309 Ion Grigorescu, Äme-am, 1977 auf einem großen Baumstamm und schreit, macht einen Stabhochsprung ins Nichts und taucht wieder auf, um den Hals einen Metallkranz geschlungen. Auf einem anderen Selbstporträt ist überden verlängerten Hals des Künstlers ein Bild des berühmten Sarkophags des ägyptischen Königs Tut kopiert. Weitere Photos aus dieser Zeit zeigen Grigorescu, wie er in seiner Wohnung Body art-Aktionen ausführt. Die Zunge (1976) zeigt nur den Mund des Künstlers, der weit aufgerissen wie zu einem Schrei ist. Ein solches Bild auszustellen wäre für die Behörden bereits Grund genug gewesen, Grigorescu über die Motive für seinen »Schrei« auszuhorchen - daher Grigorescus subtile Beschäftigung mit diesem Körperteil (der Zunge und ihrem Unvermögen zu sprechen) anstelle einer direkten Auseinandersetzung mit dem politischen Kontext, in dem eine solche Rede verboten war. Eine Photoreihe ohne Titel zeigt den Künstler, wie er nackt und völlig außer sich in dem winzigen Raum seines Zimmers agiert. Bei diesen Photos ließ Grigorescu die Blende so lange wie möglich offen, während er sich schnell vor der Kamera bewegte. Auf all diesen Photos erscheint Grigorescu vervielfältigt. Sie sind daher nicht nur Selbstporträts des Künstlers, sondern schildern den dissoziierten psychischen Zustand, in dem sich so viele Rumänen befanden, in einer Zeit, in der die Zerrissen heit ihrer nationalen Identität durch die Vernichtung ihrer persönlichen Identität noch verstärkt wurde. Die Amerikanerin Katherine Verdery, Anthropologin und Spezialistin für rumäni sche Kultur, stellte bei den Rumänen eine »soziale Schizo phrenie« fest, die Veranlagung, so Verdery, ein »wirklich sinn- haftes und kohärentes Ich nur mit Bezug auf einen Feind« erleben zu können.™ Weiterhin erklärt sie, daß, obwohl staat liche Gewaltausübung der Prozeß gewesen sei, der die Rumänen am offenkundigsten in den traumatischen Gehor- 184 Katherine Verdery, »Nationalism and the Transition< in Romania«, eine Voriesung, die die Wissenschaftierin am 23. Februar 1993 an der Duke University gehalten hat. Der Begriff »Schizophrenie« wird hier nicht, wie in den Arbeiten von Gilles Deleuze und Felix Guattari, in seiner popularisierten Bedeutung zur Theoretisierung der Postmoderne verwendet, sondern beschreibt im psychoanalytischen Sinne schwer gestörte kogni tive und emotionale Reaktionen, die physiologisch, psycholo gisch und/oder sozial begründet sind. Auf dieser Unterscheidung baut meine Theorie auf, daß Rumänien selbst eine »traumatisierte Kultur« ist. Siehe auch meinen Aufsatz »Shaved Fleads and Marked Bodies: Representations from Cultures of Trauma«, in: Strategie II: Peuples Mediterraneens, 64-65, Paris Juli - Dezember 1993, S. 95-117.