252 > „Kleine Passion" - aus »einen Figuren dargestellie Leidensgeschichte Jesu Christi. Das Volksleben der jstolcn. Volkscharakter. — Es gibt außer den Spaniern vielleicht kein zweites Volk ans der Erde, bei welchem die Nationalität und der Katholicismus so enge miteinander ver schmolzen wären, wie bei den Polen. Ihre Geschichte ist eine ununterbrochene Kette blutiger Kämpfe gegen die Ungläubigen, und in der Literatur spricht das am tiefsten zur polnischen Seele, was nationale Empfindung an: innigsten mit dem religiösem Gefühle verbindet. Die polnische Ritterschaft wurde im Gegensätze zu den Türken und Tataren, mit denen sie Jahrhunderte lang im Kampfe lag, „Wiara" (Glauben, Glaubensritter) genannt und beim polnischen Landmanne heißt noch heute der katholische Glaube polnischer Glaube. Katholik und Pole sind ihm eines und dasselbe; ja das Gefühl der Religiosität überwiegt im Volke jenes der Nationalität. Am Halse des polnischen Bauers hängt ein Krenzchen, ein Medaillon, ein Rosenkranz oder ein Skapulier; in seinem Hanse steht ans einem Fenster die kasyjleap und die Wände sind mit Heiligenbildern behängt. An allen Feld wegen stehen Figuren, Heiligenstatuen oder Kapellchen. Unternimmt der Bauer eine Fahrt, so macht er vorher mit der Peitsche ans dem Erdboden vor den Pferden das Zeichen des Kreuzes; nie geht er an einem Wanderer oder Arbeitenden vorüber, ohne ihn mit einem passenden Gottesworte zu begrüßen; erwähnt er im Gespräche eines Dahingeschiedencn, sv fügt er sofort den Wunsch hinzu, Gott möge ihm das himmlische Königreich leuchten lassen. Aus diesem tiefen Glauben fließen viele wcrthvolle Eigenschaften des polnischen Volkes. Das Familienleben ist makellos, Meineid fast unerhört, Laster und Verbrechen sind erstaunlich selten trotz der niedrigen Cultnrstnfe des Volkes. Treue und Redlichkeit ist in seltenem Grade vorhanden, das Pflichtgefühl stark entwickelt. Selbst der Tod erscheint dem Polnischen Bauer nicht schreckhaft. So ist es Gottes Wille, sagt er, und lnieitet sich mit voller Ruhe dazu vor. Ist ja doch jenseits des Grabes ein neues Leben, nur ein viel schöneres, ein Leben ohne Sorgen und Kränkungen; wird er ja doch dort alle jene Wiedersehen, die ihm hieniedcn die theuersten sind und wird sich mit ihnen des himmlischen Glanzes freuen. Daher auch sein wohlbekannter Mnth, der sich in allen Kriegen bewährte, die Österreich in den letzten hundert Jahren geführt. Der Jugend ist dav Leben wohl thener, allein wo die Pflicht ruft, dort schwindet jeder Schrecken, und wo der Muß ist — sagt ein Sprichwort — dort hilft auch das „Heiliger Gott"-Rufen nichts. Es gibt übrigens eine Philosophie, der sich der polnische Landmann in solchen Fällen zu bedienen pflegt. ,,S' ist schwer" — sagt er sich — „einmal wird der Mensch geboren, einmal muß er sterben", oder, was seine Natur noch besser charakterisirt und in Kürze auvdrückt: „Einmal muß die Ziege sterben." So ist denn der polnische Bauer ein