195 lichkeit mit zukunftsweisenden künstlerischen Visionen. Die revolutionär formulierten Kunst- und Werkkonzepte mußten sich in dem Spannungsfeld zwischen der individuell verspür ten Notwendigkeit des Künstlers, die kollektiv verdrängte tragische Wirklichkeit zu bewältigen, und der grundsätzlichen Kritik Adornos an der Kunst entwickeln. Vor dem Hintergrund des Genozids an den Anderen, der der mittel- und osteu ropäischen Kultur entstammte, hatte Adorno ja mit folgen dem, tief pessimistischen Satz der Kunst die Möglichkeit zu einem kollektivem Wirken, das vernünftige Erkenntnis erzeu gen könnte, abgesproohen: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmögiich ward, heute Gedichte zu schreiben.Mit diesem schwerwiegenden Gedanken muß ten sich insbesondere jene Künstler, deren Gesellschaften die Voraussetzungen für solch eine niederschmetternde Kritik geschaffen hatten, auseinandersetzen. Dennoch geht es hier nicht bloß um einen Prozeß des Aufarbeitens und Bewälti- gens. Wir sehen gerade im Gegenteil, wie aus dem Würgen an eben dieser Vergangenheit die Gegenwart kritisch erlebt und ein revolutionärer Blick in zukünftige Entwicklungen mög lich wurde. Auch jener Theorie der Gesten, wie sie Flusser noch kurz vor seinem Unfalltod entwickeln wollte, liegt eine grundsätzlich revoiutionäre Vision zugrunde. Er betont aber auch, daß es für uns heute aus einem allgemeinen Gefühl der Unübersichtlichkeit und des Fiießens extrem schwer gewor den ist, diese Revolution objektiv zu orten und zu benennen. Jedenfalls schließt er auf ihr Vorhandensein aus dem perma nenten Gefühl, sich neu orientieren zu müssen, um überhaupt handiungsfähig zu bleiben. Innerhalb dieser Situation verspürt er die Notwendigkeit des Entwurfs neuer Ansätze und Per spektiven. Die Geschichte von Kunst und Wissenschaft der Moderne und Gegenwart wird so zum Experimentierlabor eines integrativen Modells. Für Flusser ist die Geste ein »Phä nomen unseres aktiven In-der Welt-Seins« - und damit be- 26 Theodor W. Adorno, »Kulturkritik und Gesellschaft«, In: Gesammelte Schritten, Bö. 10, Kulturkritik und Gesellschaft I, Prismen, Frankfurt am Main 1977, S. 30. freiendes, freies und gestaiterisches Handeln als ein kontinu ierlicher, im Labor der Kunst entwickelter Faktor. Diese idealis tische Betonung freien und auf einer selbstreflexiven Basis agierenden Handelns bietet für eine Interpretation der Ent wicklung der Kunst des beinahe vergangenen Jahrhunderts und darüber hinaus einen Parameter, dessen aktivistischer und anthropozentrischer Aspekt vor ailem in den postfaschi stischen und postkommunistischen Gesellschaften formuliert wurde. Tatsächlich ist das 20. Jahrhundert geprägt von der ständigen Auseinandersetzung zwischen der Forderung nach der Frei heit des Denkens und der Entgrenzung totalitärer politischer und technologischer Denksysteme, die furchtbarste und unvorstellbarste Folgen nach sich zog. Durch die Entwicklung des Gestus als performative Intervention in das Kunstwerk als autonomes Konstrukt hat die Moderne in ihren avantgardisti schen Vorstößen einen Modellmechanismus geschaffen, der über ein Potential permanenter Befreiung und Emanzipation verfügt.