218 Roberto Evangelista, aus Mater Dolorosa, In Memoriam II, 1979 packter Güter, wie man sie in einem Lagerhaus findet. Diese Verpackungen enthielten in Wirklichkeit 126.000 Schachteln Streichhölzer der bekannten brasilianischen Marke Flat Lux (Es werde Licht). Die biblischen Anspielungen setzten sich durch die Spiegel an den Wänden fort, die mit Worten Christi bedruckt waren. Auf dem Boden rieben sich die Füße der Zu schauer und der Darsteller an Schmirgelpapier, wie es auf den Seiten der Streichholzschachteln klebt. Trotz der Vermeidung jeglicher militanten Haltung und der listigen Verwendung des Duchampschen Ready-Made konnte Meireles’ Arbeit nur mit Mühe öffentlich aufgeführt werden; sie wurde zweimal abge sagt und entfernt, bevor sie schließlich 1979 24 Stunden lang stattfinden konnte. In dieser Arbeit ging Meireles, wie ich glaube, über eine Denunziation der politischen Autoritäten hin aus, um eine brillante künstlerische Allegorie zu schaffen. Sie ist in ihren Performance-Aspekten ebenso wirkungsvoll (die bedrückende Gegenwart der »schweren Jungs«, die bis ins kleinste Detail echt aussehen) wie in ihrer VenA/endung der Objekte, im Zentrum der Versprechungen Christi an die Erniedrigten und Entrechteten, daß die Erde eines Tages ihnen gehören würde (die sich über unser eigenes Spiegelbild legen), befindet sich ein gewaltiger Kern aus latenter Energie und Licht, nervös bewacht von Beamten, deren Füße ihn in Sekundenschnelle in Brand setzen könnten. Die Streichhölzer können sowohl als die von den Reichen und Mächtigen unter drückte Energie des Volkes verstanden werden wie auch als das Werk des Künstlers. Kann beides in Brasilien leben und gedeihen? Das »bewachte« Szenario stellte wachsam diese Frage, die so viele Mitglieder der Avantgarde der Sechziger motivierte. Eine Antwort sollten wir nicht erwarten, außer auf einer weiteren Ebene der Allegorie. Der Würfel könnte sich plötzlich verändern. Wie Ronaldo Brito in seiner Studie über Meireles poetisch schrieb: »Das Werk richtet sich gegen die feste Materie, gegen eine Physik der festen Materie; gegen alles, was Energie, Kommunikation und den Fluß sich wan delnder Aggregatszustände unterdrückt.«* Das Thema des Eintauchens, das einen Großteil der brasilia nischen Kunst dieser Periode durchzieht, ist besonders deutlich in Roberto Evangelistas Werk, Evangelista wurde in Manaus am Amazonas geboren und erzogen, wo er auch lebt und arbeitet. Wie viele andere, in verschiedenen Teilen Brasiliens lebende Künstler beschäftigte er sich während seiner Laufbahn vorwiegend mit Umweltfragen, die für ihn eine intensive Auseinandersetzung mit seiner konkreten Umgebung bedeuteten: mit einem bestimmten Ort, seiner Geschichte, den Menschen und der Fragestellung, wie sich der Diskurs der internationalen Avantgarde mit seinem eige nen Wissen über die lange Geschichte der Plünderung des Amazonasgebietes durch Fremde »infizieren« ließe. In Arbeiten wie Mater Dolorosa waren die Wasser des Rio Negro sowohl »Stütze« als auch »Medium'«: eine Oberfläche zur Bewegung alltäglicher, lokaltypischer Gegenstände (wie Kürbisflaschen und Bambus) und eine Metapher für die Wirklichkeit, in die man gemeinsam mit seinen Mitmenschen eintaucht. Die lyrischen Sequenzen in Mater Dolorosa enden plötzlich in einem verwirrenden, einprägsamen Bild. Mehrere Menschen erscheinen in mittlerer Entfernung im Wasser, ihre Köpfe tauchen zwischen den Kürbisflaschen auf und bilden eine Gruppe (der Künstler ist unter ihnen), aus der verzweifelte Schreie aufsteigen, Schreie wie in Todesangst, die aber auch als Überlebensschreie gedeutet werden können. Ebenso kann auch Evangelistas Metapher des Eintauchens auf zwei Arten verstanden werden: als Untergang, als Schiffbruch eines Landes und einer Kultur (in einem 1970 geschriebenen Text nannte Oiticica ganz Brasilien ein »untergehendes Land««) und zugleich als das Eintauchen des Künstlers mit seinem ganzen Körper in den Raum seines Werkes, in seine konkrete Umgebung und in das Volk. Zwischen 1973 und 1980 schuf Carlos Leppe in einer intensi ven Reihe von Performances - anscheinend den ersten in Chile - eine Art experimenteller Zelle, in der die allgemeine Physiognomie der offiziellen Ordnung durch die Darstellung 36 Ronaldo Brito, »Frequenzia Imodulada««, in: Cildo Meireles, Rio de Janeiro 1981, S. 8.