304 Petr Stembera, Der Weg, 1977 und Fü3en an einem Nylonseil in einem großen Dachboden aufhängen ließ, die Augen mit einem schwarzen Schai ver bunden und die Ohren mit Wachs zugestopft. Vielleicht kann die Aktion, die Petr Stembera am 5. September 1977 in der Galerie Repassage in Warschau durchführte, veranschauli chen, was es hieß, als tickende Zeitbombe zu leben: Mit auf den Rücken gefesselten Händen zog sich Stem bera auf dem Bauch entlang zweier Linien aus schwarzem und weißem Pulver, von denen je eine für jedes Bein bestimmt war, über den Fußboden. Mühsam versuchte er, das Ende dieser Linien zu erreichen, aber während er vor wärtsrobbte, goß ein Assistent Säure auf die Schnüre, die er an seinen nackten Füßen hinter sich herzog. Die Säure fraß die Schnüre langsam auf, so daß, wie bei einer gezün deten Zündschnur, die Säurespritzer seinen nackten, mit den Sohlen nach oben gedrehten Füßen immer näher kamen. Würde er es schaffen, das Ende der Pulverlinien zu erreichen, bevor die Säure die Schnüre an seinen Füßen wegätzte? im selben Jahr, 1978, balancierte er sein Kinn auf einer dünnen Glasscheibe und schob diese so überden Boden.’'’’ MIcoch war bis zu dem Zeitpunkt, als er Stemberas Aktionen miterlebte, nicht künstlerisch tätig gewesen. »In den frühen Siebzigern, nach der sowjetischen Besatzung, fühlten wir uns, als »fielen wir durch die Zeit«, und ich hatte das Bedürfnis, in unserer formlosen Gegenwart einige Fixpunkte für mich selbst zu schaffen«, erklärte MIcoch.”'® Stembera und MIcoch leg ten den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die für sie entschei denden Elemente »physische Präsenz« und »Selbsterkennt nis«. Sie machten Kunst, mit der sie aus einer persönlichen Dringlichkeit auf ihre Notsituation reagierten. Von 1966 an war Stemberas Malstil durch den spanischen Maler Tapies beeinflußt gewesen, nach einem Paris- Aufenthalt während des Prager Frühlings jedoch schlug er eine andere Richtung ein. Zwei Jahre lang arbeitete der Künstler mit seinem eigenen Blut, ein Versuch, »zu entschei den, was zu tun sei«; er machte Yoga und erprobte unter schiedliche asketische Lebensweisen. Diese Unterwerfung unter strenge physische Regeln kann als eine Art persönli ches Ausdauertraining verstanden werden. »Es ist wichtig««, erklärte er mir, »für diese psycho-physische Aggression gewappnet zu sein: gewappnet mit Meditation und Yoga.« Stemberas erste »Körperaktion« von 1971 bestand in einem einfachen Ausflug aufs Land, wo der Künstler »viele schwere Steine«« sammelte, die er mit zurück in die Stadt nahm. Im Jahr 1974 hatten seine Aktionen zunehmend rituellen Charakter angenommen. In Narziß Nr. 1, beispielsweise, einer Aktion, die Stembera im Dezember 1974 durchführte, Stand der Künstler vor seinem Porträt, das auf einem impro visierten, mit Kerzen erleuchteten »Altar« aufgestellt war. Nachdem er das Porträt lange angesehen hatte, kam MIcoch und nahm ihm mit einer Spritze Blut ab. Stembera mischte das Blut mit seinem Urin, ein paar Haaren und seinen abge schnittenen Nägeln, und trank die Mixtur vor dem Altar. Solch eine Aktion erinnert an schamanistische und Voodoo- Praktiken zur Steigerung der eigenen Macht, zur Abwehr böser Geister und ganz allgemein zum Schutz der Seele. In Aufpfropfen, einer Aktion vom April des darauffolgenden Jahres, versuchte Stembera, seinem Körper eine Pflanze aufzupropfen (wobei er sich der üblichen Pfropfmethode der Gärtner bediente und auch deren giftige Pfropfsubstanzen verwendete); hierzu erklärte er, er wolle »in Kontakt mit der Pflanze treten, sie in meinen Körper bringen, so lange wie möglich mit ihr zusammen sein«. Die Verzweiflung, die diese Aktionen eindeutig vermitteln, lag nicht in der Absicht des Künstlers. Stembera glaubte: »Es ist eine Frage der Stellung, die ein Mensch innehat - ist er ein Niemand (wie ich) oder ist er bekannt? Für denjenigen, der bekannt ist, wäre die Aktion eine politische gewesen, nicht so für mich.« Klarerweise verstanden sich Stembera Aktionen nicht in einem öffentlichen Sinn als »politisch«, waren sie doch zum Teil von östlicher Philosophie und Existentialismus beeinflußt (insbesondere vom Werk Gabriel Marcels), was laut Stem bera damals »sehr schick« war. Darüber hinaus las der Künstler auch Literatur über Zen sowie Marshall McLuhans Informationstheorie; er erinnert sich: Die Essenz all dieser Ideen war die Entdeckung des eige nen Körpers, der physischen Erfahrung und der Tatsache, daß man ein physisches Wesen in dieser Welt ist. Ich sollte jedoch betonen, daß keine dieser Studien beson ders tief ging. Mein Interesse galt der Definition meiner 177 Roland Miller, »The Curtain Rises«, in: Variant 12.199, S. 20-21. 178 Jan Micoch, zitiert in Vytvarne Umeni: The Magazine for Contemporary Art, 3/91,1991, S. 77.