ÜBER DIE VOLKSTÜMLICHE RICHTUNG IN DER KUNST AMERIKAS Erst vor wenigen Jahren hat man in den Vereinigten Staaten begonnen, sich für das eigentümlich Amerikanische in der Kunst dieses Landes zu interessieren und sich sei ner Bedeutung bewußt zu werden. Bis dahin war bei der Auswahl für Europa bestimmter Ausstellungen der Nachdruck vorwiegend auf die künstlerische Richtung gelegt worden, die sich internationalen Aus drucksformen anschließt und den europäi schen Kunstströmungen verwandt ist. Die jetzige Ausstellung verdankt ihre Ent stehung der besonderen Aufmerksamkeit, die seit kurzem einem Zweig amerikanischer Kunst zuteil wird, dessen Nährboden das amerikanische Leben selber ist, einer Kunst, welche Geschichte, Sitten und Wesensart des amerikanischen Volkes widerspiegelt. Sie soll dem europäischen Publikum einen Querschnitt durch die bodenständige Kunst Amerikas vom 17. Jahrhundert bis zum heutigen Tage bieten. Die hier gezeigten Werke sind Zeugnis einer Tradition, die sich in kraftvoller, kühner Unabhängigkeit entwickelt hat und bis in die Gegenwart lebendig geblieben ist. Mit der Gründung der amerikanischen Kolo nien wurde das Fundament zu einer volks tümlichen Kunst gelegt, die im späten 18. und im frühen 19. Jahrhundert zu hoher Blüte gelangte und die mit der Entwicklung des demokratischen amerikanischen Geistes eng verknüpft ist. Sie kommt einer Unab hängigkeitserklärung der amerikanischen Kunst gleich. Ein jeder fühlte sich frei zu malen, wie es ihm paßte, auch ohne schul mäßige Vorbildung, und ohne sich wegen Rat und Eingebung an das Ausland zu wenden. Mit einem Male entstand da eine Fülle von Werken, durch Menschen aller Volksschichten geschaffen •— Ölbilder, Pa stelle und Aquarelle — auf Holz, Papier, Leinwand, Samt und Bettdrillich gemalt, Volkskunst im eigentlichen Sinne des Wor tes. Sie war nicht für einen kleinen, auser lesenen Kreis von Kunstmäzenen bestimmt, sondern für alle Leute, für die große Masse des amerikanischen Mittelstandes. Diese an spruchslose, „hausbackene“ Kunst hat sich durch das ganze 19. Jahrhundert erhalten; sie hat in der heutigen Zeit einen Gipfel punkt der Beliebtheit erreicht. Die primitive amerikanische Malerei ist keineswegs, wie oft angenommen wird, eine vereinzelte Erscheinung, ein wilder Schöß ling sozusagen, der unerwartet aus einer festgegründeten Kultur entsprossen wäre, sie spiegelt im Gegenteil den Hauptstrom amerikanischen Lebens. Während der „naive“ Henri Rousseau im überzivilisierten, künstlerisch bewußten Frankreich einen Anachronismus darstellt, stach im Amerika der frühen Siedler der- j enige Künstler von seiner Umwelt und seinen Zeitgenossen ab, der sich modischen, aus ländischen Schliff angeeignet hatte. Es be- 8