Volksleben. Einleitung. — Jahrhunderte hindurch lebte das Volk Bosniens und der Herce- govina im Sinne altererbter Traditionen, welche weder staatliche Einrichtungen, noch ein getretene Culturströmnngen besonders tangirten. Bis zur Occupation forderte wohl der Staat von den Bewohnern die pünktliche Leistung aller ihnen auferlegten Verpflichtungen, kümmerte sich aber weder um ihr weiteres Thun und Lassen, noch um die Förderung ihrer geistigen und materiellen Interessen. So kam es, daß das Volk in einzelnen abgelegenen Gegenden bis vor Kurzem genau so lebte und dachte, wie es vor fünf oder sechs Jahrhunderten gelebt und gedacht hatte. Gewisse ursprüngliche Äußerungen der Volksseele konnten sich ans diese Weise in fast ungetrübter Form bis zur Gegenwart erhalten, und der Ethnograph, der die Südslaven stndiren will, kann sich kein besseres Forschungsgebiet wünschen, als es sich ihm in Bosnien und der Hercegovina darbietet. Das Volksleben tritt hier allenthalben in reinster Urwüchsigkeit zur Schau, und wo Beeinflussungen von Außen zu beobachten sind, gelingt es ohne Mühe, dav Ursprüngliche vom Späteren zu trennen. So engherzig die Natur war, als sie die Grenzen aussteckte, in welchen sich das Leben des bosnischen Landvolkes bewegt, so freigebig war sie, als sie es mit geistigen Eigenschaften ausstattete. Vor Allem verfügt der Bosniake über eine bewundernngswerte Auffassungsgabe. Von Kindheit an auf sich selbst angewiesen, lernt das Individuum Alles, was es umgibt, auf praktische Weise kennen, begreifen und beurtheilen. Allerdings beschränkt sich diese Auffassungsgabe auf einen altererbten Gedankenkreis, aber selbst wo sie über diese Grenze hinausgeleitet wird, bewährt sie sich vollkommen, was durch die Schnlerfolge der letzten zwei Decennien erwiesen ist. Neben dieser Gabe erhielt der Bosniake von der Natur eine zweite, nicht minder schätzbare: eine präcise, logische Ausdrucksweise, die selbst von der Literatur als mnstergiltig anerkannt und acceptirt wurde. In der Wortfolge, womit er seine Gedanken zum Ausdrucke bringt, ist jeder Laut, jede Silbe am richtigen Platz, jeder Tonfall ent spricht auf das genaueste der Stimmung, die ihn hervorgerufen hat. Die Psychische Verfassung des Volkes charakterisirt vor Allem eine natürliche Ein fachheit, ein ausgeprägtes Wahrheits-, Rechts- und Ehrgefühl. Die Wahrheitsliebe ist die schönste Eigenschaft, die sowohl das Individuum, als auch das Volk schmückt, und sie ist im letzteren so allgemein verbreitet, daß der rechte Bosnier sich nur schwer bestimmt finden wird, bei seinem Nebenmenschen Unwahrhaftigkeit anzunchmen. Eine andere hervorragende Eigenschaft ist das Ehrgefühl. Mannesehre, Frauenehre und die Ehre des Hauses werden wie ein Schatz behütet, und daran zu rütteln wagt