69 Landschaftliche Schilderungen ans Välschtirol. Das Etschthal. Wer von Bozen nach Süden fährt, erblickt schon von weitem vor sich eine auffallende Thalenge, welche unterhalb Salurn dadurch gebildet wird, das; von Osten her ein breiter, massiger, steiler Bergstock, der Geierberg, von der anderen Seite her eine scharfe Bergecke vorspringt und das Thal verengt. Diese Thalenge, ein Paß, welcher besonders in den einstmaligen heißen Kämpfen der Langobarden, Baiern und Franken geschichtliche Wichtigkeit erlangt hat, scheidet die deutsche Sprache von der italienischen, das deutsche vom italienischen Südtirol. Der landschaftliche Charakter, den das Etschthal von Meran herab bis zur Enge von Salurn trägt, verschärft im weiteren Verlauf bis zu den Veroneser Klausen seine Gegensätze. Einerseits wird der Anbau in der Ebene viel stärker und gedrängter und gestaltet sich zu einem fast ununterbrochenen, die Ortschaften enge umschließenden, ja in sie eindringenden Garten von Rebenfeldern, welche von Baumreihen und oft auch von Mauern nach allen Richtungen durchzogen sind. Anderseits werden die Berge, den Monte Baldo ausgenommen, rauher und unwirthlicher. Viel seltener zeigen sich in den Hohen Wiesenflächen, noch seltener Hochwald, als man im oberen deutschen Etschthal zu sehen' gewohnt ist. Dabei sind diese das Etschthal auf beiden Seiten begleitenden Bergzüge dennoch sehr reich an Wechsel. Durch Senken, Seitenthäler und Schluchten, durch Buchten und Mulden, durch immer bald wieder abbrechende Ansätze von Mittelgebirgen, durch das mehrtausendjährige Culturwerk des Menschen, welches hier überall die mögliche Höheu- grenze erreicht hat, durch oft zanbervolle Beleuchtung unter einem auch durch Monate andauernd heiteren Südhimmel wird eine so bunte Mannigfaltigkeit der Landschaft geschaffen, daß sie viel eher der Pinsel des Malers als die Feder des Beschreibers dar zustellen vermag. Wir haben die Thalenge von Salurn hinter uns und sind in Wülschtirol eingetretcn. Da liegen rechts in einer weiten auf der Nordseite von Felsen umstarrten Bucht, an beiden Seiten des aus dem Nonsberg zuströmenden Noce die ansehnlichen Ortschaften Mezzo- lombardo und Mezzotedesco (Wälsch- und Deutschmetz). Hinter denselben öffnet sich eine schmale Bergspalte, durch welche der Blick auf einen kleinen untersten Theil des Nonsberges füllt. Über Deutschmetz zeigen sich die Trümmer eines Felsenhöhlenschlosses, :n Urkunden Corona de Mezzo, später als Einsiedelei St. Gotthard benannt. Diesen Ortschaften gegenüber liegt hart über dem linken Etschnfer das Dorf San Michele, wo ehemals ein Stift regulirter Chorherren bestand, dessen Gründer einst (1145) hauptsächlich die Herren von Eppan waren. Das Stift wurde 1807 aufgehoben und spater nicht mehr wieder hergestellt. Heute dienen die weitläufigen Gebäude einer vom Lande