge der Denkschrift zu verhandeln.
Eine Reihe principieller Verfügungen ist auf die Anregungen Borschecks zurück -
zuführen. So wurde durch ein kaiserliches Decret vom 1. Oetober 1708 verfügt, daß die
Einführung von Zünften und Zechen, die Verleihung von Jnnungsprivilegien und
dergleichen künftig ausschließlich dem
Regenten Vorbehalten bleiben, eine Ver -
mehrung der Zünfte aber nicht mehr eintreten
solle. Das hinderte allerdings nicht, daß
beispielsweise noch im selben Jahre 1708
die Prager Klein-Uhrmacher ihre schon
seit geraumer Zeit angestrebte Ausscheidung
aus der Schlosser- und Spornerzunft durch -
setzten und die Bestätigung eigener Zunft -
artikel erwirkten. Im nächsten Jahre wurde
sogar den Schäfern in Böhmen „eine neue
Zunft und Hauptlade" verliehen, nachdem
sie fünf Jahre zuvor mit der gleichen Bitte
von Leopold I. abgewiesen worden waren
und nur das Eine erreicht hatten, daß „ihnen gesummten Schäflern, so mit der Abdeckerei
des umgefallenen Viehes nicht umgehen, die Ehrenverwahrung act axeiriptnin der
schlesischen Schäfler durch ein besonderes Diplom ertheilt worden".
Im Jahre 1710 wurde neuerdings eine Commercien-Deputation für Böhmen
ernannt; doch steht nicht fest, ob dieselbe jemals ihres Amtes gewaltet. Im Übrigen
nahmen die kriegerischen Zeitereignisse bekanntlich die Aufmerksamkeit der Machthaber
vollauf in Anspruch.
Endlich mit Kaiser Karl VI. schien die Zeit gekommen zur Verwirklichung der
Pläne patriotischer Männer wie Vogler, Leux und Borscheck. „Das jetzt lebende König -
reich Böhmen unter der Regierung Laroli Vl.," schrieb man damals (1712), „ist in einem
solchen Stand, daß es gleichsam bei sich sagen kann: Esse und trinke, liebe Seele, du hast
einen großen Vorrath!" — Man kann dieser Negierung das Zeugniß nicht versagen,
Böhmen. 40
Siegel der Schuhmacher-Innung.
626
daß sie in Volks- und staatswirthschaftlichen Angelegenheiten einen weiteren Blick bekundete
und nach besten Kräften auch zu bethätigen suchte, insbesondere nach Beendigung des
Türkenkrieges, der durch den Frieden von Passarowitz (17 l8) gekrönt wurde, dem ein
neuer Handelstractat mit der Pforte auf dem Fuße folgte. Die Errichtung einer „Orien -
talischen (levantinischen) Compagnie" und die Erklärung der Städte Triest und
Fiume zu Freihafen sollten die gewonnenen Errungenschaften verwerthen helfen.
Nur allzubald mußte man zur Erkenntniß kommen, daß weder Handelsverträge noch
Handelscompagnien, Freihafen und dergleichen den Verkehr beleben und die Staats -
finanzen zu stärken vermögen ohne eine handelstüchtige heimische Industrie. Wohl aber
waren, Dank einer kräftigen Unterstützung seitens der Negierung, bisher in Jnnerösterreich,
in Fiume u. s. w. einzelne Jndustrialwerke entstanden; auch die Provinz Schlesien war
in mercantiler Hinsicht merklich vorgeschritten: im großen Ganzen konnte das Geschaffene
keineswegs genügen; vorzüglich ließ Böhmen - aller Ruhmredigkeit zum Trotz — noch
unendlich viel zu wünschen übrig.
Mit Hofrescript vom 2. November 1714 war hier nach Überwindung vieler
Schwierigkeiten etwas Ähnliches wie ein von Borscheck beantragter „Commercienrath",
ein ständiges „Commerz-Collegium" geschaffen worden, auch „Manusactnr-Colleginm"
genannt; Hofrath von Deblin hatte das endlich mit den böhmischen Ständen vereinbart.
Die Errichtung von Jndnstrialien blieb nach wie vor fast ausnahmslos den Privaten
überlassen. Einer der Eifrigsten unter ihnen war in jenen Tagen Johann B. Fremmrich.
Er baute, der Erste in Böhmen, mit Hilfe des Grafen Adolf Bernhard von Martinitz
bereits im Jahre 1710 eine förmliche Tuchfabrik, und zwar in Planitz (Kreis Klattan).
Er erbot sich dem Kaiser, mehrere derartige Fabriken im Lande zu errichten, vorausgesetzt,
daß ihm gestattet werde, sowohl in Prag als auch in anderen Landeshauptstädten des
Reiches öffentliche Niederlagen zu halten. Die betheiligten Zünfte, deshalb befragt,
widersetzten sich mit Lebhaftigkeit, ja nicht ohne persönliche Beleidigungen gegen den ihnen
Persönlich ganz unbekannten Bewerber. Fremmrich bewies dem Mercantil-Cvllegium durch
Vorlage zahlreicher Proben selbsterzeugter hochfeiner Tuche, was er zu leisten vermöge;
das Collegium rieth deshalb ans Gewährung seiner Bitte ein. Fremmrich erbaute auf
eigene Faust im Jahre 1716 eine zweite Tuchfabrik, und zwar in Böhmisch Leipa.
Damals wurde nach Zeugniß des Mannfactur-Collegiums die Tuchmacherei in
68 Städten und Märkten Böhmens betrieben, von denen 34 eine Jahresproduction von
6715 Stück, 29 aber eine solche von 41.429 Stück, das sind 1,242.810 Ellen Tuch,
auswiesen, im Werthe von 30 Kreuzer bis 3 Gulden per Elle. Die Reichenberger
Zunft allein war daran mit einer jährlichen Erzeugung von mehr als 12.000 Stück
betheiligt. Ihr zunächst standen die Zünfte in Neuhaus mit 8000, Friedland mit 4000,
627
Böhmisch-Leipa mit 3600, Kaadeu mit 2000, Komotau, Braunau und Duppau
mit je 1000 Stück „möglicher" Jahresproduction. Das Mercantil-Collegium konnte
hierbei nicht verschweigen, daß „alle hierländischen Tuchmacher nach ihrer uralten
schlechten Manier arbeiten", während Fremmrich gezeigt habe, „daß er mit aus lauter
hiesig böhmischer Wolle recht gute und feine Tuche machen könne".
Dennoch vermochte Fremmrich sich nicht zu halten. Das Manufactur-Collegium
war machtlos gegen zünftige Beschränktheit und patrimoniale Gewaltthätigkeit. Den
gehässigen Angriffen der Leipaer Zunft setzte der dortige Grundherr, ein Graf Kaunitz,
die Krone auf, indem er die Fremmrich'sche Fabrik daselbst, ein blühendes Unternehmen,
von seinen Knechten gewaltsam nehmen und niederreißen, die darin befindlichen kupfernen
Kessel aber — in sein Bräuhaus abführen ließ (2. Jänner 1721)! Einem Privatmann
bürgerlicher Herkunft sollte es in Böhmen noch lange Zeit nicht leicht werden, dort, wo
das Zunftinteresse mit auf dem Spiele stand, unter die „Fabrikanten" zu gehen. Doch
schon im Jahre 1715 errichtete, nicht weit von Ossegg, dem Sitze einer uns bekannten
Stiftsfabrik, in Oberleutensdorf Graf Johann Josef Waldstein auch eine größere
Tuchfabrik, das erste Etablissement seiner Art, das auf Jahrzehnte hinaus sich behaupten
konnte. Ein zweites Unternehmen derselben Gattung wurde später in Kladrub (Chrudimer
Kreis) errichtet, gleichfalls auf Kosten eines Vertreters des böhmischen Adels, des Grasen
Friedrich Wenzel von TrautmannSdorf.
In diese Zeit fällt das Aufkommen der Baumwollmanufaetur in Böhmen.
Ihr Rohstoff, von dem schon Hörnigk sagte, daß er „nun so viel Wesens in Europa
macht", hatte, ungeachtet aller Hindernisse, die ihm von allen Seiten entgegeugestellt
wurden, zunächst vereinzelt bei der Leinenweberei Verwendung gefunden. Das beweisen die
„Barchner" und die „Mesulanmacher" einzelner Leinenweberzünfte, wie in Hohenelbe,
Pilnikan, Freiheit u. s. w. Unterm 15. December 1722 bestätigte Kaiser Karl VI. die
Artikel einer neu errichteten Innung „der Lein-, Mesolan-, Barchent- und Zeugweber"
auf den Herrschaften Landskron und Landsberg im östlichen Böhmen. Nachweisbar
wurden von dieser Zunft Barchente in größeren Mengen erzeugt und auf den Markt
gebracht. Ganz gleichzeitig aber geschah cs, daß au einem anderen Orte die erste Banm-
wollwaaren-Fabrik in Böhmen etablirt wurde. Mit Zustimmung der Grundherriu
Gräfin Gallas errichtete Elias Keßler, genannt Spreng seifen, in der Nähe von
Grottau, „an einem öden und wüsten Orte" ein ausgedehntes Jndustrialwerk, eine
„Tuch-, Zeug-, Strumpf- und Canevasfabrik" — „so im Königreiche Böhmen bisher
nicht gewesen" — von welcher auch bereits 1723 zwei größere Gebäude vollendet wurden.
Obwohl auf Befürwortung von Seite des Commerz-Collegiums mit einem zehnjährigen
Privilegium versehen, wurde die Unternehmung doch sehr bald wieder ausgelassen.
40*
628
Dagegen faßte das Baumwollgewcrbe bald darauf in nicht zu großer Entfernung
von Grottau, in Warnsdorf, sicheren Fuß. Es steht fest, daß man bereits im Jahre
1726, zur selben Zeit, als die Wiener orientalische Compagnie zu Schwechat eine große,
wohlprivilegirte Cottonfabrik gründete, in Warnsdorf, dem heutigen namhaften Sitze
eines ganz eigenartigen Zweiges der Baumwollindustrie von bedeutendem Umfange, nicht
nur „Gezogenes" (Damast) und Zwillich, sondern auch „Schäker" und Canevas arbeitete,
welche Maaren in Prag guten Absatz fanden. Schon in der nächsten Folge werden in
Warnsdorf selbst zahlreiche Verleger genannt, deren jeder eine größere oder geringere
Zahl Weber mit der Herstellung bestrenommirter „Warnsdorfer Stoffe" beschäftigte.
Doch nicht die Textilindustrie allein wies unter Karl VI. einen erfreulichen
Aufschwung nach. Es muß hier auch der Einführung eines anderen neuen Industriezweiges
gedacht werden, dem gegenwärtig viele Tausende ihren Lebensunterhalt verdanken: der
Compositionsbrennerei. Die in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts von
Novensko nach Turn au übersiedelte Steinschneiderei war durch den dreißigjährigen Krieg
und seine Folgen in schwere Mitleidenschaft gezogen worden. Durch die Erfindung des
sogenannten venetianischen Glas- und Goldflusses, der „Compositionssteine", wurde jenes
Gewerbe gegen Ausgang des Jahrhunderts vollends lahmgelegt. Die außerordentliche
Wohlfeilheit und täuschende Ähnlichkeit der unechten „welschen Steine" mit den echten
„harten Steinen" verschaffte ersteren in Kürze eine ungeheuere Verbreitung und verdrängte
letztere ans lange Zeit beinahe ganz vom Markte. Da gelang es nach vielen Bemühungen
zwei Turnauer Bürgern, den Gebrüdern Wenzel und Franz Fischer, im Jahre 1711
gleichfalls Compositionssteine zu brennen, von welchem Zeitpunkte dieser Industrie- und
Handelsartikel einen neuen Aufschwung der genannten Stadt und ihrer Umgebung
begründete, xie „böhmischen Brillanten", wie man die Turnauer Imitationen echter
Edelsteine nannte, waren bald gesuchter als der venetianische Goldfluß, und alljährlich
kamen zahlreiche Handelsleute, selbst aus London, Paris und Neapel, nach Turnau, um
dort bedeutende Geschäfte abznschließen. Neben den Composilionsbrennern aber wußten
sich auch die eigentlichen Steinschneider in Turnau zu behaupten. Sie schlossen sich nun
erst in eine förmliche Zunft zusammen als ,bratrstvo svobollntzllo ünnstn sleirwelmei-
lliovskelio", welche Bezeichnung den ursprünglich deutschen Charakter dieser Kunst wohl
hinlänglich verräth. Das Statut trägt das Datum des 10. Mai 1715. Ihm wurden
1729 die Artikel einer gleichen Zunft auf dem Dominium der Grafen Desfonrs, später
(1747 und 1753) jene einer solchen auf den Besitzungen der Grafen Waldstein
nachgebildet.
Auch in den benachbarten Jndustriebezirkcn, namentlich denen von Gablvnz-Tann-
wald, war man indessen nicht stehen geblieben. Die dort seit zwei Jahrhunderten
030
bestehenden Glashütten waren vollauf beschäftigt. Im Jahre 1701 war ihre Zahl um
die von „St. Antoniwald an der Jser" vermehrt worden, einem stattlichen Unternehmen.
Zur selben Zeit war die Herrschaft Starkenbach mit Rochlitz in das Eigenthum der Grafen
Harrach gelangt, welche von Anfang an der gewerblichen Hebung ihres Besitzes
eine seltene Aufmerksamkeit zuwandten. Sie verlegten die uns bekannte Sahlenbacher
Glashütte nach Seifenbach (1701), von dort aber (1714) weiter ins Gebirge, nach dem
„Neuen Wald". Der Glasmeister daselbst war Elias Müller, nach dessen Tode Graf
Alois Harrach der Witwe und deren Kindern den Weiterbetrieb der Hütte gestattete.
Hans Josef Müller, Elias' Sohn, erbaute nächst der Hütte im Jahre 1737 ein größeres
Wohnhaus, um welches mit der Zeit eine Ortschaft entstand: das heutige Neu Welt, dessen
Glashütte zu den hervorragendsten Erzeugungsstätten ihrer Art gerechnet werden darf.
Sie scheint von jeher besonders Hohlglas erzeugt zu haben, auch dann, als die übrigen
Hütten der näheren und weiteren Umgebung sich ausschließlich der Production von
Stangen- und Prismenglas, dem Rohmaterial der Glaskurzwaaren-Manufactur,
zuwendeten.
Damals, im dritten Jahrzehnt des XVIII. Jahrhunderts, fand das Handwerk der
Strumpfstricker in der Gegend von Bensen und Böhmisch-Kamnitz Eingang und
breitete sich von dort nach Markersdorf, Wernstadtl, Gräber und Auscha ans.
Handwerker aus Niederösterreich, aus Martinsdorf und Retz, werden als die Lehrmeister
genannt, denen diese Einführung zu danken sei.
Der Bereich der Wirksamkeit des Mercantil- und Commerz-Collegiums in Prag
dehnte sich, wie man sieht, immer beträchtlicher aus — allerdings zumeist wohl ohne dessen
unmittelbares Zuthun; nur in verhältnißmäßig seltenen Fällen wird ein Eingreifen der
Behörden in das Wachsthum unserer Industrie bemerkbar. Daran änderte sich nur
wenig, als das Collegium mit Hofrescript vom 30. Mai 1724 eine Neuorganisation
erfuhr, der unterm 15. December 1727 eine umständliche Instruction nachfolgte. Eine
„zur Unterstützung und Beförderung der Gewerbsamkeit" errichtete „Commercialcassa"
war nicht von Bestand. Ungleich wichtiger wurde für das ganze Gewerbewesen das
kaiserliche „General-Handwerks-Patent für die böhmischen Provinzen" vom
10. November 1731. Es bedeutete für Böhmen, Mähren und Schlesien nichts weniger
als die Verstaatlichung der Gewerbegesetzgebung. Mit einem Schlage war das gesammte
Handwerk nach einer Richtung endlich der souveränen Willkür der Magistrate und der
Patrimonialgerichte für immer entzogen und einer einzigen höchsten Instanz, der Staats -
gewalt, unterstellt. Eine Unzahl zünftiger Mißbräuche wurde gründlich beseitigt — es
blieben ihrer mehr als genug noch übrig. Das ausschließliche Recht des Landesherrn
auf Ertheilung und Bestätigung von Zunftsatzuügen gelangte erst jetzt zu wirklicher
631
Durchführung. Alle Gesellenbriiderschaften und selbständigen Gesellenladen wurden
abgeschafft. Zahlreiche neue Zünfte entstanden ans Grund der neuen Ordnung der Dinge.
Der confessionelle Charakter des Zunftwesens blieb bestehen oder erfuhr vielmehr eine
womöglich noch schärfere Betonung als jemals. Daran wurde auch durch die in weiterer
Ausführung des„General-Handwerks-Patentes" am 5. Januar 1739 erlassenen „General-
Znnfts-Artikulen" nichts geändert.
War das entschieden ein schweres Hemmniß für die Ausbreitung und Förderung
des Handels und der Gewerbe in allen Provinzen des damals mehr als heute aus -
gedehnten österreichischen Ländercomplexes, so konnte bei dem Umstande, daß beinahe
jedes dieser Länder für sich ein eigenes Zollgebiet darstellte und von den übrigen
Reichstheilen durch Zoll- und Manthschranken abgesperrt erschien — im Jahre 1737
(17. September) erfloß ein neues umfangreiches Zollmandat für Böhmen, selbst -
verständlich in streng protectionistischem, fiskalischem Sinne — von einer einheitlichen
Zoll- und Handelspolitik und darum auch von einem gesammt-österreichischen Handel
im Grunde nicht die Rede sein. Ungünstige Momente anderer Art traten hinzu,
die weitgehenden Pläne Kaiser Karls VI. in mercantiler Richtung zum Scheitern zu
bringen. Als er die Angen schloß, war seine größte wirthschaftliche Schöpfung, die
Orientalische Compagnie, die für Böhmen niemals irgend welche Bedeutung erlangt hatte,
in voller Auflösung begriffen. Dagegen galt mit Recht schon unter Karl VI. Schlesien
als das ergiebigste und blühendste, ja selbst als „eines der wichtigsten europäischen
Handels- und Industriegebiete". Nach beiden Richtungen befand sich Böhmen in voll -
ständiger Abhängigkeit von Schlesien. Man ermißt daraus die Schwere des Schlages,
welchen die Monarchie, vorzüglich aber Böhmen, durch die Losreißnng Schlesiens zu
erleiden hatte.
Der österreichische Erbfolgekrieg, zumal die beiden ersten schlesischen Kriege, brachten
den gewerblichen Betrieb in Böhmen wieder ins Stocken, der Frieden aber, die Besieglung
des Verlustes von Schlesien, brachte Gewerbe und Handel Böhmens an den Rand des
Verderbens. Eine Katastrophe war heraufbeschworen, die überdauern zu können die
Betheiligten kaum für denkbar hielten. Die Bedeutung der vollzogenen Thatsache erkannte
Niemand besser und gründlicher als die, welche der Verlust so recht eigentlich unmittelbar
getroffen hatte: die Erbin Kaiser Karls VI., die jugendliche, hart geprüfte, doch nicht
gebeugte geniale Maria Theresia.
Und sie verstand es, die Wunden zu heilen, die dem Lande geschlagen worden, ja
noch mehr: sie fand die Mittel und Wege, jenen Verlust sogar in Gewinn umznsetzen.
Es ist keine Übertreibung, wenn behauptet wird, daß Böhmen in bleibender Verbindung
632
mit Schlesien die Stufe industrieller und mercantiler Selbständigkeit, auf die es sich nun
verhältnißmäßig bald gestellt sah, nimmermehr erreicht hätte, wenigstens nicht in so kurzer
Zeit, wie dies thatsächlich der Fall sein sollte. Maria Theresia muß im höheren Sinne
dieses Wortes als die Begründerin der Industrie Böhmens angesehen werden. Sie wurde
es in erster Linie durch die Bethätigung ihres sehnlichen Strebens seit dem Dresdener
Frieden, die Verwirklichung ihres Herzenswunsches, der da lautete: Ersatz für Schlesien!
Nicht mit bewaffneter Hand, nicht durch gewaltsame Wiedererobernng, vielmehr auf
durchaus friedliche Weise sollte dieser Ersatz gewonnen werden: durch Verpflanzung alles
dessen, was eben Schlesien zu Schlesien gemacht hatte, nach Böhmen; durch fleißige,
sorgsame Pflege vor Allem des Handels und der Industrie — namentlich aber der speeifisch
schlesischen Industrie- und Handelszweige in dem dazu wie kein anderes geeigneten Lande,
in Böhmen.
Dazu war es nicht nöthig, die Vorbedingungen sozusagen aus dem Boden zu stampfen;
sie waren bereits vorhanden, in reichem Maße. Es kam nur darauf an, mit Verständniß
an das Gegebene anzuknüpfen. Dabei war nichts so sehr zu vermeiden, als wozu die
Versuchung allerdings sehr nahe lag, eine gewisse Überstürzung. Davor konnte einzig und
allein die Wahl der rechten Männer bewahren, die mit der Durchführung der kaiserlichen
Absichten betraut werden sollten. Die Kaiserin wählte diese Männer mit vielem Glück und
Geschick. Auch den berufenen Hilfskräften blieb, wie natürlich, Mühe und Arbeit nicht
erspart. Nicht immer und überall wurde sofort das Richtige getroffen, Mißerfolge und
Enttäuschungen waren unvermeidlich. Nur zähe Ausdauer führte zum Ziele.
Man kennt die zahllosen Reformen Maria Theresia's in der Verwaltung und Justiz.
Weitaus das größte Interesse für uns hat, außer der Errichtung eines Universal-Commerz-
Directoriums in Wien, die Activirung abgesonderter Commerzien-Consesse in den
einzelnen Kronländern, welchen unter Oberleitung der Länderstellen die gewerblichen und
mercantilen Fragen zur Berathung und Beschlußfassung zu übertragen waren. Der erste
Präsident des böhmischen Commerzien-Consesses war Karl Friedrich Graf Hatzfeld, der
spätere Staatsminister. An Hatzfelds Seite stand ein theoretisch und praktisch tüchtig
gebildeter Mann, Repräsentationsrath von S eyferth, derVerfasser der ersten „Generalien
zur Garn- und Leinwandeinrichtung für Böhmen", die mit Patent vom 3. August 1750
erlassen und lange Zeit als das unerreichte Muster derartiger Acte gerühmt wurden.
Zunächst in der Flachscultur und Leinenmanufactur sollte die Concurrenz mit
Schlesien ausgenommen werden. Die „Generalien" brachten vorerst in dieses Gewerbe
eine gewisse Ordnung, so zwar, daß Spinner, Weber und Händler in allen ihren
Hantirungen einer genauen und scharfen Polizeiaufsicht unterstellt wurden. Hatzfeld und
Seyferth blieben bei den „Generalien" nicht stehen, sie sorgten auch für die Verbreitung
des Flachsbaues und die Einführung rationeller Flachsbereitnngsmethoden. In Prag
wurde der Seidenmannfactur besondere Aufmerksamkeit gewidmet; man zählte dort
im Jahre 1751 an „Seidenfabrikanten" bereits 20 „wirkliche Meister" außer etlichen
anderen, „welche zur Meisterschaft aspiriren, auch wirklich für sich arbeiten, bei der
Meisterschaft sich aber noch nicht abgefnnden haben".
Seyferth starb schon im Jahre 1752. Sein Nachfolger im Amte war Otto Ludwig
von Loscani. Man hätte eine bessere Wahl nicht treffen können. Mit Feuereifer ging
Trautenau.
er an die ihm übertragene Aufgabe. Er beschränkte sich nicht auf die Patronisirung eines
einzelnen Industriezweiges. Obenan stand auch ihm die Leinenmanufactur, doch auch das
Wollengewerbe wurde auf jede Art und Weise gefördert und demselben durch ausgiebige
Unterstützung der Schafzucht ein veredelter Rohstoff zngewendet. Der in bedenklichem
Grade überhandnehmenden Auswanderung böhmischer „Glasfabrikanten" zu steuern,
erwirkte er ein scharfes Auswandernngsverbvt für alle Glasarbeiter, deren keiner ohne
„Kundschastszettel" im Lande angetroffen werden durfte. Mit Erfolg stellte er Versuche
an, die bisher in großen Massen ausschließlich von Breslau bezogene Fürberröthe,
sowie den nicht minder unentbehrlichen Waid im Jnlande zu bauen. Die Tuchfabriken in
634
Oberleutensdorf und Kladrnb standen unter seiner besonderen Pflege. Die Einrichtung
eines „Spinnhanses" in Prag sollte dazu beitragen, dem fortdauernden Mangel an
Garnen abzuhelfen. Unermüdlich ist Loscani in der Erstattung von Vorschlägen an das
Commerzdirectorium zur Einführung vonNeuerungen imJnteresse derJndustrie. Er kommt
in den Besitz des Geheimnisses der „schlesischen Appretirungsart" und erbittet sich die
Erlaubniß, dasselbe „denen mit Bleichen Versehenen im Geheimen und por privntns zu
eröffnen". Zur Erweiterung des Leinenhandels ist er auf Gründung förmlicher
Handlungssocietäten bedacht. In Warnsdorf und Georgswalde veranlaßt er die
Baumwoll- und Leinenweber zur Errichtung eigener Zünfte. Die erwähnten „Generalien"
ergänzt er (1753) durch ein „Garn- und Leinwaud-Nachtragspatent", das von Berufenen
als ein Meisterstück gerühmt wird. Gewiß nicht ohne seine Mitwirkung kam ein neuer
Zolltarif für Böhmen, Mähren und Schlesien zustande, mit welchem die bereits von Kaiser
Karl Vl. beliebte protectionistische Zollpolitik wesentlich gefördert wurde. Die erleuchtetsten
Staatsmänner der Zeit, diesseits und jenseits der österreichischen Grenzen, erkannten znm
Schutze ihrer jungen wirthschaftlichen Pflanzungen kein probateres Mittel als: Einfuhr-
und Ausfuhrverbote. In zweiter Linie stand das Medium directer Geldunterstützungen
durch „Commercialcassen", die nunmehr wieder eingeführt wurden, zunächst in Böhmen,
wo dieselben „unter Obsicht und Mitsperre Loscani's" gestellt waren; bis zum Betrage von
500 Gulden durfte er frei verfügen. Mit Hofrescript vom 25. Juni 1753 wurde in Prag
neben dem schon bestehenden Commercien-Consesse ein besonderes Manufactur-
Collegium etablirt, zu dessen Mitgliedern auch Loseani zählte.
Eine originelle Idee brachte Loscani im Sommer 1754 zur Ausführung. Er veran -
staltete am 30. August dieses Jahres zur Feier der Anwesenheit der Kaiserin in Böhmen
auf der sogenannten Chotek'schen Insel bei Veltrns, einer Besitzung des Grafen Rudolf
Chotek, Präsidenten des Universal-Commerzdirectoriums, die erste bekannte Schaustellung
ausschließlich vaterländischer Erzeugnisse des Gewerbesleißes. Er ist der nachweisbare
Vater des modernen gewerblichen Ausstellungswesens, als dessen Heimat unstreitig
Böhmen zu betrachten ist. Es war eine der unmittelbaren Folgen dieser Gewerbe-
Aufstellung, daß durch Anton Salonion in Rumburg eine „k. k. priv. Garn- und
Leinwandhandlung" erstand, an welcher sich Graf Josef M. Kinsky mit dem Betrage von
20.000Gulden betheiligte. Ihm schlossen sich in rascher Folge andere wohlbemittelte Firmen
an, darunter die Engländer H. Franklin, John Coulston, James Bouchan u. A. m.
Die „Rumburger Weben" erlangten bald einen unbestrittenen Ruf auf dem Weltmärkte
und concnrrirten erfolgreich mit den sächsischen und schlesischen Leinen. Ebenfalls noch im
Jahre 1754 trat auf einem anderen commerciell hochwichtigen Punkte, in Trantenan,
dem heutigen Centrnm der österreichischen Leinenspinnerei, ein von der Kaiserin nach
635
Anhörung des Commercien-Consesses privilegirtes „Gebirgs-Handlungs-Collegium" —
auch Handlungs-Confraternität genannt — ins Leben, das berufen war, Gewerbe und
Handel des böhmischen Riesengebirges maßgebend zu beeinflußen.
Eine Art Gegenstück zu dieser Gesellschaft bildete ein weiteres höchst rationell
gedachtes Institut, ein „k. k. Leinwandmagazin", das ganz gleichzeitig mit der
Trautenauer Handlungs-Confraternität in Potte n st ein (Kreis Königgrätz) errichtet wurde
zu dem Zweck, „dem armen Landweber ein heilsames Mittel wider die aus Noth über -
tragene Abdrückung seines lnbrieati zu verschaffen", eine Magazinsgenossenschaft unter
unmittelbarer Leitung der Behörde. Neben dem Magazin wurden zwei große ärarische
Leinwandbleichen angelegt, deren vorzügliche Einrichtung die Veranlassung bot, daß in
vielen Gegenden des Landes durch Private, namentlich aber durch die Herrschaftsbesitzer,
derartige „Commercialbleichen" eingeführt wurden. Das war besonders in der Gegend
von Schönlinde der Fall.
Von principieller Bedeutung war es, daß ein Hofdecrct vom 21. März 1755 den
Leinenwebern gestattete sich „ansznzünften". Für ein ganzes großes, ja zur Zeit das
bedeutendste Gewerbe im Lande wurde der Zunftzwang, das Um und Auf des bisherigen
Gewerbelebens, förmlich aufgehoben — kaum eine populäre Maßregel, durch das Ver -
halten gerade der Leinenweberzünfte aber, deren Mißwirthschaft ein energisches Einschreiten
erheischte, vollauf gerechtfertigt. Zur Hebung des vollendetsten und darum lohnendsten
Zweiges der Leinenweberei, der Erzeugung von Battisten, Schleiern und dergleichen, erschien
mit Hofdecret vom31. October 1755 eine „Schleierordnung" — bis ins kleinste Detail
die genaueste Anleitung zum Betriebe der bezeichneten Manufactnr, die in der nächsten
Zeit Graf Ernst Guido Harrach in Rochlitz mit Vorliebe fabriksmüßig betrieb, derselbe,
der eben damals mit dem Aufwande von 70.600 Gulden auf der Herrschaft Starkenbach
nächst Sittowa ein großes Eisenwerk errichtete, Ernstthal genannt. Der „Schleier -
ordnung" war bereits im März 1755 eine „Papiermacherordnung" vorangegangen,
mit der auch für diesen Fabrikationszweig ohne Zweifel vieles Gute gethan wurde.
Von den größten Erfolgen waren die häufigen Bereisungen des Landes durch
Loscani begleitet. Cr war in jedem Jndnstriebezirke zuhause; er selbst nannte die Prager
Städte, den Saazer und Leitmeritzer, vorzüglich aber den Bunzlauer und Königgrützer
Kreis die eigentlichen „Commercialkreise" Böhmens, welche Bezeichnung sie in der
That bereits in vollem Maße verdienten. Den ziffermäßigen Beweis dafür erbrachten die
alljährlich vom Commercien-Consesse eingelieferten „Manufacturtabellen", in deren Ab -
fassung Loscani ein Meister war. Seine Relation über den Stand der physischen und
technischen Cultur des Landes, speeiell der aufgezählten Commcreialkreise, im Jahre 1755
wurde das Vorbild aller ähnlichen Elaborate der Folgezeit.
636
Ein Hosrescript vom 20. October 1757 verfügte die Vereinigung des Commerzien-
Consesscs und des Manusactur-Collegiums in Prag zu einer einzigen Körperschaft unter
dem Namen eines »Lonsassus in cominsroigMrm et MLnufaeturistiais". Zu dessen
Präsidenten wurde Graf Franz Josef Pachta ernannt, unter den Mitgliedern erscheint
neben den Grafen Sinzendors, Chamare u. A. m. auch Otto Ludwig von Loscani.
Leider starb derselbe schon nach wenigen Wochen im November 1767. Die böhmische
Industrie verehrt in ihm einen ihrer aufopferndsten, erfolgreichsten Förderer. Der schon im
Vorjahre wieder ausgebrochene verheerende Krieg, der sieben Jahre lang und mehr als
anderswo im nördlichen Böhmen wüthen sollte, zerstörte viele, ja wohl die meisten
Schöpfungen Loscam s; er hatte gleichwohl nicht umsonst gelebt — es fanden sich Männer,
die, durch sein rühmliches Beispiel angeregt, in seine Fußstapfen traten: Männer der
redlichen, hingebungsvollen Arbeit. Und diese Arbeit war es, die ihnen das unerläßliche
Vertrauen, auch das der Kaiserin, verschaffte, auf deren wohlwollende Einsicht nach wie
vor alles Gedeihen gestellt war.
Auch während des Krieges wurden von Wien aus Anordnungen zum Besten der
böhmischen Industrie getroffen. Dahin gehört die am 24. August 1758 publicirte „Tuch -
macherordnung für das Königreich Böhmen", dazu bestimmt, die trotz des Handwerks -
patentes auch bei dem Wollengewerbe noch immer bestehenden Unzukömmlichkeiten endlich
ausznrotten; doch waren die Zeitverhältnisse nicht darnach angethan, dieser Absicht
den gehörigen Nachdruck zu geben. Noch in die Zeit des siebenjährigen Krieges fällt
dagegen die Errichtung einer „Zeugfabrik" in Prag durch eine Frau von Textor. Ein
kaiserliches Rescript vom 15. December 1761 lenkte eindringlichst die Aufmerksamkeit der
Interessenten auf den Umstand, daß vom Jahre 1763 angefangen die Errichtung von
Cottonfabriken in den kaiserlichen Erbländern durch kein Privilegium privntivum
mehr behindert sein würde, vielmehr „fürohin Jedermann freistehen wird, nicht nur die
Cottone in Unseren gesammten Erblanden zu fabriziren, sondern auch ein Jegliches der -
selben und also ebenfalls in die österreichischen mit Entrichtung der alleinigen erbländischen
Mauthgebühr einen freien Handel zu führen".
Diese Einladung fiel auf einen fruchtbaren Boden. Der sie zuerst aufgriff, war Graf
Josef Maximilian Kinsky, damals Oberst-Jägermeister des Königreiches Böhmen, ein
- man darf sagen - leidenschaftlicher Freund industrieller Bestrebungen. Als Herr der
Herrschaft Bürgstein (Kreis Leitmeritz) hatte er sich dort durch Schaffung einer ganzen
Reihe von Jndustrialien bereits als praktischer Volkswirth hervorgethan. Das Städtchen
Haida nächst Bürgstein verdankte ihm seine Entstehung; es entwickelte sich in kurzerZeit
zu einem Centralpunkt des damaligen Verkehrs. Kinsky traf Anstalt zur Errichtung einer
Barchentfabrik und einer Cottondrnckerei. Zu ähnlichem Vorgänge wußte er auch seine
638
Gutsnachbarn, die Grafen Vincenz Waldstein in Münchengrätz und Josef Bolza
inCosmanos, zu bestimmen. Bereits im Jahre 1763 eröffnete Graf Bolza den Betrieb
eines umfangreichen, nachmals vielberühmten Etablissements, der gegenwärtig größten
continentalen Cottondruckerei vonJosefsthal-Cosmanos.
Neuerdings am 24. März 1764 erschien ein Zollpatent und legte auf eine große
Anzahl von Industrie-Artikeln der Woll-, Baumwoll-, Seiden-, Metall- und Glaswaaren-
branche ein förmliches Einfuhrverbot. Gleichzeitig damit trat aber die „Commercial-
Abstemplung" der inländischen Fabrikate zur Unterscheidung jener fremdländischer
Provenienz in Wirksamkeit: eine bald überlästige und bei der Art ihrer Handhabung
ziemlich unnütze Einrichtung. Von durchaus günstigen Folgen war jedoch ein anderes
kaiserliches Patent, vom 20. Juli 1765, begleitet, durch welches in Böhmen der bisherige
Zwang der Tuchmachermeister aufgehoben wurde, nur auf je Einem Stuhle arbeiten zu
dürfen. Damit war auch in diesem Handwerke dem freien Wettbewerb die Bahn geöffnet
und der Geschicklichkeit und dem Fleiß die Möglichkeit geboten zur Geltung zu kommen.
Ein großer Übelstand für die sich im Ganzen stetig ausbreitende Weberei sowohl
in Wolle als auch in Leinen und nun auch in Baumwolle lag in dem constanten
Mangel an den benöthigten Garnen; die Spinnerei hielt nicht entfernt gleichen Schritt
mit der Weberei. Es war darum ein naheliegender Gedanke, diesem Mangel durch
entsprechende Anleitung der ärmeren Classen der Bevölkerung nach Thunlichkeit abzuhelfen.
An Magistrate und Dominien erging die Aufforderung zur Errichtung von Spinn sch ulen.
Und schon im Juni 1765 wurde die erste Schule dieser Art in Böhmen eröffnet, und zwar
in Zvikovec (Kreis Pilsen). In einmonatlichen Lehrcursen erhielten dort, nach einem
von dem Commercien-Jnspectoratsverwalter Josef Bock entworfenen „Regulament", die
zumeist weiblichen Arbeitskräfte vollständige technische Ausbildung im Spinnen und
Krempeln der Wolle, der Baumwolle und des Flachses. Die Anstalt florirte derart, daß
schon im ersten Jahre ihres Bestandes „unterlegte" Schulen in den entfernteren größeren
Orten Zbirov und Kozlan etablirt werden konnten. Ein Patent vom 27. November
1765 ermunterte zu weiteren Gründungen, die nicht ausblieben. Eine neue, verschärfte
„Spinnordnung" vom selben Jahre regelte nochmals insbesondere den Handel mit
Leinengarnen. Ein durch den Druck vervielfältigter „Flachsbau-Unterricht" wurde in
Tausenden von Exemplaren an die Flachsbauer des Landes vertheilt.
Graf Josef M. Kinsky entfaltete eine geradezu fieberhafte Thätigkeit. Ans seinen
Besitzungen entstanden fortwährend neue große Unternehmungen, so außer den schon
erwähnten Etablissements der Baumwollbranche und der Druckerei eine Leinwand- und
Wachsleinwand-, eine Spiegel- und Folien-, eine „Gezogenes-" und eine Zwillich -
fabrik, eine Schönfärberei, etliche Garn- und Leinwandbleichen, eine Hutfabrik u. s. w.
639
Alle diese Jndustrialwcrkc überwachte er persönlich; dabei versäumte er nicht die Pflichten
seines öffentlichen Amtes — er war seit 1763 Präsident des böhmischen Commercien-
Consesses — allerwärts anregend, unterstützend und fördernd. Den Grafen Vincenz
Waldstein bewog er, in Gemeinschaft mit dem Grafen Franz Josef Kinsky, einem Vetter-
Josef Maximilians, das Schloß Weißwasser zu einem „Manufactnrhause"
umzugestalten, einer Art Fach- und Fortbildungsschule in den verschiedensten Industrie -
zweigen, zunächst für die Kinder der Armen, um „Publicum und Land von dem Nachwuchs
mittelloser und ausschweifender Leute zu reinigen", womit denn auch im Jahre 1765 der
Anfang gemacht wurde.
Im letztgenannten Jahre wird die Zahl der „Fabrikanten", das heißt der
selbständigen Gewerbe-Unternehmer Böhmens, mit 45.740, die Zahl der Spinner aber
mit 205.534 angegeben. Den ungefähren Werth der gewerblichen Erzeugnisse des Landes
schätzt Josef M. Kinsky auf 9,250.384, jenen des Jahresexportes auf 1,869.410 Gulden.
Den Löwenantheil nach beiden Richtungen nimmt die Leinenmanufactur in Anspruch.
Ihr Productionswcrth allein stellt sich ans nahezu dreieinhalb Millionen, ohne die
Leinengarne im Werthe von 330.436 Gulden. Dazu kommen aber auch noch die Werthe
der Lcinenband-, der Battist- und Schleier-, der Tafelzeug- und der Spitzen-, sowie der
Zwirnindustrie, die gleichfalls mit mehr als 300.000 Gulden zu berechnen sind. Die
Spitzenklöppelei, versichert Kinsky, ist „dermalen schon eine der beträchtlichen Nahrungen
der Landesinwohner". Der Leincnindustrie zunächst steht die Wollenweberei, deren
Tucherzeugnisse einen Werth von 1,734.996 Gulden repräsentiren, während die Strumpf -
wirkerei und -Strickerei einen solchen von 506 016 Gulden abwirft. An dem allgemeinen
Fortschritt — trotz mannigfacher Störungen — participirt vor Allem Reichenberg als
Tuchstadt, in der auch die Strnmpfwirkerei noch in der Zunahme begriffen ist. Die größte
Zahl der Meister dieses Handwerkes (man zählte 1406 Strumpfwirkerstühle im Lande) finden
sich in Graupen, dessen respective Zunft erst 1756 errichtet worden war, dann aber
in Böhmisch-Kamnitz, Dux, Oberleutensdorf, Niemes, Chrudim, Strakonitz
und Humpolec. Nur sechs Meister in Kuttenberg brachten jährlich mehr als 3000
Dutzend Strümpfe zu Markte; die gleiche Menge wurde in Neustadt! (Kreis Pilsen)
„durch die mittlere Jugend und alte Leute zu Verminderung des Müßigganges verfertiget".
Eine Fabrik dieses Zweiges stand im Markte Bela (Kreis Caslan).
Die Schafwoll-„Zeugmacherei" betreffend, meldet Kinsky: „Im Königgrätzer,
Elbogncr und Leitmeritzer Kreise ist auch diese verfallene Manufactur wiederum in Gang
gebracht und insbesondere in Kladrub, Dobruska, Jenikau und Töpel nun derlei
Fabriken errichtet worden". Die Baumwollindustrie ist erst noch im Werden. Doch
kann von der Cottonfabrik zu Cosmanos bereits gesagt werden, daß sie „nunmehr zu
640
einer ansehnlichen Größe gestiegen und 4000 Personen ihren Unterhalt verschafft".
Barchentfabriken bestehen derzeit außer in Cosmauos in Bürgstein, Pvttenstein, Zleb
und Prag. Im Manufacturhause zu Weißwasser sind 18 Wirkstühle aufgestellt zur
Fabrikation baumwollener Strümpfe und Mützen. Die Seidenindustrie beschränkt sich
im großen Ganzen auf die Prager Städte, arbeitet aber daselbst bereits auf 103 Stühlen
ganz- und halbseidene Zeuge, ebenso Strümpfe; seidene Bänder werden außer in Prag im
Bydzover Kreise fabricirt. Der Erzeugungswerth auch dieser Industrie übersteigt schon
die Summe von 300.000 Gulden.
Die Bekleidungsindustrie ist repräsentirt durch die Hutfabrikation und die
Handschuhmanufactur. Erstere hat vorAllemin Prag ihren Sitz mit acht Fabrikanten,
ferner in Kuttenberg, Deutsch-Brod, Kaplitz u. s. w. Letztere (die Erzeugung wollener
Handschuhe) beschäftigt in Böhmisch-Kamnitz allein 50 Meister; einzelne Wirker und
Stricker in Rumburg, Georgenthal u. s. w. Posamentirarbeiten werden außer
in Prag im Königgrätzer, Elbogner, Chrudimer und Budweiser Kreise hergestellt, Gold-
und Silberborden nur in Prag. In allen Kreisen mit Ausnahme des Berauner ist die
Papierindustrie vertreten mit einem Productionswerthe von 81.493 Gulden. Die
namhaftesten Papiermühlen sind die zu Bensen, Hohenelbe, Friedland, Komotau
und Kacov (im Caslauer Kreis). Im Entstehen sind die Knopfindustrie (in Prag,
Kuttenberg, Budweis, Krumau u. s. w.) und die „Galanteriewaarenerzeugung"
(in Prag, Tabor, Karlsbad und Chrudim) begriffen. Auch von der chemischen Industrie
sind mehr als Spuren vorhanden. Alaun wird vorzüglich im Saazer, Elbogner und
Pilsner; Pottasche mit Ausnahme des Leitmeritzer in allen Kreisen gewonnen; Saliter im
Caslauer, Schwefel im Elbogner und Chrudimer Kreise. Die Smaltefabrikation der drei
erstgenannten Kreise producirt 2850 Centner blaue Farbe im Werthe von 69.500 Gulden.
— Ein Graf Kolowrat hat im Berauner Kreise eine Bleistiftfabrik angelegt, „wo
Bleistifte von allen Gattungen in guter Qualität verfertigt werden und die Vermehrung
nach Maß des zunehmenden Debits geschehen soll" u. s. w. Es fehlt der Raum, auch
nur annähernd wiederzngeben, was bei dieser Gelegenheit von den Fortschritten der
Glas- und Stcinmanufactur, der Lederfabrikation, namentlich aber der Eisen -
industrie und noch so manches anderen Productionszweiges berichtet wird.
Unstreitig: Maria Theresia's erste Regierungszeit hatte in Böhmen Außerordent -
liches geleistet. In 25 Jahren war, was jahrhundertelange Arbeit nicht zuwege gebracht
hatte, im Wesentlichen erreicht worden: das Land trug einen gewerblichen, industriellen
Charakter. In vielen, wenn auch nicht allen Industriezweigen durfte sich Böhmen an
Quantität und Qualität seiner Leistungen mit den Nachbarländern, selbst mit dem
schlesischen Rivalen, messen; unter den kaiserlichen Erbländcrn stand es an industrieller
aufzunehmen — wie ja denn doch auch Maria Theresia, was keinen Augenblick vergessen
werden darf, ohne ihre Vorgänger in der wirthschaftlichen Bearbeitung des Landes,
ungeachtet deren Mißerfolge in den meisten Fällen, niemals erreicht haben würde, was
sie erreichte. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, welchen namhaften
Anthcil an den dargelegten Erfolgen der letzten 25 Jahre gerade das nördliche Böhmen
und dort wieder besonders weiland das „Herzogthum Friedland" anfzuweisen hatte.
Maria Theresia hatte in Böhmen die Idee des Industrialismus zum Siege geführt
und diese Idee sollte in abermals 25 Jahren, Dank Kaiser Josef II-, wahre Triumphe
feiern. Schon als Mitregent übte Josef, besonders in Angelegenheiten des Handels und
Pöhmcn- ^
642
der Gewerbe, einen entscheidenden Einfluß aus — einen direeten, persönlichen Einfluß,
der seine Wirkung nicht verfehlte. Aus eigenster Anschauung sucht er die Verhältnisse
kennen zu lernen, der Kaiserininutter seine Reformvorschlüge zu unterbreiten. Beinahe
Jahr für Jahr kommt er nach Böhmen, immer tiefer in die Eigenthümlichkeiten des
Landes einzudringen, und noch nach Jahren nennt er sich gleichwohl nicht geschickt genug,
über das Wahrgenommene „einen so viel als möglich klaren Bericht zu geben"; er sei
ja doch, bedauert seine Bescheidenheit, „in diesen Landeseinrichtungssachen ein roher,
unerfahrener und allein mit etwas gutem Willen begabter Rekrut." Seine Berichte aber
lassen an Klarheit nichts zu wünschen übrig, sie sind dnrchglüht von edelster Wärme und
unerschöpflich an praktischen Humanitären Anregungen . . .
Wir fahren fort in der schlichten Aufzählung nackter Thatsachen innerhalb der uns
gezogenen engen Grenzen. Der gekennzeichnete Fortschritt Böhmens war ein nachhaltiger,
obwohl es, wie selbstverständlich, auch späterhin an Störungen nicht fehlte. Auf allen
gewerblichen Gebieten gab sich gleichzeitig derselbe geschäftige Drang nach vorwärts,
derselbe rege, lebhafte Wetteifer kund. Die Seele des Ganzen war, wie sonst, Graf
Josef M. Kinsky, der Commerzpräsident. Durch ihn erfuhr das Mannfactnrhaus in
Weißwasser, auf das er große Hoffnungen setzte, noch im Entstehen eine bedeutende
Erweiterung auf Grund eines von Seite der Kaiserin genehmigten umfasseikden Statuts.
Reben der „Handlungs-Consraternität" in Trautenau entstand eine zweite „privilegirte
Handlungsevmpagnie h und zwar vorwiegend „zur Pflege des spanischen Leinwand -
handels". Sitz der Gesellschaft war Neuschloß bei Arnan, welche Stadt dadurch unter
den nordböhmischcn Handelsplätzen in die vorderste Reihe gerückt wurde.
Um eben diese Zeit berief Graf Kinsky einen schweizer Meister nach Hohenclbe
zur Einrichtung einer Wcbeschule auf Regierungskosten: der ersten im Lande. Im
Jahre 1768 waren daselbst 111 Stühle im Gange, ans welchen 228 Stück feiner und
feinster Leinwänden erzeugt wurden. Wohl gleichfalls nur ans Kinsky's Veranstaltung
hatte sich vordem in Prag eine Gesellschaft adeliger Herren znsammengefnnden, um dort
eine größere Seidenstoff-Fabrik bauen zu lassen, zur Freude der Kaiserin, welche gerade
diesen Industriezweig vor Allem gefördert wissen wollte. Auch bürgerliche Unternehmer
wagten es schon in größerer Zahl, offenbar im Vertrauen auf den Rückhalt, den ihnen
Kinsky gewährte, an die Gründung von Fabriken zu gehen. In Braunau errichtete
I. Schreiber eine Tuchfabrik, der Wiener Kaufmann Jakob Matthias Schmidt im
Verein mit Anderen in Neugedein eine bestausgestattete Zeugfabrik (1768), die in
Bälde alle ähnlichen Etablissements im Lande überholte. Der fortdauernden Auswanderung
der Glasarbeiter zu steuern, genügten, wie Kinsky sehr wohl einsah, auch nicht die strengsten
Verbote. Ein Hofdeeret setzte auf die „Entdeckung eines Rädelsführers und Anwerbers
644
der böhmischen Glasmacher" einen Preis von hundert Ducaten. Kinsky veranlaßte die
Abfassung eines „Glasmacher-Reglements" (5. October 1767), das allerdings
geeignet war, zahlreiche Unzukömmlichkeiten abzuschaffen, die als die tieferliegende Ursache
der Emigration in diesem Gewerbe betrachtet werden durften. Ein unterm 12. Januar 1770
erlassenes „Seidenzeug-Reglement" sollte wohl zunächst der Prager Seidenfabrik zu
Hilfe kommen, verhinderte aber nicht deren frühzeitige Auflassung.
Bald darauf wurde — man muß wohl sagen: leider — der böhmische Commercien-
Conseß aufgelöst. Wieder in eine „Commercien-Commission" nmgewandelt, ordnete ihn
ein Hofdecret vom 18. Mai 1772 dem Gubernium unter. Graf Kinsky aber hörte auf,
Commerzpräsident zu sein.
Die Jahre 1771 bis 1772 waren bekanntlich Hungerjahre, die fürchterlichsten,
welche Böhmen jemals kennen lernte. Im ganzen Lande herrschte große Noth, die größte
in den Volk- und gewerbereichen Gebirgsgegenden. Die materiellen Schäden wurden
geheilt, so gut es ging. Der Wiederkehr einer Hungersnoth sollte durch Anlegung von
„Contributionsschüttböden" u. s. w. begegnet werden. Die Sache wurde aber gründlicher
gefaßt und dabei das Hauptaugenmerk auf die Nvbotverhältuisse gerichtet. Schon die
Nobotpatente der Jahre 1717 und 1738 hatten den Obrigkeiten in den böhmischen
Provinzen verboten, „ihren Unterthanen obrigkeitliche Produete aufzudrängen, folglich die
Handwerker im beliebigen Bezüge ihrer rohen Stoffe zu hindern oder den Unterthanen
ihre Erzeugnisse um willkürlich gesetzte Preise abzudrücken", was bisher allgemein üblich
war. Ein Hofdecret beseitigte — vorläufig im Princip — alle seitherigen Abgaben unter
dem Titel „Webergrvschen" oder „Weberzinse", auch „Stuhlgelder" genannt. Ein anderes
hob die ebenso drückenden „Garnsammlnngs-" und „Handlnngslicenzscheine" auf und
gab den Garnhandcl Jedermann frei. Wieder eine Verordnung (vom 24. Juli 1773)
erklärte dieLeinenwebcrei für eine „freieBeschäftignng". Mit Hofdecret vom 13. April 1775
wurde der Grundsatz festgestellt, es sei allen „Fabrikanten" — das heißt Gewerbe -
treibenden — „die volle Freiheit einzuränmen, sich ihre Materialien woher immer im
Laude zu verschaffen".
Ein ganzer Wust völlig ungerechtfertigter Steuerlasten wurde damit für immer
aufgeräumt. Der Handwerker hatte die Aussicht, endlich einmal auch für sich und
nicht blos, wie dies seither allerwärts der Fall war, für den Grundherrn zu arbeiten.
Von weitesttragender Bedeutung für den böhmischen Handel wurde die Zollvrdnung
vom 15. Juli 1775, mit welcher, in der erklärten Absicht, „die Freiheit des inneren
Verkehrs zu erweitern", endlich die sämmtlichen böhmischen und österreichischen Länder
(mit Ausnahme Tirols und Vorderöstcrreichs) in ein Zollgebiet vereinigt wurden.
Das große „ganze eorpus und Loneratum in dem Zollwesen und veetibali", von welchem
. 645
schon ein Johann Borscheck geschwärmt hatte, war verwirklicht. Bis in die kleinsten Kreise
machte sich die Wohlthat freier Bewegung in erweiterten Grenzen fühlbar.
Die größte That Maria Theresia's war, auch für Handel und Gewerbe, die
„Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschnlen
in den k. k. Erbländern" vom 6. December 1774. Die glückliche Hand der Kaiserin
erwies sich auch bei der Berufung der künftigen Leiter des Volksschnlwesens in Österreich,
Felbiger und Kindermann. „Der Industrie", schrieb damals eben Dechant Ferdinand
Kindermann, „der Industrie muß unstreitig ein verhältnißmäßiges Licht vorangehen; in
der Finsterniß hat sie sich entweder nirgends niedergelassen oder, wenn sie doch durch
einen Zufall gleichsam hin verschlagen wurde, hat selbige dort sich nicht lange erhalten."
Franz und Johann Joses Leitenberger.
Ein goldener Ausspruch! Von solcher Anschauung ausgehend, hatte Kindermann in einer
Musterlehranstalt, der „Hohen Schule zu Kaplitz", den Beweis der Durchführbarkeit
einer organischen Verbindung der Volksschule mit der „Industrieschule" vor Jahren
erbracht. Darauf aber kam es Kindermann als Schulreformator in Böhmen an. Und
schon zwei Jahre nach Eröffnung der „Normalschule" in Prag durch Kindermann
(15. November 1775) gab cs in Böhmen an mehr als 500 Olten nach der neuen Lehr -
methode vorgebildete Schulmänner. Außer den Spinn- und Webeschulen im engeren
Sinne, mit deren Einführung, wie erwähnt, schon vor Kindermann begonnen worden war,
zählte man im Lande, besonders aber in den deutschen Gebirgsgegenden bald Hunderte
von allgemeinen „Industrieschulen" im innigsten Zusammenhang mit der Volksschule,
in welchen Knaben und Mädchen nicht nur im Spinnen, Klöppeln u. s. w., sondern auch
646
in allerhand landwirthschaftlichen Kenntnissen und Fertigkeiten unterwiesen wurden. Eine
neue, wohlgeschulte Generation wuchs heran. Es nimmt nicht Wunder, wenn auf solche
Weise dem böhmischen, zunächst dem deutsch-böhmischen Volksstamm allmälig eine hohe
Achtung vor der Arbeit und damit Liebe zur Arbeit anerzogen wurde, die ihn tüchtig
machte für die gewerbliche, die industrielle Zukunft seines Heimatlandes. — Es ist
bezeichnend, daß Kindermann später, nach Jahrzehnten, sich gcnöthigt sah, in einer
eindringlichen Belehrung „an die Vorsteher böhmischer Ortschaften im flachen Lande" die
Frage zu erörtern: „Wie man in Böhmen die Industrie des deutschen Gebirgsbauers auf
den purböhmischen (cechischen) Landmann am besten verbreiten oder ins flache Land
übertragen könne..."
Die kriegerischen Wirren des Jahres 1778 gingen nicht ohne neue Störungen
vorüber. Gerade damals entstand aber, inmitten des Kriegsschauplatzes, in Starkenbach-
Hrabacov, durch den schon genannten Grafen Ernst Guido Harrach ein großes
Etablissement der Leinen- und Battistweberei, das von Bestand sein sollte. Kurz zuvor
hatte im Jsergebirge, in Christiansthal, Johann Leopold Riedel eine neue Glashütte
erbaut (1775): die erste der vielen großartigen Betriebsanlagen der noch heute bestehenden
namhaften Firma Riedel in dortiger Gegend. Ein Menschenalter später fand auch die
Glasindustrie des Böhmerwaldes ihren Regenerator in der Person Johann Meyrs,
der als der Stifter der stattlichen Glasfabriken in Adolf- und Eleonorenhain bei
Wintcrberg, Kaltenbach (Neuhütte), Franzensthal und Ernstbrunn (sämmtlich im
PrachinerKreise) angesehen werden kann und dessen Name in der Firma Meyrs Neffe
(Wilhelin Kralik) mit rühmlichen Erfolgen fortbesteht.
Und noch an anderen Punkten des Landes entwickelte sich neuerdings eine erfreuliche
Regsamkeit, namentlich in der Baumwollindustrie. Von Wernstadt aus gab Johann
Josef Leitenberger (geboren 1730, gestorben 1802) einen mächtigen Anstoß. Bereits
im Jahre 1770 hatte er dort eine Cottondruckerei und gleichzeitig in Prag, im Tehnhofe,
eine Filiale derselben errichtet. Seine Leistungen waren ganz außergewöhnliche; er galt
bereits als der hervorragendste Repräsentant seines Fabrikationszweiges und rechtfertigte
diesen Ruf in jeder Beziehung, trotz Concurrenz der Cosmanoser Fabrik und anderer
neuer Concurrenzunternehmungen in Menge. In Tupadl (Kreis Caslau) hatte Fürst
Johann Adam Auersperg mit vielen Kosten eine Baumwollzengfabrik nebst Färberei
und Druckerei hergestellt. In Prag allein gab es (vor 1780) bereits sieben Firmen der
„Kattun- und Leinwanddruckerei", unter denen die von Franz Hergott und Johann
Georg Berger nicht ohne Bedeutung waren.
In Eger war mittlerweile (vor 1772) eine Mousselinfabrik entstanden (Verleger:
Wenzel Daniel K anders) und auch in Roßbach, im Egerlande, hob sich eben diese
647
Industrie/ als deren gesuchtester Vertreter Georg Michael Reyh zu betrachten war, ein
Knnstweber von seltener Geschicklichkeit. Eine von ihm erfundene „neuartige Maschine zur
Erzeugung der Mousseline" (1779) fand allgemeinen Anklang. Es wurde ihm ans der
Prager Cameralbank eine Remuneration verliehen, „daß er einem und dem anderen
Weber von dem Gebrauche dieser Maschine unentgeltlich Unterricht gebe". In Verbindung
mit Christoph Hollerung brachte Reyh seine Heimat Roßbach bald in Ruf. Die
Übersiedlung Hollcrnngs in das benachbarte Asch verpflanzte sein Gewerbe auch dahin.
Auch Warnsdorf blieb in der Baumwollmanufactnr nicht zurück, ohne dieselbe bis nun
fabriksmäßig zu betreiben. Das Beste aber leistete dieser Platz noch immer in der Leinen -
weberei. Und unter allen Meistern dieses Faches das Allerbeste producirte Zacharias
Jarschel, eine Berühmtheit seiner Zeit. Seine hochfeine Leinwand wurde vom Ausland
nicht übertrofsen. Als Kaiser Josef U. am 19. September 1779 in Warnsdorf weilte,
schenkte er auch der Werkstatt Meister Jarschels die Ehre seines Besuches und überhäufte
dessen Arbeiten mit Lob, sowohl die fertigen als auch die auf dem Stuhle; er trug ihm
eine große Bestellung nach Wien auf, die reichlich bezahlt wurde. Auf Zacharias Jarschel
aber folgte Josef Stolle, Begründer der Firma „Gebrüder Stolle" in Warnsdorf,
deren „gezogene Tischzeuge" — Leinen- und Baumwollgewebe — als vollendete Muster
der Gediegenheit und des guten Geschmacks bewundert wurden. Zu dieser Zeit entstanden
in Kuttenberg, Nakonitz und anderwärts größere und kleinere Baumwollzengfabriken.
Eine neue kräftige Stütze fand die böhmische Industrie in dem Grafen Heinrich
Franz von Rottenhann, seit 1767 Gnbernialrath, später (1791 bis 1792) Oberstburggraf
in Prag. Ein hochbegabter, für alles Gute und Schöne begeisterter, kenntnißreicher Cavalier,
war er vom Grafen Josef M. Kinsky der cameralistischen Richtung gewonnen worden.
Unter werkthätiger Anleitung seines väterlichen Freundes gründete Rottcnhann ans seiner
Herrschaft Nothenhaus, am Fuße des Erzgebirges, das Eisenwerk „Gabrielahütte" und
einen Eisenhammer bei Kalich, bald darauf aber eine „Cotton-, Mousselin-, Barchent-
und Piquefabrik" in großem Umfange, durchwegs mit den vortrefflichsten Hilfsmaschinen
und den bestgeschulten Werkmeistern ausgestattet. Ihr folgte eine nicht minder groß
angelegte Baumwollzeugfabrik auf der gleichfalls Nottenhann'schen Herrschaft Gemnischt
(Postnpitz) im Kaurimer Kreise. — Am 17. April 1780 starb Graf Josef M. Kinsky
inmitten seiner unermüdlichen, aufopfernden Thätigkeit. Nie wieder hat ein Einzelner für
Böhmens Industrie so viel gethan wie Kinsky. Die Stadt Haida und der Haida'er Glas-
distriet allein sind ein unvergängliches Denkmal seines selbstlosen, segensreichen Wirkens.
Auch Maria Theresia, die große Kaiserin, legte sich zur ewigen Ruhe. Alsbald
ging Josef U., Alleinherrscher, an die Verwirklichung seiner eigensten Pläne. Das
Toleranzpatcnt und die Aufhebung der Leibeigenschaft kamen, wie nicht erst
648
ausgeführt zu werden braucht, der gewerblichen Entwicklung ungemein zustatten. Die
gewaltige, unnatürliche Scheidewand, die Österreich von der Außenwelt getrennt hatte,
war niedergerissen und damit zugleich das Material geschaffen, die tiefe Kluft, die im
Innern die große Masse der Konsumenten von den Producenten abgeschlossen hatte,
allmälig auszufüllen. Österreichs Völker waren an Leib und Seele mündig erklärt.
Die nächsten Jahre galten in erster Linie der Durchführung der großen Neuerungen.
Die streng materiellen Interessen blieben darum nicht unberücksichtigt. Sie hatten beim
Gnbernium nach Rottenhanns zeitweiligem Abgang in Gubernialrath Josef Anton von
Riegger (geboren 1741, gestorben 1795) einen ebenso eifrigen wie vielseitig gebildeten
Anwalt gefunden. Beweis dessen die zahlreichen gediegenen Referate, die er dort über
commercielle Fragen erstattete. Zugleich das schwierige Amt eines Büchercensors bekleidend,
wandte er ein besonderes Augenmerk der Lage der Buchdruckerei und des Buchhandels
zu. Beide Erwerbszweige datiren in Böhmen den Ausgangspunkt ihrer modernen
Entwicklung von dieser Zeit. Unter den folgenden Verordnungen Josefs II. steht das Patent
vom 27. August 1784 obenan, eine „Allgemeine Zollordnung" — „zur Empor -
bringung der inländischen Erzeugnisse und der Herrschaft des Luxus und der Mode einen
Damm zu setzen." Das, wie gezeigt worden, längst vorbereitete Prohibitivsystem war
besiegelt: das allgemeine Verbot der Einfuhr fremdländischer Maaren, insbesondere aller
jener, „welche genugsam in den k. k. Erblanden fabricirt werden oder sonst leicht entbehrlich
sind". In vielen Punkten noch verschärft, folgte im Jahre 1788 ein neuer „Allgemeiner
Zolltarif", bis auf weiteres die Grundlage der österreichischen Zollverfassung.
Geschützt und gesichert gegen auswärtige Concurrenz, sollten Gewerbe und Handel
innerhalb der Reichsgrenzen sich um so ungezwungener bewegen. Die noch bestehenden
Leinenweberzünfte wurden aufgehoben, ebenso das Handwerk der Strnmpfstricker für
„unbezünftet", der Leinwandhandel aber für völlig frei erklärt. Zur Förderung einzelner
Industriezweige wurden erhebliche Prämien ausgeschrieben, so für die Aufstellung von
Schleier- und Battiststühlen. In Rochlitz und Grulich hatte diese Verfügung eine sehr
günstige Wirkung. Im Jahre 1789 standen in beiden Städten bereits 181 Battist- und
281 Schleierstühle. Mit Hilfe eines Ärarialvorschusses von 4.000 Gulden erbaute
Adalbert Koß in Starkenbach eine Leinenzwirnfabrik, die jedoch, kaum in Gang
gebracht, durch Feuer wieder zerstört wurde. Der Werth der im Jahre 1790 in Böhmen
prodncirten Leinwand repräsentirte einen Werth von mehr als eilf Millionen Gulden.
Der Engländer Thomas Thomson, der bald darnach Böhmen bereiste, nannte, die dortige
Lcinenindnstrie besprechend, „den Himmel das große Dach dieser Fabrik".
Wie für die Einführung der Kohlenfeuerung bei der Glasindustrie große Begünsti -
gungen zngestanden werden sollten (1786), so wurde im selben Jahre zur Aufnahme der
649
Baumwollmanufactur decretirt, daß „den einwandernden geschickten baumwollenen
Knnstwebern ein Betrag von 100 Gulden abgereichct, dann noch andere Begünstigungen
in Absicht der Personalsteuer, Befreiung von der Reerutirnng, ungehinderten Znrückzugs
und Religionstoleranz zugestanden werden sollen". Infolge dessen kamen aus Sachsen
bald die geschicktesten „baumwollenen Kunstwebergesellen", zunächst nach Rumburg und
Warnsdorf. Die dortigen Fabrikanten aber lernten von ihnen „die besten Vortheile
mannigfaltiger Manufacturen, besonders die echte Appretur der verfertigenden Sommer -
und Wintermanchester".
Glashütte in Eleonorenhain (Böhmerwald).
Auch in Prag ließen sich viele fremde Industrielle, besonders der Banmwoll-
branche, nieder. In den Jahren 1782 bis 1786 entstanden dort nicht weniger als zehn
solcher Fabriken. Die Gründer recrutirten sich aus Sebnitz, Arnstadt, Geithain, Plauen,
Chemnitz, Liechtenstein (im Schönburg scheu), ans Breslau und Hessen-Darmstadt. Dennoch
entschloß sich Graf Philipp Swcrts-Spork damals, eine gleiche Fabrik auf der Prager
Neustadt zu etabliren. Ähnlich verhielt sichs mit der Baumwolldruckerei. Zwar ging
das Cosmanoser Etablissement seit dem Tode seines Stifters, des Grafen Josef Bolza
(gestorben 1782), zusehends zurück; dafür erwuchsen in Prag beinahe gleichzeitig abermals
nicht weniger als fünf Cotton- und Leinwanddrnckereien und ging Johann Josef Leiten -
berger an eine Neugründung in diesem seinem Fache — der Fabrik „Neu-Neichstadt"
050
(1786 bis 1788) — die sofort Alles/was bisher an Concnrrenzunternehmungen vor -
handen gewesen, in den Schatten stellte. In einem einzigen Jahre vermehrte sich die Zahl
der Baumwollstühle um mehr als tausend.
Wie in Baumwolle, war anch in Flachs und Wolle ein ganz entschiedener, glänzender
Fortschritt zu verzeichnen. In Manetin, Pollerskirchen und Heralec erhoben sich
neun „herrschaftliche" Tuch- und Zeugfabriken; die Reichenberger Tuchmacherzunft konnte
die ihr zukvmmenden Aufträge nicht bewältigen. Ähnliches war beim Leinwandhandel der
Fall. Johann Franz Theer, der, seines Zeichens ein Färber, im Jahre 1768 in Arnau
einen solchen Handel eröffnet hatte, erwarb sich dabei in verhältnißmäßig sehr kürzer Zeit
so viele Verdienste und ein solches Vermögen, daß er um 350.000 Gulden die Religions -
fondsherrschaft Wildschitz an sich brachte und vom Kaiser in den erblichen Freiherrenstand
mit dem Prädikate „von Silberstein" erhoben wurde. Neben ihm genossen die Arnauer
Großhändler Franz Finger, Johann Christian Berger und Franz Lorenz verdientes
Ansehen. Auch Berger wurde, und zwar durch Erwerbung der landtäflichen Güter Chotec
und Waldau Großgrundbesitzer; ebenso der Trautenauer Ignaz Falke, und zwar durch
Kauf der Herrschaften Cista und Miletin.
Auch die Eisenindustrie nahm zur Zeit einen lebhaften Aufschwung. Das Horo-
vitzer Eisenwerk, eines der ältesten der Monarchie, erhielt durch den um die böhmischen
Erwerbsverhältnisse hochverdienten Grafen Josef Wrbna im Jahre 1785 eine gänzliche
Umgestaltung und zugleich eine Ausdehnung, daß es schon 1790 zu den größten und vor -
züglichsten Werken seiner Art gehörte. Später mit Jinetz vereinigt, gab Horovitz in
mehrfacher, besonders technischer Richtung wichtige Impulse. Erwiesen ist, daß dort der
Sandguß statt des bisherigen Lehmgusses zuerst eiugeführt wurde.
Aber nicht blos die alten, sozusagen ererbten Productionsweisen slorirten, bisher in
Böhmen ganz unbekannte Erwerbsrichtungen wurden eingeschlageu. Franz Sperling,
Leiuwandhändler in Nachod, war es, der im Jahre 1785 die erste (Rohr-) Zucker -
raffinerie einrichtete, nnd zwar in Nenhof bei Neustadt an der Mettau. Er hatte
gleichartige Anstalten in Fiume und Triest kennen gelernt. Von Lissabon, wohin er einen
schwunghaften Handel in böhmischen „Weben" unterhielt, bezog er statt baarer Bezahlung
amerikanischen Rohzucker, den er in Nenhof raffinirte — „wobei er seines weiteren Auf -
kommens um so mehr versichert sein konnte, als ihm in Rücksicht des aus Portugal
beziehenden Znckerpnders und der dadurch diesem Staate geleisteten guten Dienste ein
königliches Privilegium auf zehn Jahre ertheilet worden, 24.000 Stück Leinwänden
unentgeltlich einzuführcn". Die Mauthe aber, das heißt der Einfuhrzoll nach Portugal
betrug bei Leinwänden böhmischer Provenienz 40 Procent vom Werthe der Waare.
Das Unternehmen glückte und fand Nachahmung. Graf Johann Fries, der bekannte
651
niederösterreichische Großindustrielle, der rührigsten einer, nahm sich der Sache mit
gewohnter Umsicht und Geschicklichkeit an. Er gewann den ehemaligen Direetor der
„k. k. Banaler Commerz-Compagnie" und Jnstallator der TriesterZuckerraffinerie Josef von
Sauvaigne und ging mit ihm noch im Jahre 1785 an die Gründung einer Gesellschaft
niit dem Aktienkapital von 150.000 Gulden, der Kaiser aber überließ dieser Gesellschaft
unentgeltlich das ehemalige Cistercienser-Klostergebände in Königssaal bei Prag. Obgleich
Graf Fries inzwischen starb, kam doch auch diese seine Gründung zustande und wurde die
neue Fabrik, auf eine jährliche Verarbeitung von 30.000 Centner Rohzucker eingerichtet,
im October 1787 eröffnet. Ein Hofdecret vom 28. August 1789 legte auf ausländischen
Zucker ein Einfuhrverbot. Damit war in Böhmen wiederum der Keim zu einer Groß -
industrie gelegt, von deren künftiger überwältigender Bedeutung allerdings zur Zeit noch
Niemand eine Ahnung haben konnte.
Daneben darf noch anderer, anfänglich unscheinbarer Gewerbe-Einrichtungen nicht
ganz vergessen werden, die in der Folge Hunderten, ja Tausenden Lebensunterhalt ver -
schafften. Solche Neueinrichtungen häuften sich — gewiß nicht durch bloßen Zufall — in
den letzten Jahren der Regierung Kaiser Josefs II. Zwei Franzosen, Lunet und
Bonlogne, brachten in den Jahren 1780 bis 1784 die Erzeugung Pariser Handschuhe
nach Prag, wo sie bald auch fabriksmäßig betrieben wurde und einen neuen, lohnenden
specifisch Prager Erwerbszweig gründete. Im Jahre 1790 wurde in Prag die erste
Chocoladefabrik eingerichtet, die freilich nicht von Bestand war, bis die Ausbreitung der
Zuckerindustrie auch der Fabrikation dieses Nahrungs- und Genußmittels die Wege
ebnete. Gleichfalls 1790 errichtete Prokop Gindle unter Leitung Karl Richters, der als
geschickter Goldschmied sich der allgemeinen Achtung erfreute, die erste Goldwaaren-
fabrik in Prag, durch die der vorlängst feststehende gute Ruf der Altprager Goldschmiede -
kunst auch ans die Neuzeit übertragen wurde.
Aus der französischen Schweiz kam die Erzeugung sogenannter Sparteriewaare,
die Holzweberei, nach Ehrenberg bei Nixdorf, nachmals in dortiger Gegend eifrig
betrieben. Zur selben Zeit, wurde in Graslitz im Erzgebirge die Erzeugung von
Musikinstrumenten eingeführt; ihre Begründer waren Josef Anger, der dieses Knnst-
gewerbe in Leipzig bei der renommirten Firma Sattler erlernt hatte, und Josef Bauer,
gebürtig aus Marktneukirchen in Sachsen. Ein großer Theil der ganzen volkreichen
Umgebung von Graslitz und Schönbach zieht heute daraus ihre Nahrung. Eben damals
erreichte die nun wie vom Erdboden verschwundene böhmische Zinngießerei in den
Städten Schlaggenwald, Karlsbad und Schönfeld ihre größte Blüte.
Wieder im Erzgebirge, in dem schon genannten Kalich bei Nothenhaus, errichtete im
Jahre 1784 Josef Hein, Forstmeister des Grafen Rotteuhann, eine Drechslerwaareufabrik
(Mn
...
652
zur Herstellung von „Berchtesgadener Artikeln": Kinderspielwaaren, deren gelungene
Erzeugnisse allerwärts die beste Aufnahme fanden. Da nach Heins Tode der Herrschafts -
besitzer sich entschloß, die Fabrik zu übernehmen, war ihr Bestand gesichert und so ein
neuer schöner Erwerbszweig für die Gebirgsbewohner gewonnen, dessen Mittelpunkt
später nach Oberlentensdorf verlegt wurde. Gleichfalls im Jahre 1784 erfand Josef
Schöffel in Reichenau bei Gablonz das sogenannte Papiermache aus welcher
Masse er allerhand Schalen und Tassen, vor Allem aber Dosen verfertigte. Der Kaiser
— ihm schien eben nichts zu klein, was Anderen nützen konnte — gab Schöffel „ein
Prämium von 100 Ducaten nebst der Befngniß, das Werk auf Fabrikenart betreiben zu
können", und schon im nächsten Jahre stand eine schmucke Dosenfabrik im Dorfe Reichenau,
das lange Zeit fast ausschließlich von ihr lebte. Beinahe gleichzeitig kam dieselbe Industrie
(durch I. G. Förster) nach Eger und (angeblich durch eingewanderte Elsässer) auch nach
Prag, woselbst sie in der Schönfeld'schen Papiermühle eine Pflegcstätte fand. Noch vor
Ausgang des Jahrhunderts begründete Johann Gaiger, ein Drechsler aus dem Baden-
schcn, die bald vielberufene Dosenfabrikation in Sandan bei Marienbad, noch heute eine
einträgliche Specialität jenes Ortes.
So, wie gesagt, gab sich allüberall im Lande ein reges, verheißungsvolles Leben
und Streben kund. Mit dem Einzelnen aber wuchs das Ganze. Die Bevölkerung Böhmens
erreichte im Jahre 1789 die Höhe von nahezu drei Millionen. Im selben Jahre entstanden
daselbst 79 neue Schulen und wuchs die Zahl der die Landschulen besuchenden Kinder
gegen das Vorjahr um nicht weniger als 16.000. Wenn sonst kein anderes Zengniß vor -
handen wäre, das eine spräche laut genug dafür: Kaiser Josef II. hatte nicht umsonst gelebt.
Man darf wohl sagen: im Wesentlichen sind am Ausgang des XVIII. Jahrhunderts
inBöhmen die einzelnen, durchwegs höchst eigenartigen Jndustriecentren geschaffen, die wir
daselbst, im modernen Gewände, auch heute wiederfinden. Die Städte Reichenberg-Friedland
mit ihrer näheren und weiteren Umgebung, das böhmische Niedcrland, von Numburg-
Schluckenau bis Leipa und Bensen-Kamnitz, das untere Elbethal von Leitmeritz-Lobositz
bis Tetschen-Bodenbach, das ganze Erzgebirge bis zum Fichtelberg, das Egerland mit
dem Ascher Bezirke, der Böhmerwald bis in den Süden des Landes und wieder herauf
das böhmisch-mährische Gesenke bisLandskron-Grnlich im äußersten Osten; das Braunauer
Ländchen, die Südabhänge des Niesengebirges mit ihren vielen Seiten- und Querthülern,
endlich das Jsergebirge bis abermals an die Bezirke Friedland-Reichenberg: das sind,
im weiten Bogen um den gegebenen Mittelpunkt, die Landeshauptstadt, zugleich der
hervorragendste Handelsplatz des Gesammt-Kronlandes, gruppirt, ebenso viele, durch
Natur und Geschichte herangebildete, in sich geschlossene, selbständige Wirthschaftsgebiete.
654
Was in der Folge noch dazukam, diente fast ausnahmslos zur Ergänzung, zur Befestigung
dieses Besitzstandes.
Am 14. September 1791 wurde, ähnlich wie am 30. August 1754 auf der Chotek'schen
Insel bei Veltrus, im Clementinum zu Prag eine böhmische Industrie-Ausstellung
zu Ehren einer Königskrönung abgehalten. Auf ihr war in rnaea bereits ziemlich Alles
vertreten, was Böhmen gegenwärtig als industrielles Land auszeichnet, — nur daß, eigen-
thümlich genug, diese Industrie zu jener Zeit beinahe ausschließlich in den Händen des
Hvchadels des Landes lag, der Grafen Waldstein, Chotek, Lazansky, Kinsky, Harrach,
Nvttenhann, Kvlowrat, Wrbna, der Fürsten Auersperg u. s. w., während unter den bürger -
lichen Ausstellern allein die Firma Leitenberger als hervorragend bezeichnet werden konnte.
Groß waren die Hoffnungen, die das industrielle Böhmen auf Kaiser Josefs
Nachfolger, Leopold 1k-, setzte; seine hochersprießliche nationalökonomische Thätigkeit als
seitheriger Großherzog von Toscana berechtigte hierzu in vollem Maße. Er starb zu früh.
Sein Ableben vereitelte vor Allem eine von ihm mit Sicherheit erwartete Änderung des
Zollsystems. Das strenge Festhalten an der anfänglich durch die Verhältnisse gebotenen
Prohibition, doch mehr vom polizeilichen als wirthschaftlichen, handelspolitischen Stand -
punkte übte unstreitig mit der Zeit einen erschlaffenden Einfluß — entschieden gegen die
Absicht eines Josef II. Mit seiner Zollordnung vom 27. August 1784 hatte er nichts
Anderes gethan, als was längst vor ihm eine Königin Elisabeth von England, ein
Ludwig XIV. in Frankreich, ein Friedrich II. in Preußen gethan hatten, gewiß nicht in der
Meinung, damit auf Menschenalter hinaus etwas Bleibendes, Unabänderliches hingestellt
zu haben. Die Gesetzgebung, die Zollgesetzgebung zumal, hatte sich einem lebendigen
Proteste jeweilig anzupassen, nicht als ein starrer, todter Buchstabe zu gelten. Indem dies
in Österreich eine geraume Zeit hindurch versäumt wurde, blieb es wirthschaftlich
nothwendig in vielen Stücken zurück. Die Verwaltung und Gesetzgebung Österreichs war
aber von nun an auch diejenige Böhmens und dieses selbst nur mehr der Theil eines
politischen und wirthschaftlichen Ganzen. Die Industrie Böhmens hört damit gewisser -
maßen auf, eine Besonderheit zu sein, sie wird untrennbar von der industriellen
Entwicklung Österreichs überhaupt. Diese darzulegen, kann hier nicht unsere Aufgabe sein.
Es genügt die Aufzählung verhältnißmäßig weniger Daten.
Eine genaue Statistik des Jahres 1792 bezifferte den Productionswerth böhmischer
Industrie mit 35,645.447 Gulden, die Ausfuhr aber mit 11'8 Millionen. Die Ziffern
stiegen von Jahr zu Jahr. Nicht nur daß das Gewerbe allerwärts im Lande sich mehr und
mehr fabriksmäßig auszugestalten suchte — das Zeitalter der Maschine war auch für
Böhmen gekommen — der alte und doch niemals alternde Stamm vaterländischer Arbeit
trieb immer wieder neue Zweige.
655
Bereits im Jahre 1791 wurde der Grund zu einer bis dahin in Böhmen gänzlich
unbekannten namhaften Industrie gelegt, zur Porzellanfabrikation. Ihr Begründer
war einÖkonomNamens Habertizl, Besitzer eines Bauernhofes in Rabensgrün nächst
Schlaggenwald. Er entdeckte auf der Herrschaft Pctschan ein reiches Lager Kaolinerde
und errichtete in genanntem Jahre eine Gesellschaft von etwa 30 Mitgliedern zum Betriebe
einer in Rabensgrün zu erbauenden Pvrzellanfabrik; Arbeiter wurden ans dem nahen
Ausland berufen. Die Gesellschaft löste sich nach des Gründers Tode (1793) auf, jedoch
eines ihrer Mitglieder, Johann Georg Paulus, erbaute unmittelbar darnach auf
Schlaggenwalder bergfreiem Grunde eine neue Fabrik, die sich unter verschiedenen
Besitzern bis auf die Gegenwart erhielt. Im selben Jahre (1794) entstand durch Nikolaus
Weber, gräflich Thnn'schen Oberforstmeister, eine gleichartige Fabrik in Klösterle, die,
später durch Pächter betrieben, dann (1820) von dem gräflichen Grundbesitzer übernommen,
seit dieser Zeit zu großem Ansehen gelangte. Neben ihr wurden innerhalb zwanzig Jahre
im Elbogener Kreise fünf Unternehmungen derselben Gattung ins Leben gerufen: in
Gießhübel, Pirkenhammer, Altrohlau, Dalwitz und Elbogen, denen noch viele
andere, zum Theil sehr bedeutende Etablissements nachfvlgten, so daß deren gegenwärtig
nicht weniger als 43 inBöhmen gezählt werden: eine der schönsten Zierden vaterländischer
Industrie.
Durch Ignaz Röster (geboren 1765, gestorben 1837) in Nixdorf wurde,
gleichfalls noch vor Ausgang des XVIII. Jahrhunderts, ein neuer Erwerbszwcig im
böhmischen Niederlande eingefnhrt, die Stahlwaarenfabrikation. Die Anfänge
derselben führen bis zum Jahre 1794 zurück. Zwei Jahre später richtete Rösler bereits eine
Schleiferei mit Wasserkraft ein, die stetig erweitert wurde und 1802 eine Fabriksbefngniß,
1811 aber als „k. k. privilegirte Stahlwaarenfabrik" ein Landesprivilegium empfing. Der
Eigenthümer wurde mit Allerhöchster Entschließung vom 10. April 1819 als „Rösler von
Ehrenstahl", dessen Neffe und Fabriksdirectvr Josef Emanuel Fischer als „Fischer von
Röslerstamm" in den Adelsstand erhoben. Zwei Firmen, „Ignaz Rvslers Söhne" und
„Ignaz Röslers Nachfolger", theilen sich jetzt in das Erbe des Urhebers dieser Nixdorfer
Industrie, die in der Neuzeit durch eine vorzüglich geleitete k. k. Fachschule für Metall -
industrie, verbunden mit einer gewerblichen Fortbildungsschule, kräftig gefördert wird.
Auffallend: der jüngste Zweig der Textilindustrie Böhmens, die Baumwoll-
manufaetur, betrat zuerst mit Erfolg den Boden eigentlicher maschineller Thäligkeit.
Johann Josef Leitenberger stellte in Wernstadt der Erste in Böhmen und zugleich in
Österreich eine englische Spinnmaschine ans (1796), dem zunächst seine Söhne Franz
(geboren 1761, gestorben 1825) in Cvsmanvs und Ignaz (geboren 1764, gestorben
1839) in Neu-Reichstadt, daun Josef Nichterund Franz Karl Mattausch in
656
Tetschen (1801), Graf Rottenhann in Rothenhaus, Fürst Auersperg in Tupadl
und viele Andere nachfolgten.
Die gleichen Verdienste, wie Johann Josef Leitenberger auf seinem Industriegebiete,
erwarb sich nach ihm Johann Georg Berger (geboren 1739, gestorben 1810) in der
Schafwollwaarenbranche. Nach langem, hartnäckigem Processe mit der Reichenberger
Tuchmacherznnft erwirkte er am 6. November 1798 das Privilegium einer Tuchfabrik und
wurde damit der Begründer Reichenbergs als Fabriksstadt. Sein wackerer, kenntnißreicher
Gesellschafter Ferdinand Römheld brachte dahin in den Jahren 1800 bis 1803 aus den
Niederlanden die ersten Spinn- und Scheermaschinen und bald nachher die ersten
Schafwollkrempeln. Ihm schreibt man auch die Aufstellung der ersten Dampfmaschine
(1804) in Böhmen zu. Ihre Verwendung wurde aber daselbst erst seit dem Jahre 1823
eine allgemeinere. Annähernd die Bedeutung wie I. G. Berger für Reichenberg erlangte
C. P. Friedrich Erxleben, Urheber der Firma „Gebrüder Erxleben und Co." in Lands-
kron, hauptsächlich für die Leinenindustrie und den Leinenhandel der östlichen Landestheile.
Ähnliches leisteten die Brüder Anton, Alois und Karl Kiesling in Hohenelbe und
Umgebung auf dem Gebiete der Papierfabrikation.
Die napoleonischen Kriege konnten nicht ohne störenden Einfluß auch auf die
ökonomische Entwicklung Böhmens bleiben; sie lenkten Verkehr und Handel wiederholt
gewaltsam aus den gewohnten Bahnen. Die weitaus größte industrielle Revolution rief
aber hier, wie anderwärts, das mit dem Berliner Decret vom 21. November 1806
inaugurirte Continentalsystem hervor. Von der bedrückenden englischen Concurrenz
plötzlich befreit, erfuhr die heimische Production vorerst eine ungeahnte Vermehrung. In
allen Zweigen stieg die Zahl industrieller Unternehmungen über das richtige Maß. Am
auffälligsten war dies der Fall bei der Wollen-, Baumwoll- und Leinenindustrie, bei der
Papier- und der Glaserzeugung. Den ersten größeren Aufschwung hatte die (Runkel -
rüben-) Zuckerfabrikation Böhmens während der Continentalsperre aufzuweisen; um
das Jahr 1811 wurden hier allein 13 Zuckerfabriken errichtet, unter denen die von
Ludwig Fischer in Ziak durch die Menge und Güte ihres Erzeugnisses sich am meisten
auszeichnete. Eine gefährliche Schlenderconeurrenz im eignen Lande war die unmittelbare
Folge. Nicht alle Betriebe waren mit genügenden Fonds versehen. Das Finanzpatent
vom 20. Februar 1811 vernichtete die meisten von ihnen; der Rest verschwand, sobald
das Continentalsystem sein Ende erreicht hatte und damit den Massenproducten Englands
wieder der inländische Markt geöffnet wurde.
Es bedurfte langer Jahre, die dadurch verursachten Schäden zu heilen. Nichts -
destoweniger waren es just die ersten Decennien unseres Jahrhunderts, die sich durch
Einführung einer ganzen Menge neuer Industrie-Artikel in Böhmen auszeichneten.
058
Schon in dm Jahren 1800 bis 1804 begründeten die Firmen Delorme und August
Tschinkcls Söhne durch Errichtung der ersten Cichorienfabriken in Lochkov bei Königs -
saal und Schönfeld bei Kreibitz die auch für Böhmens Landwirthschaft nicht unbedeutende
Erzeugung von Kaffeesurrogaten. Eine Frau, Magdalene Bieuert (geboren 1781)
— die Barbara Uttmanu des böhmischen Niederlandes — begann vor nunmehr etwa
achtzig Jahren in ihrem Heimatsorte Nixdorf die gewerbsmäßige Anfertigung von
Kunstblumen, in der sie, da die Erzeugnisse lohnenden Absatz fanden, bereitwilligst
vielen Hunderten armer Mädchen und Frauen Unterricht ertheilte. Seither bietet dieser
Erwerbszweig einem nicht unansehnlichen Theil der zahlreichen Bewohnerschaft von
Nirdorf, Hainspach, Schluckenau u. s. w. den Lebensunterhalt. In Prag und Umgebung
erfuhr um dieselbe Zeit die chemische Industrie eine wesentliche Bereicherung, indem
Franz X. Brosche in Prag und Anton Richter in Königssaal (1817) sich der
Herstellung von Soda widmeten. Beide Unternehmungen hatten einen durchschlagenden
Erfolg und mußten nach und nach bedeutend erweitert werden. Das schon seit jeher
ziemlich schwunghaft betriebene Prager Büchsenmachergewerbe fand in Anton Vincenz
Lcbeda (geboren 1797, gestorben 1857) einen Beförderer, der im Jahre 1820 eine
Gewehrfabrik erbaute, deren vorzügliche Leistungen bald sogar auch einen Ausfuhr -
artikel bildeten. Auf Lebeda folgten die Firmen Nowack und Kehlners Neffe und das
gegebene Beispiel blieb auf dem Lande, in Weipert, Leipa und Leitmeritz, nicht ohne
Nachahmung. In einem gewissen Zusammenhänge damit steht die von Sellier und
Bellot in Prag (1825) mit dem besten Erfolge etablirteZündhütchen-Fabrikation.
Wolf Fürth wurde durch Einführung der Fezfabrikation (1818) in Strakvnitz
im westlichen Böhmen der Begründer eines durchaus eigenthümlichen Industriezweiges,
der sich durch Anknüpfung selbst überseeischer Verbindungen im Laufe weniger Jahrzehnte
einen wohlverdienten Weltruf verschaffte, so zwar, daß dermalen in diese,n Artikel
notorisch jede fremde Concurrcnz unfgehört hat und das österreichische Erzeugniß allein
den Markt der Levante beherrscht. Beinahe gleichzeitig (1822) errichtete Karl H uffsky
die erste böhmische Siderolithwaaren-Fabrik in Hohenstein bei Mariaschein, um
gleichfalls zahlreiche, eifrige Nachfolger zu finden in Bodenbach, Obergrund, Aussig,
Teplitz, Eichwald n. s. w. Auch alle diese, zum Theil umfangreichen Unternehmungen
Pflegen einen lebhaften überseeischen Export. Im Jahre 1829 stellten Schallowetz,
Milde und Compagnie die erste Papiermaschine Böhmens in der sogenannten
Kaisermühle zu Prag auf. In ihrem Etablissement wirkten bedeutende Männer, wie
Julius Eichmann und Gustav Roedcr, welche später in Arnau (1842) und Marschen -
dorf (1864) als selbständige Fabrikanten erfolgreich austraten und denen Prosper Piette
(1865 fg.) in Freiheit, Podbaba und Pilsen nacheifcrte, während ihnen Gottlieb
660
Haases Söhne, die bekannte ansehnliche Buchdruckerfirma, in Vran (1837) voran -
gegangen waren. Anton Melichar begann im Jahre 1832 in Karolinenthal bei Prag
neuerdings die Fabrikation von Chocolade, die nun durch Jordan und Timäus,
August Tschinkels Söhne u. A. m. in die Stellung einer Großindustrie gerückt wurde.
Der preußische Zolltarif des Jahres 1818, die Absperrung von Rußland durch
unübersteigliche Zollschranken, das baierische Zollgesetz von 1826, endlich die Bildung
des großen deutschen Zollvereines (1832 bis 1833) waren schwere, empfindliche
Schläge für Industrie und Handel Österreichs überhaupt und Böhmens insbesondere.
Dem auswärtigen Absatz drohten von allen Seiten große Gefahren. Mit unleugbarem
Verständniß und rühmenswerthem Eifer nahm sich der Oberstburggraf Karl Graf
Chotek (1826 bis 1844) der bedrängten Industrie des Landes an. Eines der wirksamsten
Mittel zur Förderung der gemeinsamen Interessen erkannte er in der regelmäßigen
Veranstaltung von Schaustellungen heimischer Industrie-Erzeugnisse. Solche an und für sich
gelungene Landesausstellungen fanden denn auch in den Jahren 1828, 1829, sowie
1831 und 1836 statt. Ihr Zweck wurde auch sonst vollständig erreicht. Das Ausland
lernte die große, seltene Leistungsfähigkeit Böhmens auf allen Gebieten des Kunst- und
Gewerbsfleißes und dieses selbst lernte so erst recht den eigenen Werth erkennen; diese
Erkenntniß, dieses Selbstbewußtsein aber gab dem Einzelnen auch die Kraft, in dem ihm
aufgenöthigten Wettbewerbe auf dem Weltmärkte nicht zu erlahmen. Ein im Jahre 1833
nach langwierigen Verhandlungen ins Leben gerufener „Verein zur Ermunterung des
Gewerbsgeistes in Böhmen" kam in den ersten Jahrzehnten seiner Thätigkeit der ihm
gestellten Aufgabe in jeder Hinsicht nach. Um ihn erwarb sich K. I. Kreutzberg namhafte
Verdienste. Die Abhaltung einer „ersten allgemeinen österreichischen Gewerbsproducten-
Ausstelluug" zu Wien ini Jahre 1835 war für Gewerbe und Industrie Böhmens ein
förmliches Siegesfest. Das einstimmige Urtheil aller eompetenten Kreise gab diesem Lande
unter allen Provinzen des Reiches bereitwillig den Preis industrieller Tüchtigkeit.
Schon auf der Landesausstellung 1829 war eine Anzahl neuer Firmen vertreten,
welche berufen schienen, der böhmischen Industrie ihr Gepräge aufzudrücken, ja im
Welthandel eine mehr als gewöhnliche Rolle zu spielen, darunter: Gebrüder Liebieg,
Josef Herzig, Siegmund, Neuhäuser und Co., durchwegs Reichenberger. Elftere
Firma hatte im Jahre 1828 im Josefiuenthale nächst Reichenberg ein Jndustrialwerk
erworben, das sich, in den Alleinbesitz Johann Liebiegs (geboren 1802, gestorben 1870)
übergegangen, in relativ sehr kurzer Zeit zu einem der größten Fabriksunternehmen des
ganzen Continents entfaltete, zu einem Complex großartiger, durchwegs den höchsten
Anforderungen moderner Technik entsprechender Etablissements der Kammgarn-,
Vorspinn- und Streichgarnspiunerei, der mechänischen Weberei und der Appretur.
661
Außer in Reichenberg errichtete aber Johann Liebieg, ein schöpferischer, bahnbrechender
Geist wie nur wenige, ähnliche Werke in Svarov, Haratitz, Eisenbrod, Mildenau,
Smiritz u. s. w., dann aber auch im Böhmerwald, in Niederösterreich wie in Ungarin
Liebieg — im Jahre 1867 in den Freiherrenstand erhoben — beschäftigte gleichzeitig mehr
als 6300 Fabriksarbeiter, denen durchschnittlich ein Arbeitslohn von einer Million
Gulden gereicht wurde. Aus Liebiegs Schule ging wieder eine Reihe bedeutender
Johann von Liebieg.
Industrieller hervor, wie: Franz von Liebieg in Dörfel, Franz von Schmitt inBöhmisch-
Aicha, Ignaz Ginzkey in Maffersdorf, Josef Anton Richter in Mildenau u. v. A.
Männer vom Schlage Liebiegs und doch wieder ganz eigener Art waren Josef
Hardtmuth (geboren 1752, gestorben 1816), Adalbert Lanna (geboren 1805, gestorben
1866) und Johann Faltis (geboren 1796, gestorben 1874). Josef Hardtmuths Söhne,
Ludwig und Karl, verlegten dessen wichtigste industrielle Schöpfung, eine Bleistift-
und Steingutfabrik im großen Stile, von Wien nach dem südlichen Böhmen, nach
Budweis, das bis dahin eben Adalbert Lanna, ein Sohn dieser Stadt, durch seine seltene,
rastlose Schaffenskraft gewissermaßen erst in den commerciellen Großbetrieb des Landes
662
einbezogen hatte. Ihm (A. Lanna) war die Regulirung nicht nur der Zuflüsse der oberen
Moldau und dieser selbst von Hohenfurt abwärts, sowie der Elbe bis zur Landesgrenze,
damit zugleich aber durch Anknüpfung eines schwunghaften Holzexportes nach Deutschland,
insbesondere Hanlburg, dieHebung des Schiffbaues, dieErrichtung zahlreicher Jndustrialien,
wie Brettsägen, Parkettenfabriken u. s. w., in Verbindung mit den Unternehmern Klein
und Nowotny die Gewältigung der großen Kohlenlager von Kladno, die Gründung
der Prager Eisenindustriegesellschast, der Bau einer Anzahl wichtiger Eisenbahnen und
noch vieles Andere zu danken.
Faltis, der Erbauer der ersten mechanischen Flachsgarnspinnerei in Jungbuch
bei Trautenau (1837), wurde dadurch der Reformator unserer Leinenindustrie und so der
Wohlthäter besonders des böhmischen Riesengebirges. In seine Fußstapfen traten die
Industriellen FranzGaberle, AloisHaase, Willibald Jerie, Gebrüder Walzel, Notier
Kluge und Etrich u. s. w. Allerdings erwuchs dem Leinen durch die seit 1840 in den
Handel gelangte J ut e ein wegen seiner außergewöhnlichen Wohlfeilheit überaus gefährlicher
Rivale, gefährlicher als es die Baumwolle jemals gewesen. Man mußte sich schließlich
auch zur Errichtung von Jutespinnereien und -Webereien bequemen, deren Zahl seit dem
Ende der Siebziger-Jahre in fortwährendem Steigen begriffen ist. Wurde hierdurch auch
die Landwirthschaft nicht wenig in Mitleidenschaft gezogen —, die Flachsbau-Area nimmt
seither mehr und mehr ab — so erfuhr dagegen die landwirthschaftliche Industrie
gleichzeitig nach vielen Richtungen einen lebhaften Aufschwung. Erst um das Jahr 1820
war in Böhmen der Kartoffelbau, der sich seit Ende des vorigen Jahrhunderts auf
das Erz- und Riesengebirge beschränkt hatte, auch im Flachlande, ans den Großgütern
wie iu den Bauernwirthschaften, mehr und mehr ausgebreitet worden. Durch ihn erhielt
die Spiritus- und Stärkemehlsabrikativn ein völlig neues Rohmaterial, das diese
Industriezweige verhältnißmäßig rasch aus ihrer bisherigen Unbedeutenheit emporhob.
Besonders in den Gegenden südlich, südwestlich und südöstlich der Landeshauptstadt, um
Tabor und Deutsch-Brod, begünstigten die natürlichen Verhältnisse der Bodencultur
die Entwickelung der Spiritusindustrie, welche derzeit 237 landwirthschaftliche Brennereien
und 8 selbständige (rein industrielle) Fabriken zählt. Schon 1838 gründete Ernst Göttling
in Prag die erste Melassenspiritusbrennerei, eine Industrie, die zu Beginn der
Sechziger-Jahre eine bemerkeuswerthe Stellung erlangte. Ein Spiritusindustrieverein
und die durch ihn im Jahre 1875 begründete Brennereischule — die einzige in Österreich-
Ungarn — beschleunigten den Entwicklungsproccß der landwirthschaftlichen Industrie nach
dieser Richtung in maßgebender Weise. In den Dreißiger-Jahren hob sich nicht weniger —
besonders durch Weinrich in Dvbravitz — die Zuckerindustrie, die sich nun auch
der Dampfkraft bemächtigte, um mit deren Hilfe die Zahl von 150 größeren Etablissements
663
zu erreichen. Im folgenden Jahrzehnt entstanden die ersten sogenannten amerikanischen
Knnstmühlen in Böhmen, denen in unmittelbarer Zukunst eine ansehnliche Blüte
bevorstand, welche derzeit freilich durch die überwältigende Concurrenz der ungarischen
Mühlenindustrie sehr bedroht wird. Nach einer längeren Krisis in den Jahren 1826 bis
1830 nahm der Hopfenbau des Landes einen besonderen Aufschwung, mit welchem die
Bierbrauerei gleichen Schritt hielt. Im Jahre 1842 ervffnete die brauberechtigte
Bürgerschaft in Pilsen den Betrieb des dortigen neuen Bürgerlichen Bräuhauses,
des größten und bekanntesten Etablissements seiner Art, nicht blos auf dem Continent;
dessen Production, von Jahr zu Jahr steigend, beträgt gegenwärtig täglich 1800,
Walzwerk einer Actiengesellschaft in Teplitz.
das heißt jährlich mehr als 500.000 Hektoliter. Die Anbaufläche für Cichorie blieb
zwar in Böhmen von untergeordneter Ausdehnung, gleichwohl bestanden hier im Jahre
1846 bereits 30 größere Cichorienfabriken, worunter 7 in Prag, die größte aber in
Lobositz. Ihre Zahl sank mit der Zeit auf 17 Unternehmungen, deren Productions-
menge sich jedoch fortwährend vermehrte.
Die Wirkwaarenindustrie erhielt durch Etablirung der Firmen Gebrüder Klinger
in Zeidler (1839) und Emanuel Endler in Nixdorf einen neuen Anstoß; sie faßte
namentlich durch A. M. Birnbaum, Wolf Blumberg, Brüder Österreicher, Ruß
und Glogau festen Fuß im Teplitzer Bezirke. Fabrikant Wunderlich aus Meerane,
der sich im Jahre 1842 in Asch niederließ, brachte dahin die Fabrikation halbwollener
664
Damenkleiderstoffe, durch welche dieser Jndnstriedistrict zu stattlichem Ansehen gelangte;
die Firmen C. P. Hoffmann, Geipel nnd Jäger, Adler und Klaubert, Weiß,
Weigandt, Panzer n. s. w. gebenZeugniß dafür. Denselben Fabrikationszweig führte
der vielverdiente Industrielle und Politiker Karl Wolfrum (geboren 1813, gestorben
1888) auch in Aussig ein, ebenfalls nicht ohne Nachfolger zu finden.
Zur selben Zeit wie Wunderlich in Asch und Wolfrum in Aussig legte Benedikt
Schroll in Hauptmannsdorf bei Braun au den Grund zur Firma „Benedikt Schrotts
Sohn", deren Träger, Josef Edler von Schroll (geboren 1821, gestorben 1891), den
alten guten Namen seiner Vaterstadt in der Geschäftswelt wieder zu großen Ehren brachte.
Die Errungenschaft des Jahres 1848, die Aufhebung des Unterthänigkeits-
verbaudes, übte, wie sich in jeder Hinsicht schlagend Nachweisen läßt, auf die Cultnrver-
hältuisse des Landes,vorzüglich aber auf Landwirthschaft und landwirthschaftliche Industrie
eine überaus wohlthätige Rückwirkung. Den Zweck eines eben im Jahre 1848 vom Laudes -
präsidium ins Leben gerufenen „Ceutralcomite's zur Unterstützung der uothleidenden Erz-
und Riesengebirgsbewohuer" nennt dessen Name. Die Creiruug einer ständigen legalen
Vertretung der gewerblichen und mercantilen Interessen insgesammt durch das Institut
der Handels- und Gewerbekammern bildet einen Markstein auch in der böhmischen
Jndustriegeschichte. Mit ihr fällt die Einführung des Zolltarifs vom 6. November 1851,
das heißt eines gemäßigten Schutzzollsystems an Stelle der alten übermäßigen Prohibition,
zeitlich, aber auch ursächlich zusammen. Es war der dringende Wunsch heimischer Industrie
und mehr noch des Handels — und dieser Wunsch wurde laut sobald dem Handel und der
Industrie zu sprechen vergönnt war — dem Verkehr freiere Bahnen zu öffnen. Ein Schritt
nach vorwärts war der Zoll- und Handelsvertrag vom 19. Februar 1853 mit Preußen
und den mit Preußen zollverbündeten Staaten. Die böhmischen Kammern verstanden es,
auf die Leitung der Handelspolitik des Reiches auch später ihren Einfluß zu wahren.
Seither hat sich in Böhmen schrittweise die Umwandlung des Gewerbes zur Industrie
überall dort vollzogen, wo der handwerksmäßige Betrieb nicht als natürliche Voraus -
setzung bedingt wird. Nicht ein Produktionszweig blieb zurück, eine Aufzählung wäre
von Überfluß. Naturgemäß am augenfälligsten zeigte sich dieser Proceß bei der modernsten
aller modernen Industrien: der Maschineufabrikation, wie schon die Namen
Ringhoffer, Rnstvn, Danek, Skoda, Bolzano, Tedesco, Umrath, Märky,
Bromovsky n. s. w. beweisen, deren Zahl leicht um das Doppelte vermehrt werden
könnte. Nur eines Factums muß uothwendig noch gedacht werden: der Ausschließung des
sogenannten Duper Braunkohlenbeckeus. Das „größte Kohlenslötz des Eoutiueutes",
dessen unermeßlicher Schatz, wie einmal behauptet wurde, geeignet wäre, „falls im
übrigen Europa der Brennstoff ausginge, dasselbe durch mehrere Jahrhunderte mit Kohle
665
zu versorgen", wurde der böhmischen Industrie erst in den letzten Decennien nutzbar
gemacht. Graf Albert Nostitz in Tarmitz war der Erste, der bei dem Kohlenbergbau
den Maschinenbetrieb einsiihrte (1857). Seither stieg die Kohlenförderung in diesem
Reviere auf jährlich eine Milliarde Zollcentner. Damit ging der Ausbau des Eisenbahn -
netzes im nordwestlichen Böhmen Hand in Hand, damit aber auch die außerordentliche,
stetige Hebung und Förderung der Industrie jenes Landestheils, speciell der Verwaltungs -
bezirke Aussig-Teplitz. Bereits im Jahre 1858 entstand die chemische Fabrik in Aussig,
das größte continentale Unternehmen dieser Art. Da aber das von weiland Kaiser Josef ll.
aufgestellte Problem der Anwendung der Kohlenfeuerung bei der Glasindustrie allerdings
bereits gelöst war, so war es eine natürliche Folge, daß in genanntem Reviere nach seiner
ganzen Ausdehnung eine sehr große Zahl Erzeugungsstätten eben ihrer Gattung (für Tafel-
und Hohlglas) errichtet wurde, darunter vor Allem die der Nussiger Glashütten -
gesellschaft (1871) und die Fabriksanlagen von Friedrich Siemens zu Neusattel-
Elb o gen (1878). Unter den übrigen namhaften Gründungen kann selbstverständlich
jene des Teplitzer Walzwerkes nebst Bessemerhütte (1873) nicht vergessen werden.
Von Anfang an betheiligte sich Böhmen an den modernen Friedensfesten der con-
currirenden industriellen Welt, den internationalen Ausstellungen in London, Paris,
Wien n. s. w., allerwärts mit anerkannt durchschlagendem Erfolge. Nach mehr als fünfzig -
jähriger Unterbrechung wurde in Prag auch wieder eine Land es-Industrieausstellung
(1891) abgehalten, die sich des Allerhöchsten Besuches und der vollsten Anerkennung
Seiner Majestät des Kaisers erfreute. Je mehr wir uns der Gegenwart nähern, desto
ansehnlicher häuft sich die Masse industriegeschichtlichen Details, das sich in Kürze nicht
mehr bewältigen läßt. Jedwedes Ganze aber — das zeigt sich wohl nirgends deutlicher
als in der Geschichte des Handels und der Industrie — wird schließlich doch nur von
Einzelnen getragen und die größere oder geringere Bedeutung der Individualitäten läßt
eben die Gesammtheit groß oder klein, Werth oder unwerth erscheinen. In erster Linie
maßgebend für die von nun an wohl unbestrittene, weil ganz unbestreitbare Thatsache
der führenden Stellung Böhmens in allen Volks- und staatswirthschaftlichen Belangen
Österreichs war der Reichthum dieses Landes an geeigneten, tüchtigen Persönlichkeiten
auf den hier in Frage kommenden Gebieten. Relativ nur Wenigen von ihnen konnte an
dieser Stelle andeutungsweise ein bescheidener Nachruf gewidmet werden; den Lebenden
möge die Nachwelt die gebührende Würdigung wiederfahren lassen.
Mehr als Worte, ja mehr als Namen beweisen Zahlen. Es möge gestattet sein, am
Schlüsse wieder zum Anfang znrückznkommen und dem dort, in der Einleitung, Gesagten
eine ziffermäßige Übersicht der industriellen Production Böhmens auf Grund der
statistischen Erhebungen (vom Jahre 1890) beizufügen.
666
Bezeichnung der Jndustrialgrnppen
Zahl
der
Unter -
nehmungen
Motoren
Dampfmaschinen
Zahl
Pferde-
krüfte
andere
Zahl
Pferde -
kräfte
zusammen
Zahl
Pferde -
kräfte
Zahl
der
Angestellten
und
Arbeiter
I. Erzeugung von Metallen und Metallwaaren
II. Erzeugung von Maschinen, Werkzeugen, Apparaten,
Instrumenten und Transportmitteln
III. Industrie in Steinen, Erden, Thon und Glas . . . .
IV. Industrie in Holz, Bein, Kautschuk und ähnlichen Stoffen
V. Industrie in Leder, Fellen, Borsten, Haaren und Federn
VI. Textilindustrie
VII. Beklcidungs- und Putzwaarenindustrie
VIII. Papierindustrie
IX. Industrie in Nahrungs- und Genußmitteln . . . . .
X. Chemische Industrie
XI. Baugewerbe
XII. Polygraphische und Kunstgewerbe
Im Ganzen
224
164
613
282
71
946
132
125
865
211
21
115
353
143
206
156
60
1.014
16
116
2.448
409
14
39
23.527
3.193
4.728
3.046
791
64.076
597
5.873
36.592
4.508
138
361
3.769
4.974
147.430
138
26
386
129
!>
521
13
177
442
43
3
34
1.921
1.808
295
2.880
1.413
56
15.311
233
8.388
6.942
517
18
115
37.976
491
169
592
285
69
1.535
29
293
2.890
452
17
73
6.895
25 335
3.488
7.608
4.459
847
79.387
830
14.261
43.534
5.025
156
476
22.407
14.735
38.131
14.300
3.435
155.098
12.715
8671
66 069
13 328
456
4 339
185.406
353.684
Gesundbrunnen und Bäder.
Unter den Schätzen, mit welchen der Boden Böhmens in so reichlichem Maße
ausgestaltet, ist der Reichthum an Gesundbrunnen nicht einer der geringsten. Obgleich über
das ganze Land verbreitet, sind doch jene Heilquellen, deren Ruf sich über die weite Welt
erstreckt, im nordwestlichen Theile des Landes gelegen und dort von zahlreichen anderen,
minder berühmten umgeben, so daß hier das Hauptthermengebiet von Böhmen liegt.
Hier reihen sich die Heilquellen von Bodenbach an der Elbe bis zum Alexanderbad
im baierischen Fichtelgebirge: Teplitz, Bilin, Cachvitz, Krondorf, Gießhübl-Sauerbrunn,
Karlsbad, Franzensbad, Königswart, Marienbad aneinander, zu denen unzählige
Säuerlinge gehören, davon, wie schon der alte Kaspar Bruschius bemerkt, das Land
Böhmen „überflüssig sehr viele habe, so doch alle gegen die Grenzen der Pfalz gelegen
seien." Auch im Norden und Nordosten des Landes sprudeln einige Mineralquellen, von
denen Johannisbad im Riesengebirge und Liebwerda unter der Taselfichte genannt sein
mögen. Die übrigen minder wichtigen Quellen alle hier aufzuzählen, gebricht der Raum.
Es ist nicht bloßer Zufall, daß Böhmen mit Heilwässern so reich gesegnet ist, wie
auch die Vertheilung derselben keine zufällige, sondern von bestimmten Verhältnissen
abhängig ist. Die Mineralquellen verdanken Entstehung und Dasein Wirkungen des
Erdinnern, die sich ans der Erdoberfläche da bemerkbar machen, wo örtliche Umstände
solches gestatten. Wir wissen, daß das noch nicht erkaltete Magma im Innern unseres
Weltkörpers sich immer noch abkühlt und zusammenzieht, wobei es bei seinem ursprünglichen
Entstehen verschluckte Dämpfe und Gase ansstößt, die, einmal frei geworden, an die Erd -
oberfläche zu dringen suchen, wo ihnen Sprünge und Klüfte in derselben dazu Gelegenheit
geben. Treffen sie auf ihrem Wege mit Wässern zusammen, so werden sie von diesen
ausgenommen, erwärmen sie mehr oder weniger und machen sie unter allen Umstünden
mehr geeignet, mineralische Stoffe der dnrchströmten Gesteine zu lösen und auszunehmen,
um damit beladen an die Erdoberfläche als Mineral- oder Heilquelle auszutreten.
Zum Aufströmen von Dämpfen und Gasen ans dem Erdinnern, ja in früheren
Erdperioden sogar zum Hervorbrechen feuerflüssiger Massen bot und bietet der Boden
Böhmens reichlich Gelegenheit. Dem Laien scheint er freilich fest gefügtes Ganzes und
er ist es in gewissem Sinne wohl auch, aber das Auge des Kundigen entdeckt unzählige
Sprünge und Klüfte in demselben, die nicht regellos vcrtheilt, sondern nach ganz bestimmten
Richtungen verlaufen und sich kreuzen. Das eine dieser Spaltennetze streicht Südwest-
Nordost, Nordwest-Südost, das zweite in süd-nördlicher, ost-westlicher Richtung. Das
erstere drückt sich durch den gegen Südosten gekehrten Bruchrand des Erzgebirges, durch
das Egerthal zwischen Schlackenwert und Maria-Kulm, sowie durch die Richtung
668
zahlreicher Erzgänge aus. Die erstgenannte Linie wird auch durch eine Anzahl zum
Streichen des Erzgebirges paralleler Faltungen und Massengebirgszüge, wie ein solches
z. B. das Mittelgebirge ist, angedeutet. In der Richtung des zweiten Netzes liegen die
Moldauspalte, die Verwürfe im Rakonitzer Steinkohlenbecken, Erzgänge u. s. w. Da diese
Richtungen bis ins Kleine, bis in die Ablösung der Gesteinsfugen zu bemerken sind und
das ganze hercynische Massiv beherrschen, so nennt man sie das „hercynische Spalten -
system". Sie sind in ihrer Entstehung darauf zurückzuführen, daß sich die starre, spröde
Masse des Massives durch einen in älteren geologischen Perioden von Südosten und Süden
her ausgeübten Seitenschub, sowie durch das Drängen der Alpen bei ihrer Entstehung in
der zuerst genannten Richtung faltete, dann aber senkrecht und parallel zum Drucke barst.
Hierdurch entstanden jene Klüfte und Sprünge, von denen die größten und weitesten tief
genug, selbst bis an den schmelzflüssigcn Erdkern reichen. Sanken dann in der Folge von
Gleichgewichtsänderungen in der Erdkruste Theile derselben an solchen Spalten ab, so
konnte deren Gewicht die gelockerte Masse des Erdkernes in schmelzflüssigem Zustande auf
die Erdoberfläche drängen, und trat dann wieder ein Ausgleich ein, so blieben in jenen
Gebieten immer noch Klüfte und Spalten offen, welche aus der Tiefe kommenden Gasen
und Dämpfen, auch wenn die Hanptspalten durch erstarrtes Gestein, Granit, Porphyr,
Basalt u. s. w. verstopft waren und blieben, den Ausweg gestatteten.
Ein solcher mächtiger Bruch ist das Thal längs der Südseite des Erzgebirges,
dessen südliche Hälfte zwischen der Elbe und dem Karlsbader Gebirge versunken ist und
über der sich das basaltische böhmische Mittelgebirge, das in der gedachten Weise entstanden
ist, ansbreitete. In diesem Gebiete reichen noch heute einzelne Spalten tief genug, um die
Entstehung von Mineralwässern zu ermöglichen, und so erklärt sich hieraus die Vertheilnng
derselben in der Kette längs des Erzgebirges.
Eine ähnliche, wenngleich weniger scharf markirte Senkung, in nord-südlicher
Richtung verlaufend, trennt den nördlichen Böhmerwald vom Kaiserwaldgebirge, an dessen
westlichem Rande wir die Quellen von Marienbad, Königswart und zahlreiche andere
minder wichtige finden. Beide Senkungen, die längs des Erzgebirges verlaufende und
die letztgenannte, krenzen sich im Egerlande, und dieser Bezirk ist wie kein anderer reich
an Kohlcnsäuerlingen, so daß er der Eifel am Niederrhein und dem mittleren Frankreich
darin gleichkommt. Auf dieses Senkungsgebiet ist schon weiter oben einmal aufmerksam
gemacht worden, ebenso auf die Zeugen ehemaliger vulkanischer Thötigkeit, deren Nach -
zügler die Gasquellen von heute sind. Erklärlich ist hieraus auch die Erscheinung, daß
nicht nur im Gebiete selbst, sondern auch an den Umrandungen noch Mineralquellen,
wie z. V. im Bereiche des Kaiserwaldes, die von Einsiedel und Sangerberg, hervor -
treten können.
670
Ähnliche Verhältnisse wie in diesen: großen Thermalgebiete zeigen sich auch ander -
wärts. Die Säuerlinge von Liebwerda treten unmittelbar unter dem Bruchrande hervor,
welcher das Jscrgebirge aus der Nordseite Plötzlich gegen das deutsche Tiefland abschneidet.
Johanuisbad im Riesengebirge liegt an einer Bruchspalte, dem Aupathal, die gegen Norden
verlängert, nach Warmbrunn in Schlesien fuhrt. Sie ist zur Senkung zwischen dem Böhmer -
wold und Kaiserwald parallel und hat eine nachweisbare Bedeutung für die Gestaltung des
Riesengebirges. Die Verschiedenheit unserer Heilwässer erklärt sich zunächst aus der Mannig -
faltigkeit der Gesteine, welche sie durchlaufen, ehe sie zutage treten. Vieles ist hiebei noch
ein Geheimniß, denn nicht immer stimmt der Mineralgehalt der Quellen mit den Gesteinen,
aus welchen sie hervortreten, überein, so daß man wohl annehmen muß, sie müssen auf
ihrem unterirdischen Laufe mit anderen, nicht zutage tretenden in Berührung kommen.
Die 40 bis 45 Grad Celsius warmen Thermen von Teplitz und Schönau, welche
auf zwei nahen, Parallelen Spaltenzügen hervvrtreten, entspringen ans Qnarzporphyr, den
man bisher durch Tiefbohrung bis 400 Meter hinab verfolgt hat. Dem außergewöhnlich
schwer zersetzbaren Gestein entspricht die Beschaffenheit der Wässer, die an festen Bestand-
theilen sehr arm sind. Die an kohlensaurem Natron reichen Sauerquellen von Bilin treten
zwar aus Gneiß hervor, nehmen aber ihre mineralischen Bestandtheile aus einem in der
unmittelbaren Nähe auftretenden Feldspatbasalt. Viel schwerer erklärt sich der Ursprung
der mineralischen Bestandtheile der Karlsbader und der bis auf die Temperatur beinahe
gleichen Marienbader Wässer. Diese treten beide aus Spalten im Granit hervor,
welcher wohl einen großen Theil der gelösten Stoffe, aber doch nicht alle zu liefern
vermag. Die Quellen von Franzensbad sind den zuletzt genannten wohl ähnlich, der
bemerkbare Unterschied aber läßt sich ganz gut daraus erklären, daß sie an der Grenze
zwischen krystallinischen Schiefern und Granit hervortreten. Ta sie als fertige Wässer
schon in die darüber liegenden jüngeren Gebilde gelangen, vermögen sie ans diesen auf
einem verhältnißmäßig sehr kurzen Wege nichts oder nur wenig mehr aufzunehmen.
Die sogenannten Bitterwässer ausgenommen, welche ihren Gehalt an schwefelsaurer
Magnesia durch Auslaugung von Mergeln gewinnen, die zumeist der Braunkohlen -
formation angehören und in der Gegend zwischen Bilin und Brüx, um Saidschütz, Sedlitz,
Püllna auftreten, gilt Ähnliches auch für die übrigen vielen Mineralquellen, von denen
inlmer wieder einzelne in den Bereich der Heilwässer gezogen werden, um die sich stets neue,
allen Anforderungen unserer verwöhnten Zeit entsprechende Kurorte entwickeln, so daß
die Zahl derselben längst nicht mehr, wie zu Anfang unseres Jahrhunderts, auf die vier
berühmtesten, Teplitz, Karlsbad, Franzensbad und Marienbad beschränkt ist, sondern das
Zehn- ja Zwanzigfache erreicht hat, die alljährlich eine größere oder kleinere Anzahl von
Genesung und Erholung Suchenden versammeln.
072
Erholung und Genesung! Es sind dies in engen Beziehungen zu einander stehende
Zustände, da erfahrungsgemäß in einem erholungsbedürftigen Organismus Krankheiten
rascher und verderblicher fortschreiten. Landschaftliche Schönheit, günstige klimatische
Verhältnisse und zweckentsprechende kurortliche Einrichtungen sind daher keineswegs
nebensächliche Hilfsmittel bei Erreichung des Heilzweckes durch die eigentlichen kur-
ortlichen Heilmittel. Die Gunst der Natur und seit Einführung der Selbstverwaltung in
den Kurorten Böhmens auch regsame und kluge Bewirthschaftung haben diese überaus
reich mit jenen Hilfsmitteln ansgestattet.
Fast alle Gesundbrunnen Böhmens entspringen in waldreichen Gebirgen oder am
Fuße solcher. Die warmen Quellen von Teplitz in einem der gesegnetsten Thäler, in
welchem die Kontrastwirkungen zwischen den malerisch geschwungenen Linien der Basalt -
kegel des Mittelgebirges und dem geraden Rücken des jäh abfallenden waldigen Erz -
gebirges, der in trotziger Einsamkeit aus dem Thale sich erhebende Klingsteinfelsen mit
der zinnengekrönten Burg und die blumigen, zum Erzgebirge sich hinziehenden sanften
Hänge mit ihren vielen, im Frühjahr vom Blütenschnee überdeckten Obstbäumen zu
einem herrlichen Landschaftsbilde sich vereinen. Karlsbad in der engen, reich bewaldeten
Thalschlucht der Tepl, dicht an den Felsen sich anschmiegend, bietet eine Fülle verschieden -
artiger reizender Landschaftsbilder, sei es, daß man den Windungen der Tepl folgend
den Eindruck der einzelnen kesselartigen Thalweitungen in sich aufnimmt, in denen die
herrlichsten Bestände von gemischtem, im Frühjahr wie im Herbst die mannigfaltigsten
Farbenabstufungen zeigenden Wald sich bis knapp an die menschlichen Wohnstätten
herabsenken, sei es, daß man von einer der vielen Karlsbad umgebenden aussichtsreichen
Höhen aus den Blick schweifen läßt von dem engen Waldthal zu Füßen hinüber nach dem
breiteren Egerthal, hinter dem sich in ernster Majestät die höchsten Erhebungen des
Erzgebirges aufbauen. Die Waldidylle Marienbad, in der alles Ruhe und Friede athmet,
wie leicht vergißt sich in ihren dunklen Wäldern, auf ihren üppigen Waldwiesen das
aufreibende Drängen und Treiben des Großstadtlebens, wie leicht glätten sich dort die
Wogen hochgehenden Geistes- und Gemüthslebens! Hat doch auch Goethe diesen Zauber
an sich erfahren, wie ein Brief an Zelter erweist, in dem er hervorhebt, daß er die
kurzvergangene Zeit in Marienbad heiter und wie ins Leben znrückkehrend zugebracht
habe. Selbst das in landschaftlicher Beziehung so übel beleumundete Franzensbad bietet
außer dem Reiz der weiten Wiesenflächen, der ausgedehnten schattigen Parkanlagen und
des nahen, tief in die Hochebene eingeschnittenen Egerthales von dem Gipfel des Kapellen -
berges aus eine der entzückendsten Fernsichten. Und so hat auch fast jeder der kleineren
Kurorte Böhmens landschaftlichen Reiz, sei es, daß dieser durch hochragende Waldberge,
wie der Schwarzenberg bei Johannisbad, durch mächtige Felsmassive, wie der Dorschen
074
bci Bilm, durch ausgedehnte Fernsichten, wie sie sich von Königswart aus eröffnen,
oder durch ein von klarem Gewässer durchströnites, von aumuthigen bewaldeten Höhen
eingerahmtes Thalbild, wie in Gießhübl-Sauerbrnnn, gegeben ist.
Mannigfache Zeichen der aus der Tiefe der Erde empordrängenden Gewalten
mehren dav Interesse an dem verhältnißmäßig kleinen Landstrich, auf dem Böhmens Kurorte
stehen. Wer zum ersten Male vor dem Springer des mächtig auswallenden Sprudels in
Karlsbad sicht, wird sich kaum einer gewissen Ergriffenheit erwehren können. Weniger
sinnfällig, aber kaum minder bedeutsam sind die zahlreichen, fast ausschließlich ans Kohlen -
säure bestehenden Gasansströmungen aus dem Boden des von Franzensbad bis Marienbad
sich erstreckenden Quellengebietes, deren ergiebigste in Franzensbad und bei Marienbad
zu finden sind. Die tägliche Gasausströmung am Polterbrunncn in Franzensbad
berechnete Trommsdorf auf 2,102.400 Kubiksuß. Kaum minder zahlreich sind die dem
Boden in jenem Gebiete entquellenden Säuerlinge, deren z. B. bei Marienbad in einem
Umkreise von drei Stunden 123 gezählt wurden.
p,ast alle Arten von Gesundbrunnen finden wir in Böhmen in hervorragender Weise
vertreten. Nur die Jod-, Schwefel- und Soolquellen fehlen. In erster Reihe sind die
alkalisch salinischen Quellen in Karlsbad, Marienbad und Franzensbad anzuführen, deren
Hauptbestandtheil schwefelsaures Natron (Glaubersalz) kräftig anregend aus die Darm-
thätigkeit, die Wasseransscheidung und den Zerfall der stickstoffhaltigen Gewebe wirkt.
Kochsalz und Soda sowie freie Kohlensäure sind außerdem die wesentlichsten Bestandtheile
dieser Quellen, deren ersterc erfahrungsgemäß auch den Fettverbrauch im Organismus
steigern. Stockungen des Blntumlaufcs in den Unterleibsorganen, krankhafte Vergrößerung
einzelner derselben, chronische Katarrhe der Verdauungsorgane, Harn- und Gallensteine
sowie Fettleibigkeit, in Karlsbad außerdem die Zuckerruhr sind die hauptsächlichsten durch
jene Wässer wirksam behandelten Krankheiten. In der Erforschung der Art und Weise
dieser Wirkungen befinden wir uns erst in den Anfängen und sind daher auch beimAbwägen
der Umstände, welche das eine Mal mehr für die Anwendung der einen, das andere Mal
mehr für die der andere» Quellen sprechen, fast ausschließlich auf die Erfahrung augewiesen.
Wir können nur sagen, daß nach der Zusammensetzung die Salzquelle in Franzensbad die
mildesten, der Ferdinandsbrunn in Marienbad die stärksten Wirkungen entfalten muß,
daß bei den bekannten ausgezeichneten Erfolgen der Karlsbader Quellen auch die hohe,'
zwischen 39 und 71 Grad Celsius betragende Temperatur derselben in Betracht zu ziehen
ist, sowie bei den Wirkungen der Franzensbader Quellen der nicht unerhebliche Eisengehalt,
der ,n der Stahlquelle sogar im Verhältnis; zu den übrigen Bestandtheilen in den
Vvidergrund tritt. Letzteres ist auch der Fall bei den Quellen von Königswart, Nendorf
und Sangerberg, beim Stahlbrunnen in Liebwerda und Ambrosiusbrunnen in Marienbad,
die sämmtlich zu den kvhlensanrcnEisenwüssern gerechnet werden müssen, denen erfahrungs -
gemäß eine kräftigende, die Blutbildung anregende Wirkung zukömmt.
Als Hauptvertreter der erdigen Mineralwässer, die hauptsächlich bei chronischen
Katarrhen der Luft- und Harnwege in Anwendung gezogen werden, sind unter den
Gesundbrunnen Böhmens der Christiansbrunncn in Liebwerda und die Nudolfsqnelle in
Marienbad zu nennen.
Die alkalischen Säuerlinge von Bilin, Gießhübl-Sauerbrunn und Krondorf, als
wohlschmeckende Lurusgetränke weit berühmt, werden auch als Kurmittel in den Füllen
erfolgreich verwendet, wo es hauptsächlich gilt, die Alkalinität der Safte zu steigern und
leicht anregend auf die Absonderung der Schleimhäute zu wirken, während die Bitterwässer
von Großwnnitz, Püllna, Saidschütz und Sedlitz infolge ihres hohen Gehaltes an schwefel -
sauren Salzen als kräftig abführend wirkende Wässer viel in Gebrauch gezogen werden.
Viele der genannten Quellen, so jene von Karlsbad, Marienbad und Franzensbad,
dann die Eisenwässer und alkalischen Säuerlinge werden auch als Bäder verwendet, wobei
außer der Temperatur des Bades auch die einen kräftigen Hautreiz bildende Kohlensäure
der Quellen in Betracht kommt. Fast ausschließlich als Badequelleu werden die Gesund -
brunnen von Teplitz und Johannisbad benützt, die einen außerordentlich geringen Gehalt
an festen Bestandtheilen haben. Bei älteren entzündlichen Ablagerungen der mannig -
faltigsten Art und in den verschiedensten Organen, bei Störungen in der Erregbarkeit des
Nervensystems und gewissen Störungen im Stoffnmsatz in den Geweben mit unleugbarem
676
Erfolge angewendet, entzieht sich die Wirkung der Quellen dieser beiden Orte, abgesehen oon
ihrer Wirkung als warme Bäder, noch der wissenschaftlichen Begründung. Während Teplitz-
Schvnau den Vorzug besitzt, infolge der zwischen 26 und 45 Grad Celsius variirenden
Temperatur der Quellen eine mehr individualisirende Behandlung der Krankheiten und
der Kranken zu gestatten, wird wieder in Johannisbad die vorwaltend beruhigende und
kräftigende Wirkung der 29 Grad Celsius temperirten Quelle durch die windgeschiitzte hohe,
zwischen 610 und 660 Metern schwankende Lage des Ortes und die Waldluft unterstützt.
Bei Abschätzung des Heilerfolges an den einzelnen Kurorten Böhmens dürfen
deren klimatische Verhältnisse überhaupt nicht außer Betracht bleiben. Die in fast allen
reine Luft, der den umgebenden Waldungen entströmende Duft, der fast durchgängig
zu findende Schutz gegen rauhe Winde und das gemäßigte Gebirgsklima der meisten
bilden neben der Freiheit von den Berufssorgen, der vollständigen Veränderung der
Lebensweise einschließlich der Kost und neben der nicht tiefer erregenden Zerstreuung,
die schon durch das Zusammenströmen von Menschen aus allen Himmelsrichtungen
geboten ist, wesentliche Hilfsmittel für Erreichung des Kurerfolges, die es erklärlich
machen, daß ein voller Erfolg mit den angeführten Quellen nur bei ihrem Gebrauch an
Ort und Stelle zu erzielen ist. Insbesondere muß die hohe, zwischen 450 (Franzensbad)
und 700 Meter (Königswart) über dein Meeresspiegel betragende Lage jener Kurorte,
in denen kräftigende, die Blutbildung anregende Quellen fließen, als ein sehr wesentliches
Unterstützungsmittel der Blutbildung bezeichnet werden.
Außer den genannten Quellen, denen noch einzelne von minderer Bedeutung, so
die alkalisch-erdigen Eisenquellen von Sternberg und Bodenbach anzureihen wären,
dienen als Heilmittel in den Kurorten Böhmens noch Moor- und kohlensaure Gasbäder.
Die hauptsächlich durch ihren Einfluß auf den Blntumlauf in der Haut belebend und
ableitend wirkenden Moorbäder Böhmens, die aus verwitterter Torferde unter Vermischung
mit den Heilquellen der betreffenden Kurorte bereitet werden, sind theils an schwefelsaurem
Eisenoxydul reiche Eisenmoorbäder, wie Franzensbad, Köuigswart, Marienbad und
Neudorf, theils an löslichen Humusstoffen reiche, wie die Moorbäder von Teplitz-Schonau
und Belohrad. Bei der Wirkung dieser Bäder kommen hauptsächlich ihre physikalischen
Eigenschaften, schlechte Wärmcleitung und Zähflüssigkeit in Betracht. Welche Rolle dabei
die wechselnden chemischen Eigenschaften der einzelnen Moore etwa spielen, müssen
weitere Untersuchungen erst sicherstellen. Die im Ganzen wenig gebrauchten Gasbädcr von
Franzensbad und Marienbad, in denen der bekleidete Körper vom Gas umflossen oder
dieses ans einzelne Körperstellen geleitet wird, wirken leicht erregend auf das Nervensystem.
Zu der Fülle vou eigenthümlicheu, an den angeführten Orten dargebotenen Kurmittel
treten dann noch allgemeine, wie Massage, Elektncität, Molke u. s. w. unterstützend hinzu.
677
Für die Fassung und Analyse der Quellen, die Einrichtung der Bäder, für Trink -
hallen und Ähnliches ist namentlich seit Einführung der Selbstverwaltung in den
böhmischen Kurorten sehr viel geschehen. Ein Kurort hat da aneifernd auf die anderen
gewirkt, so Franzensbad mit seinen mustergiltigen Bädern, Karlsbad durch die hohe Stufe
der gesummten örtlichen Einrichtungen, die es unter der Leitung seines thatkräftigen
Bürgermeisters Eduard Knoll erreichte, der bei der Verheerung Karlsbads durch Wasser -
stuten im November 1890 der Überanspannung seiner Kräfte bei dem Rettungswerke erlag.
Mühle bei Stein au der Eger.
Die Funde römischer Münzen und Schmuckgegenstände in einer Quelleuspalte zu
Teplitz sprechen dafür, daß der Reichthum unseres Landes an Heilquellen schon zu den
Römerzeiten beachtet worden ist. Historisch wird Teplitz (lateinisch aquaa callckao) zuerst
unter König Vladislav II. (ums Jahr 1156) genannt. Der Karlsbader Fluß führt den
Namen Tepl (Roxlä -- Warmfluß) seit dem XII. Jahrhundert, wo der Name im Jahre
1197 urkundlich zuerst vorkommt. Doch erst vom XV. Jahrhundert an haben wir sichere
Knude, daß die Quellen von Karlsbad und Teplitz als Heilquellen benützt und als solche
von einzelnen Fremden ausgesucht wurden. Die ersten Mitteilungen über die als Egerer
Brunnen bezeichneten Quellen von Franzensbad stammen aus dem XVI. Jahrhundert,
67«
ebenso jene über die zunächst Tepler Brunnen genannten Quellen von Marienbad.
Johannisbad soll im XVI. Jahrhundert bereits stark benützt worden sein, die Quellen
von Liebwerda werden im Beginn des XVII. Jahrhunderts erwähnt, die Versendung
des Gießhübler Säuerlings als Lnxusgetränk nach Karlsbad im XVI., die des Biliner
Sauerbrunnens nach Teplitz im XVIII. Jahrhundert, während der Gebrauch der übrigen
genannten Gesundbrunnen aus unserem Jahrhundert stammt. Diesem ist auch der mächtige
Aufschwung eigen, den die Kurorte Böhmens genommen. Noch im Jahre 1815, dem
ersten Jahre, aus welchem von sämmtlichen vier böhmischen Weltbädern Knrlisten
vorlicgen, finden wir die Zahl der Parteien in Karlsbad mit 1302, in Franzensbad
mit 691, in Marienbad mit 187, in Teplitz mit 1636, im Jahre 1891 aber die Zahl der
Kurgäste in den genannten Orten mit 35.109, 7807,15.231 und 6431 angegeben. Freilich
war die national-ökonomische Bedeutung der Gäste in früherer Zeit zum Theil eine
wesentlich größere als heute, wie wir daran ermessen können, daß der Kurfürst von Sachsen
im Jahre 1691 Teplitz mit einem Gefolge von 326 Personen und mit 475 Pferden besuchte.
Welche Wandlung vollzog sich auch in den Kurmethoden seit der Zeit, wo die
Quellen von Karlsbad nur zu sehr lang dauernden Bädern benützt wurden, oder jener,
wo 50 bis 70 Becher derselben täglich getrunken wurden, wo zu Teplitz nach einer
hauptsächlich in Aderlässen und Schröpfen bestehenden häuslichen Vorbereitungskur 4 bis
5 Stunden täglich gebadet wurde, bis zu dem verständigen Kurgebrauche in der Jetztzeit!
Eine wesentliche Bereicherung der Heilmittel der böhmischen Kurorte erfolgte durch
die im Jahre 1822 in Marienbad in Böhmen zuerst eingeführten, aus Deutschland über -
kommenen Moorbäder. Auch die national-ökonomische Berwerthung der elfteren erfährt
durch die Darstellung von Quellsalzen und Pastillen, von Moorlaugen und Extracten
eine stetige Steigerung. Die seit 1708 erfolgende Sprudelsalzerzeugnng in Karlsbad z. B.
ist von 250 Kilogramm im Jahre 1788 derzeit auf 50.000 Kilogramm gestiegen und soll
demnächst auf 100.000 Kilogramm gesteigert werden. Die im Jahre 1843 auf Grund
von Versuchen des Chemikers Pleischl durch Dr. Hlawaczek eingeführte Versendung der
Karlsbader Quellen, welche damals um 500 Gulden verpachtet wurde, wirft derzeit einen
Pacht von 175.000 Gulden jährlich ab.
Der Gießhübler Sauerbrunnen, der seit 1799 als Tafelgetränk an das kaiserliche
Hoflager nach Wien geführt wird, dessen Versendung an entlegenere Orte erst vom Jahre
1796 an nachweisbar ist, wird derzeit in sechs Millionen Flaschen jährlich verschickt.
Karlsbad versandte im Jahre 1891 1,480.000, Franzensbad 374.930, Marieubad
669.315 und Teplitz-Schönau 259.410 Flaschen Mineralwasser. Sowie Karlsbad die
Darstellung des Sprudelsalzes durch Eindampfen einem seiner Söhne, David Becher,
verdankt, dankt Franzensbad die zweckentsprechende Füllung der Quellen zum Versandt,
680
welche darauf auch au deu anderen Kurorten Böhmens eingeführt wurde, einem Sohne
unserer Heimat, Hecht. F. A. Neuß hat sich an der Wende des vorigen Jahrhunderts nur
die Kenntniß aller hervorragenderen, damals bekannten Gesundbrunnen Böhmens unver -
gängliche Verdienste erworben, so daß er wohl als der Vater der Balneologie Böhmens
bezeichnet werden kann. In ähnlicher Weise wirkte Löschner in diesem Jahrhundert, während
sich David Becher um die Entwicklung von Karlsbad, Nehr und Heiner um jene von
Marienbad, Adler um jene von Franzensbad hohe Verdienste erwarben. Durchwegs
Söhne unserer Heimat, haben sie mit ganzer Kraft für die Wohlfahrt derselben gewirkt,
und es ist darum nur eine Pflicht der Pietät, wenn unsere Schilderung der Kurorte und
Gesundbrunnen Böhmens mit der Erinnerung an sie beschlossen wird.