I 204 Lygia Clark, Respire comigo (Atme mit mir), 1966. Projeto Heiio Oiticica/Lygia Clark Estate, Rio de Janeiro späteren Werken verfeinert und ausgeweitet und erhielt eine größere soziale Bedeutung. Befreiungsstrategien Nachdem wir untersucht haben, wie das Performance- Element einige althergebrachte Gattungen der bildenden Kunst transformiert hat, können wir uns nun den weiterge henden Betreiungstendenzen der sechziger Jahre widmen. Auch wenn es den Anschein hat, als würden wir hier ein glo bales Phänomen auf den spezifischen geographischen Rahmen dieses Essays verengen, so glaube ich doch, daß Lateinamerika einen vitalen Kern dieser Bewegungen dar stellt. Auf gar keinen Fall kann es lediglich als ein Ort gesehen werden, von dem einige Beiträge kamen, und noch weniger als ein »Außenposten«. Einige der Werte, die für die befreien den Auswirkungen dieser Bewegungen im Hinblick auf die weltweiten Probleme der zeitgenössischen Kultur so grundle gend waren, wurden hier entwickelt. Dies hat mehrere Gründe, von denen einer möglicherweise das kraftspendende Potential der Widersprüche selbst ist, die diesen Problemen zugrundelagen: das Streben nach einem paradiesischen »Traum vom Glück« trotz autoritärer Unterdrückung; der Glauben an die Kunst als eine Macht der kulturellen Emanzipation trotz der Tatsache, daß ihre Schöpfung, ihr Überleben und ihr Fortbestand dauernden Gefährdungen ausgesetzt sind; eine Vision von der Sensibilität und dem Gleichgewicht des Körpers trotz Hunger und Mißbrauch. Natürlich hängt vieles von der visionären Kraft bestimmter ein zelner Künstler ab, doch man hat das Gefühl, daß genau diese Kraft auch durch die Existenz einer allgemeinen Energie und Kreativität inspiriert und belebt wurde, von der die Künstler auf verschiedene Weise Zeugnis ablegten. Ich war immer über zeugt, daß die Kunst der sechziger Jahre in Lateinamerika, insbesondere in Brasilien, einige Gemeinsamkeiten mit der sowjetischen Avantgarde der Zwanziger besaß: formale Innovationen, die zu einer weitreichenden gesellschaftlichen Vision führten, »experimentelle Freiheitsübungen«' (Mario Pedrosa). Während der Motor der sowjetischen Vision die Maschine und ihre Technologie waren (gemildert durch Tatlins spätere Umwertungen), war es in Brasilien der Körper.’“ Der Körper war der Bezugspunkt, von dem aus die traditionellen künstlerischen Strukturen und insbesondere das Wesen des Objekts und die Beziehung zwischen Künstler, Werk und Zuschauer revolutioniert wurden. Und wegen Brasiliens histo rischer afro-euro-americo-indischer »Volkskuitur des Kör pers« nahmen die Experimente in Brasilien jene Partizipa tionsformen an, die sie von allen anderen unterscheiden. Die außerordentlich fruchtbaren Werke und Konzepte von Lygia Clark und Heiio Oiticica bringen viele Implikationen für eine zukünftige Wechselbeziehung zwischen Kunst und Leben mit sich. Beinahe möchte man die Vitalität ihres Werkes durch die Einfachheit und Sparsamkeit ihrer Projekte charak terisieren. Man nehme als Beispiel Clarks Luft & Stein (das sich tatsächlich nehmen läßt, da es kein Kunstobjekt, sondern ein Vorschlag ist: Blase einfach einen simplen Plastiksack auf, versiegle ihn, plaziere den Stein in eine Ecke und presse den Sack zwischen deinen Händen zusammen). Das Wechselspiel zwischen solider Masse und leerem Raum, Gewicht und Leichtigkeit faßt die gesamte Geschichte der Biidhauerei in sich zusammen, und doch gleicht das Objekt einem Körper, der zwischen unseren Händen atmet und von unseren Gesten gehalten wird. »Wir sind die Form: der Atem in der Form ist deiner: die Bedeutung unserer Existenz.«’“ Clark, Oiticica und Lygia Pape gingen aus der fruchtbaren neo-konkreten Bewegung Brasiliens hervor (1959-1961). Diese Künstler assimilierten die europäische abstrakte und konkrete Kunst (insbesondere die Beispiele Mondrian und Malewitsch) in höchst kreativer und kritischer Weise. Mir erschien es immer bezeichnend, daß das Ausgehen von so strengen Formen - die Befreiung von repräsentativem Illusio nismus, traditionellem Symbolismus und naturalistischer Farbgebung - die Grundlage ihrer späteren Experimente war. Die Transformation des Konkretismus unter den Be dingungen, die in Brasilien herrschten, ist ein faszinierendes Phänomen. In einem kühnen, doch logischen Prozeß enthüllte Lygia Clark das »Organische« innerhalb der Schemata geo metrischer Abstraktion. Sie verstand, wie Oiticica und Pape, die Tabula rasa der Abstraktion als Einladung, körperlich in sie einzutauchen. Nachdem sie die idealistische Konstruktion von Fläche als Projektion unserer »Poetik« außerhalb unserer 12 Siehe z. B. das Neo-konkrete Manifest (1959), zu dessen 13 Lygia Clark, zitiert in: Paulo Herkenhoff, »Having Europe for Unterzeichnern Lygia Clark, Heiio Oiticica und Lygia Pape gehör- Lunch«, in: Poliester (USA-Mexico), 8, S. 14. ten: »Wenn wir nach einem Äquivalent zum Kunstwerk suchen, so werden wir es nicht in der Maschine oder im Objekt als solchem finden, sondern... im lebenden Organismus.« Das Manifest ist auf englisch in Dawn Ades u.a., Art in Latin America: The Modern Period, London 1989, auf S. 335 abgedruckt.