57 Jeder dieser Verbrennungen, die er im Lauf der nächsten sie ben Jahre aufführte, gab Latham einen besonderen Rahmen; er verbrannte Kunstbücher in der Nähe des British Museums und Gesetzestexte vor dem Gerichtshof. Im Einklang mit Aus sagen von Dine, Metzger, Shiraga und Tinguely antwortete er auf die Frage nach der Bedeutung dieser zerstörerischen Aktio nen: »Es war auf keinen Fall eine Geste der Verachtung für Bücher oder die Literatur. Meine Absicht war, den Leuten den Gedanken einzugeben, daß die kulturelle Grundlage mögli cherweise ausgebrannt ist.«“^ Nach dem Vorbild von Finne- gan ’s Wake von James Joyce wurde Latham immer mehr davon überzeugt, daß das, was er Event-Struktur-TFieorie nannte, ein neues Denkmodeil war, das die »ausgebrannten« intellektu ellen Traditionen des Westens ersetzen würde. 1966 nahm Latham in London am »Destruction in Art Sym posium« teil. Im gleichen Jahr schuf er mit seinen Studenten der St. Martin’s School of Art das gewollt skandalöse Süll and Chew. Er benutzte ein Bibiiotheksexemplar von Clement Greenbergs Art and Culture und ließ die Studenten Seiten des Buchs des formalistischen Kritikers kauen, destillierte die Masse, füllte sie in eine Flasche und versah sie mit der Bezeich nung »Greenbergs Essenz«. Er benutzte diese Demonstration, um auf das Primat des Prozesses vor dem Objekt hinzuwei sen, und setzte dabei seine eigene Tradition fort, die Träger gedruckten Wissens nutzlos zu machen. Als er das Buch in flüssiger Form in die Bibliothek zurückbrachte, wurde er von seinem Lehrposten entlassen. Obwohl Zerstörung ein wesent licher Bestandteil der aktionsorientierten Kunst seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist, ist kein Künstler mit einer derart umfassenden Vorstellung von ihrem Ausmaß so unbe kannt geblieben wie Latham. Wenn Latham ein unverkennbar englischer Künstler war, so war James Lee Byars die Verkörperung des Internationalis mus, der die Nachkriegsperiode kennzeichnete. Byars wuchs in Detroit auf und lebte zwischen 1958 bis 1967 zumeist in Japan, danach wurde er ein Weltkünstler und verbrachte seine Zeit in Los Angeles, New York, Deutschland, Santa Fe, New Mexico und Ägypten, wo er 1996 starb. Als er noch in Kyoto lebte, studierte er bei verschiedenen Meistern des Flandwerks traditionelle japanische Keramik und Papierherstellung. Auf einer seiner Reisen nach New York überredete Byars Dorothy Miller, eine wichtige Kuratorin am Museum of Modern Art, ihn seine großen Papierarbeiten auf der fünfstöckigen Feuertreppe 43 John Latham, ibid., S.80. installieren zu lassen. Diese Performance-Installation war der Beginn von Byars lebenslanger Suche nach Interventionen, an denen seine Objekte wie auch er selbst beteiligt waren. An Byars erster Gruppenaktion im Jahre 1960 nahmen ein hundert Studenten teil, die im Yukawa-Zentrum für Theo retische Physik in Kyoto einen Kreis bildeten und dabei ein hundert Zeilen von Gertrude Stein rezitierten. Zwei Jahre spä ter schuf Byars in Japan »mehrere riesige Performance-Papier arbeiten, die aus vielen Blättern japanischen Flachspapiers bestanden, die durch Papierscharniere verbunden waren. Diese Arbeiten wurden zu festen geometrischen Formen gefaltet und sollten im Rahmen von stilisierten, gestischen Vorführungen gezeigt werden, wobei ein Performer, der Byars sein konnte odereine Person, die er eingeladen hatte, sorgfältig das Papier entfaltete, was oft bis zu einer Stunde dauerte. Obwohl diese Arbeiten als Performance konzipiert waren, wurden sie selten sofort aufgeführt, sondern meistens erst Monate später gezeigt.«'*'* Obwohl es unwahrscheinlich ist, daß Byars Man- zonis Linien vom Vorjahr kannte, ist es angesichts seines Auf enthalts in Kyoto und seiner Beschäftigung mit den visuellen Künsten dieser Stadt wahrscheinlich, daß er von Kanayamas Performanceaktion für die Open-air-Ausstellung der Gutai- Gruppe im Jahre 1956 wußte, bei der der japanische Künst ler Abdrücke seiner Füße auf Hunderten von Metern Papier hinterlassen hatte, das zu einem Band zusammengefügt war. Dennoch hatten Byars Arbeiten nichts vom theatralischen und partizipatorischen Geist, der für Gutai charakteristisch war; stattdessen bezog sich der Künstler auf das Erbe des Zen- Buddhismus und des Noh-Theaters, um eine reduzierte Ak tion zu schaffen, die den kontemplativen Aspekten der tradi tionellen japanischen Performance entsprach. Eine von Byars Arbeiten aus dem Jahre 1962, eine Zeichnung mit den Maßen 30 cm x 60 m, wurde 1963/64 im Shokokuji- Tempel in Kyoto ausgestellt. Auf dieses lange Flachspapier zeichnete Byars mit einem Kohlestift eine einzige Linie, die sich über das ganze Papier erstreckte, faltete es wie ein Akkordeon zusammen, entfaltete es dann wieder und stellte es auf. Indem er das Papier als Performanceobjekt benutzte, verwandelte er Manzonis Linie unendlicher Länge von einem konzeptuel len Objekt explizit in ein performatives. Diese Arbeit stand einer anderen aus dieser Zeit nahe, die im selben Kloster ausge stellt wurde und aus einem 300 Meter langen Stück Papier bestand, das ebenfalls wie ein Akkordeon gefaltet wurde; diese 44 James Elliott, The Perfect Thought: Works by James Lee Byars, Ausst.-Kat., University Art Museum Berkeley 1990, S.75.