46 Piero Manzoni, Corpo d’aria (Luftkörper), 1961. Sammlung Block von elf Arbeiten, die er bis zum Jahre 1968 choreographierte.^* Der Tänzer Steve Paxton und Aian Solomon, der Direktor des Jewish Museum, nannten diese Arbeiten Theater Pieces. Inspi riert vom Auftührungsort von Petican - einer Rollschuhbahn, d\e America on Wheels hieß entwarf Rauschenberg für sich und seinen zweiten Performer Per Olof Ultvedt fallschirmar tige Flügel, die metaphorisch zum Flug ansetzten, wenn die beiden Rolischuhläuferan Geschwindigkeit gewannen. In sei nem Essay »Rauschenberg for Cunningham and Three of His Own« (1997) versucht Paxton, die Gründe von Rauschenbergs Interesse an der Performance-Kunst zu analysieren: Ich habe mich gefragt, wie Rauschenberg den mentalen Übergang von der Malerei zur Choreographie vollzo gen hat. Eine Performance wird natürlich in der zeitlichen Abfolge erfahren, doch vielleicht gilt das auch für die Male rei. Selbst das kühnste einfache Bild - ein Werk von Frank Stella etwa, oder ein früher Jasper Johns - läßt einen zwei ten Blick zu. Meine Erfahrung von Rauschenbergs flach wirkendem Gemälde Rebus (1955) war sequentiell. Monogram (1955-59) war eine spiralenförmige, sequen tielle Erfahrung, während derer ich um das Bild herum ging und ihm dabei näherkam. Wie andere Maler befin det sich Rauschenberg oft vor leeren, aufgespannten Lein wänden und stellt sich vor, wie er sie bevölkern und ihnen Farbe geben könnte. Bei den White Paintings (1951 -52) blieb die Leinwand einfach weiß, und er ließ die Schat ten spielen. Zeit und Bewegung nehmen auch in seinen stofflicheren Gemälden die Gestalt von Uhren und Radios an. Sein Werk war bereits bis zu einem bestimm ten Grad belebt, bevor er mit seinen Theater-Versuchen begann.® Es sollte sich heraussteilen, daß Rauschenbergs Einfluß auf jüngere Künstler, die Interesse an der Erforschung der Rolle der Handlung sowohl bei der Schöpfung von Objekten als auch von Aktionen hatten, äußerst bedeutsam war. Von Manzoni zur Arte Povera Wie Klein, Tinguely, Saint Phalle und Spoerri legte auch der italienische Künstler Piero Manzoni Wert auf die performan ceartigen Dimensionen der Objekte, die er Ende der fünfziger 34 Zu Rauschenbergs Performances siehe folgende Essays in: Rau schenberg: A Retrospective, Ausst.-Kat., Solomon Guggenheim Foundation, New York 1997: Nancy Spector, »Rauschenberg and Performance. 1963-67: A »Poetry of Infinite Possibilities««, S.226-45; Steve Paxton, »Rauschenberg for Cunningham and Three of His Own«, S. 260-67; Trisha Brown, »Collaboration: Life and Death in the Aesthetic Zone«, S. 268-74. und Anfang der sechziger Jahren schuf; seine Arbeit hatte aller dings einen deutlich anderen Charakter. Nachdem er Kleins Arbeiten 1957 gesehen und den Künstler in der Galerie Apol linaire getroffen hatte, fühlte er sich dazu inspiriert, im Okto ber des gleichen Jahr seine ersten Achromes zu produzieren, die er bis zu seinem Tod im Jahre 1963 fortsetzte. Als er den Unterschied zwischen seinen Bildern und dem Informei be schrieb, stellte Manzoni die Gültigkeit von Gemälden in Frage, >'die auf eine Art Behälter reduziert worden sind, in den unnatürliche Farben und künstliche Bedeutungen gestoßen und gepreßt werden. Warum nicht diesen Behälter leeren, die Oberfläche befreien und versuchen, die grenzenlose Bedeu tung eines totalen Raumes und reines und absolutes Licht zu entdecken?« Später beschäftigte sich Manzoni besonders mit der Unter suchung der philosophischen Implikationen der geraden Linie. Anfang der fünfziger Jahre hatte Fontana durch seine zerschlitzten Leinwände die Linie in das Repertoire der Nach kriegskunst eingeführt, und 1953 hatte Rauschenberg Auto- mobile Tire Print geschaffen. Dennoch sollte Manzoni der rigo roseste Verfechter der Linie werden; sein einziger möglicher Rivale ist der Komponist La Monte Young. Die Linie aus einer zeitlichen Perspektive betrachtend, sagte er, daß »die Linie sich nur in der Länge entwickelt, sie erstreckt sich in die Unend lichkeit; ihre einzige Dimension ist die Zeit«. Ab dem Frühjahr 1959 begann er, auf Blätter und Rollen Papier Linien zu zeich nen, die er Lineas nannte; die Rollen verschloß er oft in Metall zylindern, damit sie unsichtbar blieben. Erfühlte die Linien zeichnungen sowohl im Atelier als auch in der Öffentlichkeit aus. Am 4. Juli 1960 schuf er in der Druckerei der dänischen Zeitung Herning Avis seine längste, 7200 Meter lange Linie, die Linea m 7.200, indem er die Spitze einer Flasche Tinte gegen eine große Rolle weißes Papier drückte; nach dieser »Perfor mance« schloß er die Rolle in einen Zinkbehälter ein und stellte diesen in einem Park vor der örtlichen Hemdenfabrik aus. Als Erfassungen der Zeit, die für ihre Herstellung notwendig war, stellen Manzonis Linien Fragmente gemessener, ver siegelter und festgehaltener Existenz dar. In der Ausgabe der dänischen Zeitung Herning Folkeblad vom 6. Juli 1960 weist er auf ihre Beziehung nicht nur zur Zeitlichkeit, sondern auch 35 Paxton, ibid., S. 264.