163 Sinne einer narrativen Bedeutungsfolge ein noch legitimerer Erbe der Hinterlassenschaft des Abstrakten Expressionismus als die Pop-art - und dieser auch diametral entgegengesetzt war. Newman und Pollock hatten in ihren Werken einen Grad von gestischer Abstraktion erreicht, der mehr als die von Greenberg favorisierten Bildobjekte Stellas, Nolands und Louis’ den Intentionen jener neuen Generation von Künstlern entsprach, für die Michael Fried in seinem grundsätzlich kriti schen Text »Art and Objecthood« die Bezeichnung »literalist art« gefunden hatte. Während die Künstler der Colourfield- Malerei nur einen Augenblick der Transformation des Bildes zum Objekt im Raum einfroren, damit einen limitierten Aspekt aus diesem entscheidenden Prozeß herausgriffen und in die sem Sinne auch eingeschränkt blieben, definierten die Literalisten das Kunstwerk als ganzheitliche Situation, als räumlich, performativ und konzeptorientiert und konnten damit das umfassende Spektrum der neu eröffneten Möglich keiten voll ausnützen. Die verschiedenen Ansätze von Andre, Flavin, Heizer, Judd, Morris, Nauman, Serra, Smithson, Son- nier, Matta-Clark, Bürden, Acconci oder Graham stehen alle in unmittelbarer Nachfolge des performativen Gestus der Arbeiten von Pollock und repräsentieren den amerikanischen Typus eines Konzepts, welches die Kunst der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nachhaltig geprägt hat und gemeinsam mit der parallel entstehenden europäischen Entwicklung wohl am treffendsten mit dem Begriff einer »konkreten« Kunst beschrieben werden kann. Eine Position, die in der Proionga tion des von den Abstrakten Expressionisten aktualisierten Gestus der Avantgarde das klassische Sein der Kunst als Schein und Repräsentation noch einmal in Frage gestellt hat und, wie Fried richtig schreibt, viel »mehr (ist) als nur eine Epi sode in der Geschichte des Geschmacks«.“ Fried definiert dabei den Wesenskern dieser neuen Dimension der Kunst nicht als singuläre Entwicklung, sondern als den »Ausdruck eines allgemeinen und alles durchdringenden Zustands«, den er einer »Geschichte - beinahe Natur geschichte - der Anschauungsweisen (sensibility)« zuordnet. Dabei kommentiert er die hiervon ihm richtigerweise als revo lutionäre Paradigmenwechsel diagnostizierten Entwick lungen in der bildenden Kunst kritisch. Flusser hingegen, hätte er damals bereits in den Kategorien seiner Theorie der Geste gedacht, wäre vermutlich über die Bestätigung seiner Ge danken begeistert gewesen. Es erweist sich jedoch einmal mehr, daß die Theorie immer der Idee folgt. 9 Michael Fried, »Kunst und Objekthaftigkeit«, in: Minimal Art - eine kritische Retrospektive, hrsg. von Gregor Stemmrich, Dresden - Basei 1995, S. 353. Die tatsächliche Mächtigkeit der von den amerikanischen Abstrakten Expressionisten formulierten neuen Möglichkeiten führte also zu einer Herausforderung, der sich die amerikani schen, aber insbesondere auch die europäischen Künstler stellen mußten. Um die Position der europäischen Kunst ver stehen zu können, muß man sie sowohl in das trans kontinentale Spannungsfeld stellen, als auch in eine Situation der Auseinandersetzung mit den klassischen und durch die Kriegskatastrophen zertrümmerten Avantgarden des frühen Jahrhunderts, Die Moderne und die Avantgarde haben vor allem in jenen Bereichen Europas einen ungeheuren Nieder gang erlebt, deren Gesellschaften Totalitarismus und Faschis mus mit all seinen Begleiterscheinungen wie der Korrumpie- rung des Bildungsbürgertums, der Vertreibung der Intelligenz. Antisemitismus und Genozid, der totalen Unterordnung der Kunst unter die Staatstyrannei und ihre Knebelung hervorge bracht hatten. In Deutschland, Österreich und Italien dauerte es beinahe ein Jahrzehnt, ehe wieder neue, herausfordernde Positionen eingenommen wurden und an Traditionen der Vorkriegszeit angeknüpft werden konnte. Dieser Logik der Geschichte folgend, ist die russische Kunst noch heute stär ker von einer anhaltenden Tendenz zum Exil geprägt als vom Entstehen einer grundsätzlichen Basis im Lande selbst, und in manchen Ländern des ehemaligen Warschauer Paktes - von den neuen Krisenherden Europas am Balkan und man chen ehemaligen Einflußgebieten der UdSSR ganz zu schweigen - ist die Unfreiheit der Kunst noch immer kein Thema öffentlicher Diskussion. In Österreich, einem Land, das im Zentrum eines sich neu for mierenden Europa zwischen transkontinentalen atlantischen Tendenzen und den instabilen Kräften Osteuropas lag und dessen Geschichte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von katastrophaler Diskontinuität bestimmt war, entwickelte sich aus den geistigen Trümmern ein Kunstverständnis, das eher retrospektiv und werterhaltend agierte. Man klammerte sich an die Vergangenheit und wünschte sich in die geschönte kollektive Erinnerung der monarchisch zentralisierten habs burgischen Welt zurück. Es war die Aufgabe der jungen und neuen Kunst der Nachkriegszeit, an jene österreichische Gei stestradition der Wiener Moderne anzuknüpfen, in der die Energien, die um die Jahrhundertwende von der Brüchigkeit der Welt der österreichisch-ungarischen Monarchie wie des gesamten europäischen Mächtegefüges freigesetzt wurden, zu bahnbrechenden Leistungen der Wissenschaften und