1903 ARCHITEKTONISCHE MONATSHEFTE Heft 8 Wohnhaus in der Schellingstrasse in München. Neue Putzbauten in München. Von Friedrich H. Hofmann. |p|^Ü u f allen Gebieten, die sich in den letzten Jahren moderner Kunstbethätigung erschlossen haben, ist vornehmlich ein Prinzip allenthalben zur Vorherrschaft gelangt, die Forderung der »Materialgerechtigkeit«. Nicht zuletzt im Wirkungskreis der Architektur hat sich die Ansicht Geltung zu verschaffen gewusst, dass alles Unwahre, Falsche eine schwere künstlerische Sünde bedeutet. Und gerade hier war es in dieser Flinsicht allerhöchste Zeit, neue Wege einzu schlagen, neue stilistische Ausdrucksformen aufzusuchen. Denn vor allem bei der Entwickelung eines Fassadengedankens hatte die architektonische Lüge, wenn der Ausdruck gestattet ist, schier ungeheuerliche Dimensionen angenommen, in erster Linie hervorgerufen durch das Bestreben, mit minderwertigen Surrogaten echtes Material vorzutäuschen, speziell durch Stuck dekoration, Gipsornamente und Zinkblechpressungen Hau steinarbeiten nachzuahmen. Es ist ein Irrtum, zu glauben, die Anwendung des Ver putzes an Lassaden sei bereits im Mittelalter in ausgedehntem Masse betrieben worden. Im Gegenteil, überall lässt sich in Gegenden, die durch das Fehlen besseren Steinmaterials zum Bau mit Backsteinen u. s. w. gezwungen worden waren, mit leichter Mühe nach weisen, dass besonders die Kirchen der Gotik fast alle ursprünglich unverputzt gewesen sind. Wo doch einmal Putztechnik angewandt wird, geschieht es ledig lich zu Dekorationszwecken; einzelne Felder werden dann lisenenartig verputzt, andere frei gelassen, um grössere Mauer flächen etwas zu beleben. Die systematische Verwertung von Putzfassaden finden wir in Deutschland eigentlich erst während der Renaissance; in voller Konsequenz hat sich ihrer dann der Barockstil bedient, der neben seinen massigen tektonischen Gliedern auch grosser, einheitlich wirkender Flächen bedurfte und der dann gerade mit Hilfe des Verputzes dekorative Wirkungen erzielte, die der Gotik fremd gewesen sind. Selbstredend trug auch die in Deutschland besonders im 16. Jahrhundert geübte Sitte der Häuserbemalung viel zur Verbreitung der Putzfassaden bei, da man naturgemäss für die Wandmalereien einen sorgfältig präparierten Untergrund benötigte. Wie das 17. und 18. Jahr hundert dann mit der Verputztechnik gewirtschaftet hat, und wie schliesslich selbst in Gegenden mit schönen Haustein brüchen in der Hauptsache nur noch Putzbauten errichtet wurden, sehen wir heute noch täglich an tausend Beispielen. Hat man doch sogar an manchen Orten, so besonders in den kleinen Rokokoresidenzen Süddeutschlands, ältere, aus tadel losen Quadern aufgeführte Gebäude während des 18. Jahr hunderts verputzt und mit einem Farbenanstrich versehen. Das 19. Jahrhundert brachte hier anfänglich insofern eine Besserung, als die klassizistische und ernüchterte Periode der ersten Jahrzehnte überhaupt mit dem Schwulst und dem oft recht hohlen Phrasenkram des Barocko, dem der Stuck ein gar williger Diener gewesen, gründlich aufgeräumt hat. Als dann aber gegen die zweite Hälfte eben dieses Jahr hunderts in Deutschland eine teilweise selbständige Kunstbe thätigung wieder einsetzte und sich allenthalben neues archi tektonisches Leben zu regen begann, da feierte auch die Lassadenverputzung mit allen ihren Auswüchsen wieder neue Triumphe. In den 70er und 80er Jahren, besonders während der heute wieder ziemlich in Misskredit gekommenen Periode der »deutschen Renaissance«, gewann das Verfahren einen bereits heute fast unbegreiflichen Aufschwung. Damals ging man dabei meist so zuwege, dass man die vorher aus Zement gegossenen ornamentalen Schmuckstücke der Lassade einfach anpappte. Bald jedoch machte sich auch hiebei eine Gegenströmung geltend, die den älteren Usus wieder aufgriff, den Stuck bezw. den Verputz an der Wand direkt auftrug und aus dieser Masse dann die Zierglieder herausarbeitete. Diese Gepflogenheit war wohl zuerst in Wien um 1870 eingeführt worden. In München fand sie erst gut zehn Jahre später allmählich Eingang. Eines der ersten hier in diesem Sinne dekorierten Gebäude dürfte wohl der Kaimsaal« gewesen sein. Meist setzte man damals noch aus Kalk und Gips den Verputz zusammen, den dann ein Oelfarbenanstrich gegen Witterungseinflüsse schützte. Reiner Wohnhaus in der Hohenzollern- Entwurf: Professor Martin Dülfer in München. Strasse in München-Schwabing. Ausgeführt von Weipert & Nowotny, Stukkateure daselbst. 49