121 Shinichiro Osaki KÖRPER UND ORT: Japanische Aktionskunst nach 1945 Zeitgenössische Kunst aus Ländern, die nicht dem europäischen oder amerikanischen Kuiturkreis ange hören, hat in den letzten Jahren zunehmend das Interesse der Öffentlichkeit erweckt. Immer mehr Museen zeigen Ausstellungen, deren Schwerpunkt auf asiatischer, afrika nischer oder lateinamerikanischer Kunst liegt, und Kunst zeitschriften berichten mittlerweile regelmäßig über die neuesten Entwicklungen in diesen Gebieten. Wie schon Edward E. Said in seinem Werk Orientalism beschrieb, dienten nicht-euroamerikanische Kulturen in Europa und Amerika bisher jedoch stets als bloßer Spiegel, der die Richtigkeit und Überlegenheit der eigenen Kultur be stätigte, und so sind bei diesem Phänomen gewiß auch politische Gesichtspunkte mit im Spiel. Auch die laufende Ausstellung, die einen internationalen Überblick über die verschiedenen Aspekte der Aktionskunst der Nach kriegszeit bietet, kann sich den Auswirkungen einer solchen Politik nicht entziehen. Die japanische Kunst der Nachkriegszeit, die aus der Aktionskunst hervorging, unterscheidet sich von einem großen Teil der Kunst der Moderne in zweierlei Hinsicht. Zum einen hat sich der Ort ihrer Entstehung von Europa oder Amerika in den Fernen Osten verschoben, zum anderen weicht sie von den formalistischen Konventio nen ab, die den überwiegenden Teil der Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg prägten. Für die Geschichte der modernen Kunst in Japan sind diese beiden Faktoren von entscheidender Bedeutung. Wie neuere Ausstellungen gezeigt haben, ist die japani sche Kunst der Nachkriegszeit weder eine Imitation europäischer oder amerikanischer Strömungen, noch läßt sie sich deren Theorien unterordnen, sondern hat sich nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten entwickelt.'' Es ist interessant, daß die Beziehung zwischen Künstler und Aktion - ein zentrales Thema im künstlerischen Schaffen zahlreicher Gruppen und Künstler der fünfziger und sechziger Jahre - auch in der zeitgenössischen 1 Es gibt eine Reihe neuerer Pubiikationen, die sich systematisch mit der japanischen Kunst der Nachkriegszeit beschäftigen: Dada in Japan: Japanische Avantgarde 1920/1970, Ausst.-Kat., Düsseldorf 1984. Reconstnjctions: Avant-Garde in Japan 1945-65, Ausst.-Kat., Oxford 1985. Japan des Avant-Gardes 1910-1970, Ausst.-Kat., Paris 1986. Japanese Art After 1945: Scream Against the Sky, New York 1994. japanischen Kunst eine wichtige Rolle spielt. Die lang als selbstverständlich hingenommene Vorreiterstellung der amerikanischen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg muß neu überdacht werden; eine Suche nach dem verborge nen Potential der japanischen Kunst der Nachkriegszeit am Beispiel Aktionskunst bedeutet, die Moderne an sich einer grundlegenden Kritik zu unterziehen. So gesehen, muß die japanische Kunst nach 1945 im Zusammenhang mit zwei wichtigen Bewegungen be trachtet werden, deren Ursprung in Osaka bzw. Tokio lag: die Gutai-Kunstvereinigung (Gutai Bijutsu Kyokai, im folgenden als »Gutai« bezeichnet), die 1954 in Ashiya, in der Nähe von Osaka gegründet wurde, und die Künstler gruppen, die aus den »Yomiuri Independant«-Ausstel- lungen, die in den sechziger Jahren im Tokyo Metropoli tan Art Museum stattfanden, hervorgingen. So sehr sich diese Gruppen in bezug auf ihre Aktionen auch ähnelten, so existierte doch nahezu kein Kontakt zwischen den beiden, und die Umstände, die sie zur Aktionskunst führ ten, waren völlig unterschiedlich.2 Obwohl beide Strö mungen bisher oft mit den japanischen Traditionen von Zen, Shintoismus und Ukiyo-e in Verbindung gebracht wurden, muß eine kritische Diskussion ihrer Aktivitäten aus zeitgenössischer Sicht und auf der Basis von Tat sachen erfolgen. Statt Bedeutung und Einzigartigkeit ihrer Aktionen im Licht der Vergangenheit zu betrachten, sollten diese vielmehr in den Kontext der Kunst, die zu dieser Zeit in Europa und Amerika entstand, gestellt werden. Die japanische Niederlage im Zweiten Weltkrieg hinter ließ auch in der japanischen Kunstszene ihre Spuren: Jirö Yoshihara, die später führende Persönlichkeit der Gutai-Gruppe, erinnert sich an diese Zeit: »Obwohl ich solche Bilder malte, dachte ich damals, daß sich in der Kunst irgendetwas, eine völlig neue, bahnbrechende Idee, die vor dem Krieg unvorstellbar gewesen wäre, entwickeln mußte, wie Dada nach dem Ersten Welt- 2 Einige Kontakte bestanden jedoch. Die Gutai-Gruppe stellte 1955 auf der 7. »Yomiuri Independant«-Ausstellung aus, und alle Mit glieder der Gruppe signierten ihre ausgestellten Werke mit »Gutai«. Als die Künstler aus dem Umfeld der »Yomiuri Independant« 1962 auf Einladung der Kyushu-ha nach Kyushu kamen, machte Takumi Kazekura in Osaka Station und besuchte die Gutai Pinakotheca. Sein Angebot, dort spontan eine Aufführung zu improvisieren, wur de abgelehnt. Diese Episode findet sich in der unten aufgeführten Publikation und deutet an, daß der Gutai in den sechziger Jahren für junge Künstler bereits eine Institution war. »Special Issue, Taku mi Kazekura«, in: Kikan 12, Kaicho-sha, 1981, S. 14.