Mark Boyle und Joan Hills, Son et Lumere: Bodily Fluids and Functions (Ton- und Lichtshow: Flüssigkeiten und Funktionen des Körpers), 1966 erwachte, als sie ein Dia aus Versehen zu lange im Projektor ließen und es verbrannte. Fasziniert von dem Potential des einzigartigen Bildes, integrierten sie destruktive Elemente In ihre Arbeit Suddenly Last Supper (1963), ein Event, das in der Londoner Wohnung des Künstlerpaares stattfand. Sie hatten Gäste zu einer Party eingeladen und führten sie irgendwann im Laufe des Abends in einen völlig abgedunkelten Raum. Flills projizierte einen Film aus wahllosen Bildern auf weiß angemalte Mannequins, während Boyle Dias - die er gleich zeitig mit Säure verätzte oder anzündete - auf eine als Leinwand dienende weiße Papierfläche projizierte. Zu einem bestimmten Zeitpunkt malte ein Assistent die weiße Leinwand schwarz an. Dann riß er das schwarze Papier herunter, und zum Vorschein kam eine weitere weiße Leinwand, auf die Boyle ein Bild von Botticellis Geburt der Venus projizierte. Anschließend wurde die Leinwand in Stücke geschnitten und das Bild auf den nackten Körper einer Frau hinter der Leinwand projiziert, die exakt die gleiche Pose innehatte wie Botticellis Venus. Die nackte Frau war jedoch erst in dem Moment zu sehen, als Boyle das Dia der Geburt der Venus anzündete. Der Körper der Frau wurde schwarz angemalt (als Leinwand zerstört), während Boyle weiterhin Dias auf eine dritte Leinwand hinter ihr projizierte. Nachdem auch die letzte Leinwand zerstört war, begann eine Gruppe weiß gekleideter Schauspieler vor dem Hintergrund einer schwarzen Wand, auf die weiterhin Filme projiziert wurden, Pantomime zu spielen. Während der Pantomime schafften Boyle und Hills ihre Kinder und ihr Hab und Gut aus der Wohnung, aus der sie aufgrund einer Räumungsklage ausziehen mußten. Als das Event vor- rüber war, entdeckte das Publikum, daß die aufeinander folgenden schwarzweißen Schöpfungs/Zerstörungs-Transfor mationen aus der Performance-Illusion in Wirklichkeit in einer leergeräumten Wohnung stattgefunden hatten. Boyle und Hills entwickelten ihre Projektionstechniken weiter und realisierten für DIAS ihre drei Aspekten der Natur gewid mete Reihe Son et Lumiere: Eine Performance beschäftigte sich mit den Elementen Feuer, Wasser, Luft und Erde, eine mit Insekten, Reptilien und Wassertieren, und eine mit Körper flüssigkeiten und -funktionen. In die Arbeit mit dem simplen Titel Presentation waren Projektionen mikroskopischen Lebens integriert. Aber irgend etwas lief schief, und das 129 Ich weiß nicht, ob Ulrike Rosenbach Suddenly Last Supper von Boyle und Hills kannte, als sie 1976 ihre erstaunlich ähnliche Performance Reflections on the Birth of Venus aufführte. Publikum wurde mit dem tatsächlichen Tod und der realen Vernichtung einiger Insekten konfrontiert. Irgendwann im Laufe der Performance wurden Wespen auf eine riesige Leinwand projiziert, was ihnen eine Länge von etwa zwei Metern verlieh. Die Tiere befanden sich in einem eigens dafür gebauten Gefäß, das sie mit Hilfe einer Wasserkühlung gegen die Hitze der Projektorlampe schützte. Plötzlich jedoch leckte das Kühlsystem, und Wasser drang in die Kammer mit den Wespen ein. Als der Wasserspiegel stieg, versuchten die Insekten verzweifelt, an die rettende Oberfläche zu gelangen, und kämpften dabei wütend miteinander. Ihr Todeskampf und der gesamte Prozeß des Ertrinkens waren in riesiger Vergrößerung auf der Leinwand zu sehen. Es war ein schreckliches Schauspiel. Viele Zuschauer verließen ent setzt den Raum, andere schrien, man solle den Projektor abschalten. Vielleicht noch eindringlicher als die DIAS-Performance war die Son et Lum/ere-Aufführung, die sich mit Körperflüssig keiten und -funktionen beschäftigte und 1966 in Liverpool und später im Roundhouse in London gezeigt wurde. Eine elektri sierende Performance daraus gab Boyle wie folgt wieder: In der Spermasequenz hatte ein mit EKG (Elektrokardio gramm) und EEG (Elektroenzephalogramm) verkabeltes Paar Geschlechtsverkehr [verborgen hinter einem Wandschirm], während die Oszillogramme von EKG und EEG auf einen angeschlossenen Fernseher übertragen und mit einem Eidophorprojektor auf eine riesige Lein wand hinter dem Paar projiziert wurden. So konnten ihr Herzschlag und ihre Hirnströme unmittelbar verfolgt wer den... Sämtliche Anwesenden schienen die Erfahrung sehr bewegend zu finden. Der Schmutz und die Aura des Verbotenen, das Heimliche und das Heilige waren wie weggefegt. Vorausgesetzt, die Beteiligten handeln freiwil lig, sind alle sexuellen Ausdruoksformen für mich etwas Wunderbares, und von da an wußte ich, daß es keine Rolle spielt, ob Leute schuldig, lasziv, rein, pervers oder promisk sind, der Mechanismus, der sie antreibt, ist unglaublich komplex und absolut faszinierend.'^’ Bis 1967 hatte das Künstlerpaar seine Projektionstechniken perfektioniert und produzierte unglaubliche Light-Shows für 130 J. L. Locher, Mark Boyle's Journey to the Surface of the Earth, Stuttgart - London 1978, S. 68. 131 Ibid., S. 72-73.