Beuys jedoch thematisiert sich nach wie vor die umfassende, gesellschafts- und geopolitische Position des deutschen Expansionismus, allerdings - und dies zu betonen ist wichtig - innerhalb eines Befreiungs- und Versöhnungsmodells. So kann man davon ausgehen, daß hinter der Forderung nach der Synthese östlicher und westlicher Prinzipien als einem der zentralen Gedanken im Werk des deutschen Visionärs die Annahme eines sinnstiftenden und produktiven Prozesses steht und nicht, wie manchmal denunziatorisch vorgebracht wird, das Streben nach Totalität. Vor dem Flintergrund der nunmehrigen politischen Entwicklung Europas, auf die ja auch die hier unternommene Analyse Bezug nimmt, gewinnt die Diskussion um sein Werk gerade wegen der Kritik, die aus dogmatisch-strukturalistischem und marxistischem Blickwin kel oft geübt wurde, wieder an Faszination.“ 1967 wurde Beuys eingeladen, gemeinsam mit dem däni schen Fluxus-Komponisten Henning Christiansen in der Wiener Galerie Nächst St. Stephan die Aktion Eurasienstab zu zeigen. Im Zentrum dieser Aktion stand das gestische Han deln mit dem dafür hergestellten, ursprünglich etwas über drei Meter langen, massiven, schweren Kupferstab in einem von Beuys durch Filz- und Fettwinkel angedeuteten Raum. Der Wiener Eurasienstab ist heute Teil der umfassenden Installa tion des Darmstädter Beuys-Blocks. Um Henning Christian sen in den Ablauf der Aktion und in ihre Symbolik einzuwei hen, fertigte Beuys eine Reihe von Skizzen an, die, ergänzt durch später entstandene, aber sich auf diese Arbeit bezie hende Zeichnungen für das nachträgliche Lesen des Eurasienstabs sehr hilfreich sind. Aus den Skizzen geht die Bedeutung des an einem Ende U-förmig zurückgebogenen Kupferstabes als Vereinigungssymbol hervor. Der dem Eura sienthema zugrundeliegende Prozeß von Vereinigung, Ver söhnung und Auferstehung wird einerseits durch ein skizzier tes Symbol mit der Bezeichnung »new cross« und anderer seits durch die Notiz »Element 3« angedeutet. Beuys skizzierte für Christiansen eine Landkarte Europas und zeichnet an der Stelle der Trennung Deutschlands durch die Mauer mit einer senkrechten Linie ein schon in seiner Aktion Eurasia formuliertes, weit über das innerdeutsche politische Problem hinausreichendes Symbol einer tiefgreifenden Tren nung zwischen westlichen und östlichen Prinzipien. Eine Linie in der Form des Eurasienstabes umschließt den senkrechten Trennungsstrich und vera^eist in weiter Geste über den Blatt 24 Siehe dazu die Diskussion von Benjamin Buchloh, Catherine David und Jean-Frangois Chevrier zum Thema »Joseph Beuys und rand hinaus in Richtung Osten, Eurasia ist der Begriff für jene riesige Landmasse von Westeuropa bis nach China, deren kulturelle und politische Geschichte immer schon verbunden war. Im Blatt links oben skizzierte Beuys die sich aus diesen Gedanken ergebende Möglichkeit einer neuen Kreuzform und spielt mit diesem Versöhnungssymbol auch direkt auf eine die europäische Geschichte bestimmende Auseinandersetzung von Ost- und Westkirche an. Gleichzeitig verweist aber die weit in den Osten hineinreichende Richtung der Linie auf eine von Beuys erhoffte, umfassendere Durchdringung des christ lichen »Westmenschen« mit den Methoden, Erkenntnissen und Dimensionen einer fernöstlichen spirituellen Dimension. Daß der Künstler gerade in seiner Wiener Aktion den Eurasia- gedanken wiederholte und mit dem Eurasienstab ein aus diesem Kontext heraus wesentliches plastisches Werk schuf, hat eine Vielzahl von Gründen. Sicherlich hat dieses Thema generell mit der geopolitischen Lage der Stadt inmitten eines alten, durch das Habsburgerreich nach Osten verweisenden Konzepts von Europa und mit ihrer geschichtlich determinier ten kulturellen Mittlerposition zwischen Ost und West zu tun. Möglicherweise auch mit der damals noch gegebenen Rand lage der Stadt unmittelbar am »Eisernen Vorhang«. Vor allem geht aber der Gedanke der Vereinigung von östlichen und westlichen Prinzipien auf die anthroposophische Lehre des Österreichers Rudolf Steiner zurück, eine ganzheitliche Sicht, mit der Beuys bereits um 1940 in Kontakt kam und die sein gesamtes Schaffen begleitet hat. Es ist faszinierend, wie sehr das Thema der Überwindung der Grenzen zwischen Ost und West bei Beuys visionären Charakter hat, gerade auch in Zusammenhang mit der speziellen politischen Situation des getrennten Deutschland und dessen noch so kurz zurücklie gender, totalitärer Vergangenheit, deren negative Energie stark nach Osten gerichtet war. Das Eurasia-Thema kann sicherlich als einer der Hauptgedanken bezeichnet werden, die dem Gesamtwerk Beuys’ zugrunde liegen. Seine weithin ausstrah lenden Dimensionen wurden nicht nur in den Aktionen Sibi rische Symphonie, 1. Satz (1963) und im Wiener und Antwer- pener Eurasienstab (1967/68) thematisiert, sondern kamen beispielsweise auch in einer dritten frühen und entscheiden den Aktion, nämlich Manresa (1966) vor. Alle diese Arbeiten sind jedenfalls von einem bemerkenswerten Versöhnungs und Befreiungsgestus geprägt, der sich in der Aktion direkt vermittelt und auf die mehr als problematischen politischen der Surrealismus«, in: Politics-Poetics / das Buch zur documenta X, Stuttgart 1997, S. 392-394.