649 Nutlwnische Literatur. Als weiland Seine kaiserliche Hoheit Kronprinz Erzherzog Rudolf am 3. Juli 1887 die Ruthenen in Lemberg durch seine Anwesenheit in ihrem Nationalhause beehrte, nannte er dieselben in einer an sie gerichteten Ansprache „ein altes Culturvolk". Und in der That reichen die Anfänge ihrer Cultur bis ins XI. Jahrhundert hinaus. Damals bildeten die Gebiete des heutigen Ostgalizien einen integrirenden Theil des Kiewer Großfürstenthums und demzufolge hat die altberühmte Hauptstadt Kiew in ihrer Blüte zeit (im XII. Jahrhundert) auch auf Halicz wohlthuend eingewirkt. Die Bekehrung der Ruthenen zum Christenthum fand unter Wladimir dem Großen (988) statt, und zwar aus Byzanz durch Vermittlung der Südslaven (Bulgaren). Mit dieser kam auch der Gebrauch der kirchenslavischen Sprache im kirchlichen und Cultur- leben Südrußlands auf, welche von da an durch Jahrhunderte, in der Art einer Gelehrtensprache, wie das Altgriechische im Osten und das Lateinische im Westen, die gesammte Literatur der von Constantinopel abhängigen Slaven, folglich auch jene der Ruthenen, beherrschte. Die ruthenische Literaturgeschichte kann in drei Perioden eingetheilt werden: I. Seit den Anfängen der Literatur bis zum Jahre 1569, das ist bis zur politischen Lubliner Union (kirchenslavisch-ruthenische Periode). II. Vom Jahre 1569 bis zum Jahre 1798, das ist bis zum Auftreten Iwan Kotlarewskij's, des Schöpfers der national-ruthenischen Literatur (polnisch-ruthenische Periode). III. Seit Kotlarewskij bis zur Jetztzeit (national- ruthenische Periode). I. Die Schristgelehrten der ersten Periode, zumeist Mönche, bedienten sich in ihren Werken der kirchenslavischen Sprache, welche von der Volkssprache des damaligen Süd rußlands weit abstand. Da aber nicht jeder Schreibende diese Sprache vollkommen beherrschte, so kommen in den damaligen Sprachdenkmälern, namentlich in denjenigen, die von Laien verfaßt wurden, mitunter Wortformen und Wendungen vor, welche der Volkssprache entnommen sind. Zu diesen gehört eines der wichtigsten Sprachdenkmäler des XI. Jahrhunderts — das Gesetzbuch -Ilgmm» pxebeimn" (Ururvcig. ruWlruju), welches zugleich als das älteste unter den Gesetzbüchern der Slaven gilt. Der Urheber des selben war Jaroslaw der Weise, der Nachfolger Wladimirs des Großen auf dem Kiewer Throne. In der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts bildete sich in Halicz unter der klugen Regierung der Fürsten Wladimirko, Roman und Danito ein neuer Brennpunkt politischen und literarischen Lebens, obschon Kiew im Culturleben höher als Halicz stand. In Kiew entstand namentlich die sogenannte „Nestor'sche Chronik" (in ihrer jetzigen