130
Volksleben der Deutschen.
Sitten und Gebräuche. Die Zeiten gehen ehernen Schrittes hinweg über die
Eigenthümlichkeiten der Völker. Die siegreiche Macht der Cultnr verpflanzt sich von Vvlk
zu Volk, und mit der wachsenden Bildung ändert sich auch das Fühlen und Empfinden,
ändert sich Sitte und Gebrauch. Je mehr auf diese Weise die Menschheit fortschreitet in
ihrer Entwicklung zum höchsten Ziele, an welchem angelangt die Bürger der Erde keinen
Unterschied mehr kennen werden, desto mehr leiden die einzelnen Theile Einbuße an alle
dem, was sie voneinander trennt und unterscheidet. Wenn zumal innerhalb der engen
Marken eines Landes zwei Völker wohnen, die nach Sprache und Charakter durchaus
verschieden sind, und die Zahl ihrer gemeinschaftlichen Beziehungen fort und fort durch
die gleichen Gesetze, denen sie gehorchen, durch die Lebensverhältnisse, die ihnen gemeinsam
sind, ja — so zu sagen — auch durch dieselbe Luft, die sie athmen, wächst, so ist es
ganz erklärlich und sogar als nothwendige Folge erkennbar, daß ihre besonderen Charakter
züge mit der Zeit verwischt werden. Sv schwindet auch bei den Deutschen Mährens
von Tag zu Tag deutlicher die alte ehrwürdige Vätersitte, besonders dort, wo sie in kleinen
Inseln inmitten ihrer slavischen Mitbürger wohnen. Manch hübscher und tiefsinniger
Brauch kehrt immer seltener und in immer kleineren Kreisen wieder. Gar Vieles, was
ursprünglich das Eigenthnm der Deutschen war, hat auch bei den Slaven Eingang
gefunden und manche slavische Sitte wird heimisch in deutschen Familien. Gar Vieles,
was die Deutschen Mährens heute noch als theures Erbe aus längst vergangenen Tagen
bewahren, ist natürlich auch nicht ihr eigenstes Eigenthnm, es gehört vielmehr dem ganzen
deutschen Volke und kehrt bei allen seinen Stämmen und Zweigen mit mannigfachen
Umänderungen wieder.
Die Religion bildet für das gesammte Leben des Volkes die wichtigste Basis. Die
vorzüglichsten und schönsten Gebräuche schließen sich an die religiösen Feste an. Und wie
der Naturdienst der alten Germanen mit dem Christenthum, welches ihn besiegt hat,
vielfache Berührungspunkte gesunden, so ergeben sich ans der Betrachtung vieler religiöser
Feste und der daran sich knüpfenden Bräuche reichliche Beziehungen auf die alte Götterwelt.
Wenn wir dem Laufe des Kirchenjahres folgen, so begegnen wir gleich an seiner
Schwelle der wohlbekannten Gestalt des heiligen Nikolaus, des Gabenspenders, der, gefolgt
von dem Knecht Ruprecht, von Haus zu Haus geht, um die braven Kinder zu belohnen
und zu beschenken, die bösen zu rügen, wohl auch zu bestrafen. Wo er nicht persönlich
erscheint, da stellen die Kleinen am Vorabend des 6. December einen Schuh oder einen
Teller hinter das Fenster, und siehe — fast immer findet sich darin eine liebe Gabe.
Selbst wenn ihr kindliches Gewissen sie auklagt, daß ihr Betragen kein Lob und keinen