BLAETTEß UND BLUMEN NACH DEE NATUR. erzeugen, anstatt die Formen der Vergangenheit nachzubilden. Ein Studirender, der von dem in der Natur herrschenden Gesetz der allgemeinen Zweckmässigkeit der Dinge lebhaft durchdrungen ist, der über dies die erstaunliche, obwohl nur auf wenigen unabänderlichen Gesetzen beruhende Mannichfaltigkeit der Form, die verhältnissmässige Abtheilung der Grundflächen, die tangentenförmigen Krümmungen der Linien und die Strahlung vom Mutterstamme beobachtet und gehörig aufgefasst hat, muss sich ja nicht versuchen lassen, irgend einen der Natur entlehnten Typus nachzuahmen, sondern darauf bedacht sein, den von der Natur so deutlich angezeigten Pfad zu verfolgen, dann werden neue Formen unter seinen Händen sich ent falten, m grösserer Fülle als er deren je erzeugen könnte, wenn er in der herrschenden Weise verharrte seine Eingebungen der Gegenwart ausschliesslich aus den Arbeiten der Vergangenheit zu schöpfen. Es bedarf nur des ersten Impulses von Seiten einiger erfinderischen Geister: wenn der Weg einmal eröffnet ist, so wird es an Nachfolgern nicht fehlen, die es sich zur Aufgabe machen werden, ihre gegenseitigen Leistungen zu vervollkommnen und zu verfeinern, bis die Kunst einen neuen Culminationspunkt erreicht hat, um wieder in Verfall und Verwirrung zu gerathen. Für jetzt aber sind wir von diesen zwei äussersten Stufen noch weit genug entfernt. Vir sind vom Wunsche beseelt diese Entwickelung, so weit dies in unserer Kraft steht, zu befördern. V ir haben deshalb in den zehn Tafeln, die diesem Capitel angehängt sind, eine Auswahl von Blättern und Blumen dargestellt, welche gewisse Naturtypen illustriren, die uns am besten geeignet scheinen zur Er kenntnis der in der Natur vorherrschenden Gesetze der Vertheilung der Form zu führen. Diese Gesetze sind übrigens so allgemein, dass sie sich in einem einzelnen Blatte ebenso deutlich äussern, als in Tausen den. Das einzige Beispiel des Kastanienblattes, Tafel XCI., verkündet alle die Gesetze, die man in der Natur beobachtet findet. Die vollkommene Grazie der Form, die verhältnissmässige Abtheilung der Grundflächen, die gehörige Strahlung vom Mutterstamme, die tangentenförmige Krümmung der Linien und die gleichmässige V ertheilung der Decoration der Oberfläche stellen es weit über jede mögliche Leistung der Kunst. So viel wird aus einem einzigen Blatte klar. Wenn wir aber weiter dem Wachsthum der Blätter nachforschen, können wir aus einer Gruppe von Wein- oder Epheublättern ersehen, dass dasselbe Gesetz, welches sich in der Bildung des einzelnen Blattes kund thut, auch in der Bildung der ganzen Gruppe vorherrscht. Gerade wie im Kastanienblatt, Tafel XCI., die Grundfläche einer jeden Abtheilung in gleichem Maasse abnimmt, je näher sie dem Stamme kommt, so ist auch in jeder Combination von Blättern, jedes Blatt in Harmonie mit der ganzen Gruppe; gerade wie im einzelnen Blatte die Grundflächen so voll kommen vertheilt sind, dass die Kühe des Auges nicht gestört wird, so verhält es sich auch in den Gruppen, indem nie auch nur ein einziges unverhältnissmässiges Blatt sich zeigt, das die Kühe der Gruppe auf- heben könnte. Dieses allgemeine Gesetz des Gleichgewichtes äussert sich überall in den Tafeln XCVIII., XCIX., C. Dieselben Gesetze herrschen in der Vertheilung der Linien an der Oberfläche der Blumen: man sieht keine einzige Linie auf der Oberfläche, die nicht zum Zwecke hat die Form mit grösserer Sicher heit zu entwickeln, keine einzige Linie die man wegnehmen könnte ohne die Vollkommenheit der Form zu beeinträchtigen; und warum ? Weil die Schönheit sich natürlich aus dem Gesetze des Wachsthums ent wickelt. Das Lebensblut — der Saft, steigt vom Stamme auf, und verfolgt den leichtesten Pfad der zu den äussersten Grenzen der Oberfläche führt, so verschiedenartig auch diese Oberfläche sein möge; je grösser die Entfernung die er zu durchlaufen hat, je grösser das zu ertragende Gewicht, desto dichter ist auch die Substanz (vide Winden, XCVIII., XCIX.). Tafel XCVIII., zeigt verschiedene Varietäten von Blumen in Plan und Aufriss, aus denen zu ersehen ist, dass die Geometrie die Basis aller Formen ist, denn, der Impuls aus welchem die Oberfläche entsteht, entspringt mit gleichmässiger Kraft vom Mittelpunkt und bleibt daher auch nothwendig in gleichen Entfernungen stehen: das Ergebniss ist natürlicherweise Symmetrie und Regelmässigkeit. Wer wird es also zu behaupten wagen, dass uns nichts übrig bleibt als die fünf- oder siebenlappigen Blumen des dreizehnten Jahrhunderts, das Geissblatt der Griechen oder das Acanthusblatt der Römer nach-