306 eigenen Erfahrung, nicht der Assimilierung anderer Systeme. Die eigentliche Form meiner Pertormances hat sich unter dem direktem Einfluß westlicher Kunst ent wickelt. Ich stand damals in relativ engem Kontakt mit Terry Fox, Tom Marioni, Chris Bürden und anderen, und ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was in der Welt los war. Die »Wiener Schule« jedoch mit ihrer per versen Fin-de S/ec/e-Atmosphäre stieß mich ab. (Freud hätte nirgendwo anders leben können.)™ Im April 1975 reiste Tom Marioni nach Prag, um Recherchen für eine wichtige Sondernummer anzustellen, die die Zeit schrift Vision über experimentelle Kunst in Osteuropa plante. Während dieses Aufenthalts schufen Marioni und Stembera Joining, eine Aktion, bei der die beiden Künstler ihre Körper mit Kreisen aus Dosenmilch und Kakao vereinten, die sie mit hungrigen Ameisen bevölkerten; das kreisförmige Muster ver sinnbildlichte ihre Bruderschaft inmitten des Ost-West- Konflikts. Es ist wohl kein Wunder, daß der jugoslawische Künstler Rasa Todosijevic zwischen 1976 und 1978 in Osteuropa mehrere Male Was Ist Kunst aufführte. Mit dem Rücken zum Publikum flüsterte, rief, tobte, schrie, flehte, bettelte oder fragte er in den unterschiedlichsten Tonlagen und Intonationen immer wieder dieselbe Frage in ein Mikrophon: »Was ist Kunst?«. Dabei blickte er auf eine Kulisse, auf der dieselben Worte in fetten Lettern geschrieben standen, und vor der schweigend eine Frau (Marinelia Kozelj) saß, das Gesicht dem Publikum zuge wandt; neben ihr stand ein Mann mit einem schwarzen Tuch über dem Kopf, die Schultern mit einem Seil um den Hals gefesselt. Die Aktion dauerte ungefähr fünfundzwanzig Minuten, bis Todosijevic nicht mehr konnte, und seine tiefe, heisere, kräftige Stimme kaum mehr zu hören war. Es war eine Qual zuzusehen, zuzuhören, teilzunehmen. Denn die Aktion stellte eine Frage, die untrennbar mit den eigenen kulturellen Bedingungen des Künstlers verbunden war - Bedingungen, die den beständigen Drang unterdrückten, die tatsächlichen Erfahrungen des damaligen Lebens authentisch zu visualisie- ren; Künstler wissen, daß Kunst nicht unterdrückt werden kann, ob in der gefräßigen Konsumwelt des Kapitalismus oder unter der zwanghaften Repression des Kommunismus. Während die inszenierte Befragung die Gültigkeit von Kunst an sich in Frage stellte, bestätigten die Zeugin (Kozelj) mit ihrer stummen Antwort und ständigen Präsenz, und der gequälte Mann die Fähigkeit der Kunst und - im weitesten Sinn - der Menschheit, Widerstand zu leisten, sich auseinanderzusetzen und durch die Kräfte der Phantasie weiterzubestehen, jene Kräfte, die keiner Kontrolle unterworfen werden können und die keine andere Disziplin so machtvoll fördert wie die Kunst. Während der Aktion Wassertrinken (28. April 1974) erschien der Künstler mit bloßem Oberkörper und trank mehrere Male Wasser aus einem Aquarium, dessen Bewohner zuvor dem Publikum vor die Füße gekippt worden waren. In dem Versuch, »in Harmonie mit dem Rhythmus der atmenden Fische zu sein«, trank der Künstler sechsundzwanzig Gläser Wasser, während er gleichzeitig atmete, so daß er schließlich die unerträgliche Wassermenge wieder erbrach, die er sich eingeflößt hatte, um die Lebenswelt einer ihm fremden Kreatur nachzuahmen.™ Diese Aktion erinnert auch an Marina Abramovics Rhythmus 0 (1974), bei der die Künstlerin bedrohliche Gegenstände auf einem Tisch auslegte und ver kündete: »Auf dem Tisch seht ihr ein paar Gegenstände, mit denen ihr mich bearbeiten könnt. Ich bin ein Gegenstand.« Diese und eine Reihe anderer Aktionen von Abramovic, Stembera, MIcoch, Todosijevic und anderen osteuropäischen Künstlern wurden damals wie heute als »masochistisch« bezeichnet. Obwohl sie zweifellos die Verkehrung äußerlichen Leids in selbstauferlegten Schmerz zum Ausdruck bringen, wurden sie nicht zur Befriedigung individueller erotischer Gelüste oder Begierden ausgeführt, sondern als lebensnot wendige, interkulturelle Kommunikation zwischen Künstlern, kleinen Gruppen von Individuen, denen der Kontext und die Erfahrungen gemeinsam waren, die metaphorisch dargestellt und metonymisch geteilt wurden. Metonymie drückt einen unkörperlichen oder nicht greifbaren Zustand als körperlich oder greifbar aus, sie verlangt danach, die Verbindung entlang der Achse der Kombination herzustelien, und versetzt uns in die Lage, die Kontiguität von Beziehungen zwischen zwei Dingen wahrzunehmen. Schließt eine solche Verbindung menschliche Beziehungen mit ein, wird sie möglicherweise menschliche Aktionen »auf einen weniger komplexen und in der Regel konkreteren Bereich des Seins reduzieren«.''®^ Diese Eigenschaften sind von besonderer Relevanz für die Funktion 179 Stembera im Gespräch mit Ludvik HIavacek, »vzpominka na akeni umeni 70. let«, in: ibid., S. 66. 180 Rasa Todosijevic, in: Vision, a.a.O., S. 31. 181 Siehe Robert J. Matthews und Wiifried Ver Eecke, »Metaphoric- Metonymie Polarities: A Structurai Anaiysis«, in: Unguistics: An International Review, 67, März 1971, S. 49, zitiert in meiner unveröffentiiehten Dissertation (Anm. 3).