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Ion Grigorescu, Äme-am, 1977
auf einem großen Baumstamm und schreit, macht einen
Stabhochsprung ins Nichts und taucht wieder auf, um den
Hals einen Metallkranz geschlungen. Auf einem anderen
Selbstporträt ist überden verlängerten Hals des Künstlers ein
Bild des berühmten Sarkophags des ägyptischen Königs Tut
kopiert. Weitere Photos aus dieser Zeit zeigen Grigorescu, wie
er in seiner Wohnung Body art-Aktionen ausführt. Die Zunge
(1976) zeigt nur den Mund des Künstlers, der weit aufgerissen
wie zu einem Schrei ist. Ein solches Bild auszustellen wäre für
die Behörden bereits Grund genug gewesen, Grigorescu über
die Motive für seinen »Schrei« auszuhorchen - daher
Grigorescus subtile Beschäftigung mit diesem Körperteil (der
Zunge und ihrem Unvermögen zu sprechen) anstelle einer
direkten Auseinandersetzung mit dem politischen Kontext, in
dem eine solche Rede verboten war. Eine Photoreihe ohne
Titel zeigt den Künstler, wie er nackt und völlig außer sich in
dem winzigen Raum seines Zimmers agiert. Bei diesen
Photos ließ Grigorescu die Blende so lange wie möglich offen,
während er sich schnell vor der Kamera bewegte.
Auf all diesen Photos erscheint Grigorescu vervielfältigt. Sie
sind daher nicht nur Selbstporträts des Künstlers, sondern
schildern den dissoziierten psychischen Zustand, in dem sich
so viele Rumänen befanden, in einer Zeit, in der die Zerrissen
heit ihrer nationalen Identität durch die Vernichtung ihrer
persönlichen Identität noch verstärkt wurde. Die Amerikanerin
Katherine Verdery, Anthropologin und Spezialistin für rumäni
sche Kultur, stellte bei den Rumänen eine »soziale Schizo
phrenie« fest, die Veranlagung, so Verdery, ein »wirklich sinn-
haftes und kohärentes Ich nur mit Bezug auf einen Feind«
erleben zu können.™ Weiterhin erklärt sie, daß, obwohl staat
liche Gewaltausübung der Prozeß gewesen sei, der die
Rumänen am offenkundigsten in den traumatischen Gehor-
184 Katherine Verdery, »Nationalism and the Transition< in
Romania«, eine Voriesung, die die Wissenschaftierin am 23.
Februar 1993 an der Duke University gehalten hat. Der Begriff
»Schizophrenie« wird hier nicht, wie in den Arbeiten von Gilles
Deleuze und Felix Guattari, in seiner popularisierten Bedeutung
zur Theoretisierung der Postmoderne verwendet, sondern
beschreibt im psychoanalytischen Sinne schwer gestörte kogni
tive und emotionale Reaktionen, die physiologisch, psycholo
gisch und/oder sozial begründet sind. Auf dieser
Unterscheidung baut meine Theorie auf, daß Rumänien selbst
eine »traumatisierte Kultur« ist. Siehe auch meinen Aufsatz
»Shaved Fleads and Marked Bodies: Representations from
Cultures of Trauma«, in: Strategie II: Peuples Mediterraneens,
64-65, Paris Juli - Dezember 1993, S. 95-117.