231 Marina Ambrovic und Ulay, Relation in Time (Beziehung in der Zeit), 1977 der die Aktion und ihr Objekt in ihrer gesamten Dimen- sionalität hervorbringt; und das Objekt lenkt unsere Aufmerk samkeit auf den Zwischenraum, der zugleich der Ort dieser Differenz ist. Sicher erlauben uns Aktionen in der Kunst, Objekte zu schätzen, ja sogar hochzuschätzen, und doch gilt es noch etwas sehr viel Signifikanteres an der Aktionskunst zu begreifen. Wittgensteins Beispiel verlangt, daß wir auf das achten, was übrig bleibt, nachdem wir die Tatsache, daß ein Kunstobjekt existiert, von der Tatsache, daß eine Aktion die ses Objekt hervorgebracht hat, abgezogen haben; darin liegt das oberste Ziel der Aktionskunst. M.M. Bakhtin versuchte, die »Differenz zwischen dem, was jetzt ist, und dem, was nach-jetzt ist«, zu verstehen und über legte, welche Art von Verbindung diese Differenz wohl über brücken könnte. Hierzu schreibt Michael Holquist; Bakhtin (suchte) die reine Qualität des Geschehens im Leben, bevor das Magma einer solchen Erfahrung abkühlt und zu Theorien aus vulkanischem Gestein erstarrt, oder davon berichtet, was geschehen ist. Und genau wie sich Lava von dem Gestein, zu dem sie wird, unterscheidet, so unterscheiden sich auch die beiden Zustände der erlebten Erfahrung auf der einen Seite und der Systeme zur Erfassung solcher Erfahrungen auf der anderen grundlegend voneinander.'* Die Objekte, die ’>aus Aktionen« hervorgehen, sind etwas anderes als die Aktion selbst. Aber selbst wenn sich Lava von dem Gestein, zu dem sie wird, unterscheidet, ist sie doch auch das, was sie einst war. In dieser Hinsicht verlängern die Objekte, die in einer Aktion eingesetzt wurden oder zu Relik ten einer Aktion geworden sind, die implizite Temporalität, die im Jetzt erlebt wurde, über das Jetzt hinaus zum Nach-Jetzt. Auf diese Weise integriert George Brecht in seinen eleganten und sparsamen Partituren für Events Aktion häufig als Maßeinheit, die verschiedene physikalische Zustände mit einander verbindet. Three Aqueous Events (1961) ice water steam Wenn jemand eine von Brechts »Event-Partituren« aufführt, so kann er/sie die Partitur in jeder beliebigen Art und Weise ins zenieren, die Botschaft lediglich konzeptuell auffassen oder sie gänzlich ignorieren. Bereits diese Auswahl läßt erkennen. daß die Zahl der Antworten und Handlungen, die man sich vorstelien könnte, um Eis, Wasser oder Dampf umzusetzen - sei es, um ihre Eigenschaften vorzuführen, sie zu verwenden, zu vertauschen etc. - endlos ist. In Three Aqueous Events wird die Aktion des Künstlers eingesetzt, um vom Ergebnis der Divergenz von Handlungen zu künden, die gemeinsam auf die gleichzeitige Existenz von Differenz in einem Element verweisen. Was ich sagen will, ist, daß die Objekte, die aus Aktionen hervorgehen, beschreiben, inwieweit das, was jetzt ist, auch mit dem verbunden ist, was nach jetzt kommt, so wie auch die Zukunft all das miteinschließt, woraus die Vergangen heit besteht, und was von der Gegenwart als der derzei tige, wenngleich simultane, transitorische Ort zwischen den Zuständen manifestiert wird. Der einzigartige Wert der Aktionskunst besteht darin, daß sie diese Art von Verbundenheit zum Ausdruck bringt. Das bedeutet je doch nicht, daß Aktionen dadurch ihres eigenen Kunst werkcharakters beraubt werden; schließlich ist es eine ästhe tische Dimension, auf die diese Objekte hinweisen. So sorg fältig Kunstwerke auch interpretiert wurden - ob in intentio naler, ikonographischer, ikonologischer, semiotischer, sozial geschichtlicher oder rezeptionshistorischer Hinsicht - dieses Phänomen wurde und wird völlig außer acht gelassen. Aktion ist eine Wahrheit der Kunst. Die Prozesse, die bei der Herstellung von Dingen zum Tragen kommen, wurden völlig vernachlässigt, selbstverständlich mit Ausnahme von kunst historischen Fragestellungen und Fragen nach der materiel len Machart von Dingen {wie war dieser Kupferstich ent standen, oder wie funktionierte das antike Verfahren der »Wachsmalerei“). Diese Elision ist um so bemerkenswerter, als die marxistische Kunstgeschichte Arbeit gewissenhaft sowohl in bezug auf die Bedingungen, in denen Kunst pro duziert wird, als auch auf die künstlerische Darstellung von Menschen bei der Arbeit betrachtet. So wichtig diese Betrachtungsweisen und Interpretationsansätze auch gewesen sein mögen, der Kunstwerkcharakter des künst lerischen Handelns jedoch, dieser initialen Modalität, von der ausgehend sich die gesamte Kunst- und Ästhetikgeschichte entfaltet, wurde übersehen und blieb so lange unbeachtet, bis die Künstler ihr Interesse auf die Aktion konzentrierten. Künstler, die Aktionen als Kunst produzieren, haben uns gelehrt, daß der Kunstwerkcharakter nur ein Index für Kunst 9 Michael Holquist, »Foreword«, zu: M.M. Bakhtin, Towarda Philosophy of the Act, Übers, und Anmerk, von Vadim Liapunov, hrsg. von Michael Holquist und Vadim Liapunov, Austin 1993.