99 ausgeschlossen hatte, behielt die Aktion für ihn ihre primäre Bedeutung. Zu jener Zeit, als Bürden Shoot inszenierte, schuf Gina Pane 1971 Escalade non-anesthesiee, ein Stück, das zunächst vor einer kleinen Gruppe von Freunden in ihrem Ate lier und später in einer öffentlichen Galerie vorgeführt wurde. Sie bestieg darin eine Art Leiter, auf deren Sprossen sich kleine Klingen befanden. In Le corps pressenti (1975) hinterließen Ein schnitte, die sie mit einer Rasierklinge zwischen ihren Zehen anbrachte, permanente Blutflecke auf dem Gipsabdruck, auf dem ihre Füße dabei ruhten. Pane erklärte diese nicht-religiösen Sakramente so: »Mein wirkliches Anliegen war, durch diese Wunde, die zum Zeichen wurde, eine Sprache zu konstruieren. Durch diese Wunde habe ich versucht, den Verlust von Ener gie zu vermitteln. Für mich ist körperliches Leid nicht nur ein persönliches Problem, sondern ein sprachliches Problem. Mir selbst Wunden zuzufügen stellte eine zeitliche Geste dar- eine psycho-visuelle Geste, die Spuren hinteriäßt.«™ In Psyche (1974) kniete Pane vor einem Spiegel, schminkte sich aus führlich und fügte dann mit einer Rasierklinge zwei halbkreis förmige Einschnitte direkt unter ihren Augenbrauen hinzu. Die Mißhandlung ihres eigenen Körpers stellte auch eine Ausein andersetzung mit ihrer eigenen Verwundbarkeit und der von Frauen im allgemeinen dar. Ein ähnlicher Gedanke liegt auch in Orlans einzigartiger, lebenslanger Selbstverwandlung zu grunde, die mit Le Baiser de l'Artiste begann und bis heute andauert. Orlan benützt Schmerz, um den Betrachter aus sei ner Betäubung zu lösen, und schafft damit - wie Burdens Shoot - Situationen, die so extrem sind, daß sogar der abgebrühte ste Zuschauer eine Art Mitleid und Mitschuld empfindet. Ein paar Jahre nach Burdens revolutionärem Shoot inszenierte Marina Abramovic eine Arbeit, die sich mit ihren eigenen Äng sten in bezug auf ihren Körper auseinandersetzte und gleich zeitig demonstrierte, wie ernst ihr ihre Kunst war: Bei der öffent lichen Vorführung von Rhythm 0 (1974) in Neapel trat sie vor ein Publikum und brachte das, was an ihr am sichtbarsten war 79 Gina Pane in: Helena Kontovä, »The Wound as a Sign: An Encounter with Gina Pane», in: Flash Art, 92-93, Oktober-November 1979, S. 36. Gina Pane, Le corps pressenti (Der erahnte Körper, Ausschnitt), 1975. Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien - ihren Körper-, in Gefahr. Auf einem Tisch lagen diverse Instru mente, mit denen Schmerz zugefügt oder Lust bereitet wer den konnte. Dann wurde dem Publikum mitgeteilt, daß die Künstlerin sich für die Dauer von sechs Stunden passiv und willenlos verhalten würde und daß die Zuschauer die In strumente in dieser Zeit nach Belieben benutzen konnten. Abra movic hatte diese Nervenprobe zeitlich begrenzt, eine Strategie ä la Gage, derer sich viele Performance-Künstler bedienten, um einem nonlinearen Event Anfang und Ende zu verleihen. Was in den ersten drei Stunden noch relativ harmlos begann - die Zuschauer bewegten die Künstlerin hin und her und berührten sie an intimen Stellen -, artete bald in ein gefähr liches und unkontrollierbares Spektakel aus. Man schnitt ihr die gesamte Kleidung mit Rasierklingen vom Leib, und in der vierten Stunde fügte man ihr mit denselben Klingen Schnitt wunden zu, aus denen Blut gesaugt werden konnte. Als die Zuschauer merkten, daß die Frau sich nicht schützen würde und daß sie offensichtlich Gefahr lief, geschlagen und verge waltigt zu werden, bildete sich eine Gruppe von Beschützern. Als einige Leute schließlich eine geladene Pistole in Abramo- vics Fland und ihren Finger auf den Abzug legten, brach zwi schen dieser Gruppe und den Beschützern der Künstlerin eine Schlägerei aus, während derer sie den rivalisierenden Frak tionen im Publikum völlig ausgeliefert war.“ Bevor Ulay (Uwe F. Laysiepen) 1975 Abramovics Partner und Mitstreiter wurde, hatte auch er sich in emotional und psy chologisch heikle Situationen begeben, in Arbeiten, die mehr 80 Thomas McEvilley, »Marina Abramovic/Ulay Ulay/ Marina Abramovic», in: Artforum, 13,1, September 1983, S. 52.