244 Raphael Montanez Ortiz, Piano Destruction Concert (Klavierzerstörungskonzert), 1966. Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers rigende und selbstzerstörerische Bilderwelt, die häufig in Frauenaktionen vorkommt, veranschaulichen. Gewagte, exzessive Ausdrucksformen von Wut, aber auch Dar stellungen, in denen man sich selbst zum Opfer macht, sich selbst erneut als Opfer definiert oder andere opfert, sind stän dige Visualisierungen von Tropen der Pein und des Leids, wie auch Wimmern, Schluchzen und ähnliche Schmerzenslaute oder irrationale Ausbrüche in unberechenbares Gelächter und so weiter.^ So erklärte McCarthy beispielsweise, er könne »sich eine Stunde lang im Kreis drehen, und dann würde etwas geschehen«. Durch Wiederholung erzeugt die Aktion einen Impuls, der es dem Künstler ermöglicht, einen bestimm ten Bewußtseinszustand zu erreichen, der der inneren Erfahrung zu körperlichem Ausdruck verhütt, selbst wenn sie der Sprache beraubt ist. Ein Trauma kann genausogut durch Gewalt ausgedrückt wer den, wie in McCarthys Whippinga Wall with Pa/nf (1974), einer Aktion, in der der Künstler eine innere Kraft (Wut? eine noch unartikulierte Macht? Leid? Schmerz?) gegen eine riesige Schaufensterscheibe und quer durch den Raum auf die Wände, Säulen und den Boden entlud, auf die er allesamt mit einem farbgetränkten Laken einschlug (einpeitschte?) und dabei 30 bis 40 Minuten lang die Farbe gegen das Fenster klatschte. Dieser Akt ist mit einem explosiven Potential auf geladen, mit einer Gewalt, die unendlich beängstigender ist als McCarthys Metaphern für Körperflüssigkeiten, die er aus so viszeralen und kitschigen Materialien wie Ketchup und Mayonnaise herstellt. Dennoch verfügen auch diese Materia lien über dissoziative Qualitäten, da McCarthy Würzmittel ver wendet, die einen entfernten Bezug zu den »richtigen« Nahrungsmitteln haben, die sie aufwerten sollen, und deren Abwesenheit sie symbolisch vertreten. Die Konstruktion von Gewalt in McCarthys Arbeit erweckt in der Erinnerung das Gespenst einer tatsächlichen Erfahrung zu neuem Leben - einer Erfahrung, die sich der Sprache nicht erschließt, in kraft vollen, beunruhigenden und bewegenden Aktionen jedoch präsent ist; bewegend waren die Aktionen deswegen ge wesen, weil sie von abgrundtiefer Verkommenheit handeln.=^^ Die Aktionen von McCarthy und Duncan erinnern an die Wiener Aktionisten - Günter Brus, Otto Mühl, Fiermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. Einer der weniger bekannten Meilensteine der Aktionskunst jedoch, der McCarthy und Duncan ebenfalls verpflichtet sind, ist die Performance Self- Destnjciion (1966), die Raphael Montanez Ortiz im Londoner Mercury Theater aufgeführt hat. Vor der Aktion brachte Ortiz an dem Anzug, den er trug - dem typischen Anzug eines Mittelklasse-Geschäftsmanns - so gezielt Schnitte an, daß er ihn sich mit Leichtigkeit vom Leib reißen konnte. Dann betrat er den Raum, der bereits mit Milchflaschen, einer großen Spielzeugente aus Gummi, einer Windel und einer großen Dose Babypuder ausgestattet war. Während er von hinten auf die Bühne kam, rief Ortiz leise: »Mutter, Mutter, ich bin zu Elause; Ralphie ist hier; dein Sohn ist hier.« Als seine Mutter nicht erschien, begann der Künstler immer wütender nach ihr zu rufen, bis er schließlich schrie. Schließlich erklärte Ortiz seinen Auftritt: Ich habe mich hingesetzt und die Milch gesoffen, und ich kann kaum mehr atmen. Ich greife mir noch eine Flasche. Ich saufe sie aus und kleckere mich ganz voll: da ist Mammis Präsenz, genau dort in all der Milch. Ich wende wieder richtig hysterisch und muß kotzen. Ich erbreche Mammi. Ich kotze, erst spontan, dann absichtlich, indem ich mir den Finger in den Elals stecke und etwa einen Liter Milch erbreche. Dann schlage ich wütend in die Rütze mit dem Erbrochenem und rufe dabei immer wie der, »Mammi, Mammi«. Schließlich akzeptiere ich die Milchpfütze als Symbol für Mammi und beruhige mich. Ich krabbele davon. »Mammi, ma, ma.,.«^® Vier Jahre nach Ortiz’ Londoner Selbstzerstörungsaktion ver öffentlichte Arthur Janov, Psychologe und Sozialarbeiter in der 34 Siehe zum Beispiel Robert Jay Litton, »From Hiroshima to the Nazi Doctors: The Evolution of Psychoformative Approaches to Understanding Traumatic Stress Syndromes«, in: International Handbook of Traumatic Stress Syndromes, hrsg. von John P. Wilson und Beverley Raphael, New York - London 1993, S. 11-13. Wiederholungen wie das zwanghafte Schreiben von Zahlen oder Buchstaben - wie beispielsweise im Fall der deut schen Conceptual art-Künstlerin Hanne Darboven - sind ebenfalls Zeichen eines Traumas. 35 Kristine Stiles im Gespräch mit Paul McCarthy, in: Paul McCarthy, London 1996, S. 6-29. 36 Ortiz' Zitate sind, sofern nicht anders angegeben, Gesprächen der Autorin mit dem Künstler seit 1982 entnommen. Siehe auch mein Buch Rafael Montanez Ortiz: Years of the Warrior 1960, Years ofthe Psyche 1988, New York 1988.